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“Mund zu – es zieht!” Das kommt mir in den Sinn, wenn ich dem Fahrtwind meines rasenden Inneren nachspüre. Mach den Mund zu – es zieht. Mach ihn zu. Lass ihn zu. Es zieht.

Da war ein Silvester mit goldenen Blumen. Die wuchsen und wuchsen auf dem schwarzen Samt über der Welt und es ist das schönste Feuerwerkbild, das ich aus der dünnen Kinderjahreinjahrausalltagssuppe fischen kann. Vielleicht, weil es noch leichter war. Zeit weder Rahmen noch Bedeutung hatte. Vielleicht, weil ich mir damals nichts vornahm, was ich nicht auch sicher durchziehen würde. Vielleicht, weil damals nichts, einfach gar nichts vorhersehbar war.

Es zieht. Es zieht an mir und hat den Mund offen.

Autismus, Trauma, Kommunikation #2

Im Deutsch-Kommunikationsunterricht lernten wir das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun kennen.
Demnach enthält jede Botschaft 4 Ebenen:

  • die Sachinformation
  • eine Beziehungsinformation
  • einen Appell
  • eine Selbstkundgabe.

Paul Watzlawik lernten wir in diesem Unterricht auch kennen. Seine 5 pragmatischen Axiome (nicht nötig zu beweisende Grundsätze) lauten:

  • man kann nicht nicht kommunizieren
  • jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt
  • Kommunikation ist immer Ursache und Wirkung
  • menschliche Kommunikation bedient sich analoger und digitaler Modalitäten
  • Kommunikation ist symmetrisch oder komplementär

Für uns ist nie ein Problem gewesen zu erfassen, was was ist. Wir können sehr wohl Appelle von Sachinformationen unterscheiden. Aber einen Appell, eine Selbstkundgabe und eine Beziehungsinformation in Gestalt einer Sachinformation wie “Deine Klamotte ist ganz schön verdreckt” zu finden, kommt uns vor wie ein Kreativitätswettbewerb. Denn woraus soll man das denn ableiten und wieso sollte jemand das sagen, aber eigentlich etwas anderes wissen lassen wollen?

Wir kommen über so etwas in Stress, der mit Unlogik zu tun hat. Wir kennen sehr wohl den Sinn von Lügen und Betrügen, auch von Verschleiern und ironischer Verzerrung zum Zweck des Witzes.
Warum man die Prinzipien der Lüge allerdings auf die normale Alltagskommunikation mit mehr oder weniger nahen Personen anwendet, verstehen wir bis heute nicht.

Das ist alles etwas anderes, wenn man in machtungleichen Situationen steckt.
Uns ist schon klar, warum Menschen auf der Arbeit oder unter weniger nahen Mitmenschen öfter prosozial lügen oder ihre Forderungen in Sozialverträglichkeitskostüme quetschen. Das verstehen wir als das was nötig ist, um in Gewaltkultur zu überleben. Also: sehr logisch.
Allerdings: eine logische Folge, die sich aus einem für uns unlogischen Moment ergibt, besonders, seit wir keine Gewalt wie früher mehr erfahren

Bleiben wir bei prosozialem Lügen. Also lügen, um Konflikte zu vermeiden, die entstehen könnten, wenn man die Wahrheit sagt.

In unserer Familie° war lügen und täuschen und besonders verschleiern, essenziell. Jede_r belügt jede_n und der Appell ist immer – jedes Mal, wenn jemand das Wort an dich richtet – : das wird nicht benannt, das wird nicht infrage gestellt, das wird mit allen Menschen so gemacht, die nicht zur Familie* gehören.

Wir haben einander vorgelogen, uns zu lieben, uns vorgelogen, eine normale Familie° zu sein, uns vorgelogen, tippitoppi in Ordnung zu sein und da niemand je die Wahrheit gesagt hat, haben wir bis heute keine Sicherheit darüber, ob wir uns eigentlich vielleicht doch nur gehasst haben. Ob diese Familie° vielleicht am Ende nur davon zusammengehalten wird, dass man sich nur unter potenzieller Lebensgefahr aus dem Zement, den prosoziales Lügen erschafft, herausbewegen kann.

Oder, wie wir heute annehmen: rausbröselt, wenn man das Konzept nur nachahmt, statt intuitiv gestützt mitmacht und verinnerlicht.

Heute ist uns klar, dass wir sehr lange auf eine Auflösung gewartet haben, an die in unserer Familie° niemals jemand auch nur kurz einen Gedanken verschwendet hat. Denn das ist, wie es Menschen in gewaltvollen Kontexten manchmal bis zum Schluss aushalten: die Lüge wird zur Realität. Gar nicht mal wirklich zur Wahrheit, aber doch zur Realität und damit unhinterfragbar und unandersdenkbar.

Das ist schon der ganze Zauber hinter dem Phänomen, das viele Gewaltüberlebende aus zwischenmenschlichen Gewaltkontexten beschreiben: wie sie plötzlich zur persona non grata werden, nachdem sie die Gewalt aufgezeigt haben. Zwischenmenschliche Gewalt in Familien (und in Institutionen wie Heimen, Klinken und Gefängissen) ist nur möglich mit einem engen zementartigen Lügen- und Täuschungskonstrukt, das Realität (geworden) ist.

Wem die Lüge klar ist, wem klar ist, das man hier widersprüchliche Dinge miteinander austauscht, der_dem ist das völlig offensichtlich. Für uns war es immer völlig klar, dass wir das mitmachen müssen, weil es sonst Probleme gibt – für uns mit der Dissoziation im Leben sogar doppelt: entweder wir verlieren Zeit und Selbst, oder wir werden Gewalt erfahren, wenn wir nicht mitmachen.

Was wir – und manche von uns noch – geglaubt haben ist, dass sich das alles auflösen wird. Irgendwann würden wir sicher erfahren, wieso das so wichtig ist. Wieso wir das machen müssen. Wieso das überhaupt alle Leute machen. Wieso in der Schule alle einander anlügen, wieso im Hort, wieso in Filmen und Romanen… .
Wir dachten, als ältere Person würden wir das alles durchschauen können. Und als das nicht passierte, wir aber immer mehr darunter litten uns und alles und alles und alles nicht richtig ausdrücken zu können, sind wir da rausgefallen. Nicht, weil wir so mega stark für uns eingetreten sind. Wir konnten einfach nicht mehr.
So banal ist das.

Heute kennen wir den Begriff des “autistic burnout” und denken, dass in der Zeit unserer Adoleszenz, in der sich so viel gleichzeitig in uns, aber auch unserem Leben in der Familie*° veränderte, auch das zu dem beigetragen hat, was uns mit 14~15 das erste Mal in eine Psychiatrie brachte: die Erschöpfung etwas unauassprechliches Aussprechen zu wollen, während gleichzeitig schon die ganz banale Alltagskommunikation eine massive Kompensationsleistung erforderte.

Wir selbst haben keinen enorm stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, finden wir. Wir sind keine edelweißen Stolzritterlein, die für Liebe und Gerechtigkeit das Löwenherz pochen lassen. Aber lügen und betrügen tun wir nicht. Wir sind im allgemeinen nicht mal gute Partner_innen, um Überraschungen vorzubereiten oder Geheimnisse und Heimlichkeiten bei uns zu lassen.

Zum Einen, weil es anstrengend ist. Eine Lüge muss immer gleich sein, man muss herausfinden, wen man wie belügen kann – dafür muss man sehr sehr gut Perspektiven übernehmen können und alle Eventualitäten der Aufdeckung zu erkennen in der Lage sein. Und dann muss man das Ergebnis der Lüge auch noch gut oder wenigstens okay genug finden, um das alles auf sich zu nehmen. Und dann muss man auch noch verdrängen, dass man das Ergebnis nur durch Lüge hat und nicht, weil man darum gebeten oder verhandelt hat.

Zum Anderen, weil es unlogisch ist.
Etwas wünschen oder zu wollen halten wir für menschlich. Das kann nerven und unbequem sein, ja – und das kann total schwer auszuhalten sein (besonders wenn traumatische Erfahrungen damit verknüpft sind), ja – aber grundsätzlich sehen wir darin nicht das soziale Sprengmaterial, was die meisten neurotypischen Menschen darin sehen.

Entsprechend kommunizieren wir direkt das, was wir wollen oder wünschen. Oder denken oder glauben. In der Regel, ohne noch andere Dinge zu denken oder mitzumeinen, die wir damit für andere vielleicht auch noch kommunizieren.

Ein Beispiel ist der Kuchen-und Kerzen-Vorfall an unserem Geburtstag dieses Jahr.
J. wollte uns mit brennenden Kerzen auf dem Kuchen vor unserer Wohnungstür überraschen. Und wir sagten ihm, er könne ja schon mal hochgehen – wir müssten grad einmal die Wäsche machen.

