der Arbeitsvertrag

Wann immer ich über Hartz fear und unser Leben in Armut geschrieben habe, schrieb ich auch über Gewalt. Über Endlosigkeit, über umfassende Ohnmacht. Darüber, dass wir etwas erleben, das uns persönlich niemand wünscht, aber für den eigenen Wohlstand braucht.

In den letzten 16 Jahren des Hartz 4-Bezuges habe ich mir oft gewünscht, gehört zu werden, obwohl ich wusste, dass gehört zu werden allein überhaupt nichts bedeutet. Vor allem nicht als arme Person. Und als die Anfragen dann kamen, musste ich ablehnen. Seit einiger Zeit bin ich nicht mehr arm, sondern Hartz 4-Kund_in mit Einnahmen aus einer selbstständigen Tätigkeit. Das bedeutet auf meinem Konto praktisch nichts, aber in Bezug auf Existenzängste alles. Und über die sollte meiner Ansicht nach berichtet werden. Die Öffentlichkeit soll es wissen. Niemand darf behaupten, sie_r hätte nichts gewusst. Aus den Berichten soll sie rausschreien. Die Panik, wenn kein Geld kommt, die Scham, wenn man Freund_innen, Bekannte, Fremde um Geld bittet, die Not, wenn man keine Medikamentenzuzahlung leisten kann, die Verzweiflung, wenn man merkt, wie niemand versteht, dass man sich in jedem Kontakt mit nicht armen Menschen fühlt wie der Schmierfilm unterm letzten Dreck.

Ich bin nicht mehr arm. Und ab dem 1. Juni auch nicht mehr arbeitslos.
Nach anderthalb Jahren hin und her, Untätigkeit des Jobcenters, mehreren Begutachtungen und bis zuletzt wenig Erwartungen an einen guten Ausgang, ist der Antrag bewilligt worden. Der Verlag erhält eine Arbeitgeberförderung, damit er mich einstellen kann, ich ein Jobcoaching, damit ich eingestellt bleibe.
Es ist also geschafft. Ich bin raus aus Hartz 4 und bewege mich nun im diffusen Bereich der „working poor“.

Ich habe mir keine Vorstellung davon gemacht, wie das wohl sein würde. Wie würde ich mich fühlen? Wie wäre das, einen Arbeitsvertrag in der Hand zu halten und zu wissen: „Ab jetzt ist es vorbei“?
Nun, es ist leise. Ein leiser Fall. Einer, in dem man noch nicht weiß, ob man zufällig Flügel oder einen Fallschirm auf dem Rücken hat, um einen tödlichen Aufprall zu verhindern.

Ich kenne das unkontrollierte, nicht von Behörden ge(maß)regelte Leben nicht. Dieses Endlospapierband aus Zwang und Existenzangst, das so lange etwas war, das mir passiert, weil und damit es mich gibt, das wird jetzt gekappt. Ab jetzt gehts allein_verantwortlich weiter.

In meinem Alltag wird sich nichts verändern, aber alles wird anders sein.

25072020 – nie „wirklich“ arbeiten

Vor uns liegen 5 Wochen ohne Therapietermine. Davon haben wir 3 Wochen Urlaub geplant.
Zeiten wie diese möchte ich gern als Auszeiten sehen. Der erste Tag beginnt, ein Schalter kippt, alles auf Pause. Stopp. In unseren drei Urlaubswochen wollen wir in Ruhe arbeiten. Am neuen Buch, an so etwas wie täglicher Routine, unzerschossen von Fahrten nach Bielefeld, von Terminen und der Vielzahl der Prozesse, die wir am Tag so durchmachen, um alles ein bisschen zu schaffen, statt eine Sache ganz.

Vor ein paar Tagen kam die Ablehnung eines Antrags auf eine geförderte Stelle vom Jobcenter. Die Stelle sei nicht geeignet, ich sei nicht geeignet, das Gebot der Wirtschaftlichkeit dies das. So ein Brief in einem Monat mit zwei Buchsätzen, einer selbst strukturierten Weiterbildung und 12 Texten, die nicht mit verbundenen Augen und wahllos in die Tasten hauend entstanden sind, mehreren Teamgesprächen und Korrespondenzen, an denen durchaus auch Verantwortung hängt, während wir durch einen erheblichen Konflikt mit der Therapeutin und der Therapie an sich gingen.

Das wars im Grunde mit der Aussicht auf einen Stopp und in Ruhe arbeiten ohne Mailprogramm im Hintergrund, ohne Erreichbarkeit, ohne vollständiges Eintauchen in das, womit ich mich beschäftigen will.
Mein hoffentlich zukünftiger Arbeitgeber wird einen Widerspruch schreiben und wir werden eine Stellungnahme schreiben. Wir wussten schon, dass das kommen könnte, hatten befürchtet, dass es so kommen würde. Das Jobcenter möchte mich einfach super gern stabilisieren. Offenbar vor allem in meinen als „Arbeitslosigkeit“ eingeordneten Zustand.

Ich konnte leider nicht herausfinden, wie viele Menschen im Leistungsbezug des Jobcenters auch mit einer Behinderung leben und wie ich seit Jahren mit solchen Begründungen weder Fördermaßnahmen, noch Weiterbildungen, noch Kleinststellen, wie die, die wir versuchen gefördert zu bekommen, erhalten. Es werden viele sein und viele werden auch auf die eine oder andere Art arbeiten wie ich. Nämlich nie „wirklich“ und deshalb auch wie ich, nie „wirklich“ mal Urlaub haben.

Nachklapp Hartz 4

Wenn man einen Text schreibt, der zufällig den Ton der Zeit trifft. Zufällig von Leuten geteilt und empfohlen wird, die ihn ihrerseits lesen und teilen. Zufällig zu in die Diskussionen des Moments passen.
Das haben wir hier mit unserem selbstreferenziellen Egokickipups nicht so oft. Aber wenn dann ist es nie “wegen Trauma”. Nie wegen der ganzen Scheiße, die uns hier hin gebracht hat. Nie. Und das ist doch interessant. Wie die Gründe für Dinge noch immer nicht so gern angefasst werden.

Ich habe ein paar Antworten unter Tweets von Teilenden gelesen.
In einem Forum wurde über uns als Autorin des Textes geschrieben.
Deshalb ist es mir aufgefallen.
Dass es nie um die Gewalt geht. Selbst dann nicht, wenn man einen Text damit anfängt.

Mir ist eingefallen, dass ich noch nie “gut” mit Geld umgehen konnte. Dass das etwas ist, womit ich schon als Schulkind enttäuscht habe. “Umgang” bedeutete damals offenbar “wegtun und vergessen, dass es da ist” und nicht: “Verschenken, wenn jemand welches braucht” oder “Dinge kaufen, die man möchte”.

Wie Menschen heute über Menschen in Hartz 4 reden ist ähnlich.
Da ist eine unbewortete Idee von einem “richtigen” oder “guten Umgang” mit Geld, den man einfach mal eben so machen und pflegen muss. Oder “lernen” muss.
Was der Maßstab für “guten Umgang mit Hartz 4 Geld” sein soll, ist mir noch immer nicht klar, denn ich kriege weder mich noch mein Leben von Geld getrennt. Mein Leben und meine Lebensqualität hängt direkt an dem, was Monat für Monat, mal mehr mal weniger pünktlich auf meinem Konto landet. Manchmal auch einfach nicht, weil ein Stempel falsch sitzt oder es einen Zettel, den es schon tausend Mal in meiner Akte gibt, noch ein tausendundeinstes Mal braucht.

In der letzten Woche habe ich viele Erfahrungsexpert_innen gelesen, die ihre Verhältnisse komplett offenlegen. Und ich dachte wieder, wir müssten das auch machen. Als wäre das kollektive Nacktsein vor Angezogenen etwas, das etwas verändert. Die Debatte weniger schlimm, weniger demütigend macht. Als wäre das die Art Solidarität, die “uns Hartzis” irgendwie verbinden würde. Und eine Revolution auslöst.

Ich bin mit 15 in die Jugendhilfe gekommen. Mein Geld für jeden Posten war abgezählt. Als ich mit 18 in die ambulante Hilfe und dann ins Hartz kam, löste ich jede Woche einen Scheck ein.
Das war und ist bis heute mein Umgang: Niemals länger als zwei Monate im Voraus, Schuldengefahrabwehr vor Dingen in Kühl- oder Kleiderschrank.
Endziel: in der letzten Monatswoche noch was haben.

Pflicht: Rechnungen und Versorgung des Assistenzhundes
Kür: eigene Versorgung auf einem Level das halbwegs reicht
Schwierigkeitslevel: chronisch krank sein, extra Ausgaben an Dingen, die mir helfen Behinderungen zu kompensieren und dieser verflixte Wunsch nach Musik, Büchern, mal zum Friseur, ein zwei Farbfilme entwickeln zu lassen, mal den Fernbeziehungsherzmenschen besuchen, daneben Ehrenämter und Herzensprojekte mit_tragen

Mit abgezähltem Geld umgehen zu können ist nicht der “gute Umgang”, an den Menschen denken, die nicht so wirtschaften. Der “gute Umgang mit Geld” schließt Vorsorge mit ein. Und die ist utopisch unter Hartz 4.
Selbst wenn man es schafft am Ende eines Monats, vielleicht sogar zweien oder dreien etwas übrig zu haben, dann muss man Zahnbehandlungen zuzahlen, braucht eine neue Brille, muss mal jemanden dafür bezahlen als Assistenz irgendwohin mitzukommen, wo der Hund nicht mitdarf.
Das ist, was wir als “Mangelwirtschaft” bezeichnen. Das Weitermachen, obwohl es nie reicht.

Armut, Hartz 4 ist kein individuelles Schicksal. Kein persönliches Versagen.
Wenn man arm ist, dann gibt es kein “hättste mal besser”, das in irgendeiner Form berührt, worum es eigentlich geht.

In ihrem Buch “Gegen den Hass” schreibt Carolin Emcke, dass Armut eine gesellschaftliche Konstante ist. Und, dass arme Menschen nicht als Gruppe wahrgenommen werden.
Deshalb kommen Menschen auf die Idee, Jens Spahn würde etwas aus einem selbst erlebten Hartz 4-Monat lernen. Tatsächlich würde er mehr lernen, wenn er einen Monat lang täglich mit Menschen in Hartz 4 und anderen prekären Lagen reden und zusammenleben müsste.

