#3: „Ich weiß, dass Sie tun, was Sie tun können.“

Ich musste 19 Jahre alt werden, bis mir meine damalige Kliniktherapeutin gesagt hat, dass ihr völlig klar ist, dass ich alles tue, was ich kann, um klarzukommen.
Dass „noch mehr anstrengen“, „noch mehr wollen“, „noch mehr Motivation“ überhaupt nicht dabei helfen würde „vorwärtszukommen“.

Ich glaube, dass man bereits vorher versucht hat, mir das zu vermitteln. Mich das fühlen zu lassen. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits seit 4 Jahren im Hilfe- und Heilbehandlungskontext unterwegs und nirgendwo hatte ich es ausschließlich mit Menschen zu tun, die schlecht gearbeitet oder mich ignoriert haben. Man war mir oft sehr zugeneigt, weil man sich mit mir „vernünftig unterhalten“ konnte. Tiefgründige Gespräche führen, Politik und Nachrichten diskutieren, mich für Kleinigkeiten begeistern konnte. Meine Unreife wurde davon häufig verschleiert. Dass ich häufig nur sehr abstraktes Verständnis von abstrakten Themen und Zusammenhängen habe, ebenfalls.

So kann ich mich zum Beispiel sehr gut und auch elaboriert zu großen Themen wie Gewalt, Strukturen und Dynamiken von Macht ausdrücken – kann es aber nicht gut aushalten, mich lange mit konkreten Einzelteilen dessen zu befassen. Ähnliches bei politischen Themen und Debatten. Ich bin sehr gut darin zu erkennen, wer welche Strategie fährt und warum und was sie zur Folge hat, aber die einzelnen Argumente inhaltlich auseinanderzunehmen und ihre persönlichen Bezugspunkte zu finden, ist für mich über.fordernd.
In Bezug auf solche Dinge – Themen und Dynamiken – bin ich ein „big picture“-Mensch und fühle mich darin auch sehr wohl.

Meine konkrete Sinneswahrnehmung hingegen funktioniert andersherum. Mir drängen sich viele konkrete Details auf und ich muss mich mühsam zur Verallgemeinerung – Abstraktion – bringen. Verallgemeinerung ist für mich in vielen Alltagssituationen das, was mich am meisten auslaugt. Denn natürlich gibt es „das allgemeine Leben“, aber „Leben“ ist unfassbar vielfältig und wird aus Gründen, die ich vermutlich wirklich nie nie nie nie NIEMALS verstehen werde, von den meisten Menschen auch jeden Tag anders gestaltet. Abwechslungsreich sozusagen. Das bedeutet für mich, dass ich bestimmte Dinge tatsächlich jeden Tag als neu oder verändert erlebe und mir aktiv als neu oder verändert einprägen muss. Denn sonst erkenne ich sie nicht wieder, kann sie also auch keinem bekannten Muster oder Struktur zuordnen und in der Folge auch nicht korrekt abstrahieren und als Teil des „big pictures“ begreifen.

Heute als erwachsene Person habe ich diesen Vorgang für die meisten Alltagssituationen schon so oft durchgearbeitet, dass ich ihn in vielen Bereichen zwar immer noch mit erheblichem Kraftaufwand, aber einer Fehlerquote wie die meisten Menschen auch durchlaufen kann. Als Kind und Jugendliche hat es mich enorme Kraft gekostet und mir sind sehr viele Fehler passiert.
Plus: mein kleines Dissoziationsproblem.
Es war für mich doppelt nicht immer möglich mich selbst und meine Umwelt als zusammenhängend zu erleben. Häufig nicht, weil ich nicht die Möglichkeiten hatte, meine Eindrücke so bewusst zu verarbeiten, wie ich es brauchte. Aber auch, weil ich es in der Regel mit Eindrücken zu tun hatte, die mir nicht eindeutig real oder mit mir zu tun habend oder sogar absolut fragmentiert erschienen.

