der Perfektionismus – #AutismAcceptanceMonth

Perfektionismus gilt als Persönlichkeitsmerkmal, das mit (extrem) hohen Leistungsstandards und Ansprüchen an die (soziale) Umwelt einhergeht. Viele autistische Menschen werden als perfektionistisch bezeichnet oder als solche gedacht. Vor allem, wenn es darum geht, ihnen zu vermitteln, dass ihre Ziele, Wünsche oder Ansprüche die Grenzen der (sozialen) Umwelt berühren oder brechen könnten.

In solchen Situationen wird nicht gesagt: „Du möchtest zu viel von mir“, „Du überforderst meine Möglichkeiten“, „Du willst etwas Unrealistisches“ sondern „Du bist perfektionistisch. Wärst du nicht, wie du bist, dann hätten wir hier kein Problem.“ oder „Dein Perfektionismus verzerrt deine Wahrnehmung der Realität – du bist nicht fähig richtig einzuschätzen, was richtig ist.“
Es passiert also eine Situation, in der eine Person die Deutungsmacht über die Situation an sich nimmt und die andere Person als nicht nur in ihrer Veräußerung, sondern auch in ihrer Persönlichkeit (ihrem Sein) falsch einordnet.

Perfektionismus ist meiner Ansicht nach ein Schutz- weil Verteidigungsmechanismus.
Wer sich stets und ständig 100 von 100 möglichen Punkten reinholt, stets und ständig alles und immer richtig macht, senkt das Risiko als Fehlerquelle wahrgenommen und abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden. Perfektionismus ist ein Verhalten, das viele Menschen besonders in gewaltvollen Kontexten erlernen und einüben, weil es auch ihr Risiko der Verletzung (der Lebensgefahr) senkt. Es kann wie jedes andere Verhalten so lange eingeübt werden, dass es als genuiner Teil der Persönlichkeit, des Seins, eines Menschen erscheint und auch von den betroffenen Menschen selbst irgendwann nicht mehr als Reaktion, sondern als aktives Handeln aus sich selbst heraus empfunden wird.

Ich für mich selbst bin nicht perfektionistisch. Ich bin fixiert auf Vervollständigung und das ist ein Unterschied, den ich immer wieder deutlich zu machen versuche. In der Regel mit mäßigem Erfolg. Möglicherweise, weil ich Gewaltopfer war und man meine Selbstaussagen deshalb nicht ernst nimmt, möglicherweise aber auch, weil sich der Vorwurf von Perfektionismus in unserer Gesellschaft besser als (kommunikative) Waffe eignet.

Ich bevorzuge Vollständigkeit, weil ich mich darin leichter und weniger energieaufwendig zurechtfinde.
Meine Selbst- und Umweltwahrnehmung ist fragmentiert, also unvollständig. Was ich nun sowieso jeden Tag mehrmals machen muss, ist die Eindrücke von meiner Umwelt und mir zu verbinden, um ein (annähernd) vollständiges Bild davon zu erhalten, was (mir) passiert ist und wie der Status des Kontextes ist, in dem ich mich befinde, um eine (annähernd) korrekte Einschätzung darüber zu bekommen, wie ich mich wann wem gegenüber und warum verhalten könnte.
Diese ständige Vervollkommnungsarbeit wird mir erheblich erleichtert, wenn sich Menschen konkret ausdrücken, spezifische Sprache verwenden und mir eindeutig klargemacht wird, welches Verhalten oder auch welche Leistung von mir erwartet wird. Es hilft mir auch, vergleichsweise wenig Varianz in meiner Umwelt zu haben und so wenig wie möglich Abweichung kompensieren zu müssen. Wenn etwa Geräte genau nach Bedienungsanleitung verwendet werden können oder die Räume, in denen ich öfter Zeit verbringe, nicht immer wieder umgestellt oder neu dekoriert werden.

Ich brauche im Alltag mindestens eine Ahnung von der Vollständigkeit der Dinge und Kontexte um mich herum, damit ich mir bestimmter Dinge sicher sein kann. Dabei geht es nicht darum, dass ich mich sicher fühlen möchte, denn dieses Gefühl konnte ich bisher noch nie irgendwo wirklich vollständig herstellen. Es geht um Vorhersehbarkeit und um Klarheit darüber, wie umfassend ich auf meine Schutzmaßnahmen zurückgreifen kann. Also wie und womit ich mich verteidigen bzw. schützen kann.
Seit ich mir diesen Wunsch als legitimes Grundbedürfnis anerkannt habe, statt es weiter als perfektionistische oder traumabedingte Verzerrung meiner Realitätswahrnehmung und deshalb falsch, irrelevant, krankhaft, nicht zuverlässig … zu sehen, schaffe ich es, mir Kontakte und Räume zugänglich zu machen, in die ich vorher praktisch ausschließlich in mehr oder weniger stark dissoziierten Zuständen gehen konnte. Grundbedürfnisse gehören zum Leben. Wer sie nicht achtet, stirbt. Da kann man noch so perfekt die Realität gesehen haben.

Meine Vollständigkeitspraxis ist im Allgemeinen logisch.
Dennoch vervollständige ich (gleichermaßen logisch durch die inzwischen 37 Jahre lange Praxis dessen) zuweilen auch Dinge, die keiner Vervollständigung bedürfen oder nur unter unnötigem Energieaufwand oder auch nie zu vervollständigen sind. Zum Beispiel abgeschnittene Dekormuster. Wegplatten. Die Gespräche von Komparsen in Filmen. Geschirrsets. Serien, die ohne Finale eingestellt wurden. Ich bin mir dessen bewusst, habe Gefühle dazu, kann sie aber auch wieder ziehen lassen, wenn ich die Gründe dafür nachvollziehen kann.
Außerdem genieße ich geometrische Vollständigkeit, die mit Symmetrie einhergeht, sehr, weil sie mir als einziges visuelles Stimming ermöglicht, das in der Regel nicht sozial unerwünscht ist. Scheinbar gibt es hier eine Schnittmenge mit den meisten Menschen.

Vollständigkeit ist kein Synonym für Perfektion.
Zu vervollständigen kann eine Beschwichtigungsgeste sein, weil es (berechtigte) Ängste vor Fehlern oder Mängeln gibt. Ich habe die letzten mir fehlenden Staffeln „Emergency Room“ aber nicht gekauft, weil ich Angst davor habe, dass mein DVD-Regal scheiße aussieht, wenn eine unvollständige Serie darin steht, sondern weil ich weiß, dass ich sie im Kopf immer wieder vervollständige, wenn ich sie sehe.
Jetzt gehe ich daran vorbei, bin froh über die Vollständigkeit

und peste mich, dass die Boxen nicht alle das gleiche Design haben. 😅

der Unterschied – #AutismAcceptanceMonth

Mein autistisches Geschwist hatte im Kindergartenalter den gleichen Kopfumfang wie ich als Grundschulkind. Damals als kurioser Befund von der Kinderärztin und als Beweis meiner Dämlichkeit von den Eltern behandelt, weiß ich heute, dass Autismus mit neuronaler Hyperkonnektivität einhergehen kann. Es werden sehr viel mehr Verbindungen hergestellt und weniger schnell wieder verworfen. [1]
Ein Biomarker ist das jedoch nicht. Eher eine weitere Theorie auf der Forschungsreise zum Ursprung von Autismus. [2]

Als erwachsene autistische Person kann ich diesem Ziel der Forschung nur wenig abgewinnen. Die Ursache von etwas zu finden, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, dient lediglich dem Erkenntnisgewinn zur Verhinderung von Wiederholung in der Zukunft. In Bezug auf autistische Menschen bedeutet dies Eugenik. Die Verhinderung von autistischem Leben.
Mich interessiert viel mehr, was autistische Menschen von nicht-autistischen Menschen unterscheidet, um mein Leben unter überwiegend nicht-autistischen Menschen gut zu gestalten. Verstehe ich mich, so denke ich, verstehe ich andere Menschen besser. Um mich zu verstehen muss ich auch mein Autistischsein verstehen.
Und was ich bisher verstanden habe ist, dass ich mich kaum im Was unterscheide, im Wie jedoch erheblich.

Ich kann sehr viel von dem, was neurotypische und nicht-autistische Menschen können. Kann mein Verhalten so gut anpassen, dass ich kaum noch ein Kriterium aus dem DSM oder den ICD erfülle und mein Innenleben so gut von mir dissoziieren, dass ich so gut wie nichts darüber sagen oder fühlen oder bewusst begreifen kann, wie mich was wann warum belastet oder behindert.
Mein maskiertes Leben ist de facto ein neurotypisch funktionierendes. Ein Modus des Was, ein Modus der Funktion durch Nachahmung, Spiegelung, Anpassung.

