adultistischer Ableismus und Kinderinnens

Wir haben ein Problem an dem Umgang mit Kindern.
Das macht unsere Texte über Kinderinnens oft zu einer unflauschigen Angelegenheit.
Zu Beginn schreibe ich hier über Außenkinder, um die Abgrenzung aber auch den Bezug zu Innenkindern (Kinderinnens) deutlich erkennbar vorzunehmen.

Ziemlich stark ist in uns die Ablehnung von Kindern als “die Zukunft”.
Und richtig kirre macht uns der west-wohlstandsgesellschaftliche Blick auf Kinder, in dem sie so kostbar sind, dass man sie 24/7 fördern muss, damit sie auch nur den Hauch einer Chance haben, den übersteigerten Erwartungen und Ansprüchen der Generationen vor ihnen in irgendeiner Form nachzukommen.

Kinder können ja nix. Sie sind ja immer gefährdet. Man muss sie schützen. Man muss sie bewahren. Kinder sollen die Erwachsenen mal machen lassen, damit diese ihnen “das Beste” antun können. Damit Erwachsene noch immer mehr Gründe haben, weitere Forderungen als legitimiert einfordern können.
Und selbstverständlich wissen nur Erwachsene, was genau “das Beste” eigentlich ist.

Adultismus ist das Wort dazu.

Adultismus ist ein Kind des Ableismus und gehört also zur Familie der Scheiße-ismen, die das zwischenmenschliche Miteinander unserer Gewaltkultur vollständig durchdrungen haben.
Es geht um Macht und damit auch um Gewalt.en.
Im Falle des Adultismus, geht es um die Macht bzw. die Diskriminierungen, die erwachsene (dezidiert umfänglich befähigte) Menschen über noch nicht erwachsene (also (in der Mehrheit der Fälle) aufgrund des anderen Reifegrades anders umfänglich befähigte) Menschen inne haben und ausüben.

Diese Macht bzw. diese Diskriminierung manifestiert sich in normalisierten Handlungen, gleichzeitig aber auch in Handlungen, die gesellschaftlich abgelehnt werden.
Es ist üblich Kinder einfach so zu einzuordnen und zu reglementieren, ohne sie zu fragen. Und selbst in Familien, die Wert darauf legen, dass die Kinder ihre Grenzen selbst festlegen dürfen, gibt es X Ausnahmesituationen, in denen ebenjene Grenzen aufgeweicht werden, um etwas durchzusetzen, das als “das Beste” für das Kind verstanden wird – ohne, dass das Kind ein Bestes für sich definieren kann oder darf.

An dieser Stelle will ich nicht auf “Ja, aber Kinder können doch noch gar nicht wissen/entscheiden…” eingehen. Denn: Ja mag sein, dass ich keinen Konsens mit einem einjährigen oder dreijährigen Kind über eine Impfung aushandeln kann – aber ich muss mein übergriffiges Handeln nicht damit rechtfertigen, dass ich mehr weiß oder mehr kann, als mein Kind und leugnen, dass ich an der Stelle gerade etwas entschieden habe, weil ich das konnte und wollte und sollte und vom Gesetz zugestanden auch: durfte – und das Kind nicht.
Es ist nur ehrlich und fair, wenn ich an der Stelle transparent um mein Handeln bin und so dem Kind ermögliche (im Rahmen der zu dem Zeitpunkt bestehenden Möglichkeiten) zu erkennen, was da gerade passiert ist, um selbst eine Einordnung vorzunehmen.

Für die Kinder in dieser unserer Gesellschaft gibt so wenig frühe Chancen, die Erwachsenen um sich herum und deren Handeln auch mal scheiße zu finden, ohne selbst sofort um Leib und Leben fürchten zu müssen. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Kinder niemals in der Lage sind ganz und gar autark zu meinen oder zu finden oder zu urteilen. Und folglich auch: zu fordern oder zu wollen.
Was im Zusammenspiel mit den wenig geschätzten Fähig- und Fertigkeiten überhaupt erst zu ebenjener Abhängigkeit vom “good will” der sozialen Umgebung führt, die allgemein mit Kindern in Zusammenhang gebracht wird.

Wie gesagt: Wir müssen nicht darüber reden, dass Kinder nicht die 20 Sahnetorten haben können, die sie gerne hätten.
Aber wir müssen darüber reden, aufgrund welcher Machtstrukturen es die erwachsenen Menschen sind, die ihnen diese Sahnetorten verwehren und was das für die Realitäten der Kinder bedeutet.

Aus Kindern, die in adultistischen Umfeldern aufwachsen, werden Erwachsene, die eine spezifische Sicht auf die eigenen Fähig- und Fertigkeiten internalisiert haben und, die sie folglich immer entlang von Autoritäten oder in Abgrenzung zu versagen/scheitern/noch nicht können, definieren.
Ein Marker dafür kann die ständige Ausrichtung auf die Zukunft der eigenen Fähig- und Fertigkeiten sein.
Ein kindliches: “Wenn ich groß bin, dann …”, kann zu einem erwachsenem: “Wenn ich meine Koch- und Backskills als Masterdiplom of the universe schriftlich mit Brief und Siegel hab, dann…”, werden.

Gleiches gilt für die Bewertung eigenen Handelns.
”Wenn Mama/Papa/Lehrer_in/Doktor_in/Richter_in/Bürgermeister_in/Bundeskanzler_in… sagt, was ich gemacht hab, war gut/schlecht, dann… ”.

Adultismus ist ein wichtiges Instrument der Kontrolle über Menschen.
Im Kontext der konkret körperbezogenen Gewalt an Kindern, kommt es so zu einer ganzen Reihe von Diskriminierungsfaktoren, die auch nach der Tat bestehen bleiben und so verhindern können, die strafbare Gewalt durch Erwachsene von der legalisierten/normalisierten Gewalt abzugrenzen.

Aus so miss.be.handelten Kindern, können folglich Erwachsene werden, die zum Einen den adultistisch-ableistischen Blick auf sich internalisiert haben, zum Anderen aber auch eine diffuse Haltung gegenüber der Frage, welches Verhalten wie übergriffig ist und welches Verhalten womit zu legitimieren oder begründen sein könnte.

In der Auseinandersetzung mit Kinderinnens haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Idee vom erwachsenen Menschen eine ist, die einem Kind immer und in jeder Situation überlegen ist. Aufgrund der jeweiligen Fähig- und Fertigkeiten.

Die Schieflage ist uns gefallen, nachdem wir die gleiche Haltung uns gegenüber von Mediziner_innen und anderen Behandler_innen erlebten, die sich uns überlegen fühlten, weil sie diverse Fähig- und Fertigkeiten, als bei uns fehlend oder “krankhaft” eingeordnet hatten.
Nachdem wir in unseren früheren Lebenskontexten festgestellt hatten, dass man uns als weniger wert einordnet, weil wir bestimmte “Leistungen” nicht erbringen konnten.

Diese Parallele mit “Ableismus” beworten zu können, ist etwas, das uns heute sehr stärkt. Denn es gibt uns ein Wort für die Dynamik selbst, ohne näher an die Personen, die so mit uns interagiert haben, herantreten zu müssen.

Mit dem Verständnis des Ableismus haben wir auch ein Werkzeug zur Erkennung von Umfeldern, in denen wir sicher sind, in denen wir wachsen und werden können. In einem Umfeld, in dem wir unsere eigenen Fähig- und Fertigkeiten entwickeln können, ist genauso viel Raum zum Versuchen, wie zum Scheitern.
In Umfeldern, wo unsere Fähig- und Fertigkeiten beobachtet werden, um anhand von Leistungs- und Beurteilungsschemata eingeordnet zu werden, gibt es weder Versuchen noch Scheitern. Dort gibt es eher “Daumen hoch” oder “Daumen runter”, wie damals in Cäsars Arena. Was einer DER Trigger für komplex traumatisierten Menschen ist.

Für einen komplex traumatisierten behinderten /Menschen/ mit Behinderungen ist letzteres Szenario also zwangsläufig wie eine durchgehende Gewalterfahrung(swiederholung).
Denn sowohl die Gegebenheiten, welche die Behinderung letztlich verursacht, als auch die Traumatisierung, die gewisse Anpassungen abverlangt (und ihrerseits zu Gegebenheiten führt, welche Behinderungen (mit)verursachen), erfordern häufig Leistungs- und Beurteilungsschemata, die anders aufgebaut sind, als jene, die an Menschen ohne diese Eigenschaften angelegt werden.

Im Ableismus ist der normale Mensch, dem man mit Respekt und unter Wahrung seiner Würde begegnet, “gesund”, “reif”, “kognitiv umfassend befähigt”, “körperlich voll funktionsfähig”.
Das “gesund”, “reif”, “kognitiv umfassend befähigt” und “körperlich voll funktionsfähig” behinderter Menschen – aber auch von Kindern – ist grundsätzlich ein anderes. Jedoch nicht, weil geforderte Leistungen auf einem anderen Weg erbracht werden – nein. Die Notwendigkeit einen anderen Weg zur Erbringung einer Leistung gehen zu müssen, ist bereits ein Ausschlusskriterium von der Norm.

Mich hat diese Erkenntnis damals schockiert. Nicht zuletzt, weil sie mir damals schon – mit 14/15, als wir zum ersten Mal in einer KJP untergebracht waren – aufzeigte, dass mir die kleine Welt, in der ich lebte, ein Ort ist, der mich wegstößt, isoliert und als noch einmal anders, als ich mich selbst anders erlebte, wegsortiert. Nur, weil meine Art mit dem umzugehen, was mir passiert war, ein anderer Weg war, als der von all den anderen tausenden Menschen, die das Gleiche jeden Tag erlebt haben.

An dieser Stelle ein kurzer Ausschwiff.
Wir haben vor Jahren einmal einen Artikel geschrieben, in dem wir sagten, dass es im “DSM-Rosenblatt” keine Krankheiten gibt, sondern nur Reaktionen.
Heute würden wir sagen, dass wir keine Krankheiten sehen, sondern Reaktionen und spezifisch begründete Wege zum Ziel.
Gesundheit ist ein ableistischer Machtbegriff. Gerade, weil in der Betrachtung dessen, was als “krank” (aber auch “behindert”) gilt, weder die Menschen als grundsätzlich variable Basis, noch ihre Er_Lebenswege als unterschiedlich begehbar anerkannt und angenommen werden.

Hinzu kommt die Problematik, dass kritische Bildung in Psychologie, Psychiatrie und Medizin so leicht zu umgehen ist.
Ans akademische Ziel kommt es sich bequemer, wenn man die eigenen (ableistischen, sexistischen, rassistischen…) Annahmen als gegeben und einzig verifizierbar etabliert.
Das heißt: wenn man sich eine Idee macht und dann nur noch nach Beweisen dafür – und nicht dagegen – sucht.
Kritische Bildung (also eine Idee zu entwickeln und alle Hinweise dafür und/oder dagegen in die Ergebnisse fließen zu lassen) könnte zu Wisssenschaftler-/Behandler_innen führen, die zu arbeitsintensiven Forschungs-/Diagnose- und Behandlungsphasen führen.
Oh Schreck.

