#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.

der Fake*

Neulich hatte ich den Eindruck, jemand denkt Autismus als etwas Übernatürliches, irgendwie Cooles, Besonderes, aber für alle Fremdes. Gleiche Faszination wie bei DIS-Faker_innen, gleicher Anklang der „Vielesein ist spannend = Leute, die Viele sind, sind spannend“- Logik, gleiche Aufmerksamkeitsdynamik. „Guck mal, wie spannend ich bin, ich bin Viele – mach was, tun was mit mir, ich bin Viele“ – so in der Richtung.

Schwierig das zu bewerten. Heute. Früher war ich da eindeutiger, weil es mich beleidigt hat, wie jemand aus meinen Problemen etwas macht, das ihm_ihr nutzt. Und weil es mich verunsichert hat – egal, ob gespielt oder nicht, warum kriegt so jemand es hin, dem ganzen etwas Cooles abzugewinnen und ich nicht?
Heute bin ich mehr davon vereinnahmt, darüber hinweg auf die Person zu schauen und mich auf das zu konzentrieren, was sie an mich heranträgt – um eine gute Entscheidung zu treffen, ob ich dem nachgebe oder nicht. Mir hilft dabei im Kopf zu behalten, dass alle Menschen immer ihre Grundbedürfnisse formulieren oder aufgrund von Grundbedürfnissen mit mir sprechen. Niemand will je etwas, dass wahrhaft unnachvollziehbar, unnatürlich oder unmenschlich ist. Menschen wollen Aufmerksamkeit von anderen Menschen, weil sie sie brauchen. Ganz existenziell. Die Mittel, die sie dafür wählen, können mich beleidigen oder kränken, aber am Ende ist da ein dringendes Bedürfnis, dem man begegnen kann und das ist wichtig. Ich kann mich allein um meine Kränkungsgefühle kümmern – Kränkung ist nichts, das mein Überleben in irgendeiner Form bedroht – Einsamkeit, das Gefühl nicht gesehen oder (für) wahr.genommen zu werden jedoch schon.

Dann dachte ich darüber nach, dass es manchmal total hilft für anders behindert oder krank gehalten zu werden als man ist.
Zum Beispiel glaubt eine der Edeka-Mitarbeiter_innen im Nachbardorf anscheinend, dass wir ertaubt oder gehörlos sind, wegen unserer sichtbaren Otoplastiken im Ohr. Sie macht uns mit ihrem Verhalten (eindeutige Gesten, sehr deutliche Mimik, keine Lautsprache zur Kommunikation) total angenehm und viel einfacher dort einkaufen zu gehen. Und weil das so ist, habe ich ihre Annahme auch noch nicht korrigiert, unter anderem, weil ich mit dem Gehörschutz tatsächlich nur sehr wenig höre. Würde sie mich aber fragen oder ein Gespräch darauf kommen, würde ich ihr sagen, dass ich ohne Gehörschutz super hören kann – mein Gehirn diese Eindrücke nur nicht filtert. Ich würde ihr keine Geschichte von speziellem Hören oder ganz außergewöhnlichen Fähigkeiten erzählen, weil das Besondere ja ist, dass sie mich so toll unterstützt. Ich erlebe meine Wahrnehmung einfach nicht als etwas besonderes – ich lebe ja jeden Tag damit schon seit immer. Aber, dass mich jemand einfach so unterstützt ist etwas Besonderes für mich, denn die Regel ist eine andere.

In dem Gespräch, in dem eine Person mir ihre (von sich als solche eingeordnete) autistische Wahrnehmung beschrieb, hatte ich den Eindruck, sie glaube, als Autist_in lebe man in einer fremden fernen Welt jenseits aller physikalischen Logiken und körperlichen Grenzen. Das war eine bunte Welt voller Besonderheiten und spezieller Spezialdinge, die diese Person in meiner Welt entweder in 24/7 Betreuung oder in intensivmedizinische Behandlung gebracht hätte.
Ich wusste nicht, was ich ihr dazu sagen sollte.
Einerseits bin ich nicht in der Position zu diagnostizieren und das Konzept Diagnose ist eh total kritikwürdig, andererseits würde ich, wenn ich darauf eingehe, um das Grundbedürfnis nach verständnisvollem Kontakt zu erfüllen, die mich – quasi „außererseits“ – total kränkt und verletzt, diese falsche Ansicht bestätigen oder durch mein Beispiel verfeinern. Also dazu beitragen, dass die Person immer besser faken kann, sollte sie gerade faken, und sich so immer weiter verkomplizieren im Ausdruck ihrer Bedürfnisse.

Wenn ich daran denke, wie lange es mich gekostet hat, mich der Welt zuzuordnen und so etwas wie Zugehörigkeitsgefühle zu ihr zu entwickeln, weil es eben genau diese Welt ist, die Menschen wie mich oft gar nicht als zugehörig behandelt oder einordnet, bekomme ich einen Knoten im Bauch vor der Vorstellung das aus diesem Stereotyp noch jemand etwas für sich herauszieht.
Aber was soll ich dagegen machen? Das Problem ist ja nicht, dass die Person das macht, sondern, dass sie es machen muss oder sich dafür entscheiden wollte. Das eigentliche Problem kann ich ja nicht lösen – auch, wenn es mir die Person konkret sagen würde, vielleicht nicht. Aber warum benutzt, missbraucht, sie mich dann für ihren Vermeidungstanz, nur weil ich ihr eigentliches Problem nicht lösen kann? Ich könnte doch bei der Lösungsfindung helfen. Oder einfach so für sie da sein. Das ist doch auch schon viel, wenn man einfach so gesehen wird.

Schwierig.

*möglicherweise