Mein Wie jedoch ist anders. Autistisch eben.
Der Umstand, wie ich Dinge wie Interaktion und Kommunikation, meine Orientierung in verschiedenen Kontexten herstelle, ist nicht wie bei neurotypisch entwickelten Menschen und auch nicht wie bei nicht-autistisch neurodivergenten Menschen.
Manchmal fühle ich mich sehr einsam in meinem Wie, weil es nur durch Abgrenzung sichtbar wird. Ich merke, dass meine Art der Beobachtung und Herleitung manchen Menschen sehr unheimlich ist – sie sich objektifiziert oder entmenschlicht, oft sogar persönlich abgelehnt fühlen, wenn ich mich so authentisch zeige, wie ich bin. Sobald ich mich authentisch zeige, wird die Grenze sichtbar, die ich meistens stillschweigend kompensiere, um Gefühle nicht zu verletzen, die ich selbst nie habe und in der Regel auch überhaupt erst dann nachvollziehen kann, wenn ich mich ganz verlasse.

Problematisiert wird oft nur das. Der Umstand, dass autistische Menschen oft einsam unter vielen neurotypischen Menschen sind, wenn sie sich gut maskieren und in vielen Bereichen sehr angepasst funktionieren können – oder dass autistische Menschen sehr viele (neurotypische) Menschen und ihre Kapazitäten an sich binden, wenn (weil) sie nicht gut maskieren (können) und/oder in vielen Bereichen nicht angepasst funktionieren (können).
Deshalb gibt es die Diagnose „Autismus“ – ein Substantiv, ein Ding, ein Was – und viel Expertise rund um Anpassungstrainings Therapien, aber keine allgemeine Akzeptanz des Wie von autistischen Menschen. Keinen Willen zur Ver_Bindung, keine Bereitschaft sich für andere Wege und Ansichten zum Was des Lebens und Miteinanders zu öffnen.

Für mich ist das der Unterschied zum Er_Leben nicht-autistischer Menschen.
Mein Wie wird als ein Was behandelt.

 

[1] Askham, Angie. (2021). Synaptic overgrowth, hyperconnectivity may define autism subtype. Spectrum. 10.53053/QQHB1099. 
[2] The connectivity theory of autism, explained (Link zu Spectrum News)

die Sichtbarkeit – #AutismAcceptanceMonth

Wenn man Menschen fragt, welche Superkraft sie gern hätten, sagen viele, dass sie gern unsichtbar wären.
Sie versprechen sich davon viel Teilhabe an Interaktionen in Situationen und Kontexten, von denen sie ausgeschlossen wären, könnten andere Menschen ihre Anwesenheit feststellen. Sie versprechen sich davon, andere Menschen authentisch zu erleben. Zu hören, was andere über sie sagen; zu erleben, wie andere handeln, wenn sie nicht von ihnen bzw. ihrer Präsenz beeinflusst werden.

In unserer Gesellschaft geht Sichtbarkeit nie mit der bloßen Feststellung dieser Sichtbarkeit einher. Niemand sieht etwas oder jemanden und lässt es ohne Bedeutung für sich selbst und den eigenen Kontext.
Was in unserer Gesellschaft sichtbar ist, wird von Systemen in Systeme geordnet. Und auch diese Ordnung wird wieder von Systemen in Systeme eingeordnet. Diese Ordnung ist von Bedeutung, weil niemand von uns mit Bedeutungslosigkeit umgehen kann. Selbst die Dinge, die völlig irrelevant, egal, schlicht hinzunehmen sind, müssen wir als irrelevant, egal, schlicht hinnehmbar einordnen, um sie irrelevant, egal, schlicht hinnehmen zu können. Niemand braucht sich einbilden, dass Bedeutungslosigkeit ihm_ihr nichts anhaben kann. Wir sind Gesellschaft, weil wir Bedeutung nicht nur produzieren, zuweisen, verändern können, sondern auch leben.

Viele autistische Menschen wissen, dass sie autistisch sind, weil sie von anderen Menschen gesehen wurden und die sichtbaren Unterschiede zu nicht-autistischen Menschen als Autismus bezeichnet werden. Denn so funktioniert Diagnostik nach DSM und ICD, den Diagnostikhandbüchern für Krankheiten aller Art. Sichtbar Abweichendes gilt als Symptom, aus Symptomen wird Krankheit abgeleitet.
Es gibt keine Symptome von Normalheit.
Das Normale sieht man nur mit dem Herzen gut.
Weil es keine Augen hat.
Und weil es keine Ordnung gibt, die auf das Vorhandensein sichtbarer Eigenschaften verzichtet.

Dass ich autistisch bin, sieht man nicht. Es sei denn, man weiß um die Bedeutung von Dingen in dieser Welt für mich persönlich.
Ich kann meine Sichtbarkeit für andere Menschen in vielen Bereichen steuern und das finde ich großartig. Ich erlebe das als eine erstrebenswerte Superkraft, an deren Perfektionierung ich gezielt arbeite. Obwohl ich weiß, dass es eine Superkraft ist, die mir nicht natürlich inneliegt und die ich hauptsächlich deshalb als erstrebenswert empfinde, weil sie mir zu mehr Teilhabe verhilft als mir die Gesellschaft ermöglicht, wenn sie mich sehen kann.

Möchte ich dennoch als autistischer Mensch gesehen werden? Ja. Natürlich.
Aber bitte lieber mit dem Herzen.

 

P. S. Die Superkraft, die ich gern hätte, ist nie müde zu werden.
Ich würde meinen Kram machen während alle schlafen und meine Freizeit und Sozialitäten erledigen, wenn alle wach sind.

 

 

a puzzling condition – #AutismAcceptanceMonth

Autismus als rätselhafter Zustand – so hat man sich das damals gedacht. 1963, bei der National Autistic Society. A puzzling condition [1], ein Rätsel an alle, das sich nur Teilen erfassen, verstehen, verbinden lässt.
Später kam die Schleife dazu. Wegen der Hoffnung.[2] Irgendwie.
Und dann – wozu das Rad neu erfinden – hat Autism Speaks das blaue Puzzleteil für die Verbreitung seiner speziellen Auffassung von Autismus benutzt und tut das noch immer.[3]
Heute gehört es zum Ritus des #AutismAcceptanceMonth, das Puzzleteil abzulehnen und möglichst vielen Menschen zu sagen, dass an Autismus überhaupt gar nichts „puzzling“ ist, wenn man autistischen Menschen nur endlich zuhört, statt über sie hinweg zu sprechen, zu entscheiden, zu lehren.

Als autistische, komplex traumatisierte Person mit DIS ist das für mich nicht so machbar.
Ich er_lebe dissoziiert. Ich er_lebe meine Umwelt und mich durchaus immer wieder mehr oder weniger stark fragmentiert. Es ist sehr schwer für mich, Verbindungen herzustellen. Ein Großteil dessen, was mich beschäftigt oder bewegt, was mich stört oder auch erfreut, ist mir mehr oder weniger Rätsel und je mehr ich versuche diese Eindrücke in ihrer Rätselhaftigkeit für mich darzustellen, zu erklären und andere Menschen zur Lösung einzubeziehen, desto größer wird die Kluft zwischen meinen Mitmenschen und mir.

Das ist nicht nur der Autismus – ja. Dann verzichte ich vielleicht speziell im April auf diese Metapher, um die Forderungen anderer autistischer Menschen nicht zu untergraben. Aber langfristig kann ich das nicht – und will es auch nicht.
Der K.r.ampf um das Symbol für Autismus – warum führen wir ihn eigentlich noch? Es gibt ein neues – das regenbogenfarbene Unendlichkeitsymbol – warum muss nach seiner Etablierung jetzt noch jedes andere Symbol ausgerottet werden? Warum ein Kampf um Symbole, wenn dem eigentlich ein anderes Ziel zugrunde liegt, nämlich das der Deutungshoheit. Die wollen viele autistische Menschen haben, weil sie glauben, damit viel anfangen zu können, um die Situation für autistische Menschen zu verbessern. Vielleicht stimmt das. Ich hingegen sehe in Deutungshoheit über etwas so vielfältiges wie Autismus eine notwendigerweise zu teilende Macht.

Speziell Autismus bringt stets einen Imperativ an die eigenen kommunikativen und interaktiven Anpassungsfähig- und fertigkeiten mit. Sowohl an nicht autistische Menschen als auch an autistische Menschen. Ein Hauptproblem – des puzzlings Pudels Kern sozusagen – ist doch, dass die einen fordern, dass man ihnen zuhört und die anderen, dass man endlich („angemessen“/“richtig“) mit ihnen spricht.
Es wird nicht gehen, wenn sich nicht beide Seiten aneinander anpassen – nicht beide Seiten versuchen einander zu verstehen.