Ich habe ein paar Leute gelesen, die den Ton von meinem Text als “scharf” bezeichnen. Das gefällt mir.
Ich will scharf klingen. Ich will so abgegessen, frustriert, verbittert und wütend gelesen werden, wie ich bin, wenn sich Politik und Feuilleton mit dem Thema befassen, als würde es sich bei Hartz 4 um etwas handeln, dass “ja eigentlich ganz gut” oder “mehr oder weniger schnell vorrübergehend” ist.

Verdammt ich hab seit meiner Flucht und meiner Entscheidung für das Leben noch nicht einmal über der staatlich hingerechneten Grenze gelebt. Mag sein, dass ich mit Ende 80 zurückblicke und denke, dass diese 13 + wer weiß wie viele da noch kommen, Jahre etwas Vorrübergehendes waren.
Jetzt gerade sind sie mein Leben nach der Gewalt.
Und wenn ich gewusst hätte, dass es das mitmeint – diese Form der Gewalt, gegen die man sich weder zur Wehr setzen noch aktiv um Schutz davor bitten kann – ich weiß nicht, ob ich mir damals die Kraft zugetraut hätte, das so lange zu ertragen. Und immer weiter und weiter zu versuchen etwas zu finden, was ein Weg heraus sein könnte.

Deshalb dachte ich an die Gewalt.
Auch wenn es um die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen geht, klingt die Idee von “gutem Umgang” durch. Immer wieder komme ich in der Auseinandersetzung mit der Gewalt an mir an die Frage, ob und wenn ja in welchem Ausmaß meine Familie vielleicht genau deshalb so dysfunktional war, weil da eigene unreflektierte Traumafolgen gewirkt haben.

Wie ist das für Hartz-Eltern, dem eigenen Kind beim Antritt in die vererbte Armut beistehen zu müssen?

Wie wird das für mich wenn ich ein Elter bin?
Welcher Umgang mit der Gewalt, die mir passiert ist und der ich nachwievor einen gewissen Raum in meinem Leben geben muss, um sie zu verarbeiten, ist denn “der gute”?
Soll ich auch vom Familie gründen besser ausgeschlossen sein?
Von einem der urmenschlichsten aller Dinge?
Oder kompromisslicherweise durchkontrolliert und abgezählt bis man alles auf die nächste Generation abladen kann, indem man sagt, jede_r sei des eigenen Glückes Schmied?

Ein bisschen was habe ich auch vom bedingungslosen Grundeinkommen bzw. Bürgergeld gelesen.
Auch so eine Hippieidee ohne ernsthafte Anerkennung von Armut als tragenden Wirtschaftsfaktor.
Reichtum braucht Armut.
Kapitalismus braucht Reichtum.
Allen das ihre und weiter wie bisher, lässt Armut nicht verschwinden. Leider nicht.

Bedingungslose Versorgungssicherheit und ein Miteinander, das nicht von Gewalt geprägt ist, lässt Armut verschwinden. Zumindest in der Form wie wir sie heute kennen.
Davon bin ich bis zum Gegenbeweis überzeugt.

mit neuen Kleidern zur Kaiserin verkleiden

Vor einigen Tagen haben wir für 2,50€ ein Paar neue rote Lederschuhe ersteigert, die nur 3 Mal getragen wurden. Solche Ersteigerungserfolge haben wir selten, aber wenn, dann sind es Hauptgewinne. Wie dieses Paar Schuhe, in denen meine Füße gerade stecken und gucken wie zufrieden schnurrende Katzen.

Es sind Schuhe, die im Laden um die 50€ kosten und damit Sabberware für uns bleiben. Gäbe es dieses Internet nicht und Menschen, die Schuhe mehr oder weniger verschenken, weil sie es können.
Wir profitieren sehr vom Verhalten dieser Menschen. Inzwischen sind in unserem Kleiderschrank nur noch die Unterwäsche und die Strumpfhosen selbst gekauft, die meisten Bücher, CDs, Filme, ein Großteil unserer Materialien für Kunst und Krempel sind uns geschenkt, gespendet, abgetreten worden.

Vor ein paar Tagen betrachtete ich uns in einem Schaufenster und dachte, wie krass es ist, dass man uns nicht mehr ansieht, wie arm wir sind. Wer Armut kennt, sieht sie natürlich doch – der zu weite Rock, die nicht mehr so leuchtenden Farben, das unvermeidbare Pilling, der locker ausgeleierte Sitz … wir sehen nicht aus wie aus dem Ei gepellt, aber nach Hartz 4-Style sehen wir seit etwa einem halben Jahr überhaupt nicht mehr aus.

Und fühlen uns auch nicht mehr so.
Es macht etwas, wenn Kleidung wolleweich ist, nicht die klassischen Kik-Schnitte hat und auch nicht so seltsam ausgewaschen ist, wie Kik-Stoffe. Es macht etwas, wenn die Füße im Winter warm und trocken bleiben und jetzt einen Übergangsschuh um sich haben können, statt direkt in die Sommertreter überzugehen. Es macht etwas mit dem Gefühl, wie man sich verbergen kann und wie genau diese Entscheidung zu sehen sein wird.

Es macht für uns absurderweise vor allem die Frage auf, ob wir jetzt noch Kleiderwünsche haben dürfen. Ob es wählerisch ist, wenn wir wählen, was wir von Kleiderspenden annehmen oder im Secondhand-Shop kaufen.
Denn einen Haken hat das seltene Secondhand-Glück dann doch: wir tragen nie, was wir auswählen würden, würden wir ganz und gar frei wählen können – wir tragen immer, was wir wählen können und tragen entsprechend wenig bis nichts im wirklich eigenen Stil.

Das ist nicht schlimm – aber ein Kompromiss, den wir selten benennen, weil wir denken, man hielte uns für anspruchsvoll, undankbar, wählerisch und würde unsere Dankbarkeit darüber überhaupt etwas geschenkt zu bekommen, dann nicht mehr wahrnehmen.

Daneben frage ich mich gerade auch, weshalb ich jetzt schrieb “das ist nicht schlimm”. Weil ein bisschen “schlimm” ist es doch.
Ich fühle mich in manchen Sachen sehr angezogen und merke in manchen Sachen auch, dass ich anziehend(er) auf andere Menschen wirke – habe aber eben doch dabei bewusst, dass ich nicht aussehe, wie ich aussehen würde, wenn ich selbst die Auswahl meiner Kleidung festlegen würde und nicht aus einer Auswahl, die andere Menschen für sich getroffen und dann für mich geöffnet haben, wählte.

Es ist ein bisschen, als würde ich mich in den für mich neuen Sachen zur Kaiserin verkleiden und einen Aspekt einer Lebensqualität erfahren, der mir eigentlich gar nicht wirklich zusteht.

Zum Beispiel haben wir neulich einen Markentrekkingrucksack im Secondhandkaufhaus gekauft, der schon seit 2 Jahren in unserer Ebaysuche war. Immer hatten wir Pech, konnten einfach nie genug bieten oder verpennten die mitten in der Nacht endende Auktion. Jetzt steht dieser supergute Rucksack, getauft auf den Namen “Erik” in unserem Schlafzimmer und macht uns ein völlig neues Erleben von Komfort möglich.
Und wir so:

Und as always, wenn irgendwas Angenehmes, Okayes, Gutes passiert, kommt da gleich wieder Angst hoch.
Angst den Gegenstand kaputt zu machen. Angst, die Option auf diese Erfahrung zu verlieren. Angst, sich an diese Erfahrung zu gewöhnen, und nie wieder die bisher gelebten Alternativen aushalten zu können (oder schlimmer noch: zu wollen). Und ja – es ist Angst und keine Furcht. Es ist genau diese kindliche Angst mit dem, was einem als “Das darfst du haben” zugewiesen wurde, nicht so umzugehen, wie es erwartet wird. Es nicht gut genug zu nutzen. Es nicht gut genug wertzuschätzen. Es nicht gut genug zu umsorgen. Sich selbst als nicht gut genug für diesen Gegenstand zu erweisen.

Vor ein paar Jahren haben wir ganz bewusst befohlen aufzuhören, uns über die Erwartung von Menschen, die uns etwas schenken, Gedanken zu machen. Wenn sie uns nicht sagen, was ihre Erwartungen sind, dann kennen wir sie nicht und erlauben uns eher uns zu trauen, mit Geschenken so umzugehen, wie wir es möchten und brauchen.
Manchmal, wenn wir einen verkleidete-Kaiserin-Moment haben, dann schaffen wir das auch.

In der Regel aber, müssen wir uns erst in den Ängsten und Gedanken tot laufen, weil es dann eben doch noch immer Menschen gibt, die uns dafür verachten, dass wir Geschenke und Unterstützungen jeder Art annehmen und es dann diese Menschen werden, vor denen wir uns schämen, minderwertig fühlen und letztlich wieder arm_selig finden.

Da geht die Frage auf, wer was wann wünschen und wählen darf. Nach welchen Kriterien oder auch: nach wessen Kriterien,  definiert sich, wer sich wann was wünschen darf und wie wertig oder teuer das sein darf?
Wenn wir uns Kleidung kaufen, geht es erst um den Preis und dann um die Eigenschaften, die man sich wünscht (weil man sie braucht), während es für manche Menschen, die auf unsere Situation schauen, diese “Sei dankbar, dass du überhaupt was kriegst”- Haltung gibt, die uns entlang der Situation von Menschen definiert, denen es “schlechter” geht.

Zum vermeintlich Mindesten, das jedem Menschen zustehen sollte, gehört nachwievor nicht, dass alle Menschen selbst und frei wählen können sollten, worin sie sich angucken lassen müssen, womit sie vor anderen Menschen auftreten und vielleicht auch Eindruck hinterlassen wollen/sollen, womit sie sich wärmen, schützen, jeden Tag umgeben sollen.

Zum vermeintlich Mindesten, das jedem Menschen zustehen sollte, gehört so auch die Option auf “als Kaiserin verkleidet sein”, aber nicht, sich selbst zu be_kleiden.

vom Luxus über #armeLeuteessen zu fantasieren

Selbstversuche und Sozialexperimente – es gibt wenig mehr, das als Missachtung wie eine Ohrfeige auf konkret betroffene Menschen wirken kann.

Da ist das “einen Tag im Rollstuhl”-Experiment, von Menschen, die keinen Rollstuhl benötigen, um sich selbstbestimmt von A nach B zu bewegen, genauso unangebracht, wie der “eine Woche obdachlos”-Selbsterfahrungstrip von Menschen, die ein Obdach haben.
Es ist unangebracht, weil die sinnhaftere Variante ein “Ich höre den konkret betroffenen Menschen zu, die mir etwas über ihre Lebensrealität erzählen”-Experiment wäre, das bis heute noch viel zu wenig Medienmachende wagen.

