#NetzfragtMerkel und Journalismus 2.0

Sie kann reden und vielleicht ist das ihr Beruf.
Bundeskanzler_innen tun eigentlich ständig genau das.  Reden. Rhetorik machen.
Und das dann Politik nennen.

Flo redet auch. Jede Woche veröffentlicht er mehrere Videos, in denen er redet, um etwas anzustoßen und Menschen an dem teilhaben zu lassen, was ihm interessant und wichtig erscheint. Wenn Flo redet, dann ist das keine Politik. Was Flo macht, verstehen weder unsere klassischen Medien noch unsere Bundesregierung und warum das ein Problem ist, kann man an der Berichterstattung über sein Interview von Angela Merkel sehr gut sehen.

Der YouTubekanal von Flo hat über 2 Millionen Abonnenten.
Das könnte eine Stadt sein. Oder zwei. Oder 200 kleine Dörfer.
Aber es ist YouTube. Also im Internet und also irgendwie dann doch nicht echt genug, um es ernst zu nehmen, weil: “Internet kann ja jede_r.”.

Internet und Reichweite kann aber eben doch nicht jede_r ohne verschiedene Leistungen, die analog passieren.
Deshalb gibt es Netzwerke, deshalb gibt es immer mehr YouTubekanäle, hinter denen eine Marke oder eine Firma oder eine Stiftung oder oder oder… steht.
YouTube Deutschland ist für verschiedene privilegierte Kreise eine stetig wachsende Werbelandschaft und auch Propagandaplattform.
Und vielleicht ist das schon der einzige Grund, weshalb Flo das Interview mit unserer Bundeskanzlerin machen durfte.

Junge Leute, denen auch mal zugehört wird, das macht sich gut auf der
Angela Merkel – Imagetour “Bürgerdialog”, die in diesem Jahr stattfindet, denn die große Koalition kackt ab und weiß das auch.
“Wir ham ja schon viel geschafft und das muss man den Jungen sagen, damit sie ihre Forderung im gleichen Kontext, wie die die Dinos um sie herum, sehen.
Und dann bitte die Klappe halten, weil Unterschiede zu machen zu Dinozeiten eben noch nicht Diskriminierung hieß und basta.”, scheint die Devise des Moments.

Jetzt wird Flo von vielen Journalist_innen als Nichtjournalist gelabelt und deshalb in seinen Fragen herabgesetzt, weil er nicht tat, was viele klassisch Journalistende getan hätten: nämlich für Zuschauer_innen/ Leser_innen bestimmte  Aussagen und Tendenzen “herauskitzeln”
(as in: manipulieren).

Der Maßstab an dem Flo gerade in den klassischen Medien gemessen wird, ist nicht passend und wer sich vielleicht einmal mehr mit seiner Arbeit, seinen Intentionen und dem, was er sonst noch so macht, beschäftigt, dem wäre das auch klar.

Neben all den YouTubeaccounts, in denen verkappte QVC-Formate, Produktreviews und Tutorials jeder Art am laufenden Band produziert werden, gibt es noch YouTuber_innen, die bereits unter “broadcast yourself” erfolgreich und reichweitenstark wurden. Flo gehört dazu, weil er weniger konstruiert, als aufzeigt und Raum für die eigene Meinungsbildung lässt.

Heimspiel für Merkel” kommentiert der Journalist Richard Gutjahr das Merkelinterview und lässt in eine Vorstellung von Politiker_inneninterviews blicken, die mehr von Gladiatorenkämpfen, als von Ermöglichung der Teilhabe von interessierten Menschen, hat.
Journalismus war vielleicht mal eine Schlacht um die neusten Infos.
Ist es manchmal vielleicht noch immer.
Doch für wen lohnt sich der Kampf um die Interviewminuten heute eigentlich noch?

Alle Informationen, die es braucht, gibt es inzwischen im Internet. Sämtliche Presseinformationen stehen fast überall im Netz bereit – keine Person dazwischen, die redaktionsgerecht und unterbezahlt irgendwas daraus zusammenschustert und auf totes Holz patscht, needed.
Der Journalismus als Vermittler ist tot.
Es lebe der Journalismus 2.0 .

Journalismus 2.0 geht davon aus, dass interessierte Empfänger_innen sich selbst tiefer informieren, wenn sie das möchten.
YouTube ermöglicht es, Menschen für Themen, Dinge und Entwicklungen zu interessieren und zu begeistern, ganz ohne sie zu belehren.
Und das ist, was Flo macht.

Das ist, was Flo mit diesem Interview sehr gut gemacht hat und wofür man ihm auch den Respekt und Anerkennung zu kommen lassen kann, den seine Arbeit verdient hat.

spontan

“Das ist doch die einzige wirklich gute Konvention in Psychogesprächen: dass manche Konventionen nicht sein müssen.”, sagt es ins Telefon und verabredet sich. Spontan.
Weil darum und weil. Und so.

Ich weiß nicht genau, wann wir zuletzt die Möglichkeit hatten, mehr oder weniger risikolos über unser Denken und Wahrnehmen zu sprechen. Eigentlich könnte man ja annehmen, dass wir das ständig in der Therapie tun, doch das ist nicht der Fall.
In unserer Therapie geht es auch darum zu schauen, wie der Umgang mit Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen aussehen kann. Könnte. Sollte.
Es geht um Selbstwahrnehmung. Nicht um die Qualität und die Wege dahin oder darum, wie man seine Kommunikation er- und bearbeitet.

Sie wartet an der verabredeten Stelle. Läuft ein Stück vor. Betrachtet das T-Shirt der Person im an ihr vorbei fahrendem Auto.
“Dunkel. Ein dunkles Shirt. Das ist er.”. Ich weiß nicht, ob sie mich hört oder bemerkt.
Es kommt keine Reaktion auf meinen Hinweis, dass dunkle Shirts kein Alleinstellungsmerkmal sind.

Das Auto kommt zurück. Der Mensch darinnen ist tatschlich die Person, mit der es sich verabredet hat, damit sie sprechen kann. Und die anderen auch. Wenn sie wollen.
Wenn es überhaupt geht.

Es ist seltsam, wie viele Schrauben an dem Treffen sind.
Wir begegnen uns auf einem der Friedhöfe, auf dem sie sich wohl fühlen und setzen uns auf die Wiese, die am wenigsten stresst.
Der Mensch fragt, was wir von ihm brauchen, damit es okay ist.
Mir fällt ein, dass wir uns die Frage in Bezug auf unser Sitzen im Therapieraum bis heute nicht zu Ende beantwortet haben.

Während sie und es einander die Brocken zuwerfen, um sie nach außen zu bringen, fangen wir die Worte des Menschen ein und breiten sie vor uns aus. Schnörkellos und linear.
Hm.
Komisch.

Vom Rand dringen Warnungen und ein dumpfes Weinen.
Donner rumpelt durch die Wolken und das Gewitter tanzt bereits durch die Haarspitzen.
Es beginnt zu regnen und wir setzen uns in einen überdachten Durchgang der Trauerhalle.