Ganz klar ist das keine Aufforderung „doch bitte die armen kleinen nicht autistischen Menschis“ auch zu verstehen und nicht ganz so arg bös und radikal fordernd aufzutreten“ – auf keinen Fall!
Es ist eine Aufforderung dazu, nicht autistischen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst im Verhalten gegenüber autistischen Menschen und der Mitwelt nicht nur zu verstehen, sondern auch zu begreifen – und andersherum die Aufforderung an nicht autistische Menschen, dafür zu sorgen, dass autistische Menschen sich selbst im Verhalten gegenüber nicht autistischen Menschen und ihrer Mitwelt nicht nur verstehen, sondern auch begreifen können.

Für mich ist die Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen in nur 10 bis 15 Prozent der Fälle kein potemkinsches Dorf. Keine Fassade, die mich schützt, kein reflexhaft hochgehaltenes Schild aus meinen verbalen Skripten und antrainierten Sozialperformances. Es ist mir ein Rätsel, was ich neben dem, was ich sagen will, noch sage, wenn ich etwas sage – ich rate aus Antworten, ich habe so gut wie nie den festen Boden der Eindeutigkeit unter mir, sobald ich mich nicht schriftlich mit anderen Menschen befasse.
Und ja, das und mehr ist puzzling. Vielleicht bin ich für andere Menschen manchmal puzzling. Und ja, für manche Menschen war dieser Umstand auch Anlass mich schlecht zu behandeln oder über meinen Willen hinweg zu entscheiden oder an meiner statt zu sprechen. Mein Sein nicht als rätselhaft, sondern als Varianz zu sehen, würde daran in unserer Gesellschaft, mit unseren Erwartungen und daraus entstandenen Normen kaum etwas verändern.
Es verändert etwas anderes und darauf möchte ich mich in den nächsten Jahren konzentrieren – Mystizismus um autistische (komplex traumatisierte) Menschen. Denn rund um Autismus gibt es diese ganz ähnliche Basis für zuweilen missbräuchliches Verhalten, wie es das bei der DIS auch heute noch in manchen sozialen Bubbles gibt: Weil es noch nicht für alles wissenschaftliche Belege gibt, wird alles als möglich angenommen. Und anekdotische Evidenz wird auf einer Ebene wie wissenschaftliche Evidenz akzeptiert.
Im Kontext „Autismus“ findet sich das sehr viel in Bezug auf Heilung – bei der DIS sehr viel in Bezug auf die Entstehung bzw. das konkrete Herstellen einer DIS, aber auch die Unterschiedlichkeit der dissoziativen Selbstzustände (Innens, Innenpersonen, Anteile) und ihre Fähigkeiten.

Dabei gibt es heute sehr wohl sehr elaborierte Studien und enorm viel Sachwissen – es ist einfach nur unfassbar exklusiv.
Es wird nicht frei zur Verfügung gestellt, es wird nicht barrierefrei vermittelt, es wird zum Teil fachlich falsch vermittelt und es gibt bis heute weder einheitliche Behandlungsstandards noch werden die Behandelten in die Erstellung von Qualitätskriterien und Strukturen der Qualitätssicherung einbezogen.
Hinzu kommt, dass vor all dem Wissen und damit ja auch Begreifen von sich selbst, eine Diagnose stehen muss. Obwohl allen naturwissenschaftlich gebildeten Menschen klar sein sollte, wie unsinnig es ist, natürliche Varianz mit Mitteln der Pathologie zu ordnen bzw. zu behandeln – auch wenn sie nicht angeboren ist, wie im Fall der DIS.

Ich selbst versuche, mich als Forscher_in zu verstehen. Das erscheint mir nur logisch, denn wer sonst befasst sich mit Rätseln ohne sie lösen zu wollen oder von sich zu erwarten, sie (allein) lösen zu können?
Für mich ist diese Haltung wichtig, um meine Akzeptanz mir selbst gegenüber wachsen zu lassen – aber auch, um aus meiner Forschung zu lernen. Ich leite daraus keine Deutungshoheit über Autismus generell ab – aber über mich und die Rätsel, die ich er_lebe.

Wofür

Kleben blieb, dass sie sagte „Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wofür sie da raus sind“.
Weil es ein wunder Punkt ist. Etwas, das mir lange das Gefühl gab, ich könne meine Situation nicht mit der von Menschen vergleichen, die aus komplett abgeschlossenen Gemeinschaften oder Gruppen ausgestiegen sind.

Ich bin da nicht raus, weil ich einen Vergleich angestellt habe und fand: „Ja, nee, draußen ist schon besser für mich. Da bin ich frei, Freiheit ist cool, ich will coole Freiheit.“ Am Anfang meines Lebens „draußen“ stand keine Möglichkeit mir aufzuzählen, was ich jetzt alles darf und vorher nicht. Ich durfte immer alles tun oder nicht tun. Die Grenzen unter denen viele Aussteiger_innen aus „high controlling groups“ gelitten haben, habe ich gesucht, habe ich verlangt – ziehe ich mir heute in mein Leben um Halt und Orientierung zu haben. Mein Leben im Kontext organisierter Gewalt war nicht die Hölle und hat sich, was den täglichen Energieaufwand, die Zermürbung, die seelenzerquetschende Inkongruenz zwischen mir und dem Rest der Welt betrifft, ehrlich gesagt nur im Framing des Leidens darunter unterschieden. Jedenfalls soweit ich mich daran erinnere.

Viele sprechen von ihrem Ausstieg als eine Art Ausbruch aus einem Kerker – ich habe viele Jahre nur in einem Hundekäfig schlafen können, weil es der Rahmen war, in dem ich überhaupt Entspannung finden konnte. Ruhe im Kopf, Orientierung in meiner Körperlichkeit, Pause vom ständigen Greifen nach Dingen außerhalb von mir, um mein eigenes Ende zu fühlen.
Ich litt nie unter der Todesangst anderer Aussteiger_innen, die sich mit freiem Willen oder freien Entscheidungen eingestellt hat. Mir hat nie jemand verboten frei zu denken oder frei zu wollen – ich wurde immer nur für falsches Handeln, falsches Wollen umgebracht. Das ist ein Unterschied. Und ja, ich sehe, wie perfide das ist. Wie elaboriert bösartig das ist, gerade weil das außerhalb solcher Kontexte auch passiert.

Ich bin nicht für irgendetwas ausgestiegen und bleibe auch nicht für irgendetwas ausgestiegen. Ich bin wegen etwas ausgestiegen und das ist im Moment ein Problem, weil es sich bedroht anfühlt.

Vor einigen Jahren formulierte ich, dass das Leben immer nur sich selbst für sich selbst will. Weil das so ist.
Mir war klar, dass viele Menschen diese Formulierung nicht verstehen würden, weil sie sich selten, manche auch nie, mit solcherlei in sich geschlossenen, sich selbst brauchenden, selbst befriedigenden, selbst erschaffenden Systemen befassen. Dabei ist daran überhaupt nichts geheimnisvoll oder kompliziert zu verstehen – es ist nicht einmal besonders, sondern vielleicht einfach viel zu naheliegend, um es zu bemerken. Oder auch zu sehr im Widerspruch mit der Norm, in der alles Sinn und Zweck über sich selbst hinaus haben muss, um als etwas behandelt zu werden. Ein Menschenleben zum Beispiel. Oder ein Lebensziel.

Ich wusste, dass ich sterben würde, würde ich in diesen Kontexten bleiben. Entweder durch jemanden, die_r sich nicht genug im Griff hat oder durch mich selbst, weil ich mich nicht genug unter Kontrolle hatte, um mein eigenes Nicht_Handeln vorherzusehen oder zu beeinflussen. Und ich wusste, dass ich lebe. Dass das ein eigener Wert ist. Eine eigene Ressource. Dass ich, um zu leben, am Leben sein muss.
Und dass ich diesem Kontext nicht geben können würde, was er von mir braucht, fordert, erzwingt, wenn ich tot bin.

Mein Ausstieg war also nie die totale Abgrenzung von diesen Leuten und dem, was sie tun oder glauben, sondern das einzige Mittel, dass ich noch hatte, um zu tun, was sie von mir wollten. Es war eine täter_innen- eine kontextloyale Entscheidung.
Keine Umarmung meiner individuellen Freiheit. Keine Selbstermächtigung. Keine heroische Selbstrettung. Keine Entscheidung aus einem wundersam erhalten gebliebenem Körnchen Selbstwert. Ich hatte einfach nur Glück, mit meinen Überlegungen zufällig die eine logische Lücke in dem ganzen Gebilde gefunden zu haben und damit keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte.