Aktuell gibt einen Selbstversuch im Magazin “Biorama” für nachhaltigen Lebensstil.
Nachhaltig befeuert werden in diesem Selbstversuch vor allem Stereotype und Vorurteile. Schlagwortartige Phrasen werden recycled, um konkret Betroffenen die eigenen Argumente und Er_Lebensrealitäten abzusprechen und umzudeuten. Man will nicht glauben, dass Armut mehr sein könnte, als eine Frage des Geldes, des Bildungshintergrundes oder der allgemeinen kognitiv geprägten Entscheidungsfindung. Darum setzt sich nun also ein Mensch hin, gibt sich ein Budget für seine Mahlzeiten und hält das für den richtigen Weg sich Fragen nach Luxus zu stellen.

Der Mensch mit Gehalt denkt, Armut wäre das Gegenteil von Luxus beziehungsweise, Armut bedeute weniger davon.
Manchmal frage ich mich schon, wo solche Gedanken herkommen und brauche dann doch nicht lange für eine Idee. Ich merke ja selbst, wo mein Luxus beginnt. Er beginnt bei 2€ für Artikel, die ich nicht essen kann und 2,50€ bei Artikeln, die ich essen kann.
Luxus ist für mich (in Hartz 4 seit seiner Einführung) also eine Farbfilmentwicklung und ein Saint Albray-Käse.

Menschen mit mehr Geld kommt das traurig vor und ich empfinde das als eine Form von Missachtung meiner Luxusgefühle. Es fühlt sich an, als wäre mein Luxus peinlich oder falsch. Oder eben – so wie ich selbst für diese Gesellschaft – minder_wertig.

Der Selbstversuch im Biorama-Magazin zielt auf “bio ist aber so teuer” ab. Und schafft es nicht dann einfach bei dieser Frage zu bleiben und sich mit dem Geschäft hinter biologisch nachhaltiger Landwirtschaft zu beschäftigen. Nein – da muss noch “das echte Leben” mit rein.
“Teuer”, das gilt noch immer als ein zwangsläufig für arme bzw. einzig selbstversorgend wirtschaftende Haushalte auftauchendes Thema und wird in dem Experiment erneut aufbereitet.

Biologisch nachhaltig angebaute bzw. produzierte Lebensmittel zu konsumieren ist tatsächlich keine Frage des Geldes – es ist eine Frage des Konsums und damit eine Frage, die weit über akut verfügbare Mittel hinaus geht.
Ein Tweet, der sich lobend über den Selbstversuch unter #armeLeuteessen äußerte, rechnete einen Fertigjogurt zu 49 Cent gegen ein Glas Jogurt mit Zucker und Früchten auf das 51 Cent kam.
Als würde niemand auf Hartz 4 nicht darüber nachdenken, direkt 2 Jogurtbecher zu je 19 Cent kaufen, weil si_er dann 2 Jogurts hat und 11 bis 13 Cent spart. Also fast den Wert eines dritten Jogurts.

Der Selbstversuch ist Quatsch, weil die Personen kein Hungermanagment hat, das dem einer Person mit Mindestbudget nahe kommt. Man denkt natürlich auch als arme Person über Qualität nach. Natürlich kauft man lieber ausgesuchte Zutaten und möglichst ausgewogenes Zeug ein – aber wenn man Hunger hat, hat man Hunger und dann passiert etwas im Denken, das sich auf schnell verfügbare Masse, die nach irgendwas schmeckt, konzentriert.

Sich auf den eigenen Selbstwert zu berufen und zu argumentieren, man sei mehr wert als die Tüte Konservierungsstoffe mit Geschmacksverstärkern und angenehmer Konsistenz zu 99 Cent, hält niemand sehr viel länger, als einen Selbstversuche-Zeitraum mit einem selbst bestimmten Anfang und einem jederzeit absehbaren Ende, durch.

Hartz 4 funktioniert nicht so klar begrenzt. Vor allem nicht, wenn man zu den mehrfachdiskriminierten Personen gehört und “einen bezahlten Job finden” ein Synonym für “Sechser im Lotto” ist. Die durchschnittliche Zeit in Hartz 4 sind derzeit 4 Jahre. Tendenz steigend.
Hartz 4 ist eine Akutlösung. Und Akutlösungen sind nie nachhaltig. Nie.
Ein Beispiel:
Das erste Jahr Hartz 4.
Du bist jetzt mehr zu Hause als vorher. Du verbrauchst mehr Strom und heizt nun auch tagsüber. Dir kommt eine Energiekostennachzahlung ins Haus und darauf folgend passiert die erste Ratenzahlung abzüglich deiner Mindestsicherung.
Vielleicht (sehr wahrscheinlich) musstest du gerade noch umziehen, weil dein Wohngeld(zuschuss) nicht ausreichte. Umziehen ist teuer und dabei geht auch noch ein Möbel kaputt. Die Waschmaschine macht seitdem komische Geräusche und irgendwie riecht die Kleidung eklig. Es stellt sich heraus: ein Schimmel zerstört die Fasern – du musst alles ersetzen. Und deine neu bezogene Wohnung von Schimmelsporen befreien, die sich hinter dem Kleiderschrank bereits in aller Pracht zusammentun.
Es beginnt ein Gerangel mit der Wohnungsbaugenossenschaft, wer jetzt den Schimmel entfernen muss und währenddessen haucht die Waschmaschine mit einem heftigen Wasserschaden über die beiden Wohnungen unter deiner, ihr Leben aus.
Du stinkst und fühlst dich permanent unwohl. Deine Wohnung ist ein Quell von Stress, weil du nicht weißt, wie du die Kohle aufbringen sollst, alles auf ein übliches Level zu bringen.

Da du Hartzi bist und dein gesellschaftliches Ansehen irgendwo zwischen 0 und Mitleidsblinddarm im sozialen Gefüge rangiert, bist du aller Wahrscheinlichkeit nach allein mit der ganzen Scheiße. Du hast Stress. Tiefen Überlebensstress, weil deine ganze Situation deinem Neandertalergehirnteil zubrüllt, dass du existenziell gefährdet bist.
Das ist kein Stress, an den du aus deinem Arbeits- oder Schulleben vor ein-zwei Jahren gewöhnt warst und innerhalb dieser Sozialbezüge auch angemessen regulieren konntest. Das ist die Art Stress, die dich krank und hungrig macht.
Und zwar richtig hungrig.
Kohlehydrate-Salz-und-Fett-hungrig. Mehr-ist-mehr-hungrig.
Damit du eine Überlebenschance hast.

Gedanken an sportliche bzw. allgemein außerhäusige Aktivitäten versickern dort, wo die Mitglieds- und/oder Teilnahmebeiträge anfangen und die Ideen um nachhaltige produzierte Lebensmittel erstrecken sich auf die Frage, wie viele Tage 3 Liter Eintopf reichen.
Die Zeit, die man mit Kochen und dem stundenlangen Durchsuchen der Super_Märkte der Umgebung nach günstigen frischen und biologisch angebauten Lebensmitteln verbringen könnte, geht dann doch dafür drauf sich selbst irgendwie bei Verstand und Hoffnung zu halten. Sei es durch Eskapismus in Aktivitäten, die akut kostenlos sind (und ja – das ist dann eben auch Fernsehen, Facebookspiele spielen und was man sonst Hartzis gerne mal als einzige Beschäftigung unterstellt) oder die organisatorische Kompensation der Armutslücken: (Mini)Jobbeschaffung, Kinderbetreuung(sorganisation), Behördenkrempel, Beschaffung nötiger Gegenstände und Güter.

Der Selbstversucher von “Biorama” denkt, er landet im Restaurant, weil er so wenig Zeit zum Kochen hat – nicht etwa, weil er dort landen kann.
Ein Hartzi hat sein Brot mit Thermoskanne im Rucksack oder nimmt sich für 1€ einen Burger von McDonalds mit. Je nachdem was grad geht. Die meisten essen schlicht nie außerhalb. Die haben einfach Hunger bis sie wieder zu Hause sind.

Armut (in Deutschland) bedeutet “mit Geld rangieren” – nicht “kein Geld haben”. Auf Bioprodukte zu verzichten kann den schlichten Grund haben, dass es für weniger Geld mehr Masse gibt und der aktuelle Rangierplan viel Masse braucht.
Ich kenne arme Menschen, die sich bio-vegan-ernähren. Ich kenne arme Familien, wo es über Wochen jeden Tag die 49 Cent-Tütensuppe für die Eltern gab, damit die (Klein)Kinder im Haushalt frisches Obst und Gemüse, aber auch Geburtstagsgeschenke, Schulsachen, Kleidung, Musikunterricht… Bausteine für eine gute Zukunft bekommen konnten. Ich kenne arme Menschen wie mich, die neben der Armut auch noch Essstörungen, Unverträglichkeiten und seelische Belastungen jonglieren müssen.
Nachhaltiger Konsum funktioniert für “die armen Menschen” oft nicht, weil das Hier und Jetzt der Kampf ist, den sie überstehen müssen.
Ein gutes, ökologisch biologisch super mega tolles nachhaltiges Leben konzentriert sich auf ein Morgen, das man erst dann erahnen und planen kann, wenn man nicht mehr um seine Existenz kämpfen muss.

Aber ja – wenn man so wenig darum kämpfen muss, das einem vor lauter Langeweile nichts mehr einfällt, als Konsumselbstversuche zu veranstalten, statt sich aktiv gegen Armut und Benachteiligung armer Menschen einzusetzen, kann man schon mal so einen Quatsch anfangen.
Nachhaltig in Bezug auf den Wunsch nach einer guten Zukunft für alle Menschen ist das nur leider genau nicht.

[tl,dr: Selbstversuche wie #armeLeuteessen möchten bestimmte Menschen(gruppen) motivieren, Konsumentscheidung für sich zu begründen bzw. bestimmte Argumente bestimmter Menschen nicht gelten zu lassen, ohne zu hinterfragen, auf welcher Grundlage welche Entscheidungen getroffen werden. Das ist missachtende Kackscheiße und nicht nachhaltig.]

zum Glück wird manche Kleidung zur Wegwerfware

“Kleidung wird zur Wegwerfware” – so lautet mehr oder weniger der Schluss, der aus einer Greenpeaceumfrage zum Thema Kleidung gezogen wurde.

Als würde Kleidung nicht in weiten Teilen genau dafür designt und produziert. Als würde Kleidung heute noch den gleichen Limitierungen unterworfen, wie vor 50 Jahren. Als sei es für niemanden wichtig, dass es so ist, wie es jetzt ist.