Der Regen rauscht und potenziert den Verkehrslärm zu einem reißenden Nervenfeuer unter der Haut. Der Hall des Tunnels zerrt an den Worten und mein Wunsch für sie den Faden nicht zu verlieren hält dagegen.
Ich halte einfach alles irgendwie zusammen, weil kein Gewitter endlos ist.

Man könnte meinen, wer so viel Ansprache und Widmung wie wir bereits erfahren hat, der hätte schon alles durch.
Ich denke oft, dass wir schon alles gesagt haben. Dass wir eigentlich leer sind.
Dass wir eigentlich nichts mehr zu geben haben.

Und dann sehe ich, wie groß die Kluft zwischen Geben und Annahme mitunter ist.
Und falle hinein.
Erinnere, dass ich sie mit aller Macht vergessen wollte, weil sie mir unüberbrückbar erscheint. Erinnere eine Episode nach der anderen, in der wir uns verausgabten um uns verstanden und angenommen zu fühlen. Erinnere wie viele in dieser scheinbar unsichtbaren Tiefe ertranken und verstarben.

Vielleicht war es eine gute Idee, die eigene Intelligenz endlich ernst zu nehmen und sich zu trauen, sie durch die eigenen Augen anzusehen. Sie orientiert am eigenen Er-Leben zu erkunden.

Ich erinnere mich an den Tag, an dem das Ergebnis mitgeteilt wurde und daran, was für eine seltsame Aufregung im Raum lag. Es war eine dieser erwartungsvollen Aufregungen, in der wir uns als im Auge eines Tornados sitzend erlebten und nicht wussten, welche Re_Aktion jetzt zu wählen sei.
Egal, was wir getan oder nicht getan hätten – unsere Rolle in dem Moment war ganz klar, es zu verderben. Aktiv – etwa, indem wir sagen, was wir sagten:”Okay.” oder passiv, indem wir waren, was wir damals schon waren: allein und ohne jede Möglichkeit nach außen dem zu entsprechen, womit andere Menschen ihre Zahlen, Worte und Werte aufladen.
Ich weiß noch, dass ich mich bei der Psychologin damals für ihren Aufwand, die Auswertung überhaupt machen zu können, entschuldigte und gleichzeitig dachte: “Ey – ja aber wieso glaubt sie mir denn auch nicht einfach und gut is?!”

Während der Mensch spricht und fragt, merke ich, wie dankbar sie ihm dafür sind.
Einfach fürs Fragen. Fürs wissen wollen.
Obwohl viele Obwohls ihre Ecken in die Schläfeninnenseiten bohren.

Es ist diese Verheißung des Loslassens, die da wieder auftaucht und von der wir dachten, im Laufe unseres Erwachsenwerdens, würde sie weniger verlockend auf uns wirken.
Wenn wir erwachsen seien, dachten wir, dann könnten wir besser mit dieser Kluft umgehen, mit Menschen umgehen, uns verstehbar machen, uns irgendwie soweit integrieren, dass es uns nicht mehr stört…
Das Erwachsensein würde alles ausgleichen, was wir als fehlend wahrnahmen.
Erwachsenwerden und Erwachsensein verlor damit seinen Status als Teil des Lauf der Dinge und wurde zum Werkzeug.

Der Mensch fragte, was es bedeuten würde, eine Aspergerdiagnose zu haben.
Und während sie und es sich auf Ebenen des Außen und des Mehr beschränken, wird mir klar, dass meine Ebene das Innen und das Weniger umfasst und ich vielleicht genau deshalb keinen Zugriff auf die Worte hatte, die sie nach außen fallen ließen.
Für mich würde es bedeuten: Loslassen und sein zu können.

Nicht viele, nicht ich, nicht etwas oder jemand zu sein, sondern einfach zu sein und diesen in meine Handinnenfläche gedrückten Faden, in diese so überbordend nicht- bis missverständliche Welt loszulassen.
Ich würde das Inmitten nicht mehr zusammenhalten, “weil man das so macht” und mir genau das zur kraftzehrenden Angewohnheit wie eine Sucht aus äußerem Zwang geworden ist.
Ich würde helfen einen Platz zu finden, in dem sie und ich und wir und die anderen auseinanderfallen könnten, damit wir uns in Ruhe erkunden können.

Ich glaube nicht, dass andere Menschen verstehen können, wie das ist, wenn man sein Leben lang etwas zusammenhält, das man nicht einmal kennt.
Nicht: “Sich zusammenreißt und sich anders verhält, als man vielleicht will.”
Ich meine das, was man für sein Selbst hält. Das, wo nie ein Trauma seinen Weg hinfinden konnte, weil es sich nicht dort befindet, wo ein Trauma allgemein verortet wird, wenn es nicht körperlich sichtbar ist.

Die Luft ist dicht und feucht, als sie auf der Bank sitzen.
“Ich halte es für wichtig, die Testung machen.”, sagt der Mensch und begründet sich mit einem Artikelabschnitt aus dem Blog von Vielen.

“Ich halte es für wichtig, die Testung zu machen.”, will sie nach vorn geben.
Ich fange es ab. Stopfe es zurück.
Sie wählt ein anderes Wort.
“Okay.”.

Ferien

“… und über den Wolken scheint immer die Sonne”, denkt es in meinem Kopf an mir vorbei, als ich auf die Fahrradpedale eintrete und den Fahrtwind meine Haut kalt machen lasse.
”… und über den Wolken, da könnten wir gleiten, wie damals als…”.
Es will denken und bröckelt über das schrillscharfe Reißen neben sich auseinander. “Nicht dran denken, sonst denkt man an…” erinnert es sich und schmilzt wie Butterflocken auf warmen Toast.

“Ich muss die Handbremse nachziehen. Die Schläuche austauschen. Den Flugrost entfernen. Das Schutzblech ersetzen. Die kleine Acht im Vorderrad rausholen lassen.”, pulst es von links.
“Macht umme siebzsch Jeuro meene Deern”, keckert es irgendwo rechts davon.

Ich denke darüber nach, ob meine Seele verletzt ist und was Seele bedeutet.
Ich denke darüber nach, wo der Himmelwunsch herkommt. Die Sonne ballert mir ihre Hautkrebsstrahlen direkt auf die geschredderten Unterarme.

Und überhaupt, wie kommt es, dass in meinem Kopf – in diesem durchgehenden Kreischsirenengebrüll noch Platz für ein zartes Trällern ist?
“Über den Wolken… muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…”

Auswandern. Nach Schweden vielleicht. Das wär doch was.

“Was machen wir heute?” deplaziert sich die Frage direkt auf die To-Do-Liste der Woche.