Ich habe die Intentionen dieser Menschen nie verstanden. Selbst heute, wenn mir außenstehende Menschen erzählen, ich sei so sehr angelogen worden, sie hätten immer nur ihre eigenen Ziele verfolgt – ich verstehe es nicht. Für mich handelten sie logisch im eigenen Bezugsrahmen. Sie haben mich also nie angelogen. Sie wollen eine bessere Welt möglich machen. Das wollen viele andere Menschen mit anderen Mitteln auch tun. Wo ist also die Lüge? – In jedem anderen Bezugsrahmen, außer dem, in dem es passiert ist.
Zu welchem Bezugsrahmen gehöre ich? In welchem Kontext hat mein Leben nur eine Bedeutung für sich selbst? – Bis jetzt nur in meinem eigenen. Und in dem sind die Bezugsrahmen anderer Menschen und Gruppen für mich eher Räume, die ich vereinzelt betreten darf. Mal nur kurz und für den Zeitraum einer Arbeit oder gemeinsamen Tätigkeit – und mal über Jahre hinweg, sodass ich das Gefühl habe, ich gehöre dazu, dürfte Wurzeln schlagen und mich verbinden, obwohl ich weiß, dass Verbindung nicht das gleiche wie Verschmelzung ist.

Und das ist das einzige, das mich heute trägt. Dass ich weiß, dass selbst, wenn wir wieder zurückgehen, um das im Moment praktisch 24/7 in mir hallende Schreien, die Todesangst, die Albträume, dieses fahrig zittrige Greifen nach Halt zu beenden, es nicht bedeuten würde, einen Bezugsrahmen zu betreten, mit dem wir 1 zu 1 verschmelzen würden.

Es wäre alles anders und alles gleich.
Wozu also der Aufwand.

der Himmel ist über den Lebenden

„Der Himmel beginnt, wo die Erde aufhört. Kannst du das fühlen?
Wie deine Füße die Erde berühren, aber nicht die Erde sind.
Wo du dich mit dem Planeten verbindest, ohne ein Teil von ihm zu werden.
Wie leicht es ist, den Kontakt herzustellen.
Du musst nichts Besonderes machen, merkst du das?
Fühl mal, wie das einfach passiert.“

Ich höre ihnen zu. Spüre, wie sie spüren. Wie sie sich der Welt versichern und ineinander halten. „Sie sind frei beweglich“, das hat die Therapeutin stark betont. Ich bin steif und wund. Sitze im Zug nach Hause von einer Stunde, die so schlimm entgleist ist, wie lange nicht mehr. Ich habe keine Angst mehr, aber die Angst hat mich. Schrille Todesangst. So hochfrequent, dass sie kein heftiger Ausschlag ist, keinen Krater schlagend in mir wirkt, sondern wie eine gleißende Schnur alles durchdringt. Alle Energie ist in der Angst. Da ist nichts mehr übrig, um zu sagen: Ich habe Angst. Nichts mehr, um zu weinen, nach jemandem zu greifen, die Augen zu öffnen und Trost in der Omnipräsenz des Himmels und der Schwerkraft zu finden.

Es ist vorbei, sage ich mir am ersten Bahnsteig. Die Therapie. Ich stecke meine Nase in eine der Bäckertüten. Der süße Duft des Brotes krabbelt in mich hinein, bis ich nicht mehr einatmen kann. Als zwei junge Menschen auf mich zukommen, greife ich nach meiner Maske. Fühle die Scham, wie einen Sog in die Tiefe. „Do you speak English?“ Ich nicke und werde zum Streckengeleit. Sie kommen aus der Ukraine. Wollen nach Bremen. Die Bahn hat viele Baustellen und Verspätungen. Wir setzen uns zusammen. Sie sind tief müde, ich blute aus Wunden, die niemand sehen kann, der Zug fährt durch den Sonnenschein.

Auf der letzten Etappe wird eine 3G-Kontrolle angekündigt. Ich frage die beiden Menschen, ob sie die Corona Warnapp kennen, ob sie einen Test gemacht haben oder einen Impfnachweis besitzen. Nein, nein, nein, scheiße. Sie sind Schwarze Menschen. Die Angst, die bei den Worten „checking your verification“ in ihnen hochkriecht, ist ein Sturm, der nur von ihrer Haut bedeckt wird. Ich sage, dass meine Station gleich kommt, dass ich aber bleiben kann, wenn sie meine Unterstützung in der Situation wollen. Sie sagen ja, ich bleibe. Warte. Schreibe an meine Kolleg_innen, ob sie wissen, ob geflüchtete Menschen 3G erfüllen müssen, um zu einer Unterkunft zu kommen. Schreibe dem Partner. Warte. Die Unruhe zieht mich leer, bis ich ins Handeln falle.
Ich laufe den Kontrolleuren in die falsche Richtung entgegen. Der Krach im Zug ist wie ein Meer ohne Oberfläche. Als ich zurückkomme, palavert ein Coronaclown unsinniges Zeug mit einem anderen Coronaclown. Zum ersten Mal seit Pandemiebeginn ist mir so jemand in meiner Umgebung nützlich, denn sie werden sich nicht beschweren, wenn zwei Leute neben ihnen möglicherweise nicht geimpft oder getestet sind.

Und dann läuft alles ganz unspektakulär. Der Kontrolleur schickt seine Sicherheitsleute weiter und sagt mir, dass er eine Ausnahme macht, bevor er, ohne das Wort an die beiden Leute zu richten, weitergeht. Ich übersetze, teile meine Nummer und die Masken, die ich heute nicht mehr brauche. Wir trennen uns an meiner Station, ich wünsche ihnen alles Gute, ohne jede Vorstellung, was das sein könnte.

„Der Himmel ist alles, was du fühlen kannst, wenn du einfach so dastehst.“
„Sterben wir alle?“
„Ja. Und jetzt leben wir, merkst du das?
Der Himmel ist über den Lebenden.“

Grenzen

Die Sonne geht gerade auf, Wolken schleichen um sie herum, am Horizont steht eine Gruppe Wild.
Ich fahre zur Schwimmhalle, blinzle mir Fetzen aus den Augen. Der Impuls ist, sich zu verkriechen. Einrollen, verstecken, dunkel, still, nichts und niemand. Ich spüre ihn genauso deutlich wie den monolithen Leuchtturm in mir, der mich in die Selbstfürsorge leitet.

Das Wasser ist kühl, im Becken schwimmen außer mir nur drei andere Menschen. Das Morgenlicht wird zu hellen Rhomben, Drei- und Vielmehrecken auf der Oberfläche. Ich schalte meine Augen aus, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Zwei Wochen war die Schwimmhalle geschlossen, weil so viele Mitarbeiter_innen krank gewesen sind. Ich liebe, wie anstrengend es nun wieder ist, mich vorwärtszubewegen. Meine Glieder schreien mich an, ich fühle mich ihnen näher als vorher. Die dumpfen Erinnerungen auf meiner Haut werden zu Schatten und verlieren ihre Macht über mich. Und endlich kann ich es loslassen. Das drängende Gefühl, mich um etwas kümmern zu müssen, was seit mehr als 25 Jahren nicht mehr bekümmerbar ist. Das Gefühl des Versagens, das damit verbunden ist. Das Gefühl der Überforderung vor einem Anspruch, der vielleicht nur von mir ausgeht, aber irgendwie doch nicht so richtig vom Außen zu lösen. Die Furcht vor Gesprächen, die dem Geständnis der Nichtversorgung von Kinderinnens folgen könnten.

Meine körperliche Anstrengung gleicht meiner psychischen. Ich fühle mich rund in mir und kann leichter mit der Eckigkeit der Welt umgehen. Ihre scharfen Kanten müssen im richtigen Winkel auf mich treffen, um nicht an mir abzurutschen, ich muss nur meinen Sicherheitsabstand zu ihr bewahren. Grenzen setzen, vielleicht.

In Gedanken suche ich meine Körpergrenzen ab und stolpere in die Geschichte meiner Narben. Ja, auch das war Kongruenz, Metapher, reale Invasion. Selbstverletzung, Angriff, Zugriff. Aus- und Nutzung. Leute, die Kinder schneiden, Kinder, die sich schneiden. Wenn man das übereinander legt, gibt es nicht nur Gegensatz und Ausschluss, sondern auch Gemeinsamkeit. Kongruenz. Rundsein. Identität.

Auf dem Rückweg scheint die Sonne. Nicht mehr lange, dann können wir wieder mit dem Fahrrad zur Schwimmhalle fahren. Ein Kinderinnen schickt mir seine Freude über den Gedanken durch ein Fuchteln. Manche Grenzöffnung ist okay.