Kapitalismus und wirtschaftlich orientierte Räume, wie Krankenhäuser und andere Orte psychiatrisch, psychologischen oder medizinischen (wissenschaftlichen) Wirkens mögen sowas gar nicht.

Aber auch der zwischenmenschliche Wettkampf um Egostreichelei und Reputation spielt eine Rolle.
Turbo-Abi mit 17/18 – im OP-Saal eine Aorta abklemmen mit 25 – tollster Retter aller Zeiten mit 35. Auf dem Klassentreffen mit 40 die Person, die reden kann, wie es vor ein paar Jahrzehnten nur 70 – 80 jährige Rentner_innen konnten. Nach dem Tod eine Institiution für Generationen sein.

Viel ist viel – viel ist aber nicht zwangsläufig “viel Gutes”.
Geschweige denn: “nicht gewaltvoll” im Sinne von “nicht diskriminierend”.
Um viele Patient_innen durchzuschleusen, muss man menschlich wie fachlich bestimmte Aspekte diskriminieren. Das geht nicht anders.
Schwierig ist jedoch, dass es dabei um Menschenleben und Individuen geht. Wenn man daran etwas abschneidet, verstößt man gegen das Prinzip weder Leid noch Schaden an seinen Patient_innen zu machen.
Und sichert sich damit selbst die Arbeit bis zum Ende der Karriere.

“Nachhaltige Gewaltwirtschaft” nennen wir das.

Wer daraus aussteigen will, muss sich selbst zurückstellen. Muss sich auf die Kernelemente des menschlichen Lebens konzentrieren. Muss in der Lage sein, seine Arbeit zu kritisieren, ohne sich selbst dabei gekränkt zu fühlen. Muss sich mit Gewalt und ihren Formen außerhalb von „schlagen, foltern und beschimpfen“ befassen. Muss sich selbst als jemand an.erkennen, di_er Gewalt ausübt, ohne in den reaktiven Täter-Opfer-Dyadismus zu verfallen.
Muss langsam bleiben.

Ausschwiff Ende.

Als mir zum ersten Mal gesagt wurde, ich hätte mich wie ein kleines Kind verhalten, ohne dass ich mich daran erinnern konnte, verfiel ich in den eigenen internalisierten Ableismus: “Ich muss mich mehr zusammenreißen. Besser funktionieren, mich besser kontrollieren, meiner Entwicklung in Richtung “erwachsen sein” stärker nachgehen.”.
Und versagte.

Ich war 16 Jahre alt, in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie und wenn ich eines nicht über mich und mein Leben hatte, dann war es Kontrolle. Und Verstehen. Und Ruhe oder Freiraum mich selbst unter nicht ableistischen Aspekten wahrzunehmen.

Die Diagnose der DIS wurde gestellt, eine Dauermedikation mit Tranquilizern wurde begonnen (diese sollte erst 5 Jahre später enden) und ich (wir) entwickelten alle möglichen Kontrolletti“krankheiten” (eine restriktive Essstörung, neue zwanghafte Anwandlungen, sehr strikte Vermeidungsmoves in der psychotherapeutischen Gesprächstherapie).

Auftauchende Innenkinder waren (sind) für mich der absolute Kontrollverlust. Die Rückmeldung von Außenstehenden darüber, eine nicht nur peinliche, sondern mitunter auch sehr demütigende Situation. Denn wo Außenkinder als nicht kompetent und bestenfalls süß (harmlos) und amüsant gelten, da gelten Kinderinnens wie eine Art Beweis für die “in Wahrheit” bestehende Inkompetenz, Harmlosigkeit und Berechtigung belächelt zu werden, einer gleichzeitig doch erwachsenen Person.

Erst als wir mit einer Therapeutin zusammenarbeiteten, die respektvoll und mit einer grundlegend offenen Haltung – trotz all der ableistischen und anderen Gewaltdynamiken um unsere gemeinsame Arbeit herum! – auf uns alle, die wir Innens in diesem einen Menschen sind, zuging, konnte sich das alles ein bisschen auflösen.
Bei ihr und auch bei der Therapeutin, die heute mit uns arbeitet, hatten wir nie das Gefühl, dass Kinderinnens nichts beitragen können. Oder ein aufreibender Quirk sind, der unnötig Zeit und Raum erfordert. Sie haben uns durch ihren Umgang vorgemacht, welche Sicht wir noch auf sie haben können und wie ein damit kongruenter Umgang aussehen kann.

Das ist so ein Aspekt, den wir oft nicht bewusst bei Behandler_innen (aber auch Verbündeten und sogar selbst Betroffenen) sehen. Es gibt einige, die Liebe und Fürsorge für Kinder(innens) “predigen”, aber Harmlosigkeit und Inkompetenz (die zu leiten/managen/kompensieren ist) dem eigenen Umgang zugrunde legen.
Also adultistische Interaktion vorleben bzw. fordern.

Dazu gehört zum Beispiel die Annahme, dass Kinderinnens nur bestimmte Dinge wollen oder brauchen könnten. Zum Beispiel spielen oder umsorgt werden.
Dazu gehören aber auch Forderungen danach, dass man nur mit erwachsenen Anteilen/Innens zu sprechen verlangt. Oder nur erwachsene Anteile/Innens zu sprechen erlaubt. Oder auf einer Station in einer Klinik verbietet, dass Kinderinnens irgendwo anders als heimlich ausnahmsweise in einzeltherapeutischen Settings sind.

Solche Forderungen sind im Kontext vom Bemühen um den effizienten und reibungslosen Klinikalltagsablauf, unter unmöglichen personellen und anderen strukturellen Gegebenheiten natürlich nachvollziehbar.
Unter dem Aspekt dessen, was Patient_innen mit so schweren Traumafolgestörungen brauchen, um von der Therapie_Zeit zu profitieren, jedoch nicht.

Im Gegenteil offenbaren solche Forderungen ein Verständnis der Dynamiken innerhalb dissoziierter Systeme, das nicht vereinbar ist mit dem, was die Diagnosen letztlich überhaupt erst definiert.
So ist das Verbot irgendwelcher Wechsel bei Menschen, die ihr ganzes Leben mit Wechseln jeder Art gerettet haben und deren Diagnose genau davon gekennzeichnet ist zu wechseln, wie das Verbot zu husten, wenn man Tuberkulose hat: irrational, sinnlos, ableistisch gesagt: strunzendumm.

Und: es reduziert die Personen selbst zur alleinigen Quelle ihrer Probleme und macht die Behandler_innen (und andere umgebende Personen) zu unbeteiligten Dritten und Räume wie Kliniken oder Praxen zu „neutralen“ Orte, die sie niemals sind und niemals werden können!

Doch gerade bei Traumafolgestörungen handelt es sich um Reaktionen auf Umfelder.
Um Anpassungsmechanismen, die nach Umfeldsveränderungen mehr oder weniger plötzlich dysfunktional sind.
In eine Klinik zu gehen bedeutet eine Umfeldveränderung.
In eine Praxis für Psychotherapie zu gehen bedeutet einen Umfeldveränderung.
In eine Selbsthilfegruppe zu gehen bedeutet einen Umfeldveränderung.
Neue Personen bedeuten eine Umfeldveränderung.

Für manche Behandler_in ist die Information, dass auch sie Akteur_innen im Leben(sabschnitt) ihrer Patient_innen sind, mehr oder weniger flash news.
Die sie von sich weisen (müssen).
Weil “professionelle Distanz”.
Statt “Anerkennung zwischenmenschlicher Beziehung in definierten Grenzen”.

Auch an der Stelle taucht manchmal wieder eine adultistisch-ableistische Grundannahme auf: “Jemand di_er als Kind so gelitten hat, dass si_er Kinderinnens entwickelt hat, braucht eine Art der Fürsorge und Nähe, wie sie im Kontext der Behandlung/Pflege unangemessen (“von mir nicht leistbar”) ist.”.

Die bei Außenkindern als notwendig anerkannte bedingungslose Globalfürsorge, wird bei Erwachsenen mit anderen Befähigungen (also Behinderungen oder Krankheiten) zu etwas, das nicht kritisch hinterfragt wird, sondern als mit oder von der Person ausgehende An_Forderung, die angenommen und/oder vorausgesetzt wird.

Das bedeutet für Menschen mit DIS, die (noch) oft zu Kinderinnens wechseln, dass sie nicht als erwachsene (befähigte) Person, die mit kindlicher Strategie auf etwas reagiert, gesehen wird, sondern als Person, die im Kern (auch) noch kindlich ist (oder schlimmer: sein will, weil sie ihr Umfeld kontrollieren oder manipulieren will).

Für uns haben sich Umfelder als hilfreich bewährt, die sich selbst als auch Wechsel/Flashback/Problem auslösende Quelle verstanden haben bzw. verstehen.
Denn ihr Umgang mit diesem Selbstverständnis liefert uns Ideen und Verhaltensblaupausen zum moderaten Umgang bzw. zur alternativen Strategieentwicklung für uns selbst.

Von Menschen, die dysfunktionales Verhalten einzig abstrafen und zu kontrollieren abverlangen, können wir auch nur lernen, unser dysfunktionales Verhalten abzustrafen und zu kontrollieren abzuverlangen.
Von Menschen, die andere Wege (als die eigenen, oder die der Mehrheit der Menschen) zum Ziel für unnormal, krankhaft, falsch, nervig … halten, können wir auch nur das übernehmen.

Von Behandler_innen wird nicht zuletzt deshalb auch ein grundsätzlich wertschätzender, anerkennender, respektvoller Blick bzw. wertschätzende, anerkennende, respektvolle Grundhaltung auf Klient_innen/Patient_innen abverlangt. Da geht es nicht darum einander zu mögen oder gut zu heißen, was die Personen jeweils tun. Da geht es darum, einander nicht zu demütigen oder herabzuwürdigen, weil man ist, wie man ist.

In einem früheren Artikel beschrieben wir Kinderinnens als eine Art innere “apokalyptische Reiter”.
Noch heute betrachten wir sie so.
Wir wissen, dass das Auftauchen eines Kinderinnens bei uns niemals für eine gute innere Gesamtverfassung spricht.
Immer geht es darum, sich (uns) so in Not und Bedrängnis oder innerer Inkongruenz zu erleben, dass ein früherer Zustand eintritt, der nur noch ganz spezifische Strategien zur Aufrechterhaltung des Lebens oder der Kommunikation – und Interaktion möglich macht.
Dieser Zustand ist es den wir mit “Kinderinnen” oder “Innenkind” bezeichnen.

Menschen, die nicht viele sind, können dazu sagen: “Ich fühle mich, als wäre ich wieder ein Kind.” – denn sie erinnern sich daran, wie es war ein Kind zu sein. Sie leben nicht mit einer umfassenden dissoziativen Amnesie für die eigene Biografie und können ihre inneren Zustände weniger fragmentiert erinnern.

Wir jedoch haben vermutlich schon als Kind dissoziiert er_lebt und erinnert. Entsprechend sind solche (erinnerten) Zustände fragmentiert und erlebt.
Durch das Zusammenspiel der fragmentarischen Wahrnehmung und immer wieder nötigen Dissoziation haben sich daraus Ich-Zustände entwickelt. Also etwas, das wir heute als “konsistentes Ich” also “Innens” bezeichnen.