Wir kaufen unsere Unterwäsche bei KiK, unsere Strumpfhosen bei Kaufhof und unsere restliche Kleidung besteht aus Kleidung, die uns geschenkt wurde oder in der Recyclingbörse von jemandem zum Weiterverkauf abgegeben wurde.
Unser letztes Paar Schuhe “für gut” kam 14,99€ bei Deichmann und hatte nach 6 x tragen einen Riss in der Sohle. Es ist jetzt also ein Paar Schuhe “für gut” im Sommer. Von den Schuhen, die in unserem Regal stehen ist nur noch dieses Paar keine ehemalige Kleiderspende von Menschen, denen der Wert ihrer Kleidung bewusst ist und denen gleichermaßen klar war, dass sie mehr Schuhe besitzen als sie tragen.
G’tt sei Dank ist das so.

In der Umfrage kam heraus, dass niemand seine Sachen zum Schuster oder Schneider bringt.
Wenn man bedenkt, dass Schuster und Schneider Geld für ihre Arbeit wollen  und sich das bei einem Paar Schuhe, dessen Plastesohle an einen Plaste-Stoff-Mixschuhteil geklebt war, überhaupt nicht lohnt (sondern genauso gut in ein bis zwei neue Plasteschuhe gehen kann, damit man überhaupt Schuhe hat), wurde dabei entweder außenvor gelassen oder einfach nicht erwähnt.

Gerade Schuhe sind bei uns aktuell Thema, weil wir seit Anfang des Jahres mit einem Fernsensporn zu tun haben.
Ja, Fersensporn. Das, was überwiegend Frauen* ab 40 haben, die ihr Leben lang in Chucks oder Stöckelschuhen gelaufen sind. Oder eben die paar Frauen*, die auf einem schrumpfenden Zentimeter Gummiplaste über Stock und Stein laufen, weil es ewig kein Geld für den ÖPNV gibt.
Wir haben recherchiert, was man machen kann, außer Ibuprofen und entzündungshemmende Salben. Klar – “festes Schuhwerk mit gepolstertem Fersenbereich” und “ausgelatschte Schuhe meiden” und “ganz oft barfuß”.
Man kennt das und rechnet das kurz nach.
Meine Schuhe sind bis auf die Winterstiefel alle ausgelatscht – aber gleich wegschmeißen? Nur weil ein Fuß hier und da mal aufmuckt?
Sowieso – weg ist weg und bedeutet noch lange kein neues ordentliches Paar Schuhe.
Wir nehmen am Ende ein loses Gelpolster zu 30€ und legen es in unsere 15€ Deichmannsneaker und sind froh, dass es so billige Schuhe gibt.

Unsere Kleidung verbleibt in aller Regel über Jahre in unserem Haushalt. Nicht, weil sie so gut ist, dass wir sie nicht zur Kleidersammlung geben wollen, sondern, weil es uns peinlich wäre, könnte jemand in der Sortierstelle denken, wir wären so ein Jemand, der denkt, seinen Textilmüll würde noch jemand anderes tragen können. Und nicht, dass wir wissen, dass sie in der Sortierung gucken, was wirklich noch geht und was zur Aufbereitung verkauft wird und wir es als Spende ans DRK schönreden. Weil die können mit dem Geld ja dann Menschen helfen.
Weiß man ja.

Wir haben im Laufe der Jahre ein paar Dinge übernommen, die das Leben unserer Sachen ein bisschen verlängern.
Es ist normal, dass Textilien irgendwann ihre Farbe und Weichheit verlieren. Da wir special Waschpulver, in dem nur Seife und sonst nichts drin ist benutzen müssen, geht das natürlich noch schneller.
Spannend dabei: schwarze Kleidung von KiK wird nie einfach nur dunkelgrau, sondern sehr viel öfter rot-braun, dunkelrot oder lila-braun-grau und natürlich verhalten sich auch andere Farben nicht echt im Laufe der Zeit.
Wenn die Nähte noch gut sind (niemals raushängende Fäden an einem KiK-Kleidungsstück abschneiden – das ist ein Zauberfaden, wenn der ab ist, fällt das ganze Teil auseinander), machen wir einen Eimer mit Clorix fertig und bleichen uns das Zeug weiß bis pastellfarben. Und e voilá: Sommershirts

Außerdem auch: Röcke statt Hosen
Wir haben unseren letzten Rock vor Jahren in der Recyclingsbörse gekauft.  Es gibt keine Scheuerstellen, außer an den äußeren Nähten auf denen andere Kleidung entlang reibt. Farbverluste sehen bei Jeans sogar gar nicht mal so hässlich aus, andere Stoffe kann man aber leicht nachfärben. Ein Rock wiegt oft weniger als eine Hose in der gleichen Größe – man kann also gleich zwei auf einmal färben.
Ein langer Rock mit ausgefranstem Saum, kann auch ein mittellanger Rock werden – eine Hose braucht zum Kürzen dann doch irgendwie den richtigen “Insgesamtschnitt”.

Übrigens ist Kleidung selbst zu nähen oder zu stricken nicht billiger, als sie zu kaufen. Anna hat dazu mal ganz ausführlich geschrieben. Lest das.

Nähen und stricken zu können ist aber im Hinblick auf Langlebigkeit und Wiederbelebungsmaßnahmen von Kleidungsstücken hilfreich.
Ein gestrickter oder gehäkelter Pullunder/Westover, hat schon so manches Sommershirt von uns zu einem Wintershirt verwandelt. Eine selbst gestrickte Mütze zu stopfen geht leichter, als eine maschinengestrickte Polyesterstrickmütze mit Miniklitzemaschen.
Auflösende Nähte nach zu nähen ist eine Sache von 20 Minuten. Vielleicht den 20 Minuten, die man normalerweise in der Stadt herumgurkt, um einen Parkplatz zu finden, um sich danach mit anderen Leuten durchs Kaufhaus zu drücken.

Am Ende ist Kleidung aber eben doch so lange tragbar, wie man sie tatsächlich auch tragen kann.
Wir tragen auch Sachen mit Löchern, Verfärbungen, viel zu groß oder eigentlich zu klein. Vor zwei Jahren haben wir einen Mantel geschenkt bekommen, der sich komisch anfühlte, weil er passte.  So ist das einfach. Wir schämen uns in der Regel nicht für unsere Kleidung – wir schämen uns, wenn man an uns Forderungen stellt, wie die, doch gefälligst keine Billigsachen mehr zu kaufen oder mindestens immer bio öko fair trade mit Gütesiegel mit special anderen Superfunktionen, die uns als “super gut für uns” beworben werden, zu präferieren.

Am Ende ist die Näherin in Bangladesch in Bezug auf die Wahlmöglichkeiten um überhaupt bedeckt zu sein, doch wieder näher an uns dran, als die Normgruppe der 19-69 jährigen Deutschen, die zu Primark gehen, weil sie mehr Geld für Kultur, Technik und Freizeitgestaltung ausgeben müssen (und möchten), die in der Umfrage von Greenpeace kreiert wurde.

Vielleicht weiß Greenpeace aber auch nicht, dass der volle Hartz 4-Satz für Kleidung und Schuhe  33, 53€ im Monat vorsieht.
Und nicht alle Personen in Hartz 4 auch wirklich den vollen Satz bekommen.

Lieber P.

Bitte sag mir nie wieder, ich würde mich selbst behindert machen. Bitte sag mir nie wieder, ich würde mich selbst komisch machen.
Ich bitte dich nicht aus Gründen einer political correctness darum, sondern, weil mich diese dummen Worte von dir verletzen und dich zu einem Kontakt machen, der unerträglich ist.

Du verstehst wohl nicht, warum Menschen verletzende Dinge, wie auch das N-Wort nicht hören wollen. Weshalb sonst habe ich es an deiner Seite so oft gehört, wie noch nie neben anderen Menschen? ‚Politisch korrekt‘ ist wohl ein Witzchen für dich. Oder eine Randnotiz, an die man sich erinnert, wenn man mit den Betroffenen zu tun hat.
Eine Handlungsempfehlung. Keine Bitte darum, nicht gedemütigt, entwertet, verletzt zu werden. Kein Hinweis auf deine Privilegien als weißer Mann in unserer Gesellschaft.

Ich erinnere mich an deine Schilderung aus dem Buch eines Künstlers, dessen Beobachtung über die alltäglichen Anstrengungen und Kämpfe behinderter Menschen du so bemerkenswert findest. Und ich weiß, dass ich dir sagte, wie erbärmlich es ist, wenn Menschen, die sich nicht als behindert erleben, sich staunend daneben stellen, wie Menschen kämpfen können, um ihr tägliches Leben in irgendeiner Form zu gestalten.
Erbärmlich ist es, weil es so viel mehr Optionen gibt, den täglichen Kämpfen von Personen zu begegnen.
Weil es keine Wahl ist zu kämpfen, wenn man behindert ist und wird, sondern eine verdammt noch mal zwingende Notwendigkeit, sich selbst vor Verletzung, Unterdrückung und Ausbeutung zu schützen. Weil es sonst schlicht niemand tut. Kein Interesse da ist. Kein Bemerken passiert. Keine Anerkennung von einem Schmerz, der ist, auch, wenn er von niemandem sonst erlebt wird, geschieht.

Du und das Kunst-LK- Mädchen, ihr beide sitzt da mit eurem privilegiertem Leben hinter euch und sagt mir, ich würde mich selbst behindert machen, wenn ich offen aufzeige, dass Dinge für mich nicht sind, wie für euch.
Manchmal denke ich in solchen Momenten, ich würde irgendetwas falsch machen, wenn ich zeige: “Hallo – das hier ist ein Kampf für mich. Ich bin behindert. Ich versuche hier wie ihr zu partizipieren und kann doch nicht, was ihr könnt.“. Ich merke wohl, wie Menschen, wie du und dieses Mädchen, dieser Künstler, D. und wie sie alle in unserem Kurs sitzen, denken, ich würde immer nur über mich sprechen, wenn ich das Wort mit B sage.