Ist dir der Begriff „Trauma“ zu groß, ist dein Verständnis von Gewalt zu klein.

„Mir ist da das Wort „Trauma“ oft zu groß.“
Wir sprechen über Autismus und Trauma, ich darüber, dass es mich fassungslos macht, dass viele Autismustherapeut_innen mit Opfern von Peer-Gewalt („Mobbing“) arbeiten, aber sich primär auf deren Autismus konzentrieren.

Auf dem Weg nach Hause merke ich, dass ich wirklich Glück hatte.
Ein Haufen feministisch bewegter Frauen haben mich in den letzten Jahren therapiert und begleitet. Oft transfeindlich feministisch bewegte Frauen und in der Regel auch sexarbeit-feindlich feministisch bewegte Frauen, aber immer Frauen, denen klar war, dass meine Verfassung, mein InDerWeltSein ausschließlich mit meiner Verwundung zu tun hat – aber nie der wahre Grund für die Gewalt an mir war.
Ich musste niemals – wirklich, bei aller Falsch- und Schlechtbehandlung, die ich erfahren habe, niemals! – damit umgehen, dass jemand versucht hat, mir zu vermitteln, dass ich mich anders verhalten, anders mit den Menschen umgehen soll, die mich als Person absichtlich verletzen, damit sie mich nicht (weiter) verletzen. Vielen autistischen Kindern und Jugendlichen, die in der Schule gemobbt werden, passiert das aber und ich halte das für absolut miese Drecksscheiße, die nur von Erwachsenen kommen kann, die Kinder nicht als Täter_innen und Mobbing nicht als Gruppengewalt anerkennen können und/oder wollen. Und also bei aller guten Intention und Zugewandtheit trallalala – keine echten Verbündeten der Kinder und Jugendlichen sind.
Das sind in der Regel die gleichen Erwachsenen, die Wunden erst bei fließendem Blut oder maximaler Dysfunktion eines Menschen – also gewissermaßen im Katastrophenfall – als solche überhaupt verstehen und das Konzept von psychischer/emotionaler Gewalt nicht verstanden haben. Und oft – zumindest meiner Erfahrung nach – sind das Leute, die entweder selber als Kinder und Jugendliche (mit)gemobbt haben oder denken, dass sie nicht gemobbt wurden, weil sie alles richtig gemacht haben. Also Leute, die gewaltlogische Schlüsse nicht als solche reflektiert haben und heute entsprechend opferfeindlich denken und be_handeln.

Wer „Trauma“ für ein großes Wort hält, hat es nicht verstanden. Denn groß ist nie das Trauma selbst, sondern seine Ursache und/oder seine Nichtheilung/Nichtverarbeitung. Jedes aufgeschlagene Knie beweist das. Man knallt hin – das passiert halt, ist banal. Man hat eine Wunde, ein Trauma, und die heilt. Das juckt, man kann erstmal vielleicht nicht so gut laufen, muss sie regelmäßig säubern und trocken halten und irgendwann ist wieder gut. Trauma geheilt, bumms. Hier ist also erst einmal nur die Wirkung groß.
Aber, was, wenn man geschubst wurde. Wenn jemand wollte, dass man Schmerzen hat? Dann ist doch das Trauma nicht nur das kaputte Knie. Dann ist doch die Erfahrung, dem Willen eines anderen Menschen ausgeliefert zu sein, ganz klar auch etwas, das weh tut. Das kann man doch nicht weglassen aus der Wundversorgung oder nicht anerkennen, dass sich die Auseinandersetzung mit der anderen Person auch auf die Wunde, das Trauma und dessen Heilung auswirkt.

Und jetzt schaut bitte mal darauf, wie mit Kindern umgegangen wird, die einander absichtlich schubsen … mobben … oder sonst wie verletzend miteinander umgehen. Was, wenn nicht opferfeindlich – und also „täterlich“ – ist es in solchen Zusammenhängen dem Opfer primär zu vermitteln, dass es sich davor nur schützen kann, wenn es sich nach Schema x verhält, auf Anzeigen y achtet und so weiter. Die Wirkung kann nur die von victim blaming sein. Sie kann nur sein, dass der Eindruck entsteht, es sei von größerer Wichtigkeit, sich nicht der Versorgung der Wunde zu widmen, sondern der Verhinderung von weiteren.

Das Problem ist, dass Schutz nicht das gleiche ist wie ein Leben ohne Gefährdung. Auch der resilienteste Mensch, mit den besten Selbstschutztechniken und -mechanismen in sich, lebt nicht sicher. Lebt nicht entspannt. Kann sich nicht entfalten. Kann niemals erfahren, wie es ist, sicher zu sein – er kann immer nur wissen, wie es ist, geschützt zu sein. Und das ist etwas völlig anders. Ein völlig anderes Er_Leben.

Die Anerkennung einer Verletzung ist für Opfer nicht nur wichtig, um sich selbst zu verstehen oder irgendwie ein bisschen geplüscht zu werden, um sich selbst (wieder) (in einem sozialen Status) zu versichern. Sie ist auch für alle anderen Menschen um sie herum wichtig.
Es ist unfassbar wichtig für menschliche Gesellschaften von verletzenden, schmerzenden und gefährdenden Dingen zu erfahren – nur so kann sie Strategien entwickeln, um diese Dinge effektiv zu umgehen, einander im Schmerz zu verstehen, einander in der Heilung zu unterstützen und auch um in konsensorientierte Verhandlung darüber zu kommen, welche Art des Umgehens wie ins Miteinander eingepflegt sein muss, damit sie effektiv und effizient sind.

Opfer und Täter_in nicht eindeutig zu benennen, weil man denkt, das wäre zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen irgendwie die zu große Rolle, weil sie noch nicht die Reife von Erwachsenen haben oder weil man die Gewalt nicht als „wirklich krass“ einordnet (weil man sie selber nicht so schlimm findet und nur, was man selber für schlimm findet als Gewalt anerkennt) oder weil man annimmt, dass der soziale Kontext eine_n dann für überdramatisch und also nicht ernstzunehmen hält oder weil man fürchtet mit dieser Einordnung ein Urteil zu fällen – führt dazu, dass Gewalt an sich nicht konkret genug definiert wird.
Und alles, was nicht eindeutig definiert ist, bleibt unsichtbar. Unerkennbar. Unbenennbar. Unveränderbar.

Wir haben in unserer Gesellschaft ein Gewaltproblem und sind selbst schuld daran.
Wir machen einander abhängig davon, immer von allen als Nichttäter_in und nur in absoluten Ausnahmefällen als Opfer gesehen zu werden, weil wir als Gesellschaft einfach noch nicht kapiert haben, was Gewalt ist, wie sie wirkt und was sie für uns bedeutet.
Wäre das anders, hätte niemand je ein Problem damit, jemanden als Opfer anzuerkennen, wenn sie_r verletzt wurde – oder als Mit.Täter_in, wenn sie_r verletzt hat bzw. beigetragen hat zu verletzen.
Wir hätten Wund_Versorgungskompetenzen. Ganz allgemein. Wir gingen in den Kindergarten und lernten nicht nur das Wort „Entschuldigung“ wie eine „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte in unser Verhalten zu integrieren, sondern auch (Wieder)Gutmachung. Wir lernten, dass wir einen direkten Einfluss auf das Befinden eines anderen Menschen nehmen können – im Guten wie im Schlechten – und dass es in unserer Verantwortung liegt, sich darum zu kümmern. Sich zu interessieren. Auch dann, wenn keine Autorität (eine erwachsene Person, ein_e Richter_in) uns dazu auffordert.

Es ist unser Gewaltproblem, das die Anerkennung von Traumata erschwert. Es ist unser Gewaltproblem, das die Therapie der Traumafolgestörungen zu einer special Spezialisierung macht. Es ist unser Gewaltproblem, das verhindert, dass wir alle in Frieden und Zufriedenheit, Glück und Bedingungslosigkeit miteinander leben können.

Niemandem ist damit geholfen so zu tun als wäre es nicht da.
Niemandes Hilfe ist wahrhaft, wenn sie nicht aus diesem Bewusstsein heraus geleistet wird.

 

tl,dr: Ist dir der Begriff „Trauma“ zu groß, ist dein Verständnis von Gewalt zu klein.

fehlende Planung

Hinterher ist man immer schlauer. So viel schlauer, dass man sich fragt, wie man je so viel weniger schlau hat sein können, obwohl und obwohl und obwohl.