Das bedeutet für uns in der therapeutischen Arbeit, dass wir uns nicht als eine Person, die in manchen Aspekten “unreif/kindlich/weniger befähigt” ist, sehen, sondern als Person, die unterschiedliche Zustände aus Zeiten der relativen Unreife/Kindlichkeit/weniger ausgeprägten Befähigung nicht kongruent und umfassend assoziiert.

Dieser Unterschied ist für uns ein wichtiger Punkt in er Therapiearbeit gewesen.
Denn lange saßen wir einem Missverständnis auf, das uns viele Jahre gekostet hat.
Man sagte uns (teilweise auch einzelnen von uns) immer wieder und wieder, wir müssten die Kinderinnens (aber natürlich auch alle anderen Innens) als Teil von uns akzeptieren und integrieren.
In unserem Verständnis bedeutete dies: Uns damit abfinden, dass wir ein fragmentierter und also immer irgendwie unfähiger, unreifer Mensch sind, der nicht in der Lage ist, jemals irgendwie kontinuierlich befähigt zu sein, wenn wir das nicht endlich mal begreifen.

Nun kann es sein, dass wir aufgrund unseres autistischen Strickmusters einfach sehr anfällig dafür sind, so fatale Missverständnisse über so unkonkrete Sprache zu entwickeln.
Daneben besteht jedoch durchaus auch die Möglichkeit, dass man sich als Behandler_in, gerade bei so diffizilen Diagnosen wie der DIS und DDNOS, die mit ihrem psychoanalytischen Überbau und der ganzen anderen Historie der Deutungshoheiten, sowieso schon immer irgendwie bedeutet, mit einem Bein in der Unglaubwürdigkeit oder dem Skandal zu stehen, lieber einmal mehr zu schwammig/waberig/unkonkret ausdrückt, als zu viel.

Auch hier wieder eine Stelle für flash news: Wo geraten werden muss, da kann falsch geraten werden – und wenn Menschen sich selbst ein Rätsel sind, dann hilft weiteres Rätselraten in 100% der Fälle nicht weiter.

Uns sind Behandler_innen, die das Rückgrat zum Fehler machen haben, in jedem Fall lieber, als “wischiwaschi irgendwie so durchschlängel-Künstler_innen”, denen das eigene Ego und die eigene Reputation am Ende wichtiger ist, als die Ergebnisse der Zusammenarbeit mit ihren Klient_innen.

Heute haben wir Kinderinnens als Marker für unseren allgemeinen Orientierungsstatus und als Informationsträger für bestimmte Strategien in unsere innere Arbeit inkludiert. Das heißt: Wir haben sie nicht als Teil von uns integriert, sondern als Teil dessen, was wir für unser (Über-) Leben zu leisten fähig sind.

Dass wir sie nicht als Teil von uns integriert haben, hat den einfachen Grund, dass wir nachwievor keinen umfassenden Ich bzw. Selbstbegriff haben, der uns alle umfasst, weil neben dem intellektuellen Erfassen von einander, noch kein emotionales/inneres/tieferes Begreifen und “natürliches” (also “unangestrengtes/unbewusstes”) Assoziieren von einander steht.

Wir sind nicht “Eine mit vielen” – wir sind “viele Eine mit vielen”. Ein Selbst haben wir nie entwickelt.
Es hat in unserem Fall also keinen Sinn, Kinderinnens als etwas zu sehen, das sich von einem Kern abgeleitet entwickelt hat und ergo zurück in diesen Kern hineinentwickeln könnte.

Unser Weg ist der, unsere Fähigkeiten jeweils miteinander zu erfassen, zu synchronisieren, miteinander kompatibel zu machen, gut zusammenarbeiten zu lassen und irgendwann vielleicht zu sehen, dass bestimmte Systeme zu einem System verschmelzen. Und dann mit einem anderen. Und dann mit einem nächsten.
Wenn sich daraus dann ein Kern entwickelt – dann können wir über die Anerkennung und Integration von Anteilen in diesen Kern sprechen.
Bis dahin besteht unser Kern aus dem Körper selbst als kleinster gemeinsamer Nenner.

Unsere Art Kinderinnens mit ihren Fähig- und Fertigkeiten in die innere Arbeit und auch Teile des Alltags zu integrieren, sieht wie folgt aus:

– wir analysieren die Situationen, in denen sie aufgetaucht sind, auf mögliche Trigger
– diese Trigger analysieren wir in der Therapie auf Missverständnisse (fehlerhafte Assoziationen traumatischen Materials, die die Ausentwicklung der Zustände zur Folge hatten, die wir heute als Kinderinnens wahrnehmen)

– wir versuchen herauszufinden, wie sie sich verhalten haben, welches Bild sie von sich und der Welt haben
– wir besprechen diese Dinge in der Therapie, um uns ihrer Perspektive anzunähern (um ihre Perspektive auf bestimmte Situationen, allgemein mitbedenken zu können, um Missverständnissen aktiv vorbeugen zu können)

– wir setzen uns mit Ableismus und Adultismus auseinander und arbeiten daran internalisierte Grundannahmen über unsere Fähig- und Fertigkeiten durch konkrete Selbsterfahrung zu revidieren oder zu ergänzen oder zu falsifizieren
– wir folgen Impulsen kindlicher Begeisterung und Neugier bzw. begleiten sie mit der Absicht sie durch unsere erwachsene Außenpräsenz (und damit auch den Rechten und Privilegien, die wir als erwachsene Person haben) zu unterstützen
(Konkreter formuliert: wenn wir merken, dass ein Kinderinnen etwas im Außen spannend findet, dann widmen wir uns dem spannenden Ding gemeinsam und ermöglichen die Auseinandersetzung damit als Person, die das auch darf – nicht weil sie erwachsen ist, sondern, weil man da etwas wahrgenommen hat, das man spannend findet)

– wir schützen unsere Kinderinnens vor adultistischen Übergriffen außenstehender Personen (“Oh wie süß ein Innenkind!”)
– wir schützen unsere Kinderinnens vor der Idee, sie wären “das Kind, dass wir nie sein durften”
– wir bieten unseren Kinderinnens Raum sich auszudrücken (in der Therapie, in der Freizeit, in Bereichen des Alltags, wo wir nur für uns funktionieren und Verantwortung tragen müssen)

– wir öffnen uns für ihre Erfahrungen, als Erfahrungen, die wir gemeinsam gemacht haben, obwohl es sich in den meisten Fällen nicht so anfühlt

Kinderinnens sind kein amüsantes Feature in Menschen, die viele sind.
In vielen Fällen sind autark nach außen agierende Kinderinnens der Grund, weshalb Menschen, die viele sind, überhaupt in psychiatrische Einrichtungen oder Psychotherapie müssen. Daran ist nichts amüsant oder niedlich.

Wir haben ein Kinderinnen, das sich tot stellt, wenn es sich (uns) zu stark von Menschen bedrängt erlebt.
Es gibt ein Kinderinnen, das Dinge erst isst, wenn sie so verfault sind, dass Maden drin rumkriechen.
Wir haben Kinderinnens, die Menschen nur anstarren und darauf warten miss.be.handelt zu werden.

Nichts daran ist süß. Keinem von ihnen hilft es betüddelt  und mit Liebe überschüttet zu werden. Sie brauchen völlig andere Räume und Wege, um sich überhaupt der Idee annähern zu können, dass ihr Er_Leben heute auch ein anderes sein könnte.
Da reicht oft auch nicht unser 10 km Waldwanderweg, auf dem wir uns einander nähern und der Welt bekannt machen.

Bei unseren Kinderinnens geht es um das 24/7 zu haltende Bewusstsein, dass sich (selbst) zu fühlen variabel und innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum passieren kann. Dass Dinge und Erfahrungen einem_einer nicht einfach nur passieren, sondern auch selbst gemacht werden können oder selbst verhindert werden können. Dass es Kontexte gibt, in denen Verantwortung und verschiedene soziale Fertigkeiten eine Rolle spielen.
Adultistischer Ableismus verhindert jedoch genau diese Erfahrungen systematisch.

Deshalb wollen wir nicht, dass irgendjemand unsere Kinderinnens oder das was sie tun, für süß, niedlich oder harmlos hält.
Wir wollen, dass andere Menschen wissen, dass sie befähigt sind.
Dass sie Wege und Ziele kennen.
Dass sie Geschichten und Perspektiven auf den Lauf der Dinge haben.
Genauso wie wir erwachsenen Innens.

Sie haben den gleichen Respekt und den gleichen Anteil der Therapiearbeit verdient, wie wir.

 

* Text als PDF zur freien Weitergabe

Sprechverbote und “täterloyale” Innens

Eine weitere Frage war, wie mit “täterloyalen” Anteilen/Innens umzugehen sei. Und was man tun solle, wenn sie zu sprechen verbieten.

Auch hier würde ich damit anfangen den Begriff “täterloyal” genauer anzusehen. Und zu fragen, wer diesem Innen/Anteil dieses Wort zugeteilt hat. Und warum. Denn es deutet ja auf zweierlei hin:
1. “nicht in Raum und Zeit orientiert” (siehe: “Wann ist jemand als Täter_in zu bezeichnen und wann vielleicht besser nicht”)
und 2. “nicht opfer- oder zeugenloyal” (also spezifisch (wert)gebunden)

Wir sehen es oft, dass Innens, die sich einer Psychotherapie kritisch gegenüberstellen oder überhaupt auch nur irgendwas, was ein anderer Teil des Systems zu akzeptieren und integrieren versucht, ablehnen, sofort als “täterloyal” oder (eigentlich fast noch schlimmer) “noch im Trauma” verortet werden.
Das ist ein gewaltvolles Vorgehen und sollte nicht passieren.
Weder von Außen, noch von Innen.

Innens/Anteile sind Selbst- und/oder Seinszustände einer Person.
Ich stelle hier nicht zur Diskussion inwiefern man hier von “es sind Menschen” oder “es sind Persönlichkeiten” sprechen könnte, sollte oder müsste.
Was man erforscht hat und immer wieder sieht ist, dass Menschen mit komplexen dissoziativen Traumafolgestörungen diese Zustände als “sehr anders” und manchmal auch als so sehr anders, dass man denkt/glaubt/überzeugt ist/denken könne, es wäre “jemand anders”, erleben und beschreiben.
Und, dass Außenstehende diese Veränderungen ebenfalls beobachten/wahrnehmen können. Und zwar immer wieder.

In unseren Texten über und aus uns selbst, beschreiben wir unsere Sicht auf uns selbst und stehen dabei auch nur für uns und unser Er_Leben.
In diesem Text nehme ich zeitweise die Perspektive einer außenstehenden Person ein, die sowohl “Viele” sieht, als auch “Eine_n mit verschiedenen Anteilen”.
Im Folgenden verwende ich “Innens” synonym für “Anteile”.