Eine Behinderung im Leben zu haben, gilt als etwas Persönliches und nicht als etwas, das alle betrifft. Auch dann, wenn es nur eine Person ist, die damit lebt.
Nie bezieht ihr meinen Kampf auf euch, unseren Umgang miteinander, unsere gemeinsame Sprache, unsere jeweiligen Sozialisierungen, unsere spezifischen Lebenserfahrungen, den Kontext, die Räume, die Themen und die Arbeiten, die wir produzieren und begutachten, sondern immer auf mich.
Wenn ich Probleme habe, soll ich was sagen. Soll ich wissen, ich kann immer kommen.
Das Ding ist – einen Scheiß kann ich. Einen Scheiß lohnt es sich die Kraft dafür aufzubringen, ein Problem an euch heranzutragen, weil ihr vor jeder Unterstützungsüberlegung verlangt ein Problem zu verstehen, dass ihr selbst nie hattet, nie habt, nie haben werdet. Weil ihr von mir eine Barrierefreiheit in der Kommunikation verlangt, die ihr als übertrieben, political correctness-Spielerei, übermäßig raumeinnehmend benennen würdet, wenn ich sie von euch einfordere.

Als ich D. sagte, ich habe Krampfanfälle, hat er mich gefragt, was er dagegen tun soll.
Dabei war mein einleitender Satz: “Gibt es einen Ruheraum in der Schule? Gibt es einen Raum, in dem man sich in Ruhe aufhalten kann – das hilft mir beim Umgang mit den Krampfanfällen.”
Ich merke den Schlag ins Gesicht noch heute, wann immer ich mir die Rumpelkammer angucke, die er mir angeboten hat. Du weißt schon – der Raum, der immer vollgestellt ist mit den Bilderrahmen, den Kunstsachen zum Trocknen, dem lose hingeworfenem Werkzeug und dem Boden, der eben dann und wann mal gefegt wird. Was glaubst du, wie sich das auf meine Angst vor einem Krampfanfall in der Schule so auswirkt, wenn ich weiß: „Da muss ich rein, wenn ich merke, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verliere.“? Hoch bis unters Dach, jemanden vorher noch bitten den Raum aufzuschließen, dann hinfallen. Vielleicht mit dem Gesicht auf eine vergessene Reißzwecke auf dem Boden oder mit einer Faust in die Glasplatte eines Bilderrahmens neben mir.

Er kommt sich hilflos vor, weil er aus meinen Worten viel mehr Mitverantwortung gedeutet hat, als da jemals drin war.
Er sagte mir, ich würde mich selbst komisch machen, wenn ich Menschen sage, dass ich nicht alles immer überall mitmachen kann, weil ich meine Behinderung mitdenken muss.
Heimlich hoffe ich auf einen Moment, in dem er mal ein alter Mann ist, der eine Inkontinenz immer mitdenken muss und selbst anfangen muss sich zu überlegen, was er wie wann wie oft und wie lange (spontan) mitmachen kann. Und natürlich wünsche ich ihm irgendein ignorantes Arschloch in seinem Leben, das ihm sagt, er würde sich selbst komisch machen, wenn er es schafft seine Scham zu überwinden und jemandem anvertraut, dass er da ein Problem mitbedenken muss, das er nicht beeinflussen kann.
Echt – ich hoffe, ihm wird irgendein peinliches, möglichst ungeeignetes Kleidungsstück für den Notfall angeboten. Und ich hoffe – einfach, weil ich auch nicht frei davon bin in Gedanken gewaltvoll und gemein zu sein – er pisst sich dann in die Hosen und das an einem gerade so irgendwie halbwegs passendem Ort.
Ich hoffe, ihm wird irgendwann klar, wie das für mich war nach einem Anfall im Schulklo zu liegen und zu wissen: “Keine einzige Person hier wird mir helfen. Keine Person hier wird das verstehen. Ich bin allein. Ich bin hilflos. Ich habe nichts unter Kontrolle.”.

Ich habe dir erzählt, dass ich seit der Autismusdiagnose merke, wie viele faule Kompromisse ich jeden Tag eingegangen bin.
Ich habe dir keine Bespiele gegeben, weil ich noch nicht so weit war. Inzwischen habe ich einige.

– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn mir Menschen sagen, ich würde Dinge fehlinterpretieren und Personen, deren Worte mich verletzen und demütigen würden sicher etwas anderes gemeint haben
– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn Menschen mir sagen, ich sei spitzfindig und viel zu differenziert
– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn Menschen mir sagen, mein Anspruch an respektvolles Miteinander sei zu hoch
– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn Menschen nicht reflektieren, dass sie mich missverstehen und/oder schlicht ignorantes Verhalten an sich zu legitimieren versuchen mit Sätzen wie: “Ja aber früher hat man das immer so gesagt/gemacht/gedacht …” oder “Ja ja haha politisch korrekt müsste man ja sagen … aber naja – wir sind hier ja nicht so.”

Weißt du – was ist, wenn Menschen mich doch immer wieder verletzen und es schlicht nicht merken, weil es sie einen Scheiß interessieren darf, welche Wirkung ihre Worte haben (könnten)?
Gestern hast du mir gesagt, das sei ein gesellschaftliches Problem. Und nicht mitbedacht, dass jede Einzelperson ein Teil dieser Gesellschaft ist. Dass Gesellschaft immer genau dort beginnt, wo ein Mensch auf einen anderen trifft. Verdammt – es ist normal und im Grundgesetz für jede Person als Recht verankert, dass man nicht verletzt und gedemütigt wird. Auch dann, wenn die Person das nicht wollte. Mein Schmerz ist nicht über die Intension des Gegenübers zu definieren, sondern darüber, wie sehr er mich quält.

Ich weiß, “die Gesellschaft” mag das gern so tun. Deshalb haben wir so eine hohe Dunkelziffer von Menschen, die misshandelt werden. Weil immer alle sagen: “Er hat es ja nicht so gemeint.” Weil selbst viele Täter_innen sich sagen: “Oh – ups – das wollte ich nicht.” Und weil es noch immer hilfreich in Sachen juristischen Strafmaßes ist zu sagen, man hätte gedacht für die geschädigte Person würde die Tat nicht so schlimm sein.
Das nennt man übrigens Gewaltkultur und ist Kackscheiße, weil es den Opfern/den geschädigten/unterdrückten/minorisierten Personen sagt: “Dein Schmerz/dein Schaden ist egal, weil die Person, die dir wehgetan hat, diesen Schmerz nicht mitbedacht bzw. billigend in Kauf genommen hat.”

Nehmen wir an, es sei mein Autismus, der mich spitzfindig macht. Der mir nicht erlaubt über Details und einzelne Worte mit ihren spezifischen Bedeutungen hinwegsehen zu können. Nehmen wir an, mein Gehirn funktioniert so sinnbasiert, dass ich alle Schulkameras an dem Geräusch unterscheiden kann, das ihr Innenleben macht, wenn man die Einstellungen ändert. Nehmen wir an, meine Art auf Respekt und Gerechtigkeit zu achten, hätten etwas damit zu tun, dass ich in nicht ausbalancierten Situationen in Panik gerate, weil ich den Überblick und sämtliche Sicherheitsgefühle verliere und darüber in Erinnerungen an meine 21 Jahre andauernden Gewalterfahrungen getriggert werde.
Nehmen wir an, meine Interpretation der Situation hätten eine Basis, die die Mehrheit der Menschen um mich herum schlicht niemals hatte und niemals haben wird, weil Autismus eine neurologische Entwicklungsform zugrunde liegen hat.

Nehmen wir an, ich würde keine Wahl darüber treffen, was ich wann wie wahrnehmen würde.
Da würde jedes “Nu sei mal nicht so…” ein richtig großer Tritt in die Fresse sein, richtig?

Was ich wählen kann ist, wie sichtbar ich meine Wahrnehmung mache. Das heißt, von wem ich mich am Ende eventuell absichtlich ins Gesicht treten lassen würde, weil es schlicht so unterschiedliche Wahrnehmungsbefähigungen gibt.
Ich erwarte nicht, dass Menschen verstehen, was “es ist zu laut” für einen überbordend furchtbaren Schmerz für mich bedeuten kann. Ich erwarte nicht, dass Menschen Dinge für mich verändern, damit ich leichter und mit weniger Kraftaufwand am Leben teilhaben darf. Auch am gesellschaftlichen.
Aber ich erwarte, dass ich nicht auch noch dabei ausgelacht, in meiner Wahrnehmung und Einschätzungsfertigkeit in frage gestellt oder allgemein als “mich selbst behindert machend” bezeichnet werde, wenn ich versuche, das Leben für mich aushaltbarer/barrierenärmer/weniger einsam/respektvoller/generell lebenswerter zu gestalten.

Es sind nicht die Hilfsmittel, die man benutzt, die einen zu einer behinderten Person machen, lieber P.. Es ist die Behinderung durch Gesellschaft, Umwelt, Lauf der Dinge, die Personen behindern und/oder behindert machen.

Vielleicht kennst du aber auch das soziale Modell von Behinderungen nicht. Okay – kein Problem.
Wie gut, dass ich von Hartz 4 zu leben versuche, wie ein Großteil der schwerbehinderten Menschen in Deutschland, die in der Regel weit davon entfernt sind, sich dafür entschieden zu haben weder eine Berufsausbildung noch einen ordentlich bezahlten Job zu haben. Daran kann man es gut erklären.

Hartz 4 behindert mich, weil es nur dazu da ist, eine errechnete grundlegende Versorgung von Menschen ohne Einkommen sicherzustellen.
Und sonst nichts. Hartz 4 lässt einem Menschen keinen Raum sich einen so glatten Habitus anzueignen, wie ihn das Kunst-LK-Mädchen gestern schon an sich hatte. Oder wie ihn D. hat. Hartz 4 lässt nicht zu, dass man sich für eine Karriere so viele Fort-und Ausbildungen finanziert, wie man sie brauchen würde. Erst recht nicht, wenn es um Fort- und Ausbildungen geht, die Menschen mit Behinderungen/Behinderte mitdenken.
Man kommt darunter nicht vom Fleck. Hartz 4 ist nicht gemacht für eine Verweildauer über ein oder zwei Jahre hinaus. Die Realität sagt dagegen, dass die durchschnittliche Verweildauer inzwischen bei sieben Jahren ist. Und auch, dass die Schuldenlast von Hartz 4-Abhängigen mit jedem Jahr des Bezuges steigt.

Du erinnerst dich sicher an mein bitteres Jubiläum von 10 Jahren in Hartz 4.

Es ist kein Stock im Arsch oder unbegründete Angst, wenn ich mir jeden größeren und kostenrelevanten Schritt in meinem Leben 2, 3, 4, 5, 6 Mal überlege und dann doch verwerfe.
Hartz 4 ist eine Barriere. Strukturell gewollt. Gesellschaftlich benutzt, um sich selbst immer wieder darüber zu motivieren sich anzustrengen, mehr Leistung, mehr Geld, mehr Sicherheit selbst zu produzieren. Ich kann mich nicht entscheiden, davon einfach nicht mehr abhängig zu sein. Ich kann nicht mehr Leistung, mehr Geld, mehr Sicherheit produzieren. Ich kann es nicht, weil der Raum für Menschen wie mich, der das ermöglichen könnte, noch nicht erschaffen ist.