Im sozialen Code, den er uns dann erklärte, hätten wir sofort unsere Freude ausdrücken und ihm danken müssen. Er hätte sich und seine Überraschung dann gewertschätzt gefühlt und sich auch gefreut.
Für uns hingegen wäre das unlogisch und unaufrichtig gewesen. Denn wir waren mit der Wäsche beschäftigt und hätten nur das Gesicht verzogen, die Stimme verknörgelt und gesagt, dass wir uns freuen, obwohl wir uns noch gar nicht richtig gefreut hätten.
Vor einigen Jahren hätten wir das auch noch gemacht, um zu verhindern, dass uns was passiert. Genau wie früher, genau wie immer dann, wenn wir heute ganz besonders angepasst und unauffällig unter Leuten sein wollen.

So aber machten wir die Wäsche fertig, öffneten uns für die Kuchen- und Kerzensituation und fühlten in aller Ruhe nach, ob wir uns freuen oder (noch) nicht. Für uns war das schön und kongruent mit dem eigenen Inneren. J. hingegen, musste uns seine Gefühle und Gedanken dazu mitteilen – wir haben sie in dem Moment weder erkannt noch erahnt.
Nicht, weil wir keinen Begriff von Höflichkeit oder Konvention haben, sondern weil das einfach so war in dem Moment. Da war die Wäsche, da war die Überraschung, da war die Spontanität und alles – da war kein Moment für eine schnelle Metaanalyse unserer Situation. Und erst recht war dort nicht die Absicht ihm zu sagen, dass er und seine Überraschung weniger wichtig oder relevant ist, als das, was wir gerade tun. Wir hatten die Absicht unsere Wäsche zu machen und ihn das wissen zu lassen. Nicht mehr, nicht weniger.

Es sind schnelle Analysen und Berechnungen, die uns im Alltag mit fremden Menschen oder vor Filmen ermöglichen solche Momente zu umgehen bzw. bestimmte Dinge zu decodieren.
Aber das ist enorm energieintensiv.

Und: oft „lohnt“ es sich für uns nicht einmal, diese Energie immer wieder aufzubringen.

Fundstücke #62

“Werde, wer du wirklich bist”, heißt ein Buch von Alison Miller, in dem es um rituelle Gewalt und die Überwindung von Mind Control geht.
Es ist ein Selbsthilfebuch für Betroffene und steht bei uns auf der Liste der Bücher, die wir irgendwann vielleicht eventuell mal lesen wollen. Dann, wenn wir wissen, wer wir denn wirklich sind.

Diese Lücke ist mir gestern noch einmal bewusst geworden, als ich einen Artikel über narzisstische Menschen, die mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation leben, las.
Seit wir als narzisstisch persönlichkeitsgestört “diagnostiziert” wurden, stolpern wir öfter über solche und ähnliche Texte. Und natürlich versuchen wir uns darin zu finden. Immer noch. Obwohl wir wissen, dass wir keine so gelagerte Persönlichkeits”störung” haben.

Aber es entstehen interessante Gedanken und Fragen.
Zum Beispiel die danach, wer wir denn nun sind. Wie es denn nun wirklich um unser Selbstwertgefühl steht. Ob, und wenn ja, inwiefern und wozu wir Menschen ausbeuten. Ob, und wenn ja, wir Kritik fürchten. Ob, und wenn ja, für wie großartig wir uns denn halten. Ob, und wenn ja, wie überzogen unsere Ansprüche und Anforderungen an unsere direkte und indirekte Umwelt denn wirklich sind.

Tatsächlich finden wir uns in Schilderungen von Menschen mit sogenannter “narzisstischer Persönlichkeitsstörung” nicht wieder. Aber wir verstehen, weshalb die Ärztin damals Anlass hatte das in uns zu sehen. Und obwohl uns das nachwievor belastet, weil wir nichts daran ändern, geschweige denn andere Patient_innen vor ihr schützen können, können wir uns daraus ableiten, für wen es (im Kontext der Traumatherapie) wichtig ist, an so etwas wie ein “wahres Ich” oder “wahres Selbst” zu glauben. Und warum.

Die dissoziative Identitätsstruktur wird nachwievor oft und überwiegend durch eine psychoanalytische Brille betrachtet und behandelt. Danach gibt es eine Persönlichkeit, die “Stellvertreterpersönlichkeiten” entwickelt, weil das erlebte Trauma zu schrecklich ist um weiter am Leben zu bleiben bzw. das soziale Umfeld zu ertragen, in dem das Trauma erlitten wurde.

Für grundsätzlich falsch halte ich das nicht, aber diese Sichtweise legt die Vorannahme einer Persönlichkeit, die da ist und etwas erschafft, das neben sich steht und passiert, fest.
In diesem Modell wird häufig dann auch Hierarchie eingebettet und Kämpfe um “gut” oder “böse”, “stark” oder “schwach”, “männlich” oder “weiblich”, “erwachsen” oder “kindlich” verortet.
Die therapeutische Arbeit ist dann eine Art “kontinuierliche Demaskierung” der “Stellvertreterpersönlichkeiten”, als Selbstschutzmechanismen oder eben auch verselbstständigte narzisstische Reflexe.
(Like: “Du hast es nicht ertragen, dass die Person dich, die du dich für so großartig/wichtig/besonders hältst/gehalten hast (weil dir das so eingeredet/vermittelt wurde), behandelt wie ein Stück Scheiße, also hast du jemanden erfunden, der ein Stück Scheiße ist, damit dich das nicht erreicht”).
Daneben kommen noch Aspekte der Reorientierung als erwachsene Person, die helfen sollen, die “Stellvertreterpersönlichkeiten” nicht mehr als etwas zu sehen, das fremd ist, sondern eigen und er.tragbar von der “eigentlichen Persönlichkeit”.

Wir haben schon Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur getroffen, bei denen diese Herangehensweise geholfen hat und insgesamt auch passt: Menschen sekundärer struktureller Dissoziation. Menschen mit DDNOS.
Also Personen mit einer “Kernpersönlichkeit” und mehreren Alter Egos, die zu bestimmten Zeiten oder bestimmten Aspekten im Leben der Person aktiv waren oder sind.
In der Serie “United States of Tara” ist so eine Person (filmkünstlerisch und kapitalistisch verwertbar aufbereitet) dargestellt.

Weniger passt diese Herangehensweise bei uns.
Bei uns gibts es durchaus auch “Stellvertreter”, allerdings sind das keine autarken Innens, also “Persönlichkeiten”, sondern Zustände, auch “States” genannt, die innerhalb eines Systems verortbar sind und nur dort überhaupt funktionieren.

Als wir die Diagnose als Jugendliche gestellt bekamen, hatten wir uns bereits daran abgearbeitet unseren “ursprünglichen Kern” zu finden. Sahen uns immer wieder damit konfrontiert, dass Menschen “das eigentliche Problem”, den “wahren Ursprung” von uns Innens “als Ganzes” sehen, finden, behandeln wollten.
Und als wir an dem Punkt waren zu merken, dass es den bei uns nicht gibt – samt aller Implikationen, die das für uns hat und hatte – begann für uns eine Forschungsreise, an deren Ende wir in dem Buch „Das verfolgte Selbst“ auf unsere Struktur stießen: das Modell der tertiären strukturellen Dissoziation.

Darin gibt es einen solchen Kern nicht, wohl aber Funktionssysteme, die zu bestimmten Lebenszeiten, sozialen Kontexten und Anforderungen aktiv werden bzw. sind und durch dissoziative Barrieren nicht oder kaum mit den anderen Systemen in Kontakt sind.

Hier funktionieren therapeutische Ansätze von “Demaskierung” und Reorientierung nur teilweise, nämlich nur in ebenjenen Systemen, die in der Therapiestunde aktiv sind (oder für die Therapie entstanden sind) oder aktiv sein müssen oder aktiv sein dürfen oder die Fähigkeit haben in der Therapie aktiv sein zu können.

Das heißt bei uns: Wenn wir Rosenblätter in der Therapiestunde sind und erkennen, dass wir untereinander funktionale Stellvertreter sind, um mit den Anforderungen von interpersoneller Kommunikation (in zum Beispiel Psychotherapie, Behörden, Blogkommentarspalten, ehrenamtlicher Tätigkeit usw.) zurecht zu kommen, weil unser Gesamtsystem (unserer Ansicht nach ist das unser Gehirn bzw. unser Körper) eben dies als potenziell lebensgefährliche Bedrohung missinterpretiert, dann können wir das nur so akzeptieren und in unser „Rosenblätter-Leben“ integrieren.

Nicht aber in eine “Kernpersönlichkeit”, die dadurch mehr Kraft oder allgemeine Integrität erhält.
Bei uns wird mit so einer Art therapeutischen Arbeit am Ende also nichts und niemand “ganzer” oder “echter”, außer wir selbst als System, neben anderen Systemen.

Diese Kernpersönlichkeitsidee, ihre Implikationen und der Anspruch das als Therapieziel zu verfolgen, werden aber immer das sein, was uns dazu zwingt eine “Stellvertreterpersönlichkeit” aufrecht zu erhalten – nämlich so etwas wie eine Hannah C. Rosenblatt, die es gibt, um als eine Persönlichkeit gelesen und angesprochen werden zu können, obwohl man keine ist.