Innens mit Adjektiven zu belegen kann verlockend sein. Gerade wenn es um ein System mit vielen Innens geht, erscheinen definierende Begriffe hilfreich, um einen Überblick zu behalten. Doch was ist das für ein Vorgehen? Es ist sortierend und ordnend. Es ist ein- bis maximal zweidimensional.
Innens jedoch sind Zustände. Mehrdimensional erlebte Zustände, wie das Sein im Leben selbst.

Mit einem Begriff wie “täterloyal” legt man etwas fest. Loyalität ist jedoch keine unveränderliche/unbewegliche/starre Eigenschaft. Loyalität ist das Ergebnis einer Bindung an Werte und/oder Personen oder auch Institutionen. Es ist eine Art Erfahrungsergebnis.
Das bedeutet, dass so etwas wie Loyalität nur durch die Dimension der Zeit, der Bewegung… in einer Richtung und der Ausdehnung (Entwicklung) möglich ist.
Entsprechend: 4 Dimensionen, die nicht dann aufhören zu wirken, wenn ein System in Therapie geht oder für einen Ausstieg/Kontaktabbruch entscheidet.

Persönlich bemühen wir uns darum einander zu beschreiben, wenn wir mitteilen wollen, wer oder was wir sind bzw. als wen oder was wir uns selbst sehen und/oder wahrnehmen. Das kann sprachlich anstrengend und frustrierend sein, hat sich jedoch als weit weniger verstümmelnd und auf lange Sicht die Innenarbeit erleichternd herausgestellt.

So beschreiben wir Innens in etwa so:
– Heidi
– erlebt sich
– als X Jahre alt
– ordnet sich Geschlecht * zu
– findet A, B, C wichtig
– macht D, E, F,
– will G, H, I,
– hat Absprache J, K, L, zugestimmt
– lehnt Absprache M, N, O ab
– schlägt Absprache P vor
(- hat Geschichte XY)

Durch dieses Muster können wir einander besser in unseren Gemeinsamkeiten und Unterschieden erkennen.
Wir können sehen, dass wir manchmal die gleichen Ziele haben, obwohl wir einander als fremd und autark erleben und unterschiedliche Motivationen haben, diese Ziele zu erreichen. Vor allem aber können wir uns über die Grenzen eines Gut-Böse-Dyadismus hinweg bewegen.
Trotz unterschiedlicher Wertbindungen und Ansichten können wir zusammenarbeiten und so Raum für einander eröffnen.
Manchmal auch Räume, in denen wir uns die wahren Loyalitäten (im Sinne von Wert_Bindungen) von Innens näher ansehen können.

Wir haben festgestellt, dass wir keine wirklich “täterloyalen” Innens unter uns haben. Sehr wohl aber abhängige, absolut gehorsame, unterworfene Innens, die keinen Widerstand gegenüber Gewalt ausübenden Personen und ihren Forderungen aufbringen oder aufgebracht haben und damit okay sind.
Manchmal, weil sie dissoziiert sind von der Not, die mit der Unterwerfung einher ging und manchmal, weil sie die Not für wichtig/notwendig halten.

Der Begriff “Loyalität” beschreibt eine freiwillig eingenommene Haltung gegenüber Werten und damit einhergehend auch Menschen oder Institutionen, die diese Werte vertreten.
Nun ist zu fragen, wie viel Freiwilligkeit möglich ist, wenn Menschen in Situationen sind, in denen die (auch nur vorgetäuschte oder affektiv reaktiv vorgenommene) Werteübernahme belohnt wird. Zum Beispiel damit nicht zu sterben, nicht verletzt zu werden, nicht (mehr) gequält zu werden. Oder damit Anerkennung von einer sozialen Gruppe zu erfahren und eine bessere Lebensqualität genießen zu dürfen.

Ich halte es für wichtig bei der Kontaktaufnahme mit Innens, die sich an Werte gebunden fühlen, die von Menschen vertreten wurden/werden, die zu Täter_innen wurden, nicht “das Opfer im täterloyalen Innen” zu suchen. Auch dieses Vorgehen kann sich wieder nur im Täter-Opfer-Dyadismus bewegen und damit verstümmelnd wirken.

Der Weg zu einer Kontaktaufnahme und einem Austausch kann schwierig sein.
Früher konnten wir uns überhaupt nur schwer vorstellen, welche Möglichkeiten wir, außer den Gesprächen mit der Therapeutin und unseren eigenen Tagebuchaufzeichnungen, noch haben könnten, um einander zu begegnen und kennenzulernen.
Inzwischen hat sich die aufrichtige Auseinandersetzung mit “unseren Themen” als übliche Alltags- und Freiheitspraxis bewährt.

Wann immer wir Dinge tun, ob das nun Projekte sind oder alltägliche Notwendigkeiten, tun wir das mit aktivem Bewusstsein darum, aus welchen Gründen und für welche (höheren) Ziele wir sie tun. Daraus entsteht immer wieder ein innerer Austausch darüber, in welcher Zeit, in welchem Raum, aufgrund welcher Privilegien oder Limits, welchen Vorwissens und aus welchen Überzeugungen heraus, wir tun, was wir tun (weil wir es heute tun können).
So entsteht eine gewisse Verankerung in der Gegenwart bei gleichzeitig hoher Transparenz der Werte und Motivationen, die wir in dem Moment vertreten.

So entsteht aber auch Arbeit. Arbeit an Angst, an Irritation, an Desorientierung und auch neuen gemeinsamen Zielen aufgrund geteilter Werte.
Es vergeht kein Tag mehr, an dem wir uns nicht damit auseinandersetzen, was manche Innens als verboten, als falsch, als schlimm oder gefährlich erleben bzw. einordnen. Und sei es nur, dass es darum geht, ob wir eines der fünf Grundbedürfnisse dieses Körpers erfüllen dürfen/können/sollten/möchten – oder nicht.

Das ist etwas, das wir lange nicht so durchgehend gemacht haben.
Oft, weil die Kraft gefehlt hat oder der Mut. Manchmal, weil es Ängste gab, die durch nichts und von niemandem gelöst wurden. Lange auch, weil die Vermeidung nicht aufgegeben werden konnte. Und häufig auch, weil der Alltag insgesamt so überfordernd war, dass die etablierten Mechanismen der Dissoziation das Alltagsbewusstsein erneut stark fragmentierten.

Über diese Auseinandersetzung kommen wir nicht mehr umhin eine gewisse Konsequenz in unserem Handeln und Re_Agieren zu entwickeln.
Eine, die nach Außen manchmal als “kompliziert” oder “anstrengend” wahrgenommen wird und uns in soziale Situationen bringt, die von Isolation geprägt ist. Letztlich jedoch konnten wir in den letzten Jahren auch die Erfahrung machen, dass soziale Isolation oder anders ausgedrückt “Dinge anders als andere zu machen” bei aller Not daran, erheblich leichter zu er_tragen ist, wenn es im Innen eine große Kongruenz um die Richtigkeit/Okayheit dessen gibt.

In einem Fall, in dem eine Kongruenz nicht hergestellt werden kann – zum Beispiel wenn Innens eine Therapie ablehnen oder Sprechverbote durchsetzen wollen – entsteht ein Konflikt, den man sich näher ansehen muss.
Es hilft nicht, wenn man Systeme zum “Sprechen trotz Verbot” ermutigt, weil man den hier vertretenen Wert nicht hinterfragt.

Innens, die Werte und Wollen von Menschen (weiter) vertreten, die ihnen (oder dem Körper) Gewalt angetan haben, tun das immer aus Gründen. Und die meisten dieser Gründe haben etwas mit Wert- und sozialen Bindungen zu tun.

Gerade bei Sprechverboten haben wir uns angewöhnt zu fragen, worüber genau wir nicht sprechen sollen.
Einfach schon um klar zu machen, dass es viele Dinge gibt, die man im Laufe eines Tages aussprechen könnte. Man könnte über das Wetter sprechen, aber auch über Dinge, die man früher einmal erlebt hat.
Manchmal bewegt sich schon durch das Aufzeigen der vielen möglichen Optionen, die heute in diesem Leben in relativer Freiheit existieren, etwas bei den Innens. Manchmal ist das nur Irritation. Zum Beispiel wenn sie sich selbst noch in einer Situation verorten, die von Zwang und Gefahr geprägt ist.
Manchmal ist das aber auch Neugier auf Worte. Gerade dann, wenn ein Innen nicht mehr Worte kennt, als jene die es früher gehört hat oder die vom ihm zu sagen verlangt wurden.

Durch unsere Frage danach, was genau wir nicht aussprechen sollen, gehen wir in Kontakt mit diesen Innens. Das ist etwas, dass sie oft nicht kennen.
Innens, die immer wieder durch Appelle, Verbote, Drohungen, Mahnungen, “Slogans”, Ein-Satz-Konstruktionen allgemein auffallen, kennen den Dialog häufig nicht. Sie sind (nicht immer!) das Ergebnis von Situationen, in denen keine Resonanz, kein Mit- oder Nachdenken über die eventuell vorliegenden Gefühle und Absichten der anderen Person, möglich oder erlaubt war.

Sie haben oft etabliert “wie es läuft” – nämlich eingleisig. Eine Person sagt was, die andere Person folgt ihr. Egal, worum es geht, egal, wie die Lage konkret ist, egal, wie das eigene Befinden oder die eigenen Fähigkeiten sind. Antworten, eigene Gedanken, eigene Gefühle, eigene Werte waren oft irrelevant. Und also oft nicht einmal selbst bewusst gemacht oder erforscht – geschweige denn Neugier darauf entwickelt/erlaubt.

Hier kommt der Aspekt der Mehrdimensionalität von Innens allgemein wieder ins Spiel.
Selbst wenn sie ein- oder zwei dimensional erscheinen, so sind sie es doch häufig nicht. (Ausgenommen hier  evtl. States und andere dissoziative Fragmente des Ich oder Selbst) Ihnen nur entsprechend ihrer Erscheinung zu begegnen, bringt sie um die Chance sich gänzlich zu erfassen oder eine Idee von einer Gänze zu entwickeln. Und also auch sich selbst als entwicklungsfähig zu erleben.

Kontaktaufnahmen und Einladungen zum Dialog sind jedoch nicht alles.
Man kann sich das in der Wirkung vielleicht gut übertragen auf die eigenen Reaktionen auf Werbeprospekte und Emails mit Einladungstexten: nicht alles möchte man beantworten, manches erscheint krude und potenziell betrügerisch und manchmal hat man schlicht keine Nerven für irgendetwas mehr, als das eigene. Ähnlich kann es Innens gehen, denen zwar viel daran gelegen ist sich und den eigenen Vorstellungen Raum zu verschaffen, jedoch nicht gelernt haben, dass es Antworten, (Wider-) Worte oder Rückfragen geben kann. Miteinander.

Miteinander kann man auch über konkretere Wege als Worte herstellen.
Bei uns funktioniert konkretes Handeln/Machen am besten. Dinge, die einer gewissen Planung bedürfen, eine Finanzierung für Materialien und auch bestimmte Fähig- und Fertigkeiten erfordern, binden relativ viel von unserer insgesamt zur Verfügung stehenden Aufmerksamkeit und Energie.

Zu Beginn war davon nicht viel da. Wir hatten (und haben heute noch manchmal) nur sehr kurze Konzentrationsspannen und eine geringe Frustrationstoleranz. Doch die Wiederholung hat sich gut ausgewirkt.