Weil es so viel leichter ist zu sagen, man müsse nur wollen und sich irgendein Negativbeispiel vor Augen halten.

Apropos Negativbeispiel.
Wo kommt eigentlich dein Denken her, meine Behinderung als irrelevant zu betrachten, sei Inklusion?
Seit ich dich als Menschen mit Fußspitzen in meinem Leben in meinem Artikel “Für mich bist du nicht behindert” beschrieb, denke ich darüber nach, was das eigentlich für ein Gedankendreh ist, weil es mich so sehr fasziniert, wie unbedingt bestimmte Sichtweisen immer und immer eine Bestätigung von sich selbst produzieren wollen.

Ich weiß nicht, ob es da, wie über so manche Medien transportiert, um Berührungsängste – also Ängste an sich – geht oder schlicht darum, die eigene Ignoranz zu legitimieren, aus Sorge dafür so verachtet zu werden, wie es angemessen sein würde.

Aber vielleicht schaue ich auch einfach selbst nochmal genau auf Ignoranz und Sichtbarkeit von behinderten Menschen beziehungsweise Behinderten. By the way ja – manche Menschen, und ich zähle mich dazu, nennen sich selbst “Behinderte” und inkludieren damit ihr Sein als ausgegrenzte und eben auf verschiedenen Ebenen behinderte Person in die Selbstbezeichnung. Das geht nicht allen Menschen so, deshalb mache ich so viele Wörter und spreche sowohl von Menschen mit Behinderungen, als auch von Behinderten. Das tut mir nicht weh. Im Gegenteil, es erfreut mich zu wissen, das beide Bezeichnungen dafür sorgen, dass ich selbst weniger ausgrenzend spreche.
Ich freue mich zu merken, dass ich meine Sprache so gestalten kann, dass weniger Menschen verletzt werden, während ich sie sichtbar zu machen versuche.

Es freut mich überhaupt Menschen mit meiner Sprache und über meine Handlungen im Alltag sichtbar zu machen.
Ich versuche mir immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, was meine grundlegenden Annahmen über die Kontexte, in denen ich mich bewege, sind. Das tue ich nicht, weil ich ein blütenreiner Gutmensch bin, sondern, weil ich mich innerhalb der Kontexte, in denen ich mich bewege, auf möglichst barrierenarme Art bewegen will und zwar für alle Menschen, die ihn mit mir teilen.
Weil ich das gut finde. Weil es beruhigend ist. Weil ich weiß, wie wenig Stress das bedeutet und darüber, wie gering mein Risiko für einen Krampfanfall, Overload oder dissoziative Symptome wird.

Ich kann nur dann gute und zutreffende Annahmen über einen Kontext haben, wenn ich alles, was in diesem Kontext ist, sehe im Sinne von “bewusst habe”.  Ich kann nur dann ein Klima von Respekt, Rücksicht und Akzeptanz gestalten, wenn ich nicht verlange, dass bestimmte Dinge versteckt und unsichtbar sind.

Du hast mich gefragt, warum ich an dem Berufskolleg, in dem ich mich für eine Ausbildung bewerben möchte, zuerst gefragt habe, wie barrierenarm die Schule für mich ist. Es sei doch sinnvoller gewesen erst meine Arbeiten zu zeigen.
Noch heute frage ich mich ernsthaft, wie man davon ausgehen kann, es sei nicht relevant vor einer konkreten Planung eines so großen Schrittes zu prüfen, wie gut oder schlecht man eine Chance zu nutzen in der Lage sein wird. Was glaubst du, wie das für mich ist, in einem Raum mit >15 Personen zu sitzen, eine unübersichtlich schwammige Sprache dekodieren zu müssen, um neue Inhalte zu begreifen und daneben vielleicht noch zu wissen: “Okay, meine Assistenzhündin kann nicht hier sein – ich werde also erst kurz vor knapp (oder auch gar nicht) merken, wann ich einen Krampfanfall habe/ich werde allein mit Panikattacken/Flashbacks/dissoziativer Symptomatik/Overloads zurecht kommen müssen (und natürlich so, dass niemand sonst von den auch nach außen sichtbaren Aspekten meiner Behinderung belästigt wird)”.

Ich bin 29 Jahre alt und weiß glücklicherweise bereits, dass es zu meinen Menschenrechten gehört (aus)gebildet zu werden.
Ich weiß zum Glück, dass es mich nicht verunsichern muss, wenn Menschen wie du nicht begreifen, dass Bildung für mich etwas ist, das ich mir zu 100% ab- und zusichern lassen muss – und zwar von denen, die verpflichtet sind sie mir zukommen zu lassen, weil es ansonsten niemanden interessiert, ob und wenn ja, wie ich aus all den strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen herauskomme.

Du weißt ja, dass ich nicht zu den Glücklichen gehöre, die eine liebevolle und engagierte Familie in ihrem Leben haben.
Seit ich 15 bin lebe ich in staatlicher Fürsorge und diese deckt das physische Überleben einer Person ab. Nicht auch noch die Entdeckung und Entfaltung von individuellem Potenzial. Und erst recht eröffnet sie nicht so simple Dinge, wie einen Landeplatz für die Momente, in denen man doch nochmal auf Rückenstärkung und bedingungslose Fürsprache angewiesen ist.
Frag mal das Kunst-LK-Mädchen, wer sie so unterstützt. Fragen wir im nächsten Kurs doch einfach mal die Teilnehmenden, warum sie es sich leisten können, dauernd zu fehlen.

Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum ich nie fehle? Warum ich auch 5 Tage nach einem selbst verhinderten Suizidversuch in deiner Klasse stehe und alles Wissen, das du mit uns Schüler_innen teilst, aufsauge wie Wüstensand?

Einmal in der Woche kratze ich so schonungslos wie es andere Menschen sich wohl eher nicht antun würden, all meine Kraft zusammen und zerre meinen Arsch in diese Schule. Einmal in der Woche setze ich mich Menschenkontakten aus, die mich fordern bis überfordern. Einmal in der Woche öffne ich mich und versuche mich zurechtzufinden in einem Umfeld, das Lebensrealitäten wie meine weder kennt noch als normal und üblich wie die eigene betrachtet.

Einmal in der Woche verlasse ich meine Wohnung, meine Routine, meine Sicherheiten und berühre euren Kosmos, der nichts Besseres zu tun hat, als mich zu verletzen, neugierig, verwirrt, fragend und gleichzeitig ignorant vor meinem Abkämpfen um Teilhabe und Miteinander zu stehen und irgendwann – vielleicht, wenns dann in einem Gespräch um Menschen wie mich geht – daraus eine Anekdote für den nächsten Kurs, die nächste Unterhaltung über den Lauf der Dinge zu machen.

Einmal in der Woche habe ich 3 Stunden, in denen ich etwas haben darf, das mich befriedigt und satt macht: Ein Moment, in dem ich Dinge erfahren darf. Ein Moment, in dem ich Dinge auch mal nicht wissen darf und Fehler dazu gehören, ohne mich konkret zu bedrohen.
Ein Moment, in dem ich zum Teil einer physischen Gruppe werde.

Es ist so unfassbar traurig und ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, dass es für mich (und Menschen mit Behinderungen bzw. Behinderte allgemein) überhaupt so ein großes Ding ist, einmal in der Woche (für viele passiert es noch seltener!) unter Menschen zu kommen, die sie weder pflegen noch medizinisch/therapeutisch/bürokratisch behandeln.
Einmal in der Woche aus einer intrinsischen Motivation heraus Orte aufzusuchen, die ihnen zustehen, aber häufig genug verwehrt bleiben, weil sämtliche mögliche Barrieren schlicht nicht mitbedacht werden, von denen, die sie zur Verfügung stellen und/oder mitgestalten.

Und das, wo Deutschland doch so ein Vorreiter in Sachen Integration, Inklusion und Miteinander sein will.

Weißt du P. – du bist nur mein Lehrer. Das weiß ich. Es kann dir völlig egal sein, was wer aus dem Kurs mitnimmt und wer sich wie fühlt, während si_er da sitzt.
Ich weiß aber, dass du nicht so bist. Du bist einer dieser Menschen, die durchaus reflektieren können, wann sie etwas tun, das scheiße ist.
Du bist einer dieser wenigen Leute, mit denen ich gut gemeinsam in einem Raum sein kann.
Das ist eines dieser Dinge, die mich daran hindern mir das Leben zu nehmen.
Immer wieder sind es für mich aushaltbare Menschen, die mir versprechen mir etwas beizubringen, das mir wichtig ist und die Option immer immer immer lernen zu können.

Menschen mit meinen Gewalterfahrungen haben ein vier Mal höheres Risiko sich zu suizidieren.
Was glaubst du, wie lange würde das wohl dauern, bis jemand merkt, dass ich tot vom Dachsparren herunterhänge?

Richtig – mindestens eine Woche würde das dauern. Weil jede_r weiß, dass ich nie fehle. Weil alle Menschen, denen ich sage, dass ich traumatisiert, behindert und einsam bin, wissen, dass der Donnerstag der Tag ist, an dem ich die Welt berühre. Weil alle wissen, dass der Donnerstag der Tag ist, der mir so wichtig ist, weil ich dann zur Therapie gehe, in der Hoffnung das Geschehene zu verarbeiten und meine Versuche des Umgangs damit zu reflektieren und, weil ich mich zu dir in den Kurs setze, um zu lernen, wie ich die unglaubliche Schönheit und allumfassende Perfektion dieser Welt in Fotos festhalten kann, um sie zu teilen.

Menschen, denen bewusst ist, wie meine Einsamkeit zustande kommt und was alles damit zu tun hat, sagen mir nicht, ich sei selbst daran schuld, wenn ich so selten das Haus verlasse.
Menschen, die ein Bewusstsein darum haben, dass sie immer irgendwo hingehen und etwas tun, wenn sie das Haus verlassen, raten mir nicht “Einfach mal mehr unter Leute zu gehen”.

Menschen, die mich als die Behinderte sehen, die ich bin, fragen sich, wo ich denn eigentlich überhaupt wirklich gut und ohne einen großen Haufen fauler Kompromisse partizipieren könnte. Oder, wo ich mich willkommen und angenommen fühle. Manche fragen mich sogar, ob ich mich wohl gefühlt habe und was man verbessern könnte. Zu einem nächsten Mal, bei dem man mich gern wiedersehen würde. Weil es okay/bereichernd/schön/spannend/interessant war. Mit mir. Dabei. Mittendrin. Mit allem, was ich kann und nicht kann. Mit allem, was ich wahrnehme und wie ich es wahrnehme.