Nach der Lektüre des Borderline-Narzissmus-Textes habe ich verstanden, wie praktisch so ein Kernpersönlichkeitsmodell ist.
Gerade dann, wenn man selbst nicht dissoziativ funktioniert, aber selbst sehr verschiedene soziale Rollen erfüllen muss oder will. Dann kann man etwas von sich selbst in der anderen Person finden und man kann ähnliche, wenn nicht gleiche Maßstäbe an sie anlegen.

Das funktioniert genauso wie in der Sparte des Inklusionsaktivismus, in der die Person, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, “eigentlich ja gar nicht so anders ist, als die Person, die keinen braucht”.
„Da ist ja nur eine kleine Unterschiedlichkeit, welche die Person, die keinen Rollstuhl braucht ja sogar an sich selbst simulieren kann, um der anderen Person zu gleichen.“

Was dabei das Problem ist, ist das Gleiche wie bei der Identifikation nicht dissoziativ strukturierter Menschen mit Menschen, bei denen diese Struktur vorliegt:

Wie es ist, eben nicht und niemals wählen zu können so zu er_leben; wie das ist, damit 24/7, vielleicht bis zum Lebensende so zu leben; wie das ist, damit umgehen zu müssen, dass andere Menschen glauben, dieser Unterschied wäre “eigentlich” nichtig – diese Erfahrung ist exklusiv. Und zwar nicht, weil das so geil ist und eine Aufwertung vor anderen Menschen bedeutet, sondern, weil der Unterschied eben alles andere als “eigentlich nichtig” ist, sondern fundamental.

Es ist eine andere Er_Lebensform. Ein anderes in der Welt sein.
Nicht besser, nicht schlechter – einfach nur fundamental anders.

Mit “dem anderen” umzugehen ist niemandes Job. Interessanterweise gehen mit “dem anderen” nur jene um, die anders sind. Und zwar, indem sie leben und sind, wie sie sind.
Psycholog_innen, Mediziner_innen und was weiß ich nicht so alles, sind nicht damit beauftragt menschlich, individuell damit umzugehen, dass es das gibt. Sie sind für wissenschaftliche, gesellschaftliche, individuelle Einordnung und die Sicherstellung sozialer Kontrolle durch Diagnosen und Behandlungen zuständig.

Davon auszugehen, dass “das Andere” “eigentlich” gar nicht anders ist, ist also auch eine Art positiver Diskriminierung, um realen gesellschaftlichen Ausschluss aufgrund von Andersartigkeit zu verschleiern.
Und damit natürlich auch der eigenen Beteiligung daran.

Mir ist dieser Gedanke nur deshalb gekommen, weil wir merken, wie sehr das Kernpersönlichkeiten-Modell bei uns nicht greift und wie schwierig es ist, an Erfahrungsberichte zu kommen, wo jemand nicht auf der Grundlage dieses Modells gearbeitet hat.

Erst recht haben wir noch kein Material gefunden, in dem die Lebensumgebung der betreffenden Personen gleichermaßen ausgeleuchtet wurde, wie ihre inneren Landschaften.
Damit wird sich in der Praxis einfach nie beschäftigt. Die Person und ihr Verhalten in diesem einen speziellen Setting einer Behandlung wird angeschaut, ähnlich bis gleich gemacht mit Menschen, die sich nicht in diesem Setting befinden und das wars.

Mich würde sehr interessieren, wie oft Menschen, die mit offensiv mit ihren Unterstützungsbedarfen umgehen und keine Schamperformance machen, als Person, die mit ihrer Rolle kokettieren, wahrgenommen werden und vielleicht sogar aufgrund dessen pathologisiert werden.
Genauso interessiert mich – besonders bei Menschen, die viele und über den akuten Krisenstatus hinaus sind – wie oft es vorkommt, das durch Therapie entwickelte Resilienzen und Abgrenzungsfähigkeiten, irgendwann (Wann genau?) als Arroganz oder Hochmütigkeit gelesen werden.
Wann werden Selbstschutzmechanismen als Noncompliance, wann die Nutzung von positiven Ressourcen als kritisch eingeordnet?

Geht es um die verwendeten Modelle, die einer Diagnose zugrunde liegen, oder um die Personen, die diese Modelle wählen, um sich selbst in der Beziehung zu der Person leichter zu verorten?

Oder geht es darum, wer wer „eigentlich“ ist und wessen “wahres Selbst” wann wie wo als das legitimiert ist, was es ist?

 

Vielleicht werden wir “Werde wer du wirklich bist” nie lesen, denke ich gerade.
Wir machen unsere Therapie nicht, um wirklich zu werden.
Wir sind schon wirklich da. Uns gibt es schon so wie wir sind.

Unser Ziel ist, das auch genau so selbst wahrnehmen zu können, ohne aufgrund dissoziativer Selbst- und Umweltwahrnehmung darin behindert zu werden. Ich weiß nicht, inwiefern sich dafür unser Selbstsein verändern muss?

Medikamente

Wir waren schon einmal über den Punkt hinaus, an dem ich durch innere Rahmen gehe, eine Tür nach innen schließe und alles von mir streife, um in das Hier und Jetzt zu gehen, das mich er_fordert.

Das merke ich jetzt, wo wir einmal mehr Medikamente nehmen, als in der Weglaufkrisen-Episode am Jahresende.
Jetzt, wo keine Therapietermine waren. Jetzt, wo alles einfach läuft. Glatt mit üblichen Lebenshuckeln. Emotional mittig mit bloßem Dämmern einer Erinnerung daran, wie tief man fallen könnte, würde man die Tiefen mitleben.

Die Medikation lässt das Innen nicht verschwinden.
Ich kann es fühlen. Kann sehen, was da passiert. Merke, dass es etwas mit mir zu tun hat. Alles ist okay. Es ist nur nicht da, wo ich bin, wenn ich da bin.
Es ist ein kleines Stück der Verschiebung. Ganz subtil. Aber es reicht, um vom Lauf der Dinge nicht so grob hin- und hergeworfen zu werden, wie sonst.

Dinge passieren und ich bin da. Immernoch. Obwohl sie mich sonst weggewischt, zerrissen oder verwässert hätten. Und ich kann reagieren, einfach und genau so, wie ich mir das überlegt habe.

Was mir auffällt sind Liebsein, Warmsein, Zärtlichkeiten uns gegenüber, die mir sonst nicht auffallen.
Was mir einmal mehr bedeutet, dass dissoziative Amnesien eben doch real sind. Dass sie mir eben nicht nur das nehmen, was ich nicht aushalten kann, weil ein aversiver Reiz zu groß ist, sondern auch die Facetten menschlichen Miteinanders, die nicht primär an mich gerichtet sind, sondern an das von anderen Menschen wahrgenommene oder empfundene Innere, das an anderer Stelle des Innen passiert.

Was ich merke ist, dass ich das passieren lassen kann. Selbst dann, wenn ich gerade zu gedämpft, vielleicht auch betäubt?, bin, um zu danken oder andere Gesten zu machen, die so etwas wie eine adäquate Reaktion sein sollen.
Ich kann uns das passieren lassen und es fühlt sich an wie eine aktive Tat, obwohl ich nichts weiter tue als gezieltes Nichtsdagegen oder –dafür tun.

Von mir aus kann es für immer so weiter gehen.
Alles funktioniert. Nichts tut weh, außer das Wissen, dass es Medikamente sind, die mich so beruhigen, ordnen, stabil machen. Doch selbst das kann ich im Laufe eines Tages passieren lassen, ohne, dass es mich umhaut.

Ich bin kein Zombie. Ich bin nicht ausgeschaltet. Niemand von uns wird unterdrückt oder “weggemacht”.
Dieser Zustand ist keiner, der irgendwie problematisch ist.

Er ist nur nicht echt.

weglaufen

Ich weiß nicht, ob die Person am Steuer des Wagens mich nicht gesehen hatte oder für Einbildung hielt. Wundern würde es mich nicht. Wie wahrscheinlich ist es, dass dir nachts um 3, wenn du, warum auch immer im Auto sitzt und irgendwohin unterwegs bist, jemand über die Landstraße vors Auto rennt und mehr zufällig als durch aktives Zutun nicht unter die Räder kommt?

Für mich war es nichts weiter als ein Moment der Verwirrung. Das Gefühl den Faden eines Willens oder Gedankens verloren zu haben. Puls, der mir gegen den Unterkiefer wummert, kalte feuchte Haut. So außer Atem sein, dass es brennt.

Diesmal war es nicht weit. Vielleicht 5 Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Aber es war das erste Mal, dass es auf diese Art gefährlich war. Und – vielleicht muss ich das hinzufügen, weil ich es nicht genauer weiß – das erste Mal, dass ich es als so gefährlich wahrgenommen habe, wie es ist.

Das Auto fuhr weiter, ich blieb mit einem Fuß im Straßengraben stehen und sah ihm nach. Es war Dienstagmorgen, in ein paar Stunden würden wir in die Schule müssen. Klausuren schreiben, Dinge lernen. Reden. Zuhören. Und später arbeiten. Und am Abend würden wir mit unserer Therapeutin darüber reden, warum es wieder losgegangen ist.