Standen wir früher sehr lange im Laden für Bastelbedarf und trafen dann Entscheidungen, die wir bereuten, weil sie sich zu Hause als nicht passend herausstellten, tauschen wir uns heute zu Hause schon aus, wissen auf wessen Meldungen wir warten müssen, wissen, wer uns daran erinnern muss, dass wir etwas tun (wollen), das wir besser nicht tun sollten… Wir wissen, was uns erwartet, wenn wir nicht auf alle diejenigen warten, die irgendwie – und sei es nörgelnd, schimpfend, drohend am Rand stehend – mitbekommen haben, dass wir überhaupt etwas tun wollen.

Und wir wissen, wann es nur im Chaos enden kann Dinge zu tun. Vor allem Dinge, die Menschen, die uns früher verletzt und ausgebeutet haben, nicht gut heißen würden oder könnten. Allein schon, weil wir bestimmt haben, sie zu tun.
Darum hilft es uns insgesamt ein bisschen mehr, als nur tiefenpsychologische oder psychoanalytische Literatur zur eigenen Diagnose bzw. Traumafolgen insgesamt zu lesen.

Mit einem Verstehen der inneren Vorgänge kann man sich sicher fühlen und glauben, dass das alles irgendwie schon klappt, wenn man solche Innens einfach nur gekonnt überzeugt oder sie sehen/spüren/mit_erleben lässt, wie frei man heute ist und wie überholt und evtl. unnötig ihre Wortbeiträge sind.
Mit dem Verständnis der körperlichen Reiz-Reaktionsmöglichkeiten aufgrund der geleisteten Anpassung an toxischen Stress jedoch gibt es einen weiteren Weg zum Begreifen der Perspektive und eigenen tatsächlich vorhandenen Handlungsoptionen.

Zum Beispiel haben wir verstanden, dass uns unser Alltag an vielen Stellen überreizt und überfordert. Heute erheblich weniger als früher und doch genug, um zu sehen, dass die Bereitschaft unseres Körpers in einen traumaassoziierten Zustand zu fallen (also in eine der drei Richtungen von Flucht, Kampf oder Starre) nachwievor besteht. Und wir also schauen müssen, dass wir, so oft es geht, aktiv das mittlere Erregungslevel zu erreichen bzw. zu halten versuchen.
Dieses fühlt sich für uns wie folgt an:

– wir können gut zwischen Vordergrund und Hintergrund trennen
– wir sind motorisch sicher
– wir können Kontexte erkennen

– wir können kreativ sein
– wir können planvoll handeln
– wir können uns mit mittlerer Anstrengung verbal mitteilen (und erleben die Sprache mit dem was wir sagen wollen kongruent)

– wir können uns Texten widmen, die sowohl Worte als auch Zahlen beinhalten
– wir können Sachverhalte herleiten und verstehen (lernen)
– wir haben weniger Probleme uns auszurechnen, wie es anderen Menschen geht

Im Hyperarousel (Übererregung) tendieren wir zu Wechseln (was in der Stress-Trias vielleicht bedeutet “Fähig zu Kampf oder Flucht trotz Starre”).
Darüber verliere ich schnell mein Alltagsbewusstsein. Erlebe mich und meine Umwelt eher fragmentarisch, wenn überhaupt.
Wir haben insgesamt die Tendenz sehr schnell sehr viel körperliche Energie aufzubauen und dann doch an geistige Beschäftigung oder Navigation zu verlieren. So hat sich in der Vergangenheit oftmals eine schwierige Mischung aus massiver Erschöpfung und körperlicher Übererregung entwickelt. (Was als Trigger für Innens aus früheren Gewaltsituationen wirkt und Wiederholungen des Erlebten durch die eigene Hand zur Folge haben kann)

Im Hypoarousel (Untererregung) tendieren wir ebenfalls zu Wechseln, verbleiben dort jedoch meistens in einer Art stumpf stillen Starre.
Es gibt nichts, was die Aufmerksamkeit zieht, es gibt kein konsistentes Ich, kein Wir.
Ohne äußere Unterstützung dauert so ein Zustand eine ganze Weile. Währenddessen tun wir aber auch nichts.

Für uns ist es hilfreich um diese drei Level zu wissen. Zu wissen, wann wir sie erreicht haben. Zu wissen, dass sie im Rahmen unserer neuro-biologischen Reaktions.Möglichkeiten liegen.
Auflösend und entwicklungsfördernd haben sich jedoch die Schritte erwiesen, die uns unsere Beeinflussungsmöglichkeiten dieser Zustände zu begreifen und erleben möglich gemacht haben. Gerade in der Auseinandersetzung mit Innens, die schwierige Forderungen an uns stellten/stellen.

Uns stresst es sehr, wenn die Therapeutin will, dass wir mit ihnen Kontakt gehen. Gerade, wenn es Angst vor diesen Innens gibt. Gerade, wenn es um Innens geht, die nicht nur im Innen wirken, sondern auch nach außen aktiv sind.
Das sind die klassischen drei Engel für Traumascheiße: Überforderung, Stressschleifen aus Selbstverletzung, Selbsthass, Desorientierung um eigene Freiheiten und das Gefühl der Alternativlosigkeit/Ohnmacht/Hilflosigkeit

Es ist für uns besser uns an die Dinge zu erinnern, die uns entspannen, stärken und beweglich  machen. Und konkreter: die Handlungen, die uns entspannen, stärken und beweglich machen.
Was klingt wie eine sinnlose Phrase ist: “Mach doch einfach öfter mal einen Spaziergang/ Sport/ fernöstliche Bewegungsdinger/ Gartenarbeit/*”
Es klingt wie ein Hohn, wenn man da steht mit dem Schrei im Kopf, dem Puls im Hals und dem Gefühl, dass es nie wieder aufhören wird – aber am Ende ist es ein Schritt, den man machen kann. Und dann noch ein Schritt und dann noch ein Schritt.
Oder, wenn man nicht laufen kann, ein Anschieben und dann noch ein Anschieben. Oder eine Hantel hoch, dann die andere. Oder, wenn man gar nichts von allein bewegen kann, eine Hand (eine Körperseite) stimulieren lassen, dann die andere.

Bilaterale Stimulation finden Gehirne megageil. Es entspricht ihrem täglichen Reizverarbeitungsworkflow und wenn man etwas tut, das zufällig genau das viel fordert und ansonsten eher nicht viel daneben, dann können Kapazitäten für mehr frei werden. Mehr Empfinden. Mehr Beweglichkeit (seelisch wie körperlich). Mehr Gefühl für die eigenen Kräfte.

Wir haben, durch unsere Hündin und das Glück eines Wanderwegs auf einem Stück unseres Schulwegs, jeden Tag etwa 10 Kilometer nur für uns und bilaterale Stimulation. Auf diesen 10 Kilometern haben wir unsere inneren Konferenzen und den freien, ruhigen (immer gleichen also vorhersehbaren) Raum für Innens, die noch nie Bewusstseinsräume dafür frei haben konnten, dass es sowas gibt. Bewegung, Licht, die Option zu gehen oder stehen oder sich hinzusetzen oder ein Tier (NakNak*) zu beobachten (ohne etwas tun zu müssen) oder unter sicherer Anleitung zu berühren, zu füttern, Wasser anzubieten oder den Boden unter sich zu fühlen oder Fotos zu machen oder Bäume, Blätter, Früchte anzusehen, anzufassen… oder in Kontakt/Dialog mit etwas/jemand aus dem Inneren zu sein.

Was klingt wie eine dieser furchtbaren rettungsromantischen Szenen in Filmen um Menschen, die zu Opfern wurden, ist für unsere Innenarbeit jeden Tag sehr wichtig. Es reicht nicht solche Erfahrungsräume mal hier und mal da zu haben. Wir brauchen das jeden Tag. Manchmal auch öfter. Einfach, weil wir nicht nur ein Mal im Leben erfahren haben, dass die Welt zerbrechen kann und plötzlich gar nichts mehr ist, wie man glaubt, dass sie es sei.

Wir wissen nicht, wie viel davon von Innens wahrgenommen wird, die Sprechverbote oder andere Limitierungen durchsetzen wollen.
Wir wissen aber, dass viele andere Innens – nicht zuletzt wir, die wir im Alltag aktiv sind – es wahrnehmen und erstarkt daraus hervorgehen. Manchmal auch soweit erstarkt, dass wir über die wahrgenommenen Forderungen aus dem Innen in der Therapie sprechen können.
Und dann darüber sprechen können, von wem wir das wahrnehmen. Und wann.
In der Folge können wir beobachten, ob Aspekte unseres Alltags als Auslöser funktionieren und wie wir sie sichern können.
Manchmal hat es schon geklappt, dass sich solche Innens auch selbst in die Gespräche über ihre Forderungen einbringen konnten.

Überwiegend aber setzen wir auf Entschärfung der Notwendigkeit für Forderungen nach Schweigen.
Wir machen unsere Therapie nicht, um Menschen oder Geheimnisse (Ereignisse) zu verraten, sondern um zu verstehen, welche Ereignisse und Menschen für uns bzw. einzelne Innens so wichtig/dramatisch/grauenhaft/abstoßend/erhebend/befriedigend/* waren, dass das Viele sein sich daraus entwickelt hat bzw. entwickeln musste.
Das ist ein wichtiger Dreh.
Wir machen die Therapie und unser Leben nicht für andere Menschen oder in Richtung anderer Menschen und Werte. Es geht primär nicht darum etwas nach Außen zu bewirken, sondern nach Innen. Was dann auch Aus.Wirkungen nach Außen haben kann, aber nicht muss.

Die andere Seite von Sprechverboten sind also nicht nur die im System, die sich dadurch begrenzt und in Not fühlen, sondern auch die, zu denen nicht zu sprechen gefordert wird.
Unsere Therapeutin erinnert uns immer wieder daran, dass wir nichts aussprechen müssen, was von innen verboten ist oder zu viel Kraft erfordert rauszubringen. Uns hilft das in Balance zu bleiben und nicht aus Versehen oder aus einer inneren Rücksichtslosigkeit heraus Grenzen zu überschreiten, die anderen Innens wichtig sind. Aus Gründen, die wir uns vorgenommen haben zu verstehen.

Für uns ist auch wichtig, dass die Therapeutin wie ein Blinddarm unserer Schilderungen funktioniert.
Existent aber nicht agierend.

Unsere Erfahrungen hatten schon genug Aus.Wirkungen auf uns und unser Er_Leben. In der Vergangenheit und in unserer Gegenwart und vermutlich auch noch ein ganzes Stück in unsere Zukunft hinein. Für uns wäre es unerträglich, würde die Therapeutin einer anderen Person von unseren Erfahrungen erzählen. Nicht nur, weil es ein Bruch unserer Absprachen wäre.
Es wäre auch eine Weitergabe der Gewalt und Not, die wir durch unser Überleben und Verarbeiten zu transformieren versuchen.