“Arbeiten Herzi. Mein Leben gehört wieder mir. Jetzt wird hier endlich mal was fertig gearbeitet.”. Ich klinge wie ein schräges Fräulein Rottenmeier und fühle mich auch so, als das Inmitten zu einem Protest anhebt.
Mir ist klar geworden, dass der Einfluss “der Anderen” dann doch weit umfassender als um die Kunstschule und die Therapie wirkte. Ich bin zu  nichts gekommen. Meine Projekte liegen noch immer ihren Warteschleifen, manche Probleme sind noch immer nicht gelöst.

Ich habe einen Plan und ich werde ihn abarbeiten.
Immerhin sind Ferien.

viele sein erklären

~ Fortsetzung ~

“Und wann hast du gemerkt, dass du in der Pflicht bist alle Menschen mit DIS zu repräsentieren?”

Ich weiß gar nicht mehr genau, wann das zum ersten Mal in einem Gespräch zwischen unserer Gemögten und uns aufkam und was der Auslöser war.
Dass ich das nicht mehr weiß, macht mir klar, dass es für uns bei dem Thema Projektion und Anspruch an uns um mehr geht, als nur das übliche Problem, das Blogger_innen (und *ist_innen allgemein) haben.

Immer wenn ich mit der DIS sichtbar wurde, gerade in Jugendhilfeeinrichtungen oder Betreuungen, manchmal auch bei Mediziner_innen, Beratungsstellen und Praxen für Psychotherapie, gab es die große Unwissenheit. Man sollte es nicht glauben, aber bis heute wissen Mediziner_innen nur selten mehr über Traumafolgestörungen* als das, was unter dem Begriff der PTBS benannt wird.
Bis heute ist es nicht selbstverständlich, dass es in Frauenberatungsstellen mehr als eine oder zwei Berater_innen gibt, die Kenntnis von dissoziativen Störungen als Traumafolge haben.
Mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun zu haben, ist den meisten Erzieher_innen in der Jugendhilfe klar, doch was dies in Bezug auf ihre Arbeit bedeuten muss und worin sich diese Besonderheiten begründen, wissen die wenigsten. Ähnliches gilt für Eingliederungshilfen für Erwachsene.

Wir haben heute eine so glatt geschliffene Art die DIS zu erklären, weil wir jahrelang oft nichts anderes als unbezahlte Aufklärungsarbeit gemacht haben, die nicht als solche anerkannt wurde, sondern oft genug auch unter “die Bekloppte reden lassen” einsortiert wurde.
Dass wir dort etwas taten, was weder in unserer Verantwortung lag, noch etwas ist, wofür sich manche Behandler_innen richtig was bezahlen lassen (und dabei oft auch noch weit weniger wirklich begreifbar machen), war uns nicht klar.

Dass es aber auch Auswirkungen auf den Blick auf uns als glaubhafte, wahrhaft multiple Person haben würde, wussten wir ebenfalls nicht und vergessen das auch heute oft.

Es gibt die Diskrepanz zwischen den Worten, die man für seine Umwelt- und Selbstwahrnehmung hat und dem, was man davon wie nach außen für andere sichtbar (findbar) ist.
Wenn ich sage, dass ich depersonalisiere oder derealisiere (das sind die Artikel im Blog, die immer wieder so klingen, als würde ich eine Geschichte schreiben), dann merkt es das Außen nicht unbedingt. Vielleicht sieht man eine motorische Fahrigkeit, bemerkt Schwierigkeiten mit der Sprache, bemerkt, dass es verzögertes Reagieren gibt – doch all das geht nicht zwangsläufig miteinander einher.

Und dann gibt es da die Problematik, dass die Diagnosebeschreibung oft auch das eine oder andere (unausgesprochene) Vergabegebot unter BehandlerInnen begründen.
Das heißt, wenn ein creepy Sherlock auf mich zukommt, 20 Minuten mit mir zu tun hat und mein Sein anhand der Diagnosekriterien seziert, wird si:er nicht immer zu 100% Übereinstimmungen finden.
Solche Personen blenden dann oft auch unsere Entwicklung und ihre Folgen aus.
Es ist kein Anzeichen von einer Nicht-DIS, wenn man nach 13 Jahren DIS- Diagnose irgendwann aufhört, die Diagnose an sich so in Zweifel zu ziehen, wie man das noch tat, als sie frisch war bzw. wie man das noch tat, als man begriff, was sie impliziert.
Es ist auch kein Anzeichen einer Nicht-DIS, wenn man nicht für jede umstehende Person offensichtliche Wechsel des Seins hat. (Genauso wenig ist es ein Anzeichen einer DIS solche Wechsel zu haben.)

Hinzukommen Faktoren wie der, dass es kaum Diagnosen gibt, deren Symptome nicht auch Schnittmengen haben können mit anderen Diagnosen. Wir sehen das ja an den Bereichen, in denen unsere Symptome auch als spezifisch für einen bestehenden Autismus betrachtet werden können. Und wir sehen das an Dingen, wie der chronischen Essstörung, der chronischen Depression und den Schlafstörungen, die ebenfalls verschiedene Folgen und Auswirkungen mit sich bringen.

Eine unserer Jugendhilfebetreuer_innen war Bulimikerin (recovered) und hat jedes andere unserer Probleme ausgeblendet, weil sie nur die Essstörung und ihre Folgen wirklich begriffen hat. Viele traumatisierte Kinder und Jugendliche entwickeln Essstörungen (und andere Süchte).
Ich kann über diese Herangehens- und Arbeitsweise der Betreuerin also gar nicht sagen, sie hätte Scheiße gebaut – sehr wohl aber kann ich sagen (und tue das auch), dass sie die grundlegende Struktur unserer Selbst- und Umweltwahrnehmung ausgeblendet hat, was am Ende für uns bedeutete, nicht die Hilfe (und Ansprache) zu erfahren, die wir gebraucht hätten.

Das Schlimme ist: Uns war das damals nicht so klar und als wir das klar hatten, sind wir auf das ewige Professions-sorry-gesülze reingefallen. Das bedeutet, wir haben sie aus ihrer (den Leistungsträger aus seiner) Verantwortung genommen, weil uns immer wieder gesagt wurde, unser Sein wäre so krank, dass sich da nur Ärzt_innen WIRKLICH RICHTIG GUT drum kümmern können. Und Psycholog_innen. Wenns denn sein muss.
“Ein_e ganz normale_n 08/15 Erzieher_in kann das ja gar nicht stemmen das Thema und das kann man ja auch nicht erwarten, dass die sich jetzt noch extra hier wegen einem Fall fortbilden… “, das ist so der Tenor unserer Betreuungen gewesen.

Das Problem ist natürlich: unser Recht fachlich kompetent betreut zu werden wurde nicht gewahrt.
Das Problem ist aber auch: es hat ja trotzdem gut geklappt

Ja, das ist wirklich ein Problem, denn: nur weil ich aus der Sache insofern heil raus bin, als dass ich nicht in eine Klinik musste oder tatsächlich verstorben bin, heißt es nicht, dass da gute Arbeit an und mit mir passiert ist.