Dieses Weglaufen mitten in der Nacht, das wir seit ein paar Jahren schon immer wieder um diese Zeit herum erleben. Nie um irgendwo hinzukommen, wohl aber um wegzukommen, scheinbar egal wie.

Als ich nach Hause lief, dachte ich nur darüber nach, was für eine verdammte Scheiße das ist und warum ich mich eigentlich nie zusammenreißen kann. Ich schmückte meine Unzufriedenheit über mein Unvermögen mit Flüchen und festem Auftreten auf die Straße, die niemand außer mir benutzte, und wärmte mich daran auf. Wie tröstlich so eine Prozession mit allem, was man kennt. Wut, Aggression, alles über_greifende Strenge.

13 Wachstunden später, machte die Therapeutin eine Geste zu einem Geräusch, die sie noch nie gemacht hatte. Vielleicht brauche ich merkwürdige Erstmaligkeiten, um zu Bewusstsein zu kommen, denke ich jetzt. Denn wieder war es, als würde ich in einem Gedankensein unterbrochen oder würde einen Faden verloren haben, den zu haben mir vorher nicht bewusst war. Ich hörte ihr zu und begriff, dass wir diese Nacht hätten verletzt werden können. Sterben können. Überfahren von jemandem, der nachts übers Land donnert, weil er nicht mit Menschen oder Tieren rechnet, die seine Strecke kreuzen.

In der nächsten Nacht verpackten wir den Haustürschlüssel und schlossen uns ein. Das hatte wohl in den letzten Jahren geholfen, aber mehr als die Erinnerungen und Notizen der Therapeutin begründete diese Maßnahme nicht für mich.

Heute beschäftigt mich, ob das meine Art von Vertrauen ist. Dinge zu tun, die auf der Erfahrung und Erinnerung anderer Menschen beruhen und nicht auf dem, was ich denke oder glaube. Über das Weglaufen dachte ich nämlich im Grunde nichts außer, dass es scheiße ist, weil es mir beweist, wie wenig Kontrolle ich über mich (uns) habe. Und, weil es gefährlich ist und zwar so gefährlich, dass unsere Therapeutin etwas tut, das sie sonst nicht tut. Was irgendwie in sich eine neue Gefahr ist.

In der Nacht blieben wir zu Hause. Ich fand mich verwirrt und abgekämpft im Flur wieder, so ausgelaugt und ängstlich wie mich nur desorientierte Innens fühlen lassen.

Das ist besser als beinahe überfahren zu werden und im Dezember mit nassen Hosen nach Hause zu laufen. Aber mehr auch nicht.

“Man achtet zu wenig auf uns, wenn es um uns geht”

Vor dem Termin hatte ich Angst. Termine, die mit dem Gericht zu tun haben, machen mir immer Angst.
Nicht, weil ich fürchte, man würde mich für irgendetwas ins Gefängnis sperren oder mich bestrafen, sondern, weil ich weiß, dass wir dem, was dort passiert, nie gewachsen sind.

Wir haben das Problem, das viele Viele und viele autistische Menschen haben: man sieht uns nicht an, was in uns vorgeht.
Entweder macht mein Gesicht etwas, das von anderen Menschen nicht korrekt übersetzt werden kann oder es macht gar nichts, weil all meine Kraft in das Erfassen der Vorgänge um mich herum geht und nichts mehr übrig bleibt für Körpersprache.
Wir haben das Problem, das viele Menschen, die (lange) in sogenannten “Hilfe”systemen leben, weil wir es brauchen: wir sind abhängig von jenen, die strukturell oder persönlich als unsere Helfer_innen auftreten bzw. bestellt werden – was bedeutet, dass wir unfrei sind und nur so befähigt zur Befähigung sein können, wie sie (und die gegebenen Strukturen) uns dazu ermächtigen bzw. befähigen.

Und wir haben das Problem, dass wir uns all dessen bewusst sind. Während viele andere es nicht sind und auch nicht sein wollen.

Ich hatte vor dem Termin Angst, weil ich Angst vor unserer gesetzlichen Betreuerin habe. Vor ihrer Ignoranz mit der sie mit der Macht, die wir ihr übertragen haben, umgeht. Vor ihrer falschen Überzeugung, die sich durch keine unserer Richtigstellungen und Erklärungen korrigieren lässt.

Wir rutschen nachwievor selbst immer wieder in die Todesangst, von der wir Pädagog_innen und anderen Betreuer_innen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten, erzählen. Wir selbst erleben uns immer wieder in der Überzeugung, dass, wenn dieser eine Zettel falsch ausgefüllt wird – dieser eine Beschluss falsch ist – dieses eine Gutachten unzutreffend ist – dieser eine Bericht strunzfalsche Aussagen enthält – dieser eine Antrag inkorrekt ausgefüllt wird – wir sterben werden (weil wir etwas falsch gemacht haben/niemand uns helfen wird/wir allein und ausgeliefert (bleiben) werden/weil wir unter- oder gar nicht versorgt werden/weil das doch jede_r kann und es unsere Strafe ist, zB etwas Beantragtes nicht zu bekommen, damit wir es beim nächsten Mal gefälligst richtig machen…)

Das ist kein überkandideltes Einbildungsängstlein, das man im Fall des Falls auch durch eine Kognition auflösen kann. Das ist eine Angst, die uns den Hals zupulst und den gesamten Organismus mit toxischem Stress flutet. Das ist Traumawiedererleben. Das ist, was man, wenn man so will, “PTBS-Dünger” und “Traumatherapiegift” nennen könnte.
So ein Stresslevel verändert die Denkstruktur, verändert die rein neurologisch verfügbaren Möglichkeiten, um Inhalte zu erfassen und zu verarbeiten und verändert natürlich auch die Ressourcen der sozialen Interaktion und verbalen wie nonverbalen Kommunikation.
Zusammen mit unseren allgemeinen Schwierigkeiten andere Menschen zu lesen und ihre Handlungen und Aussagen zu verstehen, sind wir folglich bei allen Gesprächen mit solchen Schwerpunkten massiv gehandicapt.
Und ich schreibe hier bewusst “gehandicapt”, denn behindert werden wir an der Stelle ganz klar von der Ignoranz der Menschen, mit denen wir es dann zu tun haben und von den Strukturen, die diese Ignoranz erlauben.

Vor dem Termin hatte ich noch getwittert, dass ich mir NakNak* an unserer Seite bei dem Gespräch gewünscht hätte. Zum Einen, weil wir uns im Innen grundlegend anders aufstellen können, wenn wir nicht nur für uns, sondern auch sie sorgen müssen und sie uns frühzeitig einen Krampfanfall meldet – zum Anderen aber auch, weil sie durch ihre Anwesenheit als Assistenzhund greifbarer macht, dass wir eine behinderte Person sind. Dass wir “wirklich etwas haben” und nicht nur so tun oder es eine Frage der individuellen Einschätzung von Außen ist, ob da etwas ist oder nicht und wenn doch, wie sehr.

Doch bei Gericht herrscht kategorisches Hundeverbot. Natürlich könnten wir uns um einen medizinischen Zettel bemühen auf dem steht, dass wir echt was haben und der Hund in echt hilft, besser klar zu kommen – aber natürlich müssten wir dazu mal wieder eine_ Mediziner_in beanspruchen, unsere Zeit für andere Dinge abknipsen, unseren Fokus erneut nicht auf uns und das was wir brauchen legen, sondern darauf, was andere (ablierte) Menschen brauchen, damit sie etwas tun dürfen, damit wir bekommen, was wir brauchen.
Der Satz ist jetzt recht lang – man darf ihn sich trotzdem mal tief in den Kopf tun und dann einen Blick auf die Behindertenrechtskonvention werfen, bitte danke.

Ich wünsche mir mehr Bewusstsein um diesen Umstand bei anderen Menschen. Ich wünsche mir mehr Bewusstsein darum, dass Behinderungen der Wahrnehmungs_Verarbeitung existieren und ganz konkrete Folgen für das Miteinander haben.
Wir haben massive Probleme in Gesprächstermine zu gehen, ohne zu wissen worum genau es konkret gehen wird. Was von dem, was wir sagen wollen und wichtig finden, gehört überhaupt in diesen Termin? Was genau sollen wir leisten? Müssen wir große Entscheidungen treffen – und wenn ja – was sind die Kriterien, an denen wir uns dazu orientieren sollten/können/müssen?

Diese Probleme haben wir nicht erst seit gestern. Die haben wir schon seit immer – doch existenziell problematisch wurden sie erst, seit wir mit 15 zum ersten Mal vor einer Jugendamtssachbearbeiterin gesessen haben und ohne die Tragweite unserer Aussage überhaupt selbst umfassend verstehen und überblicken zu können, unserer Fremdunterbringung zustimmten.