Wir wollen etwas aus den Erfahrungen machen und benutzen die Therapie als Raum, sie innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit, Raum, emotionaler Beteiligung und Begleitung, zu veräußern und kontrolliert wieder in uns aufzunehmen, um eine Verarbeitung vorzunehmen.
Würde die Therapeutin sie nehmen und mit anderen Menschen teilen, wäre das Gewalt an uns. Auch, wenn wir das nie erfahren würden. (Vielleicht mag man an dieser Stelle einmal kritisch darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn wir als Betroffene Bücher von Therapeut_innen lesen, in denen Erfahrungen ihrer Klient_innen geschildert werden. Wir sehen dort einen gewaltvollen Umgang mit Gewaltüberlebenden/-erfahrenen, der nicht kritisiert oder skandalisiert wird, weil “Hilfe” und gute Absichten mit im Spiel sind.)

In diesem Text schreiben wir sehr selbstverständlich von Psychotherapie als Raum zur Auseinandersetzung mit Erfahrungen und dem Inneren.
So ganz selbstverständlich ist es jedoch für viele nicht in Therapie zu gehen oder sein oder zu bleiben.
Geschweige denn überhaupt einen guten Platz für sich zu finden und so lange, wie er gebraucht wird, behalten zu dürfen.

Persönlich kommt es für uns nicht mehr in Frage, über Erfahrungen und Innens/Inneres zu sprechen, wenn wir ohne psychotherapeutisches Back-up sind.
Für manche Betroffene “reicht” eine gute seelsorgerische Begleitung oder eine psychologische Beratung oder eine (sozial-)pädagogische Begleitung.
Für uns geht das nach diversen Helfersystemcrashs und mehr Bewusstsein um die enormen Kraftaufwendungen, die es für diese Formen der Begleitung oft braucht, nicht mehr.

Auch das ist ein wichtiger Aspekt im Umgang mit Innens, die Limits durchsetzen wollen, die früher einmal wichtig waren.
Sie werden ihre Forderungen verstärken, je mehr sie spüren, dass das System als ganzes überlastet ist.
Und ja, es kann überlasten hochmotivierte, jedoch nicht gut aus- fort- und weitergebildete Begleiter_innen im Leben zu haben. Die keine Super-, Inter- oder Fallsupervision in Anspruch nehmen. Die strukturell bedingt nicht einmal ansatzweise kontinuierlich und zuverlässig da sein können. Die eine eigene Gewaltgeschichte nicht genug reflektiert und transformiert haben.

Dabei ist es irrelevant, dass “man ja sonst niemanden hat”. Dabei ist auch irrelevant, dass die Person “doch ihr Bestes gibt und das ja noch nie jemand vorher getan hat”. Dabei ist auch irrelevant, dass “man doch schon viel Schlimmeres durchgestanden hat”.
Zu viel ist zu viel und wenn es eins gibt, worauf man zu achten anfangen muss, wenn sich irgendetwas verändern soll, dann ist das an genau dem Punkt achtsam zu sein.

Ein Trauma ist niemals das Ereignis selbst.
Es ist das Zuviel, dass dieses Ereignis bedeutet (hat).

Innens, die toben und fordern zu tun, was sich für sie vielleicht sogar als lebensrettend ausgewirkt hat, können beim Umgang mit allem Zuviel, dass das Leben heute bietet, die besten Verbündeten sein, die man sich auf dem Weg der Verarbeitung vorstellen und wünschen kann.

Wenn man mit Ihnen Bündnisse eingeht.

*Text als PDF zur freien Weitergabe

die Fragen zu “Täter_innen.kontakt” und noch ein bisschen mehr

“Täterkontakt” ist eines der Worte, die im Kontext komplexer Gewalterfahrung bzw. komplexer Traumatisierung nach Gewalt auftauchen und immer wieder Thema sein können.
Einige Fragen dazu haben mich neulich erreicht und während ich darüber nachdachte, wie sie gut zu beantworten seien, entspannen sich darauf mehrere Aspekte, auf die ich nun näher eingehen will.

Täterkontakt.
Worum gehts da eigentlich?

Ganz zu Beginn ein rosenblattscher Wortklaub.
“Täter_in” ist eine Person nur dann, wenn sie sich akut/konkret in einer Situation befindet, die von Täter-Opfer-Dynamik gekennzeichnet ist. Das Gleiche gilt für “Opfer”.

Außerhalb so einer Situation ist eine Dynamik gegeben, die mit anderen Worten besser zu erfassen ist.
Zum Beispiel “Name der Person, di_er Gewalt ausgeübt hat” oder “Name der Person, die Gewalt durch … /in Form von … (üb)erlebt hat” oder oder oder

Ich halte es für wichtig, weder sich selbst auf den Opferbegriff zu reduzieren, noch die Person(en), die Gewalt ausgeübt hat (haben) auf Täter_innenschaft.
Täter_innen wie Opfer sind Menschen. Individuen. Und beide Begriffe können dieselbe Person beschreiben. Je nachdem welche Perspektive man auf ein Ereignis einnimmt, in dem diese Dynamik herrschte.

“Täterkontakt” ist also einer dieser Begriffe, den man sich vielleicht übersetzen muss, um sich bewusst bzw. umfassend damit zu beschäftigen.

Komplexe Gewalterfahrungen sind dadurch gekennzeichnet, dass es um Gewalt im direkten sozialen Umfeld geht. Um Gewalt, die vielleicht erst später als solche begriffen wird (und vorher “einfach so dazu gehört hat”). Um Abhängigkeitsbezüge, die nicht eigenständig aufgelöst bzw. verlassen werden können. Und um Erfahrungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg gemacht werden. In unterschiedlicher Erfahrungsqualität, variierenden Umfängen, Dynamiken und unterschiedlicher Schwere.

Es kann bei dieser Form der Gewalt im Konkreten also um Inzesterfahrungen gehen, aber auch um das Leben in einem Kriegs- und Krisengebiet oder Partner_innenschaftsgewalt.
Manchmal spielen (Pseudo-)Religion oder (politische/weltanschauliche) Ideologien eine Rolle. Manchmal organisierte Kriminalität.

So erklärt sich vielleicht besser, warum mir die Auflösung des Täter_innen- und Opferbegriffes wichtig sind.
In der eigenen Familie erlebt man als Kind gewaltvoller Eltern, sowohl die Gewalt als auch die vielleicht manchmal liebevollen Eltern.

Je enger der soziale Bezug ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit beides, wenn nicht alles, was man sich vorstellen kann durch und oder mit einer Person zu erleben.
Was für eine Verstümmelung an den eigenen Erfahrungen wäre es also, sich in der späteren Auseinandersetzung nur auf eine Rolle einer Person zu besinnen, um eine eigene Entscheidung zu treffen?

Im Folgenden beziehe ich mich nur auf Gewalt in Familien, in denen Inzest und oder organisierte Gewalt eine Rolle spielt bzw. gespielt hat und den Fall, dass eine Person mit komplexer PTBS oder ähnlicher Diagnose damit konfrontiert ist, “den Täterkontakt” zu beenden.

Auch hier ist wieder wichtig das Spektrum zu sehen.
Geht es darum keine Post mehr zu öffnen oder jeden Tag zum Essen rüber zu gehen?
Geht es darum immer wieder verletzt, ausgebeutet und selbstbestimmter Entscheidungen beraubt zu werden oder darum, dass die Eltern, die Gewalt ausgeübt haben und weiterhin ausüben wollen, ökonomische bzw. allgemeiner: strukturelle Hebel ansetzen könnten (z.B. Kindergeld einbehalten, BAföG-Verfahren verzögern, Versicherungen kündigen etc.), wenn sich das Kind/die strukturell abhängige erwachsene Person verweigert?
Sind die Personen, die unerwünscht Kontakt aufnehmen auch die Personen, die körperliche Gewalt ausüben?

Der Kontakt zu Personen, die Gewalt ausgeübt haben (und eventuell auch immer wieder ausüben (wollen)) kann unterschiedlich aussehen und unterschiedliche Auswirkungen haben.
Diese Auswirkungen bewusst als solche zu spüren und zu kontextualisieren, steht für manche Menschen zu Beginn im Vordergrund.

Wir begannen unsere Entfernung vom Elternhaus mit 15/16 Jahren.
Nach jedem Brief, jedem Päckchen, jedem Telefonat habe ich mich schlecht gefühlt. Traurig. Schmerzvoll. Obwohl da nie etwas trauriges oder verletzendes drin stand. Oft sogar Geschenke beilagen.
Ein zwei Tage später wurde ich unruhig. Unzufrieden mit mir, meiner Umgebung, den Dingen, die ich eigentlich mochte. Bis ich Gedanken hatte wie: “Ich bin zu Hause einfach besser aufgehoben.” oder “Meine Eltern sind besser zu mir als diese Leute hier.”. Gedanken, die ich üblicherweise nicht hatte.
Tatsächlich waren Gedanken an meine Eltern wirklich kaum vorhanden, seitdem wir das Elternhaus verlassen hatten.
Vielleicht ist das ein Anteil pubertärer Abnabelung, sehr wahrscheinlich aber auch logische Folge des Bezugspersonenwechsels.

Für mich (uns) war es wichtig die Verbindung zwischen “Post von den Eltern” zu “es geht mir nicht gut und plötzlich sind da Gedanken, die vorher nicht da waren” herzustellen. Vor allem, weil sich diese Gedanken im Laufe der Zeit und unserer Versorgungslage auch in ihrer Dringlichkeit veränderten.
War das Helfernetz unzuverlässig, hatten wir Konflikte, waren in irgendwelchen wie auch immer gelagerten Nöten, wurden die durch Post ausgelösten Gedanken zu Wahrheiten, denen zu entsprechen sich immer mehr Druck aufbaute.

In meinem (unseren) Fall hatte sich eine destruktive Schleife entwickelt.
Wir konnten dem Druck nicht nachgeben und ihn häufig auch nicht mit_teilen, ohne uns noch schlechter zu fühlen. Zum Beispiel, weil damalige Therapeut_innen in solchen Momenten mit Bewusstseinsarbeit um traumatische Erfahrungen in der Familie anfangen wollten, obwohl das der denkbar schlechteste Zeitpunkt war.
Es kam zu Selbstverletzungen, suizidalen Episoden, mehr und mehr Psychosomatik.
Das Prinzip “Schmerz für Erleichterung”, das schon vorher etabliert war, nahm Züge einer Selbsthilfe an.

Es hat sich für uns als hilfreich herausgestellt über Selbstverletzung und suizidale Momente zu sprechen. Nachdem sie passierten waren.
In akuten Situation waren uns andere Menschen selten eine Hilfe eine Selbstverletzung zu verhindern. Selbst wenn sich Menschen viel Zeit für uns genommen hatten um eine affektive Selbstverletzung zu verhindern, so war es unser Wissen um die Besonderheit viel Zeit mit anderen Menschen (in unserem Fall Betreuer_innen der Jugendhilfe oder auch Krankenschwestern einer Klinikstation) haben zu dürfen, die ihrerseits schwierige und teilweise unaushaltbare Spannungszustände auslösten. Denen wir damals nur mit Selbstverletzung begegnen konnten.