In der Eingliederungshilfe, die wir zuletzt in Anspruch genommen haben, gab es eine fertige Erzieherin, die fortgebildet war und eine, die gerade eine fertige Erzieherin wurde, die fortgebildet war. Das macht zwei über eine “Krankheit” näher informierte Betreuungspersonen. Nicht: zwei kompetente, supervidierte, kontinuierlich weitergebildete, im Team vernetzte, gut für sich sorgen könnende Fachkräfte.

Es läuft für diese beiden Personen so, wie es für viele läuft, die etwas wissen, was die Kollegen nicht wissen können, weil nur eine oder zwei Personen des Teams die Fortbildung vom Arbeitgeber finanziert bekommen: sie kriegen die entsprechenden Fälle zugeschoben und wenn sie sich nicht abgrenzen können, sich verantwortlich für die Menschenleben hinter der Diagnose fühlen oder (das gibts auch) sie nur noch die Arbeit mit Personen, die mit dieser Diagnose gelabelt sind, erfüllend finden, dann übernehmen sie diese Fälle natürlich.
Und betreuen am Ende vielleicht ausschließlich Menschen mit DIS. Was unterm Strich und tatsächlich zu oft im Scherz gesagt bedeutet: Gruppenbetreuung bei jedem Termin.

Es bildet sich in der Folge gerne mal eine Betreuungsrandgruppe.
“Du und deine Multis… (ihr wollt immer ne Extrawurst/ ihr seid doch beide nicht mehr ganz dicht/ die verändern dich total (zum Negativen – ich will nichts mehr mit dir zu tun haben)… )”, das wird dann schnell zum üblichen Ton.
Das Ergebnis sind Betreuer_innen, die in ihrem Team keinen Rückhalt erleben, die sich nicht trauen Urlaub zu nehmen, in Ruhe Krankheiten auszukurieren, die sich für ihre Betreuten aufopfern und die irgendwann nach 20 – 30 Jahren, bei Mindestlohn und verweigertem Streikrecht verbrennen und chronisch krank bis arbeitsunfähig bis selbst eine Betreuung, eine Therapie brauchen.

Und die Multiplen? Sind die dumm und merken das nicht? Nein. Natürlich nicht. Sie wurschteln sich zurecht, weil ihre “Krankheit” sie dazu befähigt das zu können. Am Ende einer Betreuungszeit gibt es immer die Möglichkeit zu sagen: “Na es war schwierig, aber das hat ja geklappt.”.
Die nachfolgende Person mit DIS übernimmt in der Folge ein Erbe, das sie vielleicht aufgrund früherer Betreuungen schon kennt und eigentlich loswerden wollte: nämlich den Anspruch, dass es schon klappen können muss, weil es ja bei allen Menschen mit DIS, die vorher da waren auch geklappt hat.

Für uns war ein wichtiger Schritt uns nicht mehr herzugeben für diese Dynamik.
Wir sind aus der Betreuung raus, statt zu versuchen auf Fort- und Weiterbildungen unserer Betreuer_innen zu bestehen und suchten nach einer Psychotherapeutin, die erfahren ist, aber noch keine 20 30 40 Jahre mit Menschen mit DIS arbeitet.

Es hat sich für uns gelohnt offen zu sein. Wir leben in einer Stadt, die auf vielen Ebenen gut für uns ist. Hier gibt es viele offen nicht heterosexuell lebende Menschen, es gibt viele Menschen, die den Begriff “Inklusion” nicht als feschen Sozialaufwertungbutton auf sich kleben haben, es gibt eine bunte Frauenrechtsbewegung und das Thema “Trauma” wurde und wird hier bis heute an entsprechenden Stellen diskutiert.
Natürlich haben auch wir lange nach einer Therapeutin gesucht, aber die Absagen, die wir erhielten (und die wir erteilten) basierten aber nur in 2 von 27 Fällen auf dem Umstand, dass die Personen absolut keine Ahnung von Traumafolgen hatten.

Wir sind mit einer Attitüde in die Gespräche reingegangen, die jede_n Diagnosezweifler_in darin bestätigt hätten, dass wir eine Hysterikerin (eine Fakerin) sind, die ein “diagnose passing” (also: von den Behandler_innen in dem Glauben gelassen werden, man würde diese eine Krankheit behandeln) erhalten hatte.
Für uns ist es ein Problem, dass wir an uns bemerkt haben: es gibt diese permanenten Notlösungen, weil einfach niemand sagen will, er oder sie hätte Ahnung von dem viele sein einer jeden einzelnen Person, letztlich aber doch so handeln muss.

So passiert es eben auch, dass ich hier als Bloggerin* die betroffen ist, so schnell zum Vorzeigemulti gemacht werde, obwohl ich schon die Bezeichnung “Multi” zum Kotzen finde. So kommt auch der Anspruch an mich zustande, “den Multis” doch gefälligst nicht zu schaden, indem ich bestimmte Haltungen vertrete, die für mich gut und wichtig sind. Etwa die Haltung, nach der es einfach keine inneren Terminpläne und Wechsel geben kann, oder die Haltung, dass (die meisten) Innenkinder am sichersten in der Therapie sind – und nicht im Alltag eines erwachsenen Menschen.

Ich gehöre auch nicht zu denen, die sagen: “Ja viele sein ist bei jeder Person anders” – paradoxerweise ist das für mich nicht so. Ich habe aber auch noch keine Worte dafür, was denn genau wie bei allen, die viele sind, gleich sei und ich will mich in der Hinsicht auch nicht festnageln lassen.
Überhaupt: immer wieder diese Intensionen mich als Einsmensch auf irgendwas festnageln zu wollen, weil ich etwas für die Öffentlichkeit zugänglich ausgedrückt habe.

Ich ermutige immer wieder sich bitte gerne selbst ein Blog zu schreiben, sich selbst in Worte zu bringen und sei es, das man damit beginnt auf meine Texte zu antworten, ihnen etwas hinzuzufügen, eine Gegenrede zu formulieren. Verdammte Axt- mich vollnölen und mit Forderungen zu überschütten ist so leicht, sich analog über unsere Texte und uns als Person zu beschweren und das immer schön damit zu garnieren, dass wir ja höchstwahrscheinlich gar nicht viele sind, weil man ja viel behaupten kann in diesem Internet und weil es ja gar nicht möglich sein, was wir hier alles von uns unserer Lebensrealität erzählen BLABLABLA – aber selbst den Arsch hoch zu kriegen und sich auszudrücken, sich selbst mal zu reflektieren und zu gucken: “Hm ist das denn bei mir anders und wenn ja wie?” oder “Was denke ich eigentlich über XY?” oder “Wie ist das viele sein/multipel sein/Opfer gewesen sein/ mein eigenes Sosein eigentlich für mich?”, das ist dann, aus welchen Gründen genau, nicht möglich oder zu viel … Verantwortung?