Unser Gerichtstermin gestern, war die Folge unseres Anrufs dort, nachdem unsere Betreuerin auf unseren Zusammenbruch über das Ende unserer Sicherheit sagte, sie wüsste wie es uns jetzt ginge und anderen grenzüberschreitenden Bockkackscheißmist von sich gab, der uns in massive Zweifel brachte, ob sie überhaupt je verstanden hat, was wir ihr über unsere Geschichte, Trauma und Autismus als unsere zentralen Probleme gesagt hatten.
Was wir nicht wussten war, dass, wenn man in so einem Fall bei Gericht anruft und fragt, ob es Klärungsoptionen gibt, die man nutzen könnte, um weiterhin gut miteinander zu arbeiten, das automatisch als Beschwerde gilt und damit einen Betreuerwechsel einleitet.
Der Richter beantwortete unsere Unkenntnis dessen lapidar mit “Ja, manchmal sind Wissensdefizite hinderlich.”

Dass meine Erziehung und Therapie schon länger passiert war, fand ich in dem Moment auch hinderlich.
Denn statt ihn zu hauen oder anzuschreien, wie ich es gerne getan hätte, bekam ich den ersten Krampf im rechten Arm, Schreie im Kopf und einen Hyperarousel aus der Hölle.  Spätestens jetzt hätte NakNak* angefangen zu bellen und mich zu kratzen. Und alle Anwesenden hätten gemerkt, dass jetzt Stopp ist.
Dass jetzt schon der Moment ist, in dem nichts mehr geht. Weder lieb-Performance, noch brav-Tänzchen, noch konstruktiver Beitrag zum Thema.
Aber NakNak* war nicht da. Und ich habe es nicht gemerkt.
Ich dachte, ich müsste retten, was zu retten ist. Zusammenreißen, stark sein, nicht einknicken, dran bleiben, für mein Recht auf eine gesetzliche Vertretung, die angemessen ist, kämpfen, mich darum bemühen, verstanden zu werden, nicht aufgeben selbst zu verstehen – obwohl niemand merkt, dass ich nicht verstehe.

Ich traf eine Entscheidung von der ich nicht weiß, ob sie richtig war und auf Wegen, die sich mir nicht erschlossen, da ich noch längst nicht fertig war mit dem, was ich zu sagen hatte, war das Gespräch dennoch einfach plötzlich zu Ende.
Wir gingen raus auf den Flur, die Betreuerin wollte “schnell noch was mit uns besprechen” und ich hatte das Gefühl jeden Moment einen Schrei aus mir herauszukotzen, dessen Ursprung, Sinn und Ziel mir fremd war.

Für mich waren Zeit und Raum schon längst zerbrochen und lose an seinen Fäden aus dem Universum herunterbaumelnd, wie ein Sitz im Kettenkarussell. Und wenn man mich fragt, dann ist es genau das, wovor wir Angst haben, wenn wir Angst vor Kontrollverlusten haben.

Es ist Trauma 101.
Traumatische Erfahrungen sind deshalb traumatisch, weil das Gefühl für den Kontext (und sich selbst darin) verloren geht. Verstärkt wird es durch körperliche Versehrungen oder emotionale Not. Manchmal geht es auch darum, etwas zu erfahren, das niemand sonst erfährt bzw. das nicht alltäglich ist, was die Kontextualisierung erschwert.

Für uns hochtraumatisierte Person mit Problemen der Kommunikation und Interaktion, war dieser Termin von Anfang an einer, bei dem klar war, dass wir genau das (wieder)erleben werden. Und niemand hats gerafft. Niemand.
Ausnahmslos.

Wir wussten nichts vor diesem Termin über diesen Termin, außer, dass es um unsere Betreuungszukunft geht. Was alles bedeuten kann. Da wir noch keine gesetzliche Betreuung vor dieser hatten, haben wir noch nicht genug konkrete Erfahrungen auf die wir zurückgreifen konnten, um uns den Kontext zu erschließen.
Und da niemand verstanden hat, dass wir ein bisschen mehr brauchen als “kommen sie da mal hin, es ist ein wichtiger Termin”, haben wir auch nicht mehr bekommen – und natürlich auch nichts weiter gefordert.
Mehr Forderungen kosten mehr Kraft und davon haben wir seit einer Weile häufig gerade mal soviel, dass wir nicht vergessen zu essen, zu trinken, uns nicht das Leben zu nehmen.

Trotzdem lautet die Prämisse für alle und immer: Wenn sie was wollen/brauchen – fordern sie es ein.

Irrational sind sie. Solche Einladungen zu etwas, das in der Regel weder gemocht noch selbst gerne erfüllt wird.
Weshalb sie eben auch immer wieder an uns als Option herangetragen werden. “Soll sie halt was sagen, wenns ihr nicht passt – wer schweigt stimmt zu.”

Wer schweigt, weil zum Fordern keine Kraft da ist, hat in dieser Logik selbst schuld und damit die eigene Diskriminierung verursacht.
Muss ich jetzt noch einen Satz dazu schreiben wie unfassbar ignorant und abstoßend so eine Haltung ist?

“Keine Kraft” bedeutet in unserem Leben sowas wie: “Scheiße, ich hab mir die letzte saubere Hose vollgepisst, weil ich schon seit Stunden auf Küchenboden liege und nicht mehr hochkomme. Scheiße, ich muss Wäsche waschen. Scheiße, ich muss sie aufhängen. Scheiße, ich hab für morgen nur noch Klamotten, die zu groß sind, anzuziehen. Scheiße, ich hab so viel Gewicht verloren. Scheiße, ich muss mehr essen. Scheiße, hab ich heute überhaupt schon gegessen? Scheiße, hat der Hund gegessen? Scheiße, der Hund muss noch raus. Scheiße, ich bin so scheiße zu ihr. Scheiße, ich kann keinen Hundesitter engagieren. Scheiße, ich komme mit nichts hinterher. Scheiße, es ist so viel zu tun. Scheiße, ich bin so viel zu wenig vor all dem Viel.”, zu denken, währenddessen die Sonne untergehen zu sehen und zum x-ten Mal den Timer für irgendwas, was an diesem Tag zwingend dringend zu erledigen ist, zu bemerken.
Und. nicht. zu. können.
Nichts fordern zu können. Nichts sagen zu können. Und auch: nichts und niemanden um irgendetwas bitten zu können, weil irgendwann nicht einmal mehr klar ist, wo man überhaupt anfangen sollte. Was geht. Was man fordern könnte.
Was man mehr tun kann, als zu sagen: „Ich habe keine Kraft.“ oder „Ich kann nicht.“

Uns wird so lapidar hingerotzt, wir müssten einfach mehr Hilfe fordern, dass nicht gewertschätzt wird, wie viel es von uns abverlangt, wenn wir es tun. Wie viel Not dahinter ist, wenn wir das tun. Es wird übersehen, dass unsere Forderungen niemals und zu keinem Zeitpunkt so lapidar an andere Menschen herangetragen werden, wie es mit der Aufforderung dazu an uns passiert.
Man achtet zu wenig auf uns, wenn es um uns geht.
Und das ist uns gestern zum Verhängnis geworden.
Schon wieder.
Trotzdem wir mit dem Begleitermenschen da waren.

Die Betreuerin sagte etwas, ich stopfte mir den nächsten Schreiimpuls in den Hals und lief weg.
Ich erinnere mich daran, dass ich meine steinharte Hand mehrmals gegen Wandstücke schleuderte und daran, dass ich dem Begleitermensch etwas später sagte, dass ich deshalb ins Krankenhaus wollte. Tatsächlich hatte ich es ihm aber mit dem Talker vermittelt und auch danach noch einige Stunden nicht mit Lautsprache kommuniziert.

Wir hatten einen Krampfanfall, der übermäßig lange anhielt und waren auch lange danach nicht in der Lage zu re-interagieren.
Das Erste, was ich konsistent erinnere, ist die Wand des Krankenhausimmers, deren Oberfläche nach Kiwi schmeckte.

Ich erinnere Schwindel, Erschöpfung, den Wunsch nach Versorgung, die mir etwas von dem nimmt, worunter ich litt. Schmerzen, Scham, Selbsthass, Schuldgefühle, Wut, Ohnmacht, unerträgliche Mitgefühle für andere Menschen.
Nach einigen Stunden und zwei Röntgenaufnahmen des Arms, verließen der Begleitermensch und wir das Krankenhaus mit Schwindel, Erschöpfung, Schmerzen, Scham, Selbsthass, Wut, Ohnmacht und dem Gefühl, die eigene Not selbst verursacht zu haben.

Im Arztbrief steht der Begleitermensch als unser Betreuer.
Weil er weder Freund noch Passant war, wurde er eben der Betreuer für eine behinderte Frau, die weder zu sprechen noch Blickkontakt aufzunehmen hinkriegt und deshalb ganz sicher in einer betreuten Wohngruppe lebt.

Wenn wir allein ins Krankenhaus mit einem Krampfanfall eingeliefert wurden, dann wurde uns immer vermittelt, wir hätten uns nicht genug um Hilfe bemüht.
Nun waren wir Begleitung eines als helfend kategorisierten Menschen und entnehmen aus dem Brief, dass wir als jemand wahrgenommen wurden, di_er keine Hilfe mehr braucht, weil ja schon Hilfe da ist.