Die letzten Wochen waren wirklich hart für uns. Ich wusste das. Ich wusste das ganz genau. Wusste, es ist nicht klug so viel zu arbeiten. Wusste, dass es eine fantastische Strategie zum Durchhalten ist, auf Tage oder spezielle Ereignisse hin, aber nicht darüber hinaus zu planen, weil es Energien spart – dass es aber genau diese fehlende Planung sein wird, die mir ebenjenes „darüber hinaus“ zur Hölle machen würde.
Ich wusste das.
Entsprechend habe ich also genau nur auf den Tag hingearbeitet, an dem unser Partner in die Reha fuhr und nicht an die Tage danach gedacht. Ba dumm tss

Ich weiß, dass wir in unserem alltäglichen Verhalten sehr rigid wirken. Dass der Rahmen, in dem wir uns als extrem flexibel wahrnehmen, für die meisten Menschen geradezu lächerlich klein erscheint. Wir haben unsere Abläufe, die müssen so bleiben. Sind nur in Blöcken verschiebbar, was geplant ist, muss so bleiben. Es ist unmöglich für uns, uns auf andere Menschen einzuschwingen, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen und die eigenen Gedanken und Wünsche zu ordnen, wenn wir uns länger im Rahmen des Flexiblen als im Geplanten bewegen müssen. Diese Unmöglichkeit sieht nach außen oft gar nicht danach aus, wir selbst können sie in dem Moment meistens gar nicht begreifen, um Unterstützung bitten oder sonst wie für irgendjemanden markieren. Das einzige, das wir dann merken und als sehr quälend empfinden ist, dass wir zu nichts kommen und dass, das, was wir schaffen, nicht das zur Folge hat, was es sonst immer hat. Was alles nur noch schlimmer macht.

Der Partner fuhr los, der Tag ging um und am nächsten Morgen klebte ich zwischen drei Tätigkeiten, die sich alle komisch anfühlten. Nicht gut, nicht schlecht, nicht befriedigend, nicht bedeutsam trotz ihrer Relevanz. Die ideale Lücke für dunkelbunte und „böse“ Innens. Der perfekte Nährboden für so generalisierte Ängste und Befürchtungen, dass die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit noch weiter abnimmt und auch von mehr und mehr Paralyse begleitet wird, die sich bei mir oft mit dem (post)traumatischen Freeze (der Dissoziation) mischt.
Meine exekutiven Funktionen gingen auf ein niedriges Niveau runter – was bei mir bedeutet, dass im Grunde nur noch meine funktionellen Traumamechaniken greifen. Also die (an Todesangst in traumatischen Situationen erinnernde) Angst davor, dass mich jemand verletzen oder zerstören würde, würde ich meine Arbeit nicht fertig machen, die Hunde nicht versorgen, bestimmte Tätigkeiten im Haushalt nicht machen. Auch das ein Faktor, der meine Schwierigkeiten mit exekutiver Dysfunktion maskiert.
Deutlicher tritt sie in Bereichen der Selbstfürsorge auf. Ich konnte nicht zum Schwimmen, habe in der letzten Woche 1x geduscht, erst ein Mal geschafft etwas zu kochen und mich ansonsten derart überfressen wie zuletzt während der Berufsausbildung immer wieder.

Viele Menschen glauben, dass man für bestimmte Handlungen einfach irgendwie in der Stimmung sein muss. Es muss eine_n nur irgendwie genug jucken, dann kratzt man sich auch. So funktioniert das nicht bei mir.
Ich brauche in meiner direkten Umgebung und meinem direkten, konkreten Ablauf des Tages bestimmte Marker erfüllt, um in die Lage zu kommen, meine exekutiven Dysfunktionen und andere Behinderungen so leicht kompensieren zu können, dass genug Energie verbleibt, zwischen dem „flexiblen“ und dem „geplanten“ Rahmen hin- und herschwingen zu können.

Einer der größten Marker ist meine Ernährung. Fressattacken sind für mich nicht nur schlecht, weil ich sie schnell als Stresskompensation empfinde (weil mein voller Magen so weh tut, dass ich ihn und folgend meinen restlichen Körper fühlen kann, was mich beruhigt, aber auch, weil der Körper mich natürlich müde macht, um die schiere Masse an Essen zu verdauen) – sondern auch, weil ich darauf angewiesen bin, keine großen Schwankungen im Blutzucker zu haben, um im Zusammenspiel mit meinen Möglichkeiten der Bewegung mein allgemeines Erregungslevel zu managen. Im Sommer ist eine auf Rohkost und Fruchtzucker basierende Ernährung überhaupt kein Problem, weil ich viel draußen sein und Sport machen kann – im Winter führt so eine Mischung zu mehr Ängstlichkeit, höherem Krampfanfallrisiko, allgemeiner Unruhe und dem Gefühl „unrund“ zu sein. Es ist für mich schwerer, dann Pläne zu machen und sie auch einzuhalten.
Jeder Fressanfall ist eine Zuckerbombe – dass ich mich entsprechend ewig lange schlecht, unrund, unausgelastet, unerfüllt fühle, ist total klar. Wenn ich mir so eine Bombe in einen Alltag ohne Struktur schmeiße, bleibt auch der folgende Alltag ohne Struktur, was den nächsten Fressanfall quasi vorprogrammiert, weil ich ohne strukturierende Elemente weder kochen noch einkaufen noch überlegen kann, was ich essen könnte, um mich im Mittel zu halten.

Ein weiterer Marker ist der Kontakt zu anderen Menschen, der Sinn ergibt, weil er ein klares Ziel hat.
Wenn mir das Ziel von etwa einem Besuch klar ist, dann fällt es mir leichter zu tun, was dafür nötig ist – und auch vorzubereiten, was zur Erfüllung nötig ist. Und genau so ein Besuch hat mir sehr geholfen in der letzten Woche.
Ich hatte Anlass sowohl mich als auch das Haus zu pflegen, einen Tagesabschnitt zu strukturieren und darin genug Pfeiler zu versenken, am Abend noch kochen zu können und früh ins Bett zu gehen. Das macht den nächsten Tag nicht zu einer runden Sache, aber ich konnte eine Arbeit, die ich mir für diese Woche vorgenommen hatte, erledigen. Diese Arbeit erforderte wiederum, dass ich mich bewege (um keine Schreibtischkrankheiten mehr zu bekommen), was bedeutete, dass ich größere Hunderunden drehte – was wieder mehr „richtigen/eindeutigen“ Hunger zu Folge hatte, was mir eindeutiger macht, was ich essen sollte, was das Kochen erleichterte.

Heute habe ich meine Arbeit abgeschlossen und habe einen Plan für die nächsten Tage.
Es geht mir noch nicht wieder „einfach nur gut“, aber erheblich viel besser und alles ist viel weniger anstrengend.

Auch die Erwartung des Besuches, der morgen kommt 🙂

 

Autofahren lernen

Am Montag habe ich die praktische Führerscheinprüfung bestanden.
Als ich mit der praktischen Fahrschulzeit begann, fragte ich auf Twitter, ob es interessiert, was für mich schwierig war und was geholfen hat. Es hat interessiert und so kommt nun ein Text dazu.

Die Vorrede

Zu Beginn möchte ich sagen, dass ich nie vorhatte ein Auto oder Mofa oder irgendetwas anderes von verbrennendem Benzin oder Diesel angetriebenes als Fahrer_in zu benutzen. Es stinkt, es ist unpraktisch, frisst Ressourcen, die für andere Dinge so viel dringender gebraucht werden könnten – oder auch gut im Boden verbleiben könnten.
Dann sind wir aufs Land gezogen. Und zwar nicht das Land 15 Kilometer außerhalb einer Großstadt oder das Land mit zwei bis fünf größeren Städten drum herum, sondern das Land, wo jeden Tag LKWs, Trecker und Sondertransporte durchfahren, weil „da ja nix ist“. Hier braucht man für eine Strecke von 22 Kilometern Luftlinie schon mal anderthalb Tage, wenn man morgens ankommen will oder vier Stunden mit drei Umstiegen, wenn man nachmittags ankommen will, weil die ÖPNV-Infrastruktur so schlecht ist und es keinen politischen Willen (und auch nicht die Gelder) für Veränderungen daran gibt. Das Angebot wird überwiegend von Schüler_innen gebraucht. Die machen hier mit 15 spätestens 16 den ersten Führerschein. Selbst an Mitfahrbänken ist mehr Betrieb als an den einsamen, schief im Wind stehenden, Schildern mit dem grünen H auf gelbem Grund, weil es immer noch Ortschaften gibt, durch die nie ein Bus fährt.
Es ist also schwierig, hier draußen irgendwo hinzukommen und man hat keine andere Wahl als irgendwohin zu müssen, denn wirklich alles ist immer woanders. Einkaufen? Der nächste Edeka ist im Dorf 7 Kilometer von hier. Apotheke? Post? Buchladen? Markt? 18 Kilometer. Bahnhof? Schwimmhalle? Jobcenter und andere Behörden? 25 Kilometer. Spätestens im Winter sind diese Strecken nicht mehr sicher mit dem Fahrrad zu bewältigen, denn auch hier gibt es kaum jemanden who kehrs die Radwege.