Um ein „big picture“ zu entwickeln, braucht man mindestens ein Konzept dieses Bildes. Man braucht das Substantiv zu den Verben. Eine Abbildung, ein Modell, eine Vorstellung davon. Und um die eigenen Eindrücke von sich und der Mitwelt zusammenzufügen, muss man sie kohärent zusammenbringen können. Man muss wissen, aus welchen Handlungen eine Tätigkeit in welcher Reihenfolge, in welcher Art durchgeführt besteht. Aus welchen Komponenten bestimmte Situationen bestehen. Als Kind und Jugendliche_r übt man genau das ein bis man nicht mehr darüber nachdenkt, sondern es einfach weiß. Ich kann an zwei Händen abzählen, bei welchen Tätigkeiten es mir so geht. Ich habe meine „Alltags-big-pictures“ erst mit Anfang/Mitte 20 einigermaßen stabil beieinander gehabt und kam auch erst dann in die Lage, sie als von mir aus gestaltbar zu begreifen.

Dass ich das jetzt beschrieben habe, wirkt vielleicht erst einmal wie ein unnötig selbstdarstellerisches Element.
In Bezug auf den Satz, den ich hören musste, aber ist es wichtiges Vorwissen.
Denn diese „bottom to top“-Wahrnehmungsverarbeitung(sstörung) in Kombination mit einer „big picture“-Kommunikation führt zu widersprüchlichen Signalen von mir. Das klassische Hochbegabten-Ding: Erklärt die Welt, aber kann nicht unfallfrei essen.
Wirkt enorm reif – ist tatsächlich aber hilflos.

Ich konnte es mir nie leisten, so hilflos zu sein, wie ich war. Und zwar nicht nur, weil meine Herkunftsfamilie Hilflosigkeit verachtete und bestrafte, sondern, weil wir in einer ableistischen Gesellschaft leben und es gefährlich ist, hilflos zu sein. Was ich gelernt habe, ist zu maskieren. Nicht zu zeigen, wenn ich verwirrt war. Ich habe meine Angst durch und vor Verwirrung dissoziiert. Habe mich immer wieder davon anspornen lassen, dass ich kann, was ich will, wenn ich nur genug will und mache und tue. Und je älter ich wurde, wurde aus diesem Ansporn eine Bedingung. Ich kann keine Hilfe annehmen, bevor ich mich nicht in Grund und Boden gewollt und gekämpft und ausgelaugt habe. Nicht mal dran denken. Nicht mal wollen! Erst muss ich (mir) beweisen, dass ich wirklich nicht (mehr) kann.

Hilfe als Konzept ist tricky.
Denn manchmal ist Hilfe einfach Hilfe. Jemand springt für dich ein, wenn du nicht mehr kannst. Jemand macht etwas für dich, an deiner Stelle.
Manchmal wird aber auch Unterstützung als Hilfe bezeichnet. Jemand gibt dir ein Podest, verkürzt oder vereinfacht deinen Arbeitsweg, zeigt dir Methoden zur Effizienzsteigerung deines Handelns, damit du machen kannst, was du musst, möchtest, willst, brauchst.

Für beides ist es unerlässlich, dass die helfende oder unterstützende Person weiß, was die unterstützte, geholfene Person kann und was nicht, warum sie etwas kann oder nicht kann – und entlang welcher Parameter sie ihr Können oder Nichtkönnen definiert. Sie braucht ein „big picture“ ihrer Klient_innen.