Lieber P., den ich wirklich sehr schätze, ich traue dir zu, dass du das auch kannst.
Ich traue dir zu, dass du verstehen kannst, wie groß und wie berechtigt meine Verletzung vor dem Hintergrund, den ich habe, ist.
Am Ende bitte ich dich erneut Rücksicht auf mich zu nehmen, nicht aus Gründen einer Korrektheit, die nur allzu oft verlacht wird, sondern, weil du mich nicht verletzen möchtest, wie du nicht von anderen Menschen verletzt werden möchtest.

Bis nächsten Donnerstag.
Mit vielen Grüßen,

Hannah

arm

Man kann uns über die Abwertung von Armut gut verletzen.
Das geht richtig tief. Rührt an Scham und Minderwertigkeitsgefühle, erinnert an die Verzweiflung, die mit unserem Kämpfen der letzten 10 Jahre um eine Berufsausbildung und bezahlte Jobs einhergehen.

Die Verletzung hat drei Stränge, die uns so bewusst sind, weil wir es uns in unserer Lebenslage nicht leisten können sie auszublenden, wie Menschen, die es für angemessen halten uns über die Abwertung unserer Armut zu verletzen.
Strang eins ist in der Person verortet, die uns damit verletzt. Da gibt es Gründe, da gibt es Willen zur Verletzung, Demütigung und Selbsterhebung, der nichts mit uns zu tun hat.
Strang zwei ist in dem Kontext, der unsere Armut begründet und aufrecht erhält, verankert und hat ebenfalls nichts mit uns als Person zu tun.
Strang drei ist in der Gesellschaft verankert, die in sich Strang eins und zwei vereint, ohne dies an sich zu reflektieren, weil die eigene Haut als bedroht eingestuft wird, wenn es um Armut geht. Da gibt es eine Ahnung vor der sich geschützt werden muss, da gibt es *ismen, die die Welt erklären und Menschenleben niedermähen, wie ein Kornfeld. Am Ende bin ich nur Teil der niedergemähten Masse. Wieder geht es nicht um mich.

An allen drei Strängen bin ich nicht konkret beteiligt, aufgrund meiner Armut. An allen drei Strängen kann ich allein nichts verändern, gerade weil ich allein nicht beteiligt bin. Und doch gibt es Menschen, die mir unterstellen, ich würde an meiner Lage nichts verändern wollen und deshalb nichts tun.
Ich nenne das “die Teilhabeblindheit”, die vor allem Menschen befällt, für die Teilhabe allein über einen Aspekt der ökonomischen Unabhängigkeit bzw. weniger stark eingegrenzten Möglichkeiten ein erfahrungsgemäß kleineres Problem darstellt (und etwas anderes, als Ignoranz (m)einer Lebensrealität ist).
Wer die Anschaffung eines Lexikons weniger als 3 Monate im Voraus planen muss, weil das Sparen auf ein Bildungsgut bedeutet, währenddessen und darüber hinaus an Kleidung, Kultur, Gaststättenleistungen, Instandhaltungskosten der Unterkunft und anderem ebenfalls zu sparen, der kann sich auch eher auf eine Weise vor dem Verlust an Teilhabe durch Bildung, durch Kultur, durch öffentliches Leben schützen, als ein Mensch, bei dem das nicht so ist.

Bei allen Diskriminierungen, die über Armut durch Hartz 4 bestehen, bin ich daneben dann doch auch froh, dass ich als davon betroffene Person auf eine Art sichtbar bin. Es gibt Menschen, die in Frührente gehen mussten, Menschen, die mit Krankengeld über die Runden kommen müssen, deren Armut noch überhaupt gar nicht diskutiert und sichtbar gemacht wurde. Diese Menschen müssen häufig Kosten stemmen, als wären sie nicht arm, haben aber Ende oft sogar noch weniger für ihren Lebensunterhalt als eine Person, die den vollen Hartz 4 Satz bekommt.

Die Sichtbarkeit, der Menschen, die auf Hartz 4 angewiesen sind, hat allerdings wiederum oft nicht benannte Negativeffekte.
Weil ich in meiner Armut sichtbar bin, bin ich leicht in frage zu stellen. “Sie hat ein Smartphone, sie ist nicht abgemagert, sie fährt in der Gegend herum, sie hat ein ausgefallenes (also teures) Hobby – dann kann die Armut ja nicht schlimm sein. Soll sie halt nicht so viel Scheiß kaufen/nicht aktiv sein/keine Hobbys haben – soll sie halt sparen. Soll sie sich halt zurücknehmen.  … Soll sie halt weggehen. Soll sie halt nicht da sein.”

Niemand meint das so. Aber alle sagen es mit ihrer Abwertung und das ist unreflektierte Gewaltausübung an unterdrückten Personen, die oft auch einen sadistischen Touch bekommt, wenn diesen Personen unterstellt wird, sie würden ihre Armut wählen, weil es bequemer ist Menschen um finanzielle Unterstützung zu bitten (statt sie sich anders selbst zu beschaffen).

Wir haben in 10 Jahren Hartz 4,  4 oder 5 Mal um Geld nur allein für uns gebeten. Das waren Situationen, in denen wir unsere Pfandflaschenvorräte schon getauscht haben, die Trockenvorräte aufgebraucht hatten, dem Hund das Fleisch hätten wegfressen müssen, während wir im Dunkeln sitzen, weil der Strom abgeschaltet wurde.
Was uns oft passiert ist, dass wir in Geldnot kommen, weil unsere Non-Budget – und Non –Profit – Projekte, wie jetzt zum Beispiel das Podcast oder auch das Nachwachshaus, oder Vorträge und Workshops, für die wir kein Honorar erhalten und für die wir die Fahrtkosten vorstrecken müssen, immer und immer an unserem Hartz 4 Budget fressen und auch durch regelmäßige Unterstützungen nicht abgemildert werden können.
Es gibt Menschen, die schütteln den Kopf darüber und fragen uns, warum wir das denn auch machen. Wieso lassen wir uns nicht immer für alles bezahlen. Wieso lassen wir uns denn so gnadenlos ausbeuten.

In solchen Momenten bin ich oft erst mal baff, weil es mir gleichsam nicht den Kopf will, wie man unsere Gründe denn einfach so übersehen kann. Wie kann man denn nicht sehen, wie isoliert wir zu leben gezwungen sind? Wie kann man denn nicht sehen, dass es exakt diesen Bereich der Selbstwirksamkeit gibt, den wir uns über unser Handeln erarbeiten. Wie kann man denn nicht sehen, was für einen großen Bereich von sozialer, intellektueller und kultureller Teilhabe wir uns über unsere Tätigkeiten selbst und so eigenständig, wie es in unserer Lage nur geht, erschlossen haben?

Was uns oft passiert ist, dass wir deshalb zu jemandem gemacht werden, der als eine Art “Ausnahmehartzi” betrachtet wird. Wir gelten nicht als faul, wir gelten nicht als hoffnungslos dumm/ungebildet/assi – wir gelten dann als jemand, der einfach Pech hatte oder als bedauerlicher Einzelfall, der in diesem System einfach keine Chance hat.
Für uns ist diese Haltung uns gegenüber ein Vermeidungstanz um Bedingungslosigkeit herum, die man uns zugestehen möchte – aber nicht allen anderen, die abhängig von Grundsicherung sind.

Bedingungslosigkeit gilt in manchen Kreisen als gefährlich und falsch. Dort muss sich der Mensch alles verdienen, sonst hat nichts mehr Wert.

Das ist nicht meine Logik, weil ich sie als menschenverachtend erlebe. Für mich muss sich niemand verdienen am Leben zu sein und dieses für sich zu sichern und zu gestalten. Ich kann nicht “Freiheit für alle” rufen und aber nur die meinen, die sich dieser Freiheit als verdient erwiesen haben.
Das ist widerwärtig und verabscheuungswürdig.

Arm zu sein ist keine Entscheidung. Für manche ist sie ein Schicksalsschlag. Für manche ist sie eine Notlösung für eine gewisse Zeit. Und für manche ist es einfach Realität, weil das Ende der Armut mit Bedingungen belegt wird, die (noch und vielleicht auch: für immer) unerfüllbar sind.

Arm und ohne Teilhabe (teilnahmslos) zu sein ist hingegen eine Entscheidung und diese stellt Bedingungen, die nur dann erfüllbar sind, wenn es zum Einen entsprechende Reflektion über die eigene Selbstunwirksamkeit gibt und zum Anderen, wenn man bereit ist, sich auf eine Art auch darum zu bemühen, den eigenen Begriff von Würde, Selbstwert und allgemeinen Werten zu definieren und in sich zu etablieren.

Mir macht es keinen Spaß um Geld für das Podcast zu bitten. Aber ich weiß, wofür wir das tun und wer, außer mir auch noch davon profitieren kann. Es ist für mich nicht würdelos und peinlich Menschen um Unterstützung für meine Projekte zu bitten.
Peinlich finde ich, privilegierten Menschen sagen zu müssen, dass sie gewaltvoll handeln, weil sie selbst es nicht bemerken. Würdelos erlebe ich Menschen, die mich erniedrigen müssen, um sich selbst zu spüren und ihrer selbst zu versichern.

Meine Armut hat nichts mit mir zu tun und das ist mir ein wichtiger Punkt in jeder Debatte um Hartz 4.
Meine Armut ist strukturell bedingt, gesamtgesellschaftlich benutzt und in der Folge irgendwo auch gebraucht.

Sagt mir also lieber nicht, ich solle lieber gar nicht da sein.
Denn wäre ich nicht, dann hättet ihr niemanden außer euch selbst, den ihr als letzten Dreck bezeichnen könntet.

naja ¯\_(ツ)_/¯

Und manchmal erreichen wir so skurrile Punkte in unserer Hartz 4 – Zeit, dass ich mich so frage, warum eigentlich nur ich darüber so die Contenance zu verlieren drohe und nicht meine Sachbearbeiter_innen.