So hat sich also immer deutlicher abgezeichnet, dass ich einen Führerschein machen muss, wenn ich nicht vom Partner abhängig sein und meine Mobilität erhalten will.
Schon vorher war klar, dass ich keinen Führerschein der Klasse B (den ganz normalen Autoführerschein) machen und auch kein Fahrzeug führen möchte, das von Diesel oder Benzin angetrieben wird. So haben wir also schon vor 2 Jahren nach einem gebrauchten Leichtkraftfahrzeug mit E-Antrieb gesucht und wurden dann zufällig fündig.
Die Klasse AM erlaubt es, kleine und leichte Krafträder zu fahren. Er wird deshalb auch als Roller- oder Mopedführerschein bezeichnet. Er gilt für zweirädrige und dreirädrige Krafträder, aber auch für vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge, was mein Auto ist.
Es kann bis zu 45 km/h schnell fahren und ist damit absolut schnell genug für mich. Ich kann die Hunde mitnehmen, Einkäufe und Gepäck bis 70 kg transportieren und habe eine Reichweite von 80 bis 120 km pro Ladung (die von ganz leer auf ganz voll 3 Stunden dauert und bei meinem Modell über den üblichen Haushaltsanschluss passieren kann).
Solcherlei Auto-Eckdaten sind für Leute, die nicht selber Autofahren vielleicht langweilig – sorry – aber ich führe sie hier auf, um zu zeigen, dass ich in meinem Alltag hier auch gar nicht mehr brauche als dieses kleine Fahrzeug. Ja, lange Strecken, Urlaube, Umzüge, größere Eskalationen bei IKEA oder im Baumarkt sind damit nicht zu stemmen, doch dafür kann ich immer auf das Fahrzeug des Partners, das nun öfter stehen bleibt, und dessen Fahrbereitschaft zurückgreifen.

Die Fahrschule und das Handicap

Ich bin ein_e schlechte_r Beifahrer_in auf der Autobahn. Und wenn es regnet. Oder schneit. Oder wenn wir durch Tunnel fahren. Oder tausend Jahre durch die Stadt, in der sich ständig irgendetwas bewegt, jemand ist, Dinge passieren. Es sind einfach zu viele Eindrücke auf einmal, gibt zu viel zu sehen, zu viele Details, die ich nur mit sehr viel Konzentration und aktiver Verarbeitung zu einem generellen Eindruck werden lassen kann. Das ist, neben vielen anderen Features, die mein traumatisiertes autistisches Gehirn hat, mein Haupthandicap, wenn es ums Radfahren und auch Autofahren geht.
Um eine Verkehrssituation richtig einzuschätzen, ist nicht relevant, dass der Fußgänger, der vor mir auf die Straße springt, offene Schnürsenkel hat und die Morgensonne Gänsehautstrukturen auf der Straßenoberfläche aufleuchten lässt – in der Situation ist der gesamte Kontext wichtig und ich muss ihn jederzeit und immer bewusst haben, um mich und andere sicher re_agieren zu lassen. Dennoch werde ich immer erst solche Details wahrnehmen bevor ich den Kontext klar habe und das gilt es zu kompensieren.

Und zu kommunizieren, denn auch wenn eine Fahrschule damit wirbt, dass sie auch Menschen mit Behinderung den Führerschein ermöglichen wollen, sind damit häufig eher Menschen gemeint, die ihr Fahrzeug an ihre körperlichen Möglichkeiten anpassen lassen müssen als Menschen mit Lernbehinderung oder Problemen der Reiz- und Informationsverarbeitung.
Ich habe sehr viel Zeit und Kraft in die Kommunikation meiner Herausforderungen gesteckt, um dann wie immer zu merken, dass es nicht gut klappt und ich wieder einmal eine doppelte Ausbildung, ein doppeltes Training durchlaufe.

Die Theorie

Ich habe mich im Dezember 2020 zur Fahrschule angemeldet. Pandemiebedingt fand der Theorieunterricht damals ausschließlich online statt. Für mich, die_r hier draußen das Internet über LTE empfängt – es sei denn es regnet, schneit, stürmt oder im Funkturm ist ein Staubkorn umgefallen – war das, wie fremdsprachigem Rap von Legomännchen zuzugucken, nämlich völlig sinnlos, weshalb wir auf das Frühjahr und den Sommer gewartet haben, wo auch wieder Unterricht vor Ort stattfand.
Ich trug im Unterricht meinen Gehörschutz, anders hätte ich die Mitschüler_innen und den Straßenlärm vor der Fahrschule nicht ausblenden können. Außerdem machte ich mir Notizen und arbeitete die Lektionen der Fahrschule zu Hause mit dem Lehrbuch nach, denn der Unterricht selber war für mich kaum nutzbar. Ich musste – da ich ein vierrädriges Fahrzeug führe – den Theorieunterricht für die Führerscheinklasse B mitmachen und selbstständig erarbeiten, was für AM relevant ist. Dazu kam eine Lektion des Motorradunterrichtes, die ebenfalls herzlich wenig mit meiner Fahrrealität zu tun hatte.
Und natürlich war es Unterricht für neurotypische Menschen: also in der Regel unkonkret, voller prosozialer Floskelwitzchen und mit einem großen Fokus auf soziale Versicherung von Status. Dazu kamen auch noch sehr viele Geschichten von tragischen wie vermeidbaren Unfällen mit Todesfolge, die mich manchmal noch eine Weile verfolgten, Alpträume auslösten und vor dem praktischen Unterricht ängstigen ließen.

Ich war extrem froh darüber, dass es heute eine App gibt, mit der man die Fragen der theoretischen Prüfung selbstständig trainieren und lernen kann. Anders hätte es entweder noch sehr lange gedauert oder vielleicht auch nie geklappt.

Meine erste theoretische Prüfung habe ich dann trotz mehrfachen Bestehens von Trainingsprüfungen dann nicht bestanden, weil die Zulassung zu der Prüfung an dem Tag eine einzige Katastrophe und ich ein zerschossenes Hühnchen war.
Ich war pünktlich, doch vor der Anmeldung noch einmal runter zum Auto gelaufen, um meinen Ausweis zu holen. Wieder oben wollte mich der Prüfer nicht mehr zulassen, weil ich ja weg war (während er noch andere Leute vor mir in das System eincheckte). Dann entdeckte er meinen Gehörschutz und, dass meine Behinderung nicht in der Anmeldung vermerkt war und ab da weiß ich selber nicht mehr genau, was alles passierte, nur dass ich als behinderte Person ja prinzipiell nicht zugelassen würde ohne speziellen Spezialzettel. Der Partner half mir dann und ich konnte die Prüfung eine halbe Stunde später versuchen, was ich auch tat. Aus Trotz. Aus Wut. Mit dem vollen Bewusstsein darum, dass ich nicht bestehen würde, weil in mir schon längst alles blutete und eigentlich eine ganz andere Versorgung brauchte als eine bestandene Prüfung.
Der Vorfall wurde übrigens nie geklärt, es hat sich nie jemand entschuldigt oder Verantwortung dafür übernommen. Vermutlich, weil ich meine Diskriminierung falsch verstanden habe zwinky zwonky

So bezahlte ich also eine zweite Prüfung zwei Wochen später an einem anderen Standort, ließ meinen Gehörschutz im Auto des Partners und bestand mit einem Fehler, den ich vielleicht hätte noch finden können, hätte ich nicht die kruschelig laute Situation so dringend verlassen wollen.

Die Praxis

Hier draußen in der Klüste fahren viele Leute schon mit ihrem Fahrzeug, bevor sie den Führerschein haben oder auch obwohl sie keinen mehr haben. Das ist so häufig, dass mein Fahrlehrer mich in den ersten drei Fahrstunden erst einmal schön überfordert hat und ich mich entsprechend gleich mit.
Dann kam der Fahrlehrerpraktikant dazu. Ein junger Mann, der neben mir saß, während der Fahrlehrer hinter mir herfuhr und über Funk Anweisungen gab. Keiner von beiden hat je mit einem Fahrzeug wie meinem zu tun gehabt oder Erfahrungswerte mit Elektroantrieben, geschweige denn der Behinderung, die ich nebenbei auch noch ohne jede Unterstützung zu kompensieren lernen musste, während ich die Benutzung und Führung meines Fahrzeuges lernte. Und beide gaben mir ihre überwiegend unvorhersehbaren Anweisungen zeitweise unabhängig voneinander.
Die Funkverbindung war oft gestört von Bauarbeiten- und Stadtfunk, was zu unfassbar schmerzhaften Geräuschen führte und mich neben der allgemeinen Über_Anstrengung während der Fahrstunden, regelmäßig in die Dissoziation abrutschen ließ, ich also immer wieder völlig „out of the zone“ war und tatsächlich nur noch auf die Anweisungen reagierte, ohne irgendetwas zu interpretieren oder aufzunehmen.