In den Hilfekontexten, in denen ich mich bewegte, traf ich immer wieder auf Personen, die sich dieses „big picture“ von mir zu machen versucht haben, soweit sie konnten – ohne jedoch in der Lage zu sein, darauf angemessen zu reagieren. Viele Helfer-, Unterstützer, Behandler_innen operieren mit unfassbar kleinen Zeit- und Ressourcenrahmen. Einige haben den Widerspruch meiner Kommunikation nicht verstanden. Manche fanden ihn auch einfach witzig und haben ihn als Vorlage zur Beschämung vor der Gruppe zum Gruppenspaß benutzt. Oder natürlich, um mich von einer so wahrgenommenen Arroganz oder Hochmütigkeit zu kurieren zu demütigen.
Andere konnten das Ausmaß einfach nicht glauben.
Was ich aus all dem jedoch immer mitgenommen und als Konstante in mein „big picture“ von mir eingearbeitet habe, war: „Ich kann nicht genug. Ich kann nicht, was die anderen können. Ich kann weder im quantitativen noch im qualitativen Sinne genug richtig.“

Als ich 19 war und mit der Therapeutin arbeitete, dachte ich noch, dass ich vor allem deshalb in Therapie sei, weil ich mich als Viele erlebe. Und das falsch ist. Weil es ja eine Krankheit ist. Aus Sicht der inneren Jugendlichen: Die Krankheit, die mir meine Familie, meine Schule, mein Zimmer, meine Sachen genommen hat. Und deshalb geheilt werden muss. Mit Therapie. Was auch immer das genau ist. Und macht. Und machen soll. Hauptsache, ich streng mich an. Reiß mich richtig krass zusammen und stecke alles, was ich habe, da hinein. Sonst darf ich die nicht haben. Und dann bleibe ich für immer krank. Und dann werde ich sterben. Weil das einfach nicht zu ertragen ist.
Ich habe erst mit 30 wirklich verstanden, was „Traumatherapie“ ist. Was ich da eigentlich genau mache, im Therapiezimmer. Was es bewirken soll. Welche Rolle der Kontakt zu meiner Therapeutin dabei spielt. Was passen muss, um zu funktionieren. Wie ich was machen muss, damit sich übermittelt, was ich übermitteln will.
Da war ich schon die Hälfte meines Lebens in Traumatherapie.
Niemals hat sich jemand mit mir hingesetzt und mir das erklärt. Stück für Stück. Aspekt für Aspekt. Damit ich eine Chance auf ein Bild davon bekomme, was ich da eigentlich mache. Meine Krankheit wurde mir ausgiebig erklärt. Meine Dysfunktionalität. Aber die Therapie nie.

*

Ich musste mit 19 hören, dass meine Kliniktherapeutin weiß, dass ich schon alles tue, was ich kann, damit ich aufhören kann, von mir selbst zu denken, ich würde nicht genug tun, um mich am Leben zu erhalten. Denn da ich nicht wusste, wie ich es hätte richtig machen können, habe ich 24/7 alles für die Therapie und die Betreuung gemacht. Nicht für mich. Mein Leben. Meine Gegenwart. Sondern immer für eine Zukunft, von der ich aufgrund des fehlenden Zeit-, Raum- und Selbstbezuges überhaupt keine Vorstellung haben konnte.

Ich musste es mit 30 vom Begleitermenschen hören, damit ich aufhören kann zu glauben, ich sei die Arbeit all der Menschen, die mich bis dahin therapeutisch, betreuerisch, begleiterisch am und immer mehr auch im Leben gehalten haben, nicht wert.
Ich musste hören, dass mein autistisches, komplex traumatisiertes Machen auf Strukturen und Konzepte traf und trifft, die meine Vorarbeit zum Können, gar nicht erst zum „big picture“ über mein Können hinzufügen. Und mich deshalb immer wieder mit dem Eindruck zurücklassen, ich würde nicht genug oder nicht richtig können. Nicht, weil sie das so wollen oder für richtig halten oder allesamt ignorante Arschlöcher sind, sondern, weil es einfach nicht vorgesehen ist. Nicht mitbedacht. Nicht im Script.

*

Es hat mich sehr entlastet, das zu hören. Auch weil ich ein Stück Verantwortung ablegen konnte, das ich nie hätte übernehmen müssen.