Es war und ist bis heute hilfreich für uns, nach Selbstverletzungen ganz konkret und sachlich über die auslösenden Gedanken und erlebten Dynamiken zu sprechen. Wir haben Protokolle für diese Momente eingeführt, um unsere Annahmen von Schuldigkeit und Rechtfertigung von körperlicher Versehrung zu falsifizieren.
Folgende  Spalten hatten wir in diesem Protokoll:

  • Was war direkt vorher,
  • Was war in den letzten zwei Wochen,
  • Welche Art der Selbstverletzung gab es,
  • Wer (im Innen) hats gemacht/gewollt/für wichtig befunden,
  • Worum ging es in dem Konflikt (aus dem der Druck entstand),
  • Was hätte helfen können (Ausgedacht als “Was wäre wenn”- Szenario ohne Rücksicht auf Umsetzbarkeit)

Es hat Jahre des Täter_innenkontaktes gebraucht um zu erkennen, dass es immer wir bzw. immer der mit uns verbundene Körper war, der an dem Konflikt um die Trennung von der Herkunftsfamilie gelitten hat. Und nicht die Familie. Und auch nicht die Familie*.
Das ist nicht nur deshalb bitter, weil es hier um viele Jahre ging, die wir auch schöner und insgesamt konstruktiver hätten nutzen können, sondern auch, weil es für diesen Schritt in unserem Fall wirklich den Kontakt zu diesen Menschen gebraucht hat.

Denn:
Unser Konflikt entspann sich immer wieder durch die Aktualisierung des Themas “Herkunftsfamilie” und “Verlassen der Herkunftsfamilie und die Konsequenzen”. Jede weitere Kontaktaufnahme durch fremde Dritte war danach ein leichtes Unterfangen.

Es ist ein Fehler Menschen, die sich von nahen Gewalt ausübenden Personen getrennt haben (oder aus Kriegs- und Krisengebieten geflüchtet sind) zu sagen, dass jetzt alles besser sei und immer besser werden würde.
Macht das nicht. Das ist eine Lüge. Immer.

Egal, wie schlimm, wie krass, wie umfassend die Gewalterfahrung(en) war(en) – darum herum gab es Leben, gab es soziale Bindungen, aber auch Wertebindungen und individuelle Überzeugungssysteme. Es hilft nicht, die Vergangenheit so schwarz wie möglich zu zeichnen (vor allem, wenn die betreffenden Personen noch überhaupt nichts darüber mit.geteilt haben!) um die Gegenwart in den neuen Kontexten und die Zukunft reizvoller und verheißungsvoller wirken zu lassen.

Je krasser der Unterschied zwischen Früher und Jetzt ist, desto mehr Fliehkräfte können sich in einem Konflikt wie unserem entwickeln.
Und eins muss man einfach als Fakt sehen: die Betreuungs- und Unterstützungsangebote für Menschen in diesen Situationen sind nicht ausreichend, um solche Dynamiken gut aufzufangen bzw. von vornherein aufzulösen.

Um das zu illustrieren nehme ich eine unserer Für und Wider-Listen aus dem Jahr 2004.
Da waren wir 18 Jahre alt, hatten 1,5 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter uns, 3 ziemlich furchtbare Wochen in einer Akutwohngruppe für Jugendliche und 5? Monate andere Kinder- und Jugendpsychiatrie. Unser Besitz war von einer Bulliladung auf 3 Kisten zusammengeschrumpft, in der letzten Klinik hatte man uns emotional wie körperlich miss.be.handelt. Die Mutterfrau war eingeladen worden und gekommen. Die Betreuer_innen der Akutwohngruppe hatten uns angelogen und verraten.

Wir lebten in einer Stadt (in einem Bundesland), in der wir nichts und niemanden kannten. In einem Zustand, in dem die Vorstellung von der eigenen Zukunft nicht über “gleich” hinausging, ohne zu einer Fantasie zu werden, die immer auch ein Früher beinhaltete. Und zwar das Früher, in dem es uns gut ging. Mit den Eltern. Den Geschwistern. Den Großeltern. Onkeln und Tanten. Der Familie* und ihren Versprechen.

Für (in der Einrichtung bleiben)
– ich kann nicht wieder nach Hause – irgendwo muss ich ja sein

Wider (in der Einrichtung bleiben)
– ich gehöre nach Hause
– zu Hause wär ich kein Jugendhilfekind
– es könnte wieder so werden wie früher
– ich wär wieder bei … [Freund_innen in der Herkunftsstadt]
– zu Hause kenne ich alles
– zu Hause wär ich normal und könnte schlafen

Gerade den letzten Punkt möchte ich unterstreichen.
Denn dieser Aspekt ist neben allen Loyalitäts- und Zugehörigkeitskonflikten wichtig: es ist unfassbar anstrengend und zermürbend in so einer Situation zu leben. Und dabei ist schon nicht mitgemeint von Dritten weiterhin misshandelt und ausgebeutet zu werden.

Da ist die nahsoziale Achse auf der man versucht sich zu binden und abzusichern (und dabei vielleicht scheitert, weil man sozial inkompetent unter sozial inkompetenten ist und von bezahlten Bezugspersonen eher gemanaged als umsorgt wird) und da ist die fernsoziale Achse auf der das Stigma von “psychischer Krankheit” und “Jugendhilfe” wirkt und wirkt und wirkt.

Da ist aber auch eine Achse der Klasse.
Für uns war die Jugendhilfe auch ein Sprung ins Prekariat aus dem wir bis heute nicht wieder rausgekommen sind. Prekariat ist das hübsche Wort für arm.
Arm sein ist anstrengend. Und ungesund. Armut bedeutet Limitierungen. Und wo Limits sind, da haben es Menschen, die Versprechen machen extrem leicht.

Sich immer wieder gegen die Versprechen und für die Limits zu entscheiden ist etwas, das nicht einmal gut situierte, sicher gebundene, gut ihre Behindernisse ausgleichen könnende Personen immer gut schaffen. Nun setze man an diese Stelle eine kindjugendliche Person, der es sowohl objektiv als auch subjektiv schlechter geht.

Die Versprechen der Leute, die wir nicht kannten kamen nicht nur von der Seite der Menschen, die uns ausgenutzt haben. Versprechen haben uns auch Klinikkontexte, sogenannte Freund_innen und die Schule gemacht.

Und für uns war jedes Versprechen eine Wahrheit. Alle haben uns immer wieder dazu gebracht Entscheidungen zu treffen, die wir in ihren weiterreichenden Konsequenzen kaum überblicken konnten und zum Teil auch nie vorhersehbar waren.

So machten wir den Realschulabschluss ohne Gefühl und Wissen um die eigenen Fähig- und Fertigkeiten, geschweige denn Selbstbild in einem Beruf.
So ging die Gewalt an uns weiter, ohne Problem- und Unrechtsbewusstsein oder Selbstbild als Opfer_Täter_in.
So gingen wir über Jahre in therapeutische Zusammenarbeiten und hatten nichts weiter als ehrliches Ziel als: Ich will, dass es mir besser geht.
So kämpften wir uns durch Jahre, in denen wir versuchten, irgendwo zwischen Herkunftsfamilienkontakt und dem therapeutischen Verbot desselben in Balance zu bleiben.

Die Ruhe um sich selbst zu sichern (und damit zurecht zu kommen) und das Ausmaß an Miteinander durch Begleitung und Neukontextualisierung der vielen neualltäglichen Erfahrungen hat kein einziges der Hilfsangebote, die wir in Anspruch genommen hatten leisten können.
Weder Betreuung, noch Therapie, noch Klinik, noch irgendeine Einzelperson.

Das bedeutet: Der Abbruch von Täter_innenkontakt ist für abhängige (weil erkrankte oder behinderte) Personen oft nicht nur die Entscheidung gegen Gewalt an sich, sondern auch gegen eine Quelle von Dingen, für die an anderer Stelle überhaupt nicht gesorgt wird.

Das Leben ohne Täter_innenkontakt (und damit auch: ohne weitere Erfahrungen bestimmter Gewaltformen) ist also auch immer eines dem etwas fehlt.
Wir nennen das “Frei_von_heit”-Leben und sind bis heute – 10 Jahre nach dem Ausstieg! – damit beschäftigt es zu füllen bzw. herauszufinden, was ein passender Ersatz sein könnte oder ob vielleicht gar kein Ersatz nötig ist, sondern vielleicht eher ein Umbau.

Wir haben oft den Eindruck, dass sich Helfer- und Behandler_innen dieser Dimension des Lebens von Betroffenen organisierter bzw. komplexer (Familien-)Gewalt nicht klar sind, wenn sie Täter_innenkontaktabbruch zur Bedingung ihrer immer* zeitlich, räumlich und emotional begrenzten Unterstützung/Hilfe machen. (*Ernsthaft: immer! Professionelle Hilfe ist die, die klare Grenzen hat!)

Es ist nachvollziehbar, dass eine Person ihre komplexe PTBS nicht therapeutisch bearbeiten kann, wenn sie immer wieder traumatisiert wird.
Und ja, es ist auch nicht für alle Behandler- und Helfer_innen aushaltbar zu wissen, dass eine Person an, mit und von der man einen Auftrag hat, immer wieder miss.be.handelt wird.
Aber Täter_innenkontakt bedeutet für die Betroffenen in der Regel mehr als das reine Erfahren von Gewalt.

Deshalb sollte man vielleicht mal schauen, ob es auch noch andere Wörter für diese Kontakte geben kann. Vielleicht gibt es ja eine Bezeichnung, die in der Lage ist auch auf die Benefits für die Betroffenen einzugehen? Vielleicht gibt es eine Formulierung, die es den Betroffenen ermöglicht ihr eigenes (Abhängigkeits)Verhältnis zu diesen Personen(kreisen) leichter zu erkennen?

Was erst mal aussieht, als ginge es mir um die reine Dekonstruktion einer Vorgehensweise, die sich über viele Jahre als für viele Menschen oft hilfreich etabliert hat, hat den Hintergrund, dass Sprache nicht nur dafür da ist, die Dinge, die wahrgenommen werden, zu benennen.

Sprache schafft nur die Wirklichkeiten, die man benennt. Mit dem Wort “Täterkontakt” benennt man etwas anderes, als mit der Formulierung “Kontakt zu Menschen/Personen, die etwas davon haben, (das ich nicht auch bekomme), wenn ich mich mit ihnen treffe/mit ihnen telefoniere/ihre Post öffne oder tue, was sie von mir verlangen” (was die für uns hilfreiche Umformulierung war und bis heute ist).

Was wir auch oft sehen ist, dass sich Ausstieg oder Kontaktabbrüche verzögern oder in Pendelbewegungen passieren, weil nicht konkret über das gesprochen wird, was passiert. Da wird nach Täter_innenkontakt gefragt, mit “ja” geantwortet und das war das Gespräch. Vielleicht schaffen es die Betroffenen noch auszudrücken, dass sie sich schlecht fühlen, weil sie Therapievorgaben nicht erfüllt haben oder sich um das Verhältnis zur Therapeutin bzw. zum Therapeuten sorgen. Vielleicht schafft man es dann gerade noch so einen Suizid- oder Selbstverletzungsakt zu verhindern, der sich sowohl aus der neuerlichen Gewalterfahrung als auch dem Konflikt zwischen Selbst- und Fremdanspruch entwickelt hat.
Aber ein Aussprechen dessen, was da wie wann mit wem und warum (und von wem im Innen initiiert oder getragen) war, passiert da oft nicht.
Und das ist schwierig.