In “Die Soziologie der Behinderten” beschreibt Günther Cloerkes (unter anderem) wie so etwas passiert.
Es passiert aus Angst vor dem selbst gemachten und gelebten Tabu der Nonkonformität, die Behinderung und behindert sein bedeutet.
Wenn wir so sind – wann immer wir so viel Not durchleben und das nicht verstecken (können/wollen) – erschrecken wir Menschen, denn sie merken, wie wenig es braucht, um so wertlos/krank/ausgeliefert/leidend/bedürftig/* zu werden, wie sie uns gerade wahrnehmen und in was für eine prekäre Lage sie sich selbst mit allem, was sie in Bezug auf uns tun, manövrieren.
Es tröstet und entlastet, wenn man die Wurzel einer Behinderung in einem Menschen bzw. dessen Psyche oder Gehirn verorten kann. Es tröstet und entlastet, wenn man sich mit der Idee von einem “guten Platz für einen nicht so richtigen richtig normalen alle belastenden Menschen” ent.sorgen kann.

Was es mit uns macht, wenn wir diesen Menschen ihre Strategien immer wieder kaputt machen müssen, weil sie Bullshit oder nicht die Realität sind, bleibt dabei unbedacht.
Wie viel Kraft es uns kostet bei anderen (ablierten) Menschen das Unbehagen zu lösen, die Unsicherheit zu nehmen, zu versprechen, jederzeit alle möglichen Fragen zu klären und all diesen Extraservice zu stemmen, den es braucht, damit ablierte™ Menschen uns als “ganz normal” unter sich dulden – danach fragt niemand.
Daran denkt scheinbar auch niemand.
Und ja, ich finde das scheiße. Ich finde das richtig scheiße.

Und ich finde mich scheiße, weil ich das gerne könnte. Immer und für alle.
Kann ich aber nicht immer.
Weil ich eben doch eine Person bin, die ist, wie sie ist. Traumatisiert. Viele. Autistisch.

Und leidend.

Mal mehr mal weniger.
Mehr, wenn wir Tage wie gestern in eine Zeit, wie die der letzten Wochen und Monate integrieren müssen. Weniger, wenn wir genug Entlastung durch gute Hilfen haben, die an uns herangetragen werden, ohne dass wir bitten und betteln, fordern und kämpfen müssen, sondern, weil man versteht, was wir sagen.

Ich mag solche Jammerpostings nicht. Würde auch lieber einen kessen Spruch nach dem anderen bringen und zeigen, dass unser Leben nicht nur grau in schwarz in Not und Elend ist.
Aber manchmal ist es das.

Und dann wäre es schön zu spüren, dass das gesehen wird. Es wäre schön, sich damit nicht allein gelassen zu fühlen.
Es wäre schön gewesen, hätte man uns im Krankenhaus helfen können.
Es wäre schön gewesen, hätten wir an diesem Tag von vornherein jede Hilfe haben können, die wir gebraucht hätten.

Es hätte uns allen so viel erspart.

vom Ringen und Singen

Ich weiß nicht, welcher Sommer das war. Aber es war ein heißer Sommer und meine Geschwister waren noch klein. Ich war noch klein.
An diesen Sommer zu denken ist seltsam, weil ich merke, wie sehr ich mich als Erwachsene einordne. Selbst in dieser Erinnerung. Selbst während ich weiß, dass wir, ich, damals keine 10 Jahre alt gewesen sein werde_n.

Wir waren weggefahren und das war ein Ding. Wir sind nicht oft in den Urlaub gefahren. Oder doch? Ich weiß nicht.
Jedenfalls – das Gekeuche. Das Husten. Das abendliche Brummen des PariBoy am Küchentisch der Ferienwohnung. Mein Geschwist, das mit einem Asthma kämpfte, dessen beängstigende Wucht wir selbst im Moment jeden Tag spüren und aus der Aufnahme des letzten Podcast herausschnitten, weil es uns an diesen Urlaub erinnerte.
An das Genörgel doch endlich mal aufzuhören mit dem Gehuste und Gekeuche.

Ich weiß nicht, ob ich mir das einbilde, oder ob das wirklich passiert ist, aber da war eine Anspannung und immer hatte sie etwas mit Angst zu tun. Ich nahm Anspannungen auf, die sich auf die tatsächliche Atemnot bezog. Aber auch die dicke Luft, an der mein Geschwist sich abzuhusten versuchte und in die hinein ich mich dissoziierte. Ganz bewusst und gezielt. Mit dem Gedanken, dass ich verschwinde, weil ich es nicht aushalte. “IchhaltedasnichtausIchhaltedasnichtausIchhaltedasnichtaus…” um dann plötzlich an Inseln des Schönen zu stranden und mich zu fragen, was denn nicht mit mir stimmt, dass ich denke, ich könnte irgendetwas nicht aushalten. Es war doch alles gut! Der See, in dem wir baden gingen. Der Wanderweg, den wir mit unseren gut gelaunten Eltern entlang gingen. Dieses Bayern, das so klang und aussah, wie wir es aus dem Fernsehen kannten.

In einer Reportage zu Kindesmisshandlung war ein Fall erwähnt worden, in dem ein kleiner Junge von einem Elternteil getötet worden war, nachdem dieses sein Gehuste und Gekeuche nach eigener Aussage nicht mehr ausgehalten hatte. Das Kind hatte eine Lungenerkrankung gehabt. Mich berührte die Reaktion der Polizistin in dem Film, denn sie hatte einen Begriff davon, wie wenig es den Eltern um das Kind gegangen war, sondern um sich selbst.

Das macht es mir heute so viel leichter meine eigene Ungeduld, die Impulse mich zu verletzen, die Stimmen in mir, die mich anherrschen, endlich mit dem Gekeuche aufzuhören, zu regulieren, weil ich erkenne, dass es Reflexe sind. Dominante Handlungsreflexe, die sich vor die erarbeiteten, später selbst eingeübten und daher noch etwas weniger starken, Impulse um Selbstfürsorge und Selbstversorgung schieben und tatsächlich nur die Logik haben aufzutauchen, wenn es dieses Husten und Keuchen gibt. Da gibt es keinen tieferen Sinn, als die Dominanz um der Dominanz willen, auch wenn überhaupt keine Machtdynamik wirkt, sondern körperliche Prozesse, denen egal ist, wer gerade das Sagen hat.

Während vorgestern Nacht ein Gewitter am Himmel entlang robbte, hatte sich die Luft in unserer Dachgeschosswohnung zu einer Mischung aus Pollen und Sporen in feuchtwarmer Luft vermengt, die sich nicht bewegen konnte, weil kaum Wind ging. Ich hatte mir kalte Tücher auf den Oberkörper gelegt, mich in Positionen gesetzt, die den Brustkorb erweitern, dem Geschmack des Salbutamol im Mund nachgeschmeckt und angefangen zu weinen, weil ich dem Gequengel in meinem Kopf nichts weiter entgegensetzen konnte als, dass ich nichts dafür kann. Dass ich huste und keuche, so seltsam schleimig ausatme, weil ich an Schleim vorbei zu atmen versuche. Weil ich nach Luft, um Kontrolle über mich selbst und gegen Flashbacks anringe.

Mir fällt auf, wie unsinnig es ist. Und war. Dieser Anspruch aufzuhören, als würde man es tun, um jemanden zu ärgern. Als würde man nur handeln und sein, um auf andere zu wirken.
Da ist der  Gedanke darum, was das eigentlich für ein Anspruch ist zu glauben, man sei automatisch das Universum eines anderen Menschen, nur weil man mit ihm im gleichen Zimmer sitzt. Nur weil man auch da ist.

Ich weiß, dass das etwas ist, das verbreitet ist. Diese Annahme gibt es bei vielen Menschen und ich weiß, dass wir das oft vergessen. Gerade, weil wir meist bei uns und im Universum dessen, was wir wahrnehmen, kreisen. Das ist nicht absichtlich. Das ist keine Entscheidung gegen Menschen oder Miteinander, es ist einfach irgendwie so und war auch schon immer so.
Aber es kann verletzen und das kann gefährlich werden. Gerade wenn Menschen es gewohnt sind zum Zentrum oder Teil des Universums anderer Menschen zu werden, ohne je hinterfragen zu müssen, warum das eigentlich so ist. Es kann wie eine Entscheidung gedacht werden. Es ist möglich, uns als desinteressiert oder absichtlich ignorant oder abwertend damit wahrzunehmen. Dann ist der Schritt zu glauben, jemand tut, was si_er tut, nur um eine Machtgeste zu machen, nur noch ein kleiner.
“Hör mal, wie ich dich nerven kann – hust hust – Hör mal, wie ich dich in den Wahnsinn treiben kann, ohne dich je angesprochen zu haben – keuch keuch – Hör mal, wie ich dir deinen Raum ungemütlich machen kann – röchel röchel – Hör mal, wie dominant mein Einfluss auf diesen gemeinsamen Raum ist.” – obwohl man selbst nur da sitzt und Erstickungsängste zu bekämpfen hat. Obwohl man nur da ist und hustet, röchelt und keucht.