Ich habe als Jugendliche vor Betreuer_innen, die keine Ahnung hatten, bereits die Verantwortung übernehmen müssen, für jeden nach uns folgenden Menschen mit DIS zu sprechen. Es ist so klar, dass, weil die Hilfen so beschissen sind, aber alles gut ging, der nächste Mensch wieder vor dem gleichen Ding steht, wenn ich nicht das Maul aufmache oder mich aus der Nummer rauswinde und vertrete, viele sein wäre so individuell, dass man da halt eigentlich gar nichts zu sagen kann und sich auch auf nichts verlassen kann und ach überhaupt man weiß es ja nie so genau und Festlegungen gehen nicht.

Bullshit ist das. Richtig bequemer Bullshit, der einfach immer wieder dazu führt, dass keine Entwicklung passiert.
Es gibt immer noch Menschen, die sich einen sekundären Krankheitsgewinn von einer DIS vorstellen können und sich genau in dieses “Man weiß es halt nicht genau” hineinbegeben.
Ich finde es wichtig öffentlich sichtbar zu vertreten, dass (frühere) Opferschaft absolut 0 Gewinn mit sich bringt.

[Fußnote: jede Unterstützung, die wir von Leser_innen hier erhalten, all die Geschenke und Geldspenden, erhalten wir vielleicht, weil klar ist, dass wir benachteiligt sind. Vielleicht auch aus Mitleid. Vielleicht mochten sich auch Schenker_innen frei machen. Vielleicht aber, ist es einfach mal die Bezahlung, die wir nicht als Gehalt auf unser Konto bekommen, weil wir jede Woche um die 5000 Wörter schreiben und uns offen angreifbar machen, damit andere Menschen, die viele sind, die queer sind, die Opfer geworden sind; die einfach gerne hier lesen, in Worte und Ideen kommen.
Soll es geben. Vielleicht gibts das für mich – psst: ich weiß ganz sicher, dass das so ist]

Wir finden es wichtig, dass die DIS auch auf die Art besprochen und betrachtet werden kann, wie wir das jetzt machen.
Für uns ist es nicht mehr wichtig, dass Mediziner_innen uns gesund machen, weil unser Konzept von Gesundheit und Krankheit ein anderes ist, als das, was immer und unbedingt die Medizin braucht. Das geht für uns nicht mit einer Abwertung der Personen einher, für die das so ist und wir haben das sehr oft schon klar gemacht.
Für uns ist unsere Therapeutin die Person, die sich unserem inneren Chaos widmet und uns dabei begleitet, (unter)stützt es sowohl zu verstehen/begreifen und es zu sortieren ohne es zu normen. Sie ist nicht die, die uns heil macht, repariert oder uns beibringt, wie wir zu sein haben. Sie ist unsere Prozessbegleitung- nicht unsere Dompteurin.

Wir sind fertig damit unserem Umfeld zu erklären, was viele sein ist.
Gerne erklären wir das noch Menschen, die gar keine Ahnung haben. Aber nicht mehr hier im Blog, nicht mehr in unserem Privatleben als ein Mensch, der sich gut um sich kümmern möchte und der sich entwickeln will.

Wir denken oft, dass die Traumatherapieszene endlich ihren Scheiß zusammenkriegen muss und damit aufhören muss, die Leiden der Behandelten zu individualisieren, was bedeutet: dieses Leiden außerhalb (sozial)politischer Kontexte zu erfassen und zu verorten. Es muss einen Diskurs geben, in dem Lösungen gefunden werden, jeder Person einkommens-“rasse”-klasse-alters-zeit- unabhängig die Verarbeitung von Traumatisierungen zu ermöglichen und nicht den tausendsten darüber, wie und ob und nach welcher Schule und wie zertifiziert und nach wessen Lehre und wer mit wem und wo gabs mal Zwist und BLABLABLA innerhalb von episch unnötigen Diskussionen mit der Politik™ darum, was wann wie wo und ab wann überhaupt.

(Achtung ich verwende jetzt ein kollektives Wir – niemand muss sich davon angesprochen fühlen)
Wir Betroffenen müssen aber genau unseren Scheiß zusammenkriegen. Wir sind aus Gründen von Hilfesystemen abhängig – das bedeutet aber nicht, dass wir alles darin auch hinnehmen müssen, weil das ja nun einmal so ist.
Wir dürfen uns dafür einsetzen, dass unsere Betreuer_innen vernünftig fort- und ausgebildet, bezahlt und berechtigt werden. Wir dürfen uns dafür einsetzen, dass unsere Therapeut_innen nicht mehr von Gutachter_innen angekackt werden. Wir dürfen dafür kämpfen, auch dann noch als leidend und belastet und what ever gesehen und anerkannt werden, wenn wir nicht mehr tun, was diesem Stereotyp entspricht.
Wir dürfen jemand sein der viele ist – und nicht so viele, dass wir niemand sind.

Wir brauchen keine Verantwortung übernehmen, die nicht unsere ist – wir dürfen verlangen, dass die Gesellschaft, die mit dafür gesorgt hat, dass wir viele sind, den Arsch hoch kriegt und Gutmachung an uns versucht.

Wir dürfen aufhören zu glauben, weil eine Person, die viele ist, etwas für sich geltendes sagt, sei die eigene Selbstwahrnehmung des viele seins falsch.
Wir sind – es gibt uns und wir sind die Einzigen, die das konkret und richtig für uns beworten können.

Es geht darum aufzuhören sich einzelne „Viele“ rauszusuchen und als Statt-selbst-Sprecherinnen zu wählen. Wir können das und wir dürfen verlangen, dass andere zuhören und begreifen.

Ihr* braucht keine H. C. Rosenblatt, die euch Wörter gibt. Ihr könnt sie nehmen, weil sie da sind und das ist okay. Ihr könnt aber auch eigene Wörter suchen, finden und nutzen. Sie sind genauso richtig.

~ Fortsetzung folgt ~

auf dem Weg ~ 1.2.

Über die Vlogs schreiben wir später mal ausführlicher.
Im Moment ist es einfach eine grobe Idee und der Wunsch zu machen, was uns gefällt.

P.S. viele Fotos vom Parkbesuch findet ihr in unserem Fotoblog „einfach mal angucken“

viel~e sein

~ Fortsetzung ~

Das Eine ist: da gibt es ein Wort – eine Diagnose. Das Andere ist: da gibt es etwas, das mit diesem Wort, dieser Diagnose benannt wird.

Wenn die Diagnose gestellt wurde, gibt es früher oder später dieses Moment, in dem man andere Menschen in unterschiedlichen Kontexten dieses Wort sagt. Und dieses Moment entscheidet darüber, wie sich der Kontakt entwickelt und auch, wie man selbst in der Zukunft damit umgeht, dieses Wort für sich zu haben, bzw. dass es Menschen gibt, dessen Selbst- und Umweltwahrnehmung mit einer Diagnose bezeichenbar ist.