Wir haben keine Berufsausbildung und, obwohl wir das seit Jahren zu ändern versuchen, indem wir uns wie blöd (und tatsächlich wahrscheinlich einfach aus einer Blödheit heraus) bewerben, wo auch immer eine inhaltlich passende Möglichkeit aufgeht und immer wieder auch schauen, wo wir Unterstützungen beantragen können, um uns zwischen den Bewerbungszeiträumen weiterzubilden, nicht stehen zu bleiben, uns geistig satt zu machen, passiert formal exakt nichts, außer, dass wir dafür, dass wir Dinge tun, um Dinge zu tun, bestraft werden bzw. immer wieder in Situationen kommen, die bedeuten überzahlt zu werden und dann vor Nachforderungen zu stehen, die nicht zu begleichen sind.
Überraschend, ne – wie man aus Nichts Nichts machen kann – welch ein Versagen von mir!

So liebe Nicht-Langzeit-Hartz 4-Bezieher_innen macht man Behördenschulden: man agiert nicht kapitalistisch, sondern ehrenamtlich/altruistisch/ohne ausgelagertes Budget

Inzwischen sind wir 10 Jahre dabei. Unser GdB is bei 70% und wir stehen mit der neuen Diagnose nicht mehr an einer Stelle, an der man sagen könnte: “Arbeiten Sie mal an ihrer Gesundung und dann machen wir ne Rehamaßnahme.”. So lange das der Fall war, empfanden wir immer wieder große Dankbarkeit darüber, dass wir so viel Schonung und auch Freiraum erfahren. So schlimm und schwer es in den letzten Jahren auch war, hatten wir dieses kleine Lebensutopia, in das wir uns geistig, emotional hineintherapieren können.
“Eine Ladung Traumaverarbeitung und es gibt mehr Kraft für das, was eine (Vollzeit-)Berufsausbildung abverlangt. “

Jetzt ist klar: Das wird nicht reichen. Es wird vielleicht irgendwann auf eine andere Art ein Thema sein, wie viele Reize, wie lange auf uns einprasseln und wann, wo wie welche Art der Konzentration und allgemeiner Funktion von uns erwartet und verlangt wird – aber es wird als nicht zu unterschätzendes Thema immer da sein.

Ehrlich gesagt habe ich mich heute vor uns erschrocken.
Wir reden eigentlich nicht so viel und eigentlich reden wir auch schon gar nicht so ohne Grenzen, aber diesmal kam das einfach so raus: “Wir werden nicht “gesund” werden.” und “Ja, seit 10 Jahren wird mir gesagt, ich sei ja noch jung und ich hätte noch alles vor mir. Das hilft mir aber nicht”.

Gerade der vorletzte Satz erinnert mich an etwas, was wir in der letzten Klinik anhören mussten: “Sie sind ja noch jung und haben ihre Diagnose früh bekommen – es liegt noch so viel vor ihnen”.
Heute wie damals möchte ich darüber schreien, denn was anderen Menschen vielleicht eine Entlastung verschafft, macht mir einfach nur Angst, weil ich dieses “was alles noch vor mir liegt”, weder kenne, noch sehe, noch weiß, wie ich darauf reagieren soll. Meine gesamte Zukunft ist so furchtbar quälend ängstigend, weil wir hier einfach immer und immer und immer alles alleine stemmen, halten und tragen müssen. Alles und immer. Für immer. (Vielleicht.)
Es wurde in 29 Lebensjahren nie leichter – ich weiß nicht wie und was “leichter” ist und wie das gehen soll.
Wie kann man so etwas wie “Sie haben ja noch alles vor sich” denn bloß als erleichternd oder schön empfinden?! Es ist mir ein Rätsel.

Aber das ist, was uns Menschen an die Hand geben.
Sie finden es toll, dass wir noch machen und tun. Dass wir etwas lernen wollen, dass wir lernen, weil wir das für unsere emotionale Stabilisierung brauchen.
Und das ist wirklich auch ein Problem.
So viele Menschen finden es toll, wenn wir in einer Ecke sitzen und Wissen fressen.
Wären das Torten, würden sie uns verachten.
Ob meine gerade schon wieder an fast Zwanghaftigkeit grenzende Wissensreinfresserei vielleicht genauso leid_voll geprägt ist, wie andere selbstberuhigende Handlungen das sein können, wird da übersehen und das ist wirklich schlimm.

Wenn Menschen sich bilden wollen ist das super – wenn sie gebildet sind (aka:  intellektuell sind), sind sie scheiße, weil tendenziell arrogant.
Wenn Menschen unter Hartz 4 arbeiten und sogar Geld dafür bekommen ist das super – wenn sie das aber nicht mit der richtigen Intension und innerhalb kapitalistischer Verwertungsdynamiken tun, haben sie halt Pech gehabt.

Es ist …
mir fällt nichts mehr dazu ein. Ich bin müde.
Aber ich weiß jetzt so ziemlich “alles” über Existenzgründung und diesbezügliches Steuerrecht und das ist doch supi.
Das wird mir sicher helfen.
Irgendwann.
Bei irgendwas.
Was man noch nicht weiß.

Weil ich ja so jung bin und noch alles vor mir hab.

Orrr
lol

Naja.
Egal.
¯\_(ツ)_/¯

der Morgen an dem ich um 9 Uhr 40 aufwachte und um 10 Uhr beim Jobcenter hätte sein sollen

„Bitte vergessen sie nicht ihre Selbsthasskappe unterm Kinn zu verschließen.
Ihr Flug „zum ersten Mal überhaupt einen Jobcentertermin, um den sie selbst gebeten haben, verschlafen“ startet nun.“.
„Ich habe noch nie verschlafen! Nie! Lassen sie mich raus“, rufe ich.
„Schnauze – Hasskappe fest und sitzen geblieben!“, antwortete der Stewart.

„Aber ich will doch was werden – ich muss doch was tun – man muss immer was tun, wenn man Hartzi ist“, schrie ich und dachte darüber nach, wie dumm es ist, mir noch eine Hasskappe aufsetzen zu sollen. Trug ich doch schon 30 übereinander.

„Das sind unsere Standarts hier bei Konsequenz-Airlines.“, näselte der Stewart während sein Blick bereits Nadeln in mein Gesicht stieß.
„Jetzt heul doch endlich los“, brummt es aus meinem Ordner der letzten 10 Jahre Hartz 4. „Das gehört halt dazu.“

Ich lasse los. Setze mir die Selbsthasskappe auf und twittere aus einem Flug mit den Konsequenz-Airlines für Hartz4-Terminverpasser_innen.
Ich überlege, ob wir wohl abstürzen. Würde ein Aussprechen dieser sinnlosen und dummen Scheiße, alles zerstören können?
Das wär so krass.

„Ich hab in 10 Hartz 4 Jahren noch nie eine Sanktion gekriegt“, erinnere ich mich „Kriegt man nach 10 Jahren Kundentreue eigentlich nichts geschenkt oder erlassen?“, frage ich den Stewart, der neben mir steht und gelangweilt an einem Tomantensaft nuckelt. „Phä!“, stößt er hervor „Was glauben sie denn, wo sie hier sind?!“. Seine linke Augenbraue krabbelt die Stirn hinauf bis sie den Haaransatz berührt.
„Ich glaube, ich bin im realsten Alptraum der Moderne gefangen und komme hier nie wieder raus.“.

Ich schaue aus dem Flugzeugfenster und sehe einen Schwarm mickrig zerfledderter Minichancen an mir vorbeiziehen. Meine Selbsthasskappe flüstert: „Die hättste alle haben können, wenn du nicht…“

Die anderen Hasskappen fallen ihr ins Wort: „Kannste knicken – weiß sie alles schon.“. Sie kraust ihre Naht. „Steter Tropfen! – Steter Tropfen höhlt den Stein! Manches muss man halt öfter sagen!“. Die anderen Hasskappen brummeln ärgerlich.
[Hasskappengemenge]

Ich hebe den epischen Kampf der Hasskappen von meinem Kopf und frage den Steward, wie lange es denn dauert bis zur Urteilsverkündung.
„Ihre gesetzliche Betreuung – die sie SCHMÄCHLICHSTERWEISE auch versetzt haben!!! – ist noch im Gespräch mit ihrem Sachbearbeiter“, sagt er so hochnäsig, dass ich von einem freundlichen grünen Popel angewinkt werden kann. „Hm, okay.“, murmle ich und zwinkere dem Popel zu.

Ich atme durch. Starre ins Leere. Das Dröhnen der Maschinen versucht sich durch meine Augäpfel zu schieben. Ich twittere den Schmerz weg.
Der Blick auf meine Uhr erschreckt mich. „Es müsste doch jetzt vorbei sein. Wieso ist es noch nicht vorbei?“. Natürlich spreche ich wieder den Stewart an, der sich inzwischen auf den Getränkewagen lümmelt und versucht das Innere seiner Augenlider anzuschauen.
Meine Frage summt ihn an, wie eine Stubenfliege mit Orientierungsproblemen. Statt einer Antwort tippt er auf den zerknüllten Konsequenz-Airlinesflyer in meiner Hand.
„Wir von Konsequenz-Airlines für Hartz4-Terminverpasser_innen, legen besonderen Wert darauf, sie so lange in der Schwebe zu behalten wie es geht. Schließlich lassen wir unsere Hasskappen extra für Flüge wie diesen produzieren. Wir sind ein gewinnorientiertes Unternehmen.“.

Ich beuge mich vor und betrachte das am Gewinn unorientierte Knäul der miteinander kämpfenden Hasskappen, das unter meinem Sitz umherrollt.

Ein schriller Ton schwurbelt durch den Fluglärm und lässt den Stewart aus seiner Uniform hopsen. Sein Popel hopst gleich mit. „Dies ist eine Ansage für Frau* Hannah – Stell in Zukunft gefälligst den Wecker richtig und prüf das nochmal- Rosenblatt. Sie dürfen jetzt eine angenehme Sitzposition einnehmen.“. „Ha ha – ja fick dich doch – ich machs mir hier doch nicht…“ und schon falle ich mit meinem Sitz unterm Po dem Hier und Heute entgegen.
Die Hasskappen klammern sich an den Sitzbezug und flattern im Absturzwind, wie kleine weißen Fahnen.

Ein Fallschirm entspannt sich über meinem Kopf. „Ist nicht schlimm, dass Sie nicht da waren. Der Termin hätte sowieso kein Ergebnis gehabt“. „Und jetzt?“, frage ich in den weiten Bogen über meinem Kopf. „Tja.“, antwortet es, „Jetzt genießen sie erstmal ihre Freiheit bis zum nächsten Termin. Sie sehen ja – es passiert nichts.“.

Ich betrachte die um mich flatternden Hasskappen. Meinen freien Fall ins Nichts.
„Dass nichts passiert, ist das Schlimmste.“, sage ich.
Ende