Während ich versuchte in die untere Lunge zu atmen, dachte ich an die Aufgabe im Musikunterricht eine Zeichnung davon anzufertigen, wie sich der Bauch verändert, wenn man ein- und ausatmet. Dachte an diese kleine Insel des Schönen.
An Singen mit anderen Menschen im Treppenhaus der Schule. Einfach so. Weils schön war. Damals.

Ich begann mit Summen und glitt ins Singen. Und dachte, wie gut es ist, das zu können. Immernoch und wieder.
Wie cool das ist, sich neben das Genörgel und Gemecker, ein gemeinsames Lachen und Genießen stellen zu können. Wie cool, dass auch sowas geht.
Immernoch und obwohl und trotz alle dem und alle dem.

Autismus und DIS #1

„Mussten Sie als Kind verschiedene Rituale durchführen?“, fragte der Psychologe im Autismus Therapiezentrum und schaute mich an.

Für mich sind durch die Frage viele Aspekte noch einmal bewusster geworden. Zum Einen ist mir aufgefallen, dass ich die Frage sofort als eine überprüfte, die sowohl wörtlich als auch auf die faserige Art zu verstehen ist, was ich früher nicht so bemerkt hätte.
Weil mir das aufgefallen war, ist mir eine globale Tragik aufgefallen, die in mein so typisches Hadern um all das “hätte würde wenn”, das über meiner Kindheit und frühen Jugend schwebt, gehört. Hätte man mich vor vielleicht 20 – 23 Jahren mit dieser Frage konfrontiert – was hätte ich dann geantwortet? Ich weiß, dass ich vor 12 Jahren danach gefragt wurde und keine Antwort gab.

Ich weiß, dass ich heute solche Fragen absichtlich mit Wortspielen wegvermeidungstanze, etwa in dem ich antworte: “Ja klar – wir haben jedes Weihnachtsfest begangen, jedes Silvester, jeden Geburtstag – klar mussten wir eine Zillion Rituale in unseren Leben durchführen.”, denn bisher wurde ich nämlich nur nach Ritualen gefragt, um zu erfahren, ob ich sogenannte “rituelle Gewalt” erfahren habe, weil das gängige Bild von Menschen, die viele sind, genau diese eine Art der Gewalterfahrung beinhaltet.

Ich bin amnestisch für meine Kindheit und frühe Jugend – es kann alles und nichts passiert sein. Kein Ja oder Nein zu einer Frage nach etwas, das über die zur Verfügung stehenden Worte erdeutet werden muss, trägt zu einer Faktenlage bei. Am Ende macht es mir nur Druck, weil ich eventuell lüge – egal wie ich antworte.
Und so mache ich also Wortspiele und denke mir dabei, dass dies eine prima Methode ist, um auf etwas hinzuweisen. Für uns ist es wichtig immer wieder aufzuzeigen, dass es toxischer Stress ist, der Menschen zu vielen werden lässt und keine spezielle Form der Gewalt.

Meiner Erfahrung nach, sind solche offensichtlichen Wortspiele allerdings keine Methode um zu zeigen, dass ich eine klarere Formulierung brauche, um manche Themen bzw. meine Gedanken zu manchen Themen in der Therapie zu äußern. Offene Forderungen hingegen transportiere ich wahrscheinlich immer irgendwie falsch.

Für die Einen ist es eine nervige Sprachmacke – eine Spitzfindigkeit, die ich auch mal lassen kann. Für mich bedeutet “es sein lassen” hingegen “das Sprechen sein lassen”, weil es mich übermäßig anstrengt zu raten, was denn jetzt genau was wie meint.
Manchmal denke ich, dass die Therapie deshalb oft auch so anstrengend ist.
Wenn ich im Rausbringen von etwas kämpfe, versucht meine Therapeutin oft einzelne Wörter zu etwas zu machen, wofür ich viele gemacht habe. Und diese einzelnen Wörter schneiden aber alle etwas ab und sind in der Folge falsch. Und dann sage ich ihr, dass es nicht so ist, wie sie sagt. Und dann sagt sie “Wie ist es denn?” und ich wiederhole meine vielen Wörter und sie sagt wieder ihre einzelnen und dann sage ich “Orr!” und es entsteht so ein Moment, in dem ich entweder umschwenke oder wir beide auf die Uhr gucken, ob die Stunde nicht eventuell schon vorbei ist (was sie meist schon längst ist).
Manche von uns sagen in der gleichen Situation aber auch gar nichts mehr und hören auf darüber zu sprechen.

Was mir außerdem bewusst wurde, war etwas, was mich überhaupt erst zu dem Zentrum und dem Wunsch nach einer Diagnostik auf das Asperger Syndrom brachte: die Erkenntnis, dass Symptome häufig zwischen Verhaltensweisen und Sein (Selbst) trennen, weshalb Verhaltenstherapien immer wieder als der Heilungshit in der Medizin gelten bzw. geändertes Verhalten als Heilungsbeweis gilt.
Ich habe darüber nachgedacht, dass viel der zwischenmenschlichen Gewalt in meiner Familie* auch als “Erziehung” bzw. als “erziehende/korrigierende Maßnahme” aufgefasst wurde (vielleicht: bis heute wird).

Wenn man früher meine Eltern gefragt hätte: “Tillt ihr Kind durch, wenn Dinge anders laufen als sonst?” Dann hätten sie geantwortet: “Nein- wir bestimmen hier wer wann wie wo und weshalb durchtillt” oder (das ist dann der Dreh, wenn klar wird, dass die Kinder irgendwie doch alle kaputt gespielt sind und man gut dran tut, zu sagen, sie seien krank) “Hm, eigentlich tillt es immer durch, weil es ja krank ist – machen Sie’s mal gesund.”.

In dem Abklärungsgespräch, das wir gestern hatten, sollten wir viele Fragen dazu beantworten, wie wir früher waren und natürlich scheiterten wir, weil wir nicht über Deutungsräume lügen wollten. Was ich aber auch merkte war: es wurde gar nicht nur nach Verhaltensweisen gefragt, die kamen und wieder gingen, sondern nach Dingen an uns als Mensch, die auf ihre Art immer schon da waren, wie das Viele sein schon immer da war, egal wie sich das über die Jahre nach außen geäußert hat.

Für uns sind viele unserer Schwierigkeiten abgelegt unter: “Naja – dein Kopf mal wieder.”. Ich denke so oft, dass es sich nicht lohnt Kraft zu investieren, um Gespräche, Kontakte, Auseinandersetzungen anzufangen oder weiter zu machen, weil ich zu viel erklären müsste, zu viel reden und erklärend beworten müsste, damit ich und das, was ich äußere, verstanden werden.
Wie gut, dass man von Mädchen bis heute eher erwartet die Klappe zu halten und “Schweigen ist Gold, Reden ist Silber” in den Kopf drückt, als darauf zu bestehen, dass sie sich ihren Gedanken, Ideen, Theorien und Empfindungen entsprechend äußern bzw. sichtbar machen – und zwar immer und überall, ohne sie zu sanktionieren, wenn sie dabei nonkonform sind.

Wir gehören zur klitzekleinen Gruppe der Menschen mit einem IQ von über 170 und wenn wir mit diesem Quotienten argumentieren, weshalb uns seichtes Soapgeplänkel, Small Talk und wenig gehaltvolles Kommunizieren allgemein eher nervt oder nicht interessiert, denken viele Menschen, sie würden das verstehen. Ich merke von diesem Verstehen oft nichts, denn sie sagen dazu dann Dinge wie: “Ja, das ist bestimmt unterfordernd”- als ob wir es geil fänden immer von allem geistig gefordert zu sein. Als sei “genervt sein” oder auch “nicht interessiert” sein, etwas, das nur aus einer Nichtbedienung von Vorlieben heraus entsteht und nicht etwa auch aus Langeweile oder Überreizung, die bei Menschen, denen bestimmte (unangenehme) Dinge schneller und vielleicht unausblendbarer erscheinen, vielleicht schon nach zwei Episoden aufkommt und nicht erst nach 7 Staffeln.

Wir brauchen keine reine Beschäftigung mit Quantenphysik oder unterschiedlichen Systematiken, um unterhalten oder berührt zu werden oder uns bereichert zu fühlen, aber wir brauchen Klarheit, die in uns nicht entsteht, wenn Menschen ständig Dinge abschneiden, um es sich selbst leichter zu machen. Ich hasse sexistische Stereotypen in Serien zum Beispiel nicht, weil es mich nervt ein Hetenpaar nach dem anderen in den immer gleichen Konflikten zu sehen, sondern, weil sie mich auffordern mir im Kopf ständig das, was fehlt zu ergänzen.
Für mich ist dieses Ergänzen auch keine Entscheidung “mache ich das jetzt oder nicht?” sondern etwas, das mir Druck macht und nicht auszublenden ist.
Im Gegensatz zur gefühlten Mehrheit der Menschen kann ich nicht einfach Dinge weglassen, von denen ich weiß, dass sie eigentlich dazugehören.