Wir sind inzwischen ziemlich fatalistisch was das angeht. Da für uns nicht nur alle Züge in Richtung Zukunft abgefahren sind, sondern auch noch der Bahnhof dazu abgerissen wurde, ist es uns egal (weil es uns egal sein kann) wer weiß, dass wir viele sind.
Die Essenz unserer Erfahrungen, die Diagnose anderen Mensch mitzuteilen ist: Es ist scheiß egal, ob es jemand weiß oder nicht – denn das Wissen darum ist nicht entscheidend.

Wir haben unsere Diagnose Menschen mitgeteilt, damit sie uns helfen – sie haben uns nicht geholfen.
Wir haben unser Sein vor Menschen erklärt, von denen wir dachten, es gäbe den Wunsch mit uns in Beziehung zu sein – sie haben den Kontakt kaputt gemacht und Teile von uns gleich mit.
Wir haben die DIS als Behinderung angegeben, haben beim Jobcenter, bei Mediziner_innen und Betreuungspersonen die DIS erwähnt, erklärt, vermittelt – wie viel das gebracht hat, kann man ja sehen: 10 Jahre Hartz 4, ein GdB von 70 wegen “depressiven Störungen”, eine Allgemeinmedizinerin, die uns nach einer schwerwiegenden Diagnose alleine aus der Praxis torkeln lässt und Betreuungspersonen, die uns weder beim Ausstieg geholfen haben, noch in irgendeiner Form ihr Verhalten und seine Wirkung auf uns, reflektieren.

Am Ende geht es nicht darum, dass die wichtigen Menschen in einem Leben wissen, dass man viele ist, sondern darum, dass sie es begreifen und zwar nicht als eine Laune des Laufs der Dinge oder eine Entscheidung eines verwirrten Geistes, sondern als massive Entwicklungsstörungsproblematik und zwar auf die Entwicklungsstörung “massives, wiederholtes, komplexes Trauma in der frühen Kindheit”.

Wir haben letztes Jahr und dann auch noch dieses Jahr enge Kontakte zu Menschen beendet bzw. beenden müssen, weil nicht begriffen bzw. einem Begreifen folgend gehandelt wurde, was für eine massive, innerglobale Not das Verhalten dieser Menschen uns gegenüber ausgelöst hat.
Man erwartete von uns zum Beispiel Reaktionen, die existenzielle Bedrohungsgefühle, so wie kindliches Erleben von konkretem Überschwemmtwerden eigener Emotionen, Gedanken und Ängste, ausklammern, innerhalb von Konflikten, die genau das aber losgetreten haben.

Viele sein bedeutet einfach nicht nur: X hat einen Konflikt und Y weiß davon nichts.
Es bedeutet: X und Y plus eine unbekannte Anzahl anderer Innens versuchen verzweifelt A und B plus eine unbekannte Anzahl von Innens von dem Bewusstsein um einen Konflikt im Außen fern zu halten, damit der Alltag weiter läuft, während H I J K L M N plus noch wieder unbekannt viele andere schon längst in Wiedererleben stecken und das gesamte Inmitten lahmlegen – während die Umlaute einen Termin nach dem anderen abracken, und jederzeit irgendwo komplett neu anfangen können (und es in aller Regel auch tun).
Viele sein bedeutet: In einem Menschen passieren viele Prozesse gleichzeitig und autark nebeneinander her – und doch haben einzelne Ereignisse im Außen die Macht, sie alle mit einem Schlag zu beeinflussen, sobald es bestimmte Faktoren gibt, die mit existenzieller Bedrohung einhergehen bzw. so interpretiert werden.

Die Menschen zu denen wir den Kontakt beendet haben, haben vergessen oder vielleicht auch nie wirklich begriffen, wie wichtig es ist uns immer und immer und immer – auch nach vielen gemeinsamen Jahren und Erfahrungen – zu vermitteln, dass es sich bei einem Konflikt oder allgemeiner: Schwierigkeiten nicht um existenzielle Bedrohungen handelt.
Ja, so blöd das klingt: Wir müssen sehr oft hören, dass wir an Dingen, die für andere eine Kleinigkeit sind, nicht sterben oder in unserer psycho-physischen Integrität verletzt werden.

Für uns ist es ein Akt gewesen, das zu fühlen und wissen und zu lernen. Und das Ende dieses Prozesses ist für uns, zu lernen, dass wir uns das auch selbst nach innen bringen können und uns das von dort innen auch geglaubt wird. Soweit sind wir noch nicht.

Womit wir beim nächsten Aspekt wären. Uns Rosenblättern wird oft sehr viel mehr Belastbarkeit und Stabilität zugetraut, als tatsächlich da ist und manche Menschen sind zutiefst enttäuscht von uns, wenn wir das nicht bedienen können.
Was wiederum bei uns alles mögliche anmacht und letztlich dazu führt, dass wir uns nach außen noch mehr anstrengen, noch härter machen. Ich denke, das passiert vielen Menschen und ist nichts, was speziell mit unserem viele sein zu tun hat.
Das Problem ist: Wenn man viele ist und sich nach außen hart wie Stein macht, dann hat man, wenn die Tür hinter einem zu geht und kein Außen in dem Sinne mehr da ist, keine Kraft mehr für die unversorgte Hölle, die in einem drin brennt.

Wir haben gemerkt, dass alte Bekannte wie die Suizidalität, der Drang sich zu verletzen (kaputt bis tot zu machen), die Essstörung und hinten dran natürlich: die Täter_innenintrojekte mit ihrem Hass, auftauchen und es zusätzlich erschweren offen zu legen und zu erklären, worum es beim viele sein geht.

Viele sein bedeutet nämlich in dieser Welt auch: viel sein.
Es ist belastend, nervig, anstrengend, wenn eine Person immer und bei allem darum bittet, (bitten und betteln muss), dass manche Dinge einfach nicht gehen, weil sie Dinge auslösen, die dann wieder irgendwas abverlangen und und und

Ich habe seit der Diagnosestellung durchgehend das Gefühl eine Belastung zu sein. Ein Fehler, ein Mensch, dem man sich aus moralischen und nicht aus positivem “Einfach so” – Grund widmet und die Stimmen, die mir schon früher gesagt haben, dass ich anstrengend und nervig bin, bestätigen das natürlich.
Die Störung, der wir als Einsmensch ausgesetzt wurden, zieht sich bis heute durch unser Leben und hat sich mit uns selbst vermengt.

Heute stören wir, weil die Störung unserer Entwicklung nicht folgenlos endete.

Viele Personen, die von uns erfahren, dass wir viele sind und dass das so ist, weil wir 21 Jahre lang auf allen Ebenen miss-be-handelt wurden, übertragen die Verbindung “viele sein” = “misshandelt worden sein” auf uns “Rosenblätter sein” = “Gewaltthematik”.
Und was machen Menschen, die die Wahl haben, ob sie sich widmen oder nicht, mit Gewaltthematiken? Richtig: sie verpissen sich, machen den Kopf zu, fangen an die gesellschaftlich anerkannten Vermeidungstänze aufzuführen – und lassen uns stehen.
Im günstigsten Fall hängt nichts an dem Kontakt – da können wir dann selbst auch gehen und trösten uns mit dem Gedanken: “Naja, wenigstens hat sie Person jetzt mal davon gehört.”.