Wir fuhren schnell nur noch in der Stadt, in der auch die Prüfung stattfinden sollte. Für mich bedeutete das jedes Mal eine Kette von Anstrengungshürden und immer wieder einen zerschossenen Tagesablauf, weil ich danach nicht mehr arbeitsfähig war – aber es Arbeit gab, die zu erledigen war.
In meinen 14 Fahrstunden habe ich einen Fastunfall gehabt, weil jemand viel zu schnell durch eine verkehrsberuhigte Zone fuhr und bin ein Mal mit leerem Akku liegengeblieben, weil mein Fahrlehrer mir nicht glaubte, dass der Akku gleich leer sein würde. Was beides kurz hintereinander passierte und mich sehr belastet hat.

Mehrfach wurde mir vermittelt, dass wenn mir die Fahrschule zu chaotisch, der Lehrer zu tüffelig (also hauptsächlich aus Gedankenlosigkeit und zu wenig Erfahrung) meine Grenzen übergeht und der Unterricht zu überfordernd ist, ich die Fahrschule wechseln müsse. Was ja leicht gesagt ist, aber für mich nichts weiter als eine nächste sehr fordernde Sache gewesen wäre.
Erstens, weil es pandemiebedingt gerade nicht viele Fahrschulen mit Kapazitäten gibt, zweitens, weil ich nach dem Ding mit dem Theorieprüfer und der Erfahrung mit dem Fahrlehrer wieder eher vermeide mich über die Behinderungen in meinem Leben zu outen und drittens, weil mein Fahrzeug in der Kombination mit der Führerscheinklasse eine Lehrer-Prüfer-Kombination aus wirklichem Enthusiasmus fürs motorisierte Fahren und viel Erfahrung braucht. Und beides hatte der Clown, mit dem ich gelernt habe einfach. Und andere eben nicht. Die hätten mich in die Klasse B, die ich nicht mal hätte bezahlen können oder in den Treckerführerschein, den ich aus Gründen nicht wollte, gedrängt und die Theorie hätte sehr viel länger gedauert.
Also – ein Wechsel war zwar eine Option, aber nur eine, die ich in Betracht gezogen hätte, hätte ich zum Ende hin nicht den Zeitdruck gehabt, den ich dann hatte.

Die Prüfung und was geholfen hat

Zu Beginn des praktischen Unterrichts sagte ich dem Praktikanten, dass ich Fahrstunden mache, bis ich das Gefühl habe, sie nicht mehr zu brauchen. Dieses Gefühl hatte ich beim „Warmfahren“ für die Prüfung so deutlich, dass ich richtig genervt von den Kommentaren und Hinweisen des Fahrlehrers war.
Dennoch war ich nervös bis kurz vor ängstlich, denn auch das hatte ich mir mit der chronischen Überreizung und entsprechenden Überforderung in dieser Zeit eingefangen: eine wieder enorm gesenkte Schwelle zur Ängstlichkeit, die ich jetzt, wo ich allein und nicht mehr in der Stadt langsam wieder hochfahren spüre.

Ich habe mir zuletzt für die Therapie einige Anker gesetzt. Also mir schöne Mineral/Steinanhänger ausgesucht und mir einen um den Hals gehängt und den anderen an der Gürtelschlaufe befestigt, um ihn sowohl in der Hosentasche als auch außerhalb dessen berühren zu können. Die Idee ist, dass ich mich an bestimmte Dinge erinnere, wenn ich sie berühre oder ihrer Aufliegefläche nachspüre und das funktioniert für mich auch relativ gut. Die Dinge, an die ich mich erinnern will, sind Dinge, auf die ich mich unabhängig von allen Menschen und Umständen verlassen kann und mich deshalb beruhigen. Ich habe da also keinen Satz im Kopf wie „Alles wird gut“ oder „Ich bekomme das schon hin“ sondern nur die Begriffe „Anziehungskraft“ und „Gleichzeitigkeit“. Dazu fallen mir ohne jede Anstrengung sofort Dinge ein, die mir ein gutes Gefühl vermitteln, um das ich weder kämpfen noch bangen muss.

Diese Strategie habe ich schon lange vor der Prüfung für meine Psychotherapie eingeübt, es war jedoch ein Akt für mich sie auch beim Autofahren anzuwenden. Auch das ein Auti- und ein Trauma-Feature. Für jeden Skill, den ich anwende, brauche ich einen bestimmten Status meines Erregungslevels. In einer Psychotherapiestunde ist mein Erregungslevel und auch meine Ängstlichkeit eine andere als beim Autofahren oder einer Fahrprüfung. Ich musste immer wieder prüfen, wann ich beim Autofahren da angekommen bin, wo es Sinn hat so einen Skill, der sehr viel Frontallappen („höhere Hirnfunktionen“) erfordert, anzuwenden. Ich bin erst in den letzten zwei Fahrstunden da angekommen und habe ihn dann mit in die Routine aufgenommen.

Es hat außerdem geholfen, die Lüftung trotz der niedrigen Außentemperatur auf „kalt“ zu stellen und niedrig laufen zu lassen. Die Idee ist mir erst am Prüfungstag gekommen, nachdem ich in einem Kreisverkehr kurz gedacht hatte, dass mich ein LKW tot fahren würde und ich dann wie Dosenfisch in einer Metallröhre wäre. Metallröhre, Röhre, „die Röhre“ (das MRT, in dem ich mal war), kalt, kalt = überraschend hilfreich damals – könnte es jetzt auch hilfreich sein? Ich probiere mal. – Und ja, auch diesmal war es hilfreich.

Außerdem hilfreich:

  • aufs Klo müssen
  • kalte Füße haben
  • Obstfrühstück mit Vollkornmüsli gehabt haben (schneller Zucker mit langsamem Zucker – von dem Dextro Energy, den mir mein Fahrlehrer in die Hand gedrückt hat, wäre ich nach 20 Minuten gecrasht, die Prüfung ging aber 50 Minuten)
  • mir laut die Verkehrsregeln aufsagen
  • mir selber erzählen, was ich mache und worauf ich achte
  • nicht auf die Uhr schauen (absolutes Verbot für die Beschäftigung mit Tagesplänen oder Abläufen im Auto/ „Autofahren = Präsens“)
  • immer 3 bis 5 km/h langsamer als erlaubt fahren
  • einen Backup-Plan für den Tag und die Zeit danach haben, falls ich nicht bestehe
  • wissen, dass der Partner am Zielparkplatz ist und mich auffängt (aber auch vor tüffeligen Sprüchen des Fahrlehrers abschirmt und mir hilft, mich abzugrenzen, wenn nötig)
  • die App „Drivers Cam“, in der man Videos von Straßenverläufen mit Hinweisen auf Schilder und die jeweiligen Verkehrsregeln anschauen kann
  • das ständige Abfahren der Strecken im Kopf und viel Zeit allein nach den Fahrstunden, um sie zu prozessieren und bewusst nachzuspüren, dass die Anspannung und Überreizung auch wieder aufhört (weh zu tun)

Die Freiheit

Ich habe meine Prüfung „ganz hervorragend“ gemeistert und darf nun durch die Gegend fahren, wie ich lustig bin.
Für mich ist auch das erst einmal überfordernd und ich nehme auch diese nächste Anpassungsphase sehr ernst als Phase des Lernens.

Am Montagmittag war die Prüfung, am Nachmittag fuhr ich das erste Mal allein die längste Strecke, die ich in der nächsten Zeit überhaupt fahren werde, am Abend das erste Mal im Dunkeln mit dem Partner als Beifahrer. Gestern hatte ich das erste Mal die Hunde dabei und fuhr mit ihnen in den Wald. Bei aller Freude und Erleichterung und Schönheit und jabbadabbadoo bin ich jedes Mal eine Weile völlig zerfleddert, weil ich das einfach machen darf und weil ich so viel einfach machen darf.
Das ist für mich alles andere als banal und wirkt auch nicht nur in mein Alltagsbewusstsein hinein.

Jede Freiheit geht mit Verantwortung einher, in die man so schnell wie möglich hineinwachsen muss, um sie gut tragen zu können.
Ich habe nun also meinen Führerschein und wachse noch, was den ganzen Prozess entsprechend nicht bei der Prüfung enden lässt und mir wichtig war auch noch einmal aufzuschreiben.