Deshalb ist Traumabearbeitung für uns ebenfalls so ein allumfassend belastendes (bis erneut traumatisierendes) Ding.
Manche Menschen denken, es sei schlimm sich mit der traumatischen Situation zu befassen und neue Erkenntnisse über sich zu verarbeiten – ich finde es schlimm, weil sich mit jeder neuen Perspektive neue zu ergänzende Universen eröffnen und ich sie nicht beworten kann. Dann kann ich nach ein paar Tagen oder Wochen sagen: “Es arbeitet in mir” oder “Das ist alles ganz schön viel”, aber der ganze Rest bleibt in mir drin und muss von mir allein zurecht sortiert werden.
Und meistens schaffe ich genau das nicht – es entsteht Druck und noch mehr Druck und noch ein bisschen mehr Druck und es kommt zu so einem Moment, in dem ich merke, das es mir besser geht, mich aber auch fragen muss: “Oh – war dieses Innen schon immer da?”.

Es gibt laut verschiedenen Therapeut_innen, die mit rituell misshandelten Personen arbeiten, sogenannte “Programme”, die in diese Personen konditioniert/erzogen/trainiert wurden, um Geheimhaltung, stetige Verfügbarkeit und eine gewisse bedingungslose Hin(Her)gabe an die misshandelnden Personen(gruppen) zu gewährleisten.
Ich weiß nicht, wie oft Menschen schon von uns gedacht haben, wir hätten so ein Programm in uns drin, das Traumaarbeit verhindern soll, weil wir eben diese Reaktion von immer neu auftauchenden Innens haben, obwohl wir ganz sicher keine Gewalt wie früher mehr erfahren.

Und ich weiß auch nicht, wie oft ich schon geäußert habe, dass viele Innens bis heute eher aufgrund von Überforderungen bzw. dem toxischen Stress, der in mir entsteht, wenn ich überfordert bin (und keine Hilfe erhalte, weil es zu unbewortbar ist, um verstehbar nach außen gebracht zu werden und damit allein bleibe, weil es eben die Mehrheit der Menschen ist, die mich nicht versteht), entstehen.

Es ist aus meiner Sicht ein massiv unterbeachtetes Problem der Diagnose “dissoziative Identitätsstruktur”, dass viele Entstehungsmechanismen in Kategorien und Unterkategorien gesucht (und gefunden) werden, ohne die zum Beispiel in den Genen der betroffenen Personen angelegten (“naturgegebenen”) Faktoren gleichsam zu werten.
Natürlich passt die Idee, ich wäre so abgerichtet und gequält worden, dass ich nie “Eine” werde – die Idee, dass ich vielleicht mehr Unterstützung und Widmung nach einer Traumabearbeitung brauche, um nicht mehr werden zu müssen, damit ich hinter dem, was mein Kopf mir aufzeigt, nachkomme, passt aber genauso gut.

Hier kommen wir aber dann auch an die Probleme der Gruppe begleitender, therapierender und medizinisch be.handelnder Menschen, die sich und ihre Arbeit in Widmungsnormen und Zeitvorgaben gedrückt sieht und jeden Wunsch (jede Notwendigkeit) ihrer Klient_innen nach einem wie auch immer geartetem “mehr”, mit “mehr Aufwand”, “mehr (unbezahlte, unabgesicherte, nicht von der breiten Masse der Bevölkerung unterstützte und gewertschätzte) Arbeit”, “mehr abverlangter Kraft”, “mehr abverlangtem persönlichen Wachsen” abwägen muss.

Es ist am Ende, so argwöhne ich jedenfalls manchmal, dann irgendwie einfacher? befriedigender? egostreichelnder? richtiger? belohnter? aufopfernd und selbstlos für einen als massiv gequälten und ergo massiv leidend gelabelten Menschen gegen ein System zu kämpfen (und im Scheitern vor einer Übermacht mit den Behandelten verbunden zu sein).
Ja ja die Rosenblatt ist jetzt böse, das sie sowas ins Internet schreibt.
Ich weiß, dass es Menschen gibt, bei denen wirklich solche Programme gesetzt wurden – über die spreche hier aber nicht.
Ich spreche über Therapeut_innen, die die gegebenen Potenziale und Wuchsrichtungen ihrer Klient_innen ausblenden, um ihre eigene Situation von Über.Forderung und Rückhaltlosigkeit unter Kolleg_innen und Gesellschaft besser zu ertragen. Von Therapeut_innen, die ihren Klient_innen eher zwischenmenschliche Traumatisierungen, die zu Sprech- und Kommunikationsproblemen führten in die Patient_innenbiografie schreiben, als anzuerkennen, dass dort schon vor der Gewalt etwas schwierig gewesen sein könnte.

Ich weiß nicht genau, wie unsere Therapeutin uns so für sich persönlich einordnet, aber sie hat auf all unsere Abgrenzungen zu ritueller Gewalt (und allgemein jeder Objekt.ivierung dessen, was wir erinnern) geäußert, dass sie das akzeptiert und berücksichtigt.
Mehr brauchen wir nicht, um gut miteinander zu arbeiten.

Wie sich unsere Therapie verändert, sollte sich herausstellen, dass wir durchaus auch die Kriterien für eine sogenannte “Störung auf dem autistischen Spektrum” erfüllen, wissen wir nicht. Es gibt kein Buch zur Traumabehandlung von Autist_innen mit dissoziativer Identitätsstruktur.

Wir wissen nicht, ob wir ein weiteres rosenblattsches Special an uns integrieren und gleichzeitig an dem Wunsch ein Teil dieser Welt zu werden, festhalten können.

Fundstück

Meine Regulation ist gestört. Das weiß ich und trotzdem tauche ich meine Hände in die Küchenspüle.
Ob das jetzt zu heiß war oder nicht, werde ich schon noch erfahren. Denke ich. Es dampft nicht verdächtig und eigentlich habe ich nichts anders gemacht als sonst. Aber mir fehlt das Stück zwischen Reizerfassung und Erkenntnis.

Während ich den Abwasch mache, denke ich an das Kind und den Bösen. Der Böse ist auf einer Insel und irgendwo lacht es immer noch darüber, dass die Therapeutin ihn von uns versorgt wissen wollte.
Ich weiß gar nicht, ob die Bösen überhaupt solche Bedürfnisse haben. Sie haben ja nicht mal das Bedürfnis nicht als “die Bösen” von mir gedacht zu werden.

Ich kratze auf der Teflonpfanne herum. “Es haftet ganz schön inbrünstig auf so einer Antihaftbeschichtung”, denke ich und überlege, ob meine Hände eigentlich immer so rot sind, wenn ich abwasche.

Und das Kind? Wieso schreit es eigentlich gar nicht?
Weiß es denn nicht, dass es ihm etwas Schlimmes passiert..e? Es muss doch jetzt ein Weh haben, ein Weh klagen, ein Weh in den Äther schicken und schreien.
Das macht man doch so.
Wir hatten mit der Therapeutin besprochen, dass wir uns kümmern. Dass wir es von dort mitnehmen und gut versorgen. Weil man das so macht.

“Noch einmal mit Pril abwaschen.”, denke ich, “und dann ist die Flasche alle und dann können wir endlich wieder das Fit nehmen.”. Ich denke an die Frauenhände meiner Familie* in Küchenspülen neben denen oft, immer, manchmal, das Fit stand und merke, wie erbärmlich meine Art Familien*verbundenheit eigentlich ist. An andere Dinge, die mich dem was eine meine Familie* hätte würde wenn gewesen worden wäre, näher bringen, kann ich mich aber auch nicht erinnern.

Es schreit nicht, es weint nicht, es bewegt sich nicht. Ich fühle nur Nichts von ihm. Weißes Rauschen, das kein Dissen ist.
Ist es dann eigentlich leiden? Wenn es nicht leidet, braucht es dann “gut kümmern” von uns?

Mein Abwasch ist fertig und in der Spüle vor meinem Bauch, treiben Speisereste, Fettaugen und letzte Restschauminseln umher.
“Wie fühlt sich eigentlich Ekel an?”, frage ich mich und fühle mich so fern von all dem was ist und wäre hätte würde wenn. “Wieso habe ich das jetzt eigentlich gemacht?”.

Ach ja, da war das Kind, vielleicht im Grundschulalter, das vor einer Wand kniet und weder sieht noch hört, noch ist und die Frage, ob es wohl leidet.
Und die Verlassenheit vor der Frage, ob man sich kümmern muss, wenn es kein Leiden gibt.

Die Frage was Leiden ist.

Und der Versuch um etwas anderes als dieses weiße Rauschen, das nicht ist und war und wird und ganz in Wahrheit überhaupt alles gar nicht ist.
So wie ich.

manchmal…

blubbern
“manchmal denke ich,
dass ich mir ein Loch unter der Nase graben muss,
damit das ganze Kopfblubbern raus kann”