Schlimm wird es bei Personen, die nah sind. Oder nah geworden sind. Oder wo es um Abhängigkeiten geht.
Die letzte KJP in der wir waren, hatte die DIS-Diagnose zum Beispiel negiert und uns als Hysterikerin (jupp – die gibts noch als Diagnose) behandelt, was im Großen und Ganzen bedeutet auf nichts (und niemanden) von uns zu reagieren. Was für uns einen Raum aufmachte, in dem wir 24 Stunden am Tag spürten, dass wir alleine waren. In einem fremden Bundesland, mit dem Wohnort Kinder-und Jugendpsychiatrie, in der ein Pfleger seine Position ausnutzte.

Anderes Beispiel ist die Jugendhilfe, die wir teilstationär danach in Anspruch nahmen. Wir sagten, dass wir viele sind und, dass wir Gewalt erfahren.
Die Diagnose wurde von einer Klinik für Psychosomatik dann bestätigt und [Trommelwirbel] NICHTS passierte. [TUSCH]
Wir wurden in unserer Wohnung überfallen – das Schloss wurde 3 Wochen später ausgetauscht.
Ostersamstag 2007 riefen wir den Hintergrunddienst der Betreuung an, weil wir nach einem Spaziergang, verletzt in unserer Wohnung gelandet waren, obwohl wir eigentlich untergetaucht bei unserer damaligen Gemögten lebten. Wir baten um Begleitung ins Krankenhaus. Spurensicherung, Anzeigeerstattung – hatten wir (schweinemutig wie nie zu vor!) im Kopf – der Betreuer im Dienst, hatte aber die Stadt verlassen. Wollte so gerne ein ruhiges Wochenende. Er bat um Verständnis – wir nickten, legten auf, zersplitterten.

Viele bunte Schimpfwörter haben wir heute dazu im Kopf.

Vor allem, wenn wir heute in Veranstaltungen wie der Fachtagung “Wir sind viele” letztes Jahr in Mainz sitzen und hören, warum so viele Betreuer_innen so viel derbe Kackscheiße mit ihren Betreuten machen: Sie haben einfach keine Ahnung oder keine andere Wahl und nicht zuletzt sind manche auch einfach ignorante Arschlöcher, die, weil sie Gewalt selbst nicht erlebt haben, keinen Grund sehen davon auszugehen, dass es sie gibt und eben auch nicht folgenlos bleibt.

Was mir unter anderen Menschen, die viele sind, daneben begegnet ist eine mich traurig machende Bereitschaft zu glauben, dass Betreuungspersonen oft deshalb keine Ahnung vom Umgang mit komplex traumatisierten Menschen haben, weil sie nur Faker_innen vorher betreut haben.
Eine ähnliche Abwertung passiert meiner Ansicht nach, wenn Menschen sagen: “Ja in Klinik XY kriegen ja alle, die wollen eine DIS-Diagnose und deshalb machen die da nur Bullshit, weil da sind ja nur Fakes, die davon profitieren.”.
Leute: Scheiße entsteht, wenn Scheiße passiert und was in unserer Gesellschaft und in unserem Gesundheits- und Sozialleistungssystem passiert, ist so widerwärtig stinkende Scheiße, über die man sich genauso aufregen kann – nur komisch: das passiert ja gar nicht.

Haben wir da etwa einen blinden Fleck, weil es sich leichter in Richtung einer konstruierten Autorität motzen und abwerten lässt, als sich zu solidarisieren?

~ Fortsetzung folgt ~

über die Entscheidung “krank – krank” zu sein

Ich habe mich dafür entschieden krank zu sein. Also “krank – krank” – also “so krank, dass ich nicht in die Schule kann- krank”.
Für mich ist der Umstand, dass ich mich für die Krankheit entscheiden musste, ein Symptom für die Krankheit “Langzeit-Hartz 4- Syndrom”. Darunter ist die Depression, die keine ist; die Angststörung, die keine Störung ist, die Ernährungsstörung, die keine Störung ist und die Anpassungsproblematik, die keine ist, zu verstehen.
Langzeit – Hartz 4 Krankheiten sind alles keine “echten” Krankheiten, weil sie logische Folgen eines Lebens in Armut, Mangel oder Fehlernährung, die Folge aus permanenter Existenzbedrohung, die gesamtgesellschaftlich gewollt und gestützt ist und am Ende zu sozialen, kognitiven wie innerpsychischen Anpassungen führt, sind.
Langzeit – Hartz 4 – Krankheiten werden in einer psychosomatischen Klinik nie erfolgreich behandelt. Deshalb sind es keine “echten” Krankheiten.

Richtig krank werde ich erst jetzt, nachdem ich soziale Teilhabe erfahren kann und darf.
Mein Körper, der fast 8 Jahre lang mehr oder weniger durchgängig wenig bis keine anderen Immunsysteme, außer dem des Hundes, länger als 6 Stunden am Tag neben sich hatte , befasst sich nun mit den Keimen, Viren und Bakterien der Kunstschüler_Innen.
Und ich musste darüber nachdenken, ob ich denn nun krank bin und wenn ja, wie “wirklich”.

Normalerweise – und ja für mich ist Hartz 4 – Leben normal, ich habe noch nie ohne gelebt – arbeite ich bis 38°C Fieber und bitte erst bei 39° C darum, dass jemand anderes mit dem Hund rausgeht und mir hilft aus überflutendem Wiedererleben von Gewalterfahrungen herauszugehen und orientiert zu bleiben.
Normalerweise schreibe ich meine Texte auch mit verletzten Händen, in Episoden dissoziativer Blindheit, in denen ich noch etwa 30% Sehschärfe aufbringen kann und mit Schreien in meinem Kopf, die zu laut für jedes Hören sind. Normalerweise halte ich meinen Haushalt auch dann noch aufrecht und begehbar, wenn ich mich selbst zutiefst gebrochen und unempfänglich fühle.
Normalerweise gibt es keine Grenze zwischen “Körper Geist Seele” und “Leben”.
Normalerweise ist beides eine Suppe, die von außen durchgesiebt und sortiert wird und nicht nach meiner Ansicht fragt. Ich kann eine haben, wenn ich will, aber irrelevant bleibt sie doch.

Und jetzt ist da die Frage danach, was Basis – was Pflicht und was Kür ist.
Die Basis ist vermutlich das Arbeiten, das keine “echte” Arbeit ist, weil es kein Geld gibt, aber passiert, weil es eben in mir drin ist. Ich erlebe mein Schreiben und Kunsten nicht als Handwerk. Es _ist_ und war schon immer. Es brauchte nie von Außen nötig gemacht werden.
Die Kür ist die Norm der Anderen. Die Norm bestimmte Dinge nicht in ihrem _Ist_Zustand anzuerkennen und zu wertschätzen, sondern erst in einem bestimmten (sozialem) Kontext oder damit assoziiert. Die Norm die Dinge, die in einer Seele, einem Geist, einem Körper drin sind, als “nicht genug” zu begreifen und darauf etwas zu konstruieren, das auf jede beliebige Art immer und immer wieder eine Verbesserung anstrebt und am Ende eine permanente Sicherung abnötigt.