Hilfe, echte Hilfe, erfordert kein Können auf Seiten der Geholfenen.
Unterstützung, echte Unterstützung, erfordert ein korrektes Einordnen und Kommunizieren können auf beiden Seiten.
Ich bin autistisch und lebe mit einer komplexen dissoziativen (in diesem Kontext) Störung. Meine Möglichkeiten zur Kommunikation sind (zum Teil extrem) eingeschränkt und fußen auf einer Selbst- und Umweltwahrnehmung, mit der sich die meisten Menschen in meiner Umwelt nicht identifizieren können.
Um kommunizieren zu können, ist es erforderlich, sich und seiner Umgebung bewusst zu sein. Um dieses Bewusstsein zu etablieren, zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten, ist es wichtig[1]:

sich orientieren zu können

  • zum Körper
  • zur Person
  • in räumlicher Hinsicht
  • in zeitlicher Hinsicht

sich erinnern zu können

  • kurzfristig (Kurzzeitgedächtnis)
  • langfristig (Langzeitgedächtnis)

sich und die Umgebung wahrnehmen und verstehen können

Unabhängigkeit und Wohlbefinden werden hier beeinflusst von Fähigkeiten wie

  • zur Wahrnehmung des Körperschemas und des Körperbildes
  • zu riechen und zu schmecken
  • zu tasten und zu fühlen
  • zu hören
  • zu sehen und zu erkennen (einschließlich Gesichtsfeld)
  • zu lesen
  • sich zu konzentrieren

sich verbal mitteilen können

Dies wird beeinflusst von verbalen Fähigkeiten in der mündlichen und/oder schriftlichen Kommunikation

  • zur Wortfindung
  • zur Satzbildung
  • zur klaren und verständlichen Ausdrucksweise

sich nonverbal mitteilen zu können

Das Ausmaß und die Qualität nonverbaler Kommunikation werden beeinflusst von Fähigkeiten

  • in der Mimik und Gestik
  • zur Berührung

In jedem dieser Bereiche kompensiere ich Einschränkungen. Das ist, was mein Autismus, wie meine Traumafolgestörung auch, in unserer Gesellschaft zu einer Behinderung und jede Art der Hilfe und Unterstützung für mich zu einem komplexen Unterfangen macht.

Ich brauche mehr als die bloße Anwesenheit von Helfenden, Unterstützenden oder Behandler_innen und Kenntnis von ihrem Auftrag, um wissen, was ich jetzt eigentlich können muss. Was mein Auftrag ist. Wie ich richtig sein könnte.
Es reicht absolut nicht, mir Dinge zu sagen, die mir ein gutes Gefühl vermitteln sollen. In der Regel generiere ich mir das gute Gefühl im Kontakt durch die Gutheit des Kontaktes. – Hilfe-, Unterstützungs- und Behandlungskontexte, in denen ich mir nie Sicherheit darüber generieren kann, ob ich (hier) richtig bin, ob ich genug richtig mache, um drinbleiben zu können, sind weder hilfreich noch zielführend. Tendenziell wirken sie eher als Wiederholung der Gewalt, die ich bereits überstehen musste oder als Faktor, der mich hilfloser macht, als ich sowieso schon bin. Auch wenn ich nicht so wirke.


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2 thoughts on “#3: „Ich weiß, dass Sie tun, was Sie tun können.“

  1. Was hast du über Traumatherapie heute für ein Wissen? Hilft das auch dabei die vergangenen Gewaltschutzlosigkeiten irgendwie zu integrieren?

    1. Ich hab mir viele Fachbücher dazu durchgelesen, es ist also wieder eher abstraktes Wissen. Aber ich kann viel davon mit meinen Therapieerfahrungen ergänzen.
      Hmm also ist es umfängliches Wissen? 😅😜

      Es hilft auf jeden Fall zu verstehen, was früher gefehlt hat und besser hätte laufen müssen. Und das ist hilfreich für mich 🙂

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