Was ich merke ist, dass die Gesellschaft alias “die Welt da draußen”, meine Traumatisierung und mein Leiden am Leben damit, nicht als “echte” Krankheit begreift, wenn ich im Hartz 4 Bezug alt werde und sterbe. Vielleicht werde ich selbst nie weiter als bis zu dem Punkt, an dem ich mich jetzt befinde, meine Traumatisierung als etwas erfassen, das ein Leiden erlaubt, weil mein Hartz 4 Leben ein Suppenleben ohne Struktur ist. Es ist voller Not und voller “nicht genug”, aber fern der Norm, die das als Problem begreift.

Die Welt dort draußen, meine Hausärztin zumindest, denkt ich leide unter Fieber und Muskelschmerzen, weil ich Fieber und Muskelschmerzen habe.
Ich leide aber unter Fieber und Muskelschmerzen, weil sie mich an Schmerzzustände erinnern, die ich in dem Moment nicht als Teil einer Vergangenheit einordnen kann. Weil ich von diesem Erleben nichts beworten kann. Ich leide, weil ich auf eine scheinbar unüberbrückbare Art allein und ohne Teilhabe bin, wenn ich mich erinnere.
Es erscheint mir, als sei die Einsamkeit meines Leidens, die Basis meines Lebens und die Welt da draußen denkt, das wäre Hartz 4.

Die Welt dort draußen denkt, ich würde unter Hartz 4 leiden, weil es nicht genug ist. Weil es nicht genug für mich ist.
Die Welt dort draußen fragt sich nicht, was für mich “genug” wäre, wann für mich das Leiden vorbei wäre.
Die Welt dort draußen versteht nicht, dass sie Teil meines Leidens ist, weil sie meine Norm nicht als gegeben anerkennt.
Die Welt dort draußen versteht nicht, dass mich die Gewalt durch Menschen zuerst von ihr getrennt hat und mit der Gewalt unter dem Begriff “Hartz 4” getrennt hält.

Und zwar so sehr und so gründlich, dass ich für mein Leiden, mein Kranken, mein Sein, im Grunde keinerlei Maßstab habe und die Entscheidung sich mit 39,5° Fieber, Halsschmerzen und Rotznase als “zu krank um am Leben in der Welt teilzuhaben” einzuordnen, zu einer unfassbar mutigen Tat wird, weil sie “die Welt da draußen” mitberührt.

Ich weiß nicht, ob sich jemand vorstellen kann, wie krass das für uns ist, für sich allein etwas entschieden zu haben, das mit der Welt zu tun hat.
Vielleicht kann’s niemand. Aber ich kann’s.
Und mir ist das genug.

Leben, lernen, Viele sein 2.0

“Du hast doch hier … Foto – Wasser und so Schnecken und Zeugs .. Foto…”, hatte er gesagt, “Willste die nicht auch mit ausstellen?”, hatte er gefragt.
Und Frau Rosenblatt stand da und “antwortete”: “Öh, wurschtel wurschtel blasülz schwallawurschtel…, ja ….?” und die Erde drehte sich weiter.

Es heißt, man lerne für das Leben in der Schule.
In Wahrheit lernen wir gerade eine Facette von Leben, die für uns ganz lange verloren geglaubt war und jetzt auf eine Entfernung herangerückt ist, aus der wir sie betrachten, aber auch erspüren können, wenn wir das möchten. Das sind Dinge wie Anerkennung von Menschen, die weder mit uns befreundet sind, noch einen (staatlich) verordneten Gedeihauftrag an uns haben, noch nur auf uns konzentriert sind. Das sind aber auch Dinge wie, Individualität als nicht störend sondern allgemein bereichernd in einer Gruppe zu erfahren.
Das sind Erklärungen zu Fehlern, die man gemacht hat, um der Erklärung willen. Nicht zur Vermeidung einer Wiederholung oder um einen Status zu belegen.

So funktioniert das Leben nicht. Schon gar nicht unseres. Aber diese kleine Facette davon gibt es und sie funktioniert so. Und wir dürfen sie leben.

Ich merke, dass es mir im Moment sehr gut tut, mal wieder Kontakt mit Menschen zu haben, in dem es nicht um mich geht oder darum, was in der Welt fehlt oder schwierig ist oder sich verändern sollte. Und ich merke, dass es mir gut tut, Hannah Rosenblatt, die gerne fotografiert und rumkunstet und wurschtelt und ein klitzebisschen verquer ist, zu sein und nicht die Hannah Rosenblatt, die sich im Internet öffentlich zu Gewalt, ihren Formen und Traumafolgen äußert und für politischen Opferschutz einsetzt.

Ich muss nicht straight sein, ich muss mich nicht zusammenreißen auf Emails, die mich von oben herab in meiner inzwischen 7 Jahre lange andauernden völlig autonomen öffentlichen Arbeit zu Trauma und Gewalt, zurechtweisen wollen, nicht zu antworten. Ich brauche mich nicht zu verteidigen, sondern kann tun, was ich eben tue, ohne, dass ich als Konkurrenz oder potenzielle Aufmerksamkeits-Twitterfame-oder “Multiszenenbekanntheits” – Diebin gelte.
Es tut mir gut, einmal Dinge zu tun, die nicht auf einen (vermeintlichen) Status zurückfallen.

Was ich tue ist
dramatische Taschentücher zu zeichnen und als Illustration auf einem Blatt miteinander zu verbinden

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dramatische Kompositionen in Plastikfolien zu ritzen, die später als Tiefdruckplatte verwendet werden

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Gerätschaften zu benutzen, die wir vorher noch nie benutzen konnten

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zu lernen, wie wir mit unseren Gerätschaften auch arbeiten können
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zu versuchen die kleine, fast ganz erwachsene Eule und das Eulenelter, zum Leben zu erwecken

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und  ganz bewusst zu lernen, dass, wenn wir, nach einem langen Tag des Lernens und Erfüllung spüren, einen Sonnenuntergang sehen, das einfach nur bedeutet, dass wir nach Hause gehen, wo uns außer NakNak*s Wiedersehensfreude und Abendbrotshunger, nichts erwartet, was uns genau diesen Tag aus dem Bewusstsein schwemmt.

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Neben all dem Schönen und vielleicht auch durch all den Raum für Kreation und Produktion, brechen Bodenplatten unter uns auf.
Wir verlieren (Therapie-) Zeit, fremdeln mit dem Uns, das wir schon so lange leben, erinnern, statt zu schlafen, zweifeln und k.r.ämpfen.
Wir lernen “die Anderen” kennen.