Manche Betroffene können vielleicht nicht alle diese Fragen beantworten oder haben dissoziative Brüche in ihren Erinnerungen. Das macht es nochmal schwieriger überhaupt einen Anfang in der Erzählung zu finden.
Wir hatten sehr lange den Anspruch an uns nur Dinge mitzuteilen, um die wir uns zu 100% sicher sind, das sie wirklich passiert sind und eventuell auch justiziabel. Denn “Täter” ist ein Justizwort.

Inzwischen fangen wir immer wieder mit dem an, was uns als Erstes einfällt und prüfen am Ende der Erzählung die Bestandteile auf Wahrscheinlichkeit.
Als harmloses Beispiel: Wenn ich weiß, dass ich mit dem Postboten zu tun hatte, aber nicht mehr weiß, wie es dazu kommen konnte, dann denke ich darüber nach, ob ich einen Brief erwartet oder etwas bestellt habe. Manchmal fällt mir dann ein, wie der Bote geklingelt hat und ich die Treppen runter ging und den Schlüssel in der Hand hatte und …

Bei Täter_innenkontakten haben wir uns gefragt, ob wir Zettel im Briefkasten oder an der Haustür hatten. Ob wir auf dem Schulweg von einem Autofahrer nach dem Weg gefragt worden sind (das war eine Art der Kontaktaufnahme mit uns früher). Ob es insgesamt Begegnungen oder Nachrichten gab, die bei rationaler/objektiver Betrachtung vielleicht irritierend waren.

Das Sprechen über Kontakt mit Personen, die Gewalt ausüben, kann helfen ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln. Doch dies sollte nicht das oberste Ziel sein.
Es hilft einer abhängigen Person oft nicht eine ohnehin schon schwierige Situation auch noch als ein Unrecht zu markieren, gegen das sie nichts tun kann. Zumindest nicht so, dass sie selbst nicht Gefahr läuft doppelt zu verlieren.

Die Lage ist nachwievor so, dass Personen, die Opfer von Täter_innen wurden, in einer Art Beweisbringschuld sind. Nicht alleinig, aber genug um ständig im Zweifel zu sein, was “genug” Beweis ist.
Da Menschen in der Regel nicht über die Superkraft verfügen das eigene „in einer Gewaltsituation sein“ objektiv und umfassend zu dokumentieren, bleibt ihnen oft nur die eigene Sprache, das eigene Gedächtnis um Zeugnis über die eigenen Erfahrungen abzulegen.
Und das ist weder objektiv, noch zu 100% zuverlässig.
Gehirne sind auch nur überlastbare, täuschungsanfällige Biorechner.
Es gibt Fehler, es gibt Inkongruenzen.
Das ist normal und keinesfalls ein Marker für „wahr“ oder „unwahr“.

Gerade Personen, die in permanentem Terror und Gewalterfahren aufwachsen, entwickeln etwas, das man unter dem Begriff der “Neurodivergenz” zusammenfassen kann.
Das meint Depressionen genauso wie Angstpsychosen und schizophrene Episoden. Genauso wie komplexe posttraumatische Belastungsstörungen, dissoziative Erlebensarten und emotionales Verflachen.
Und vieles mehr, das man in anderen Kontexten unter “durchgeknallt/verrückt/abnorm/psychisch krank” zusammenfasst

Leben Menschen chronisch in toxischem Stress (werden also immer wieder mit Wahrnehmungsinformationen überreizt, sozial, geistig und emotional überfordert) passen sich Körper, Geist und Seele daran an. Die Divergenz wird zur Norm. Zur (er-)lebensrettenden Norm, die hilft eine Funktionalität aufrecht zu erhalten.

Dieser Umstand wird gefährlich oft als etwas betrachtet, das etwas mit der Persönlichkeit/der Seele/*** der betreffenden Personen zu tun hat. Überleben wird mit dieser Perspektive überhöht und drückt am Ende nichts weiter aus als den Blick einer außenstehenden Person.

Überleben ist ein Glück, das nur im Leben passieren kann.

Gewaltüberleben zu etwas zu machen, das große Kraft erfordert, die “irgendwo ungreifbar in einem Menschen drin steckt”, kann es Personen – gerade Personen, die unzählig oft über das belogen wurden, was alles in ihnen steckt, um ausgenutzt werden zu können! – schwer machen, das Erlebte mit dem eigenen Er_Leben der Gegenwart zu verknüpfen.
Denn wenn die Gewalt, der Terror, die akute Not vorbei ist, dann ist ein daran angepasstes Gehirn mehr oder weniger plötzlich dysfunktional.

Es wird schwierig sich und dem eigenen Erleben zu trauen.
Im schlimmsten Fall hat man dann auch noch Helfer-, Begleiter- oder Unterstützer_innen, die ihre Rolle mit der von Retter_innen verwechseln.
Die dann merken, dass das nicht geht und keine professionelle Super- oder Intervision in Anspruch nehmen oder sich sonst irgendwie von jemandem beraten lassen, der nicht selbst in dem Fall involviert ist. Und dann also anfangen an ihren Klient_innen zu zweifeln. Und also anfangen ihnen gegenüber illoyal, unaufrichtig oder gewaltvoll zu werden und sie letztlich an andere Instanzen verraten, um sich ihrer zu entledigen.
Klingt hart, ist aber Realität.
Immer wieder. Und viel zu oft nicht reflektiert.

Zum Beispiel in einem Fall, den wir vor ein paar Jahren am Rande miterlebt haben.

Eine Person wollte in den Ausstieg, hatte massive PTBS-Symptomatiken und hohe soziale Bedarfe. Ihre Lebenssituation war die klassische Abhängigkeit von äußeren Strukturen und Hilfen, die sie allein aber kaum aufrecht halten konnte.
Sie tat also, was man tut: das tun, was gerade noch geht. Das war in ihrem Fall um Hilfe schreien.

Sie wurde gehört. Aber nicht verstanden.
Die Personen, die auf sie reagierten, hatten ihre eigenen Ideen und Vorstellungen dazu, was für Hilfe sie “wirklich braucht”. Sie verpassten es die eigenen Vorstellungen auf internalisierten Ableismus zu prüfen und unterzogen ihr Handeln nicht der Prüfung auf Motive, die in ihnen selbst lagen.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Menschen, die Menschen helfen wollen, selbst traumatische Erfahrungen in der Biografie haben.
Manche von ihnen sind der (ebenfalls Ableismus entstammenden) Falle zum Opfer gefallen zu glauben, dass sie ihre Erfahrungen überwunden haben, wenn sie (wieder) arbeitsfähig sind, ohne sich selbst (in Teilen) in den Klient_innen wiederzuerkennen.

Manche benutzen ihre Klient_innen und deren Er_Leben als Raum für die Inszenierung einer bestmöglichen Hilfe/Rettungssituation für sich selbst (in einem Damals, das oft schon lange vorbei ist) oder für ein Szenario, in dem sie sich selbst als so wirksam und kontrollierend (kontrolliert) erleben können, wie sie es im eigenen Er_Leben oft nicht konnten (und manchmal noch immer nicht können).

In dem Fall der Person, die in den Ausstieg wollte, war es so, dass die Personen, die eigentlich nur als Helfer_innen für die bürokratische Achse der Hilfen beauftragt wurden!, ihre Klient_in quasi überwachten, um zu prüfen, ob deren Erzählungen von Täterkontakten stimmten oder nicht.
Als anzunehmen war, dass die Klient_in eher krasse Angstzustände aus noch nicht bewussten Flashbacks erlebte, als tatsächlich 24/7 Täterkontakte, ließen die „Helfer_innen“ sie fallen und zogen sich aus dem Fall raus.

Wir wissen nicht, wie die Geschichte geendet hat. Für uns war sie in dem Moment beendet, als wir bemerkten, dass die Helfer_innen nicht reflektierten, dass sie ihre Rolle verließen, um sich selbst etwas zu ermöglichen. In dem Fall: selbst gemachte Objektivität auf dem Rücken der Klient_in, der sie zugesagt hatten, dass sie sie in allem ernst nehmen würden, was sie ihnen sagt. Der sie auch zugesichert hatten nicht objektiv (wahr/richtig) sein zu müssen.

Sie haben sie angelogen und hinter ihrem Rücken etwas getan, was sie nicht mit ihr abgesprochen haben.
Das ist ein Grundlagenfehler in der Arbeit mit Menschen. Und um den als solchen anzuerkennen braucht es kein Professionalitätsdiplom.

Am Ende ist dieser Fall einer, in dem es mich nicht wundern würde, wäre der Ausstieg nicht geglückt.
Die betroffene Person hatte nichts von dem, was Menschen brauchen, um sich sicher zu lösen, neue Erfahrungen zu machen und diese sicher und gut neu zu kontextualisieren. Und obendrauf haben sich die Personen, die ihr als Hilfe dargestellt wurden, ihr gegenüber sozial gewaltvoll verhalten.

Verloren hat nur diese Person.
Denn oft genug ist so ein misslungener Ausstiegversuch ein potenzielles Todesurteil in beiden Welten.
Organisierte Gruppen, in denen Ausbeutung und Gewalt üblich ist, nehmen “Dissidenten” oft nicht einfach mal eben so wieder in ihre Reihen auf.
Auch Inzestfamilien öffnen sich in der Regel nicht für Angehörige, die mehr oder weniger offen gelegt haben, dass etwas nicht richtig läuft.

Und Hilfen außerhalb dieser Kontexte erneut aufzusuchen oder einzufordern, nachdem man von Helfer_innen für deren Agenda missbraucht wurde, ist für manche Betroffene kaum noch schaffbar. Gerade für jene, die arbeitsunfähig, chronisch erkrankt/schwerbehindert und sozial herausgefordert sind.
Diese Personengruppe hat nirgendwo wirklich Platz, da sie mit ihrer Lebenssituation nirgends mitgedacht werden.

Für diese Menschen geht es um nichts weiter als ihr Leben und eine andere Lebensqualität. Da ist das Ziel gar nicht in Lohn und Brot zu kommen, ein Studium zu beenden oder ein umfassend selbstbestimmtes Leben zu gestalten – da geht es darum, in den bestehenden Abhängigkeiten so wenig wie möglich zu leiden und sich selbst so weit wie es geht zu entfalten.

Nicht alle Menschen, die in Gewalt aufgewachsen sind, können in den Sonnenuntergang reiten und sich rundum “frei und selbstbestimmt in allen Aspekten” nennen.
Manchmal geht es um die Wahl der Freiheit und die Ermächtigung die Lebensaspekte zu wählen, in denen sie gelebt werden kann.
Soviel Demut muss man manchmal auch aufbringen. Sowohl als Helfer-, Begleiter- oder Therapeut_in, als auch als Klient_in.

Eine der Fragen, die mich erreichten war, wie Therapeut_innen einen Ausstieg gut unterstützen können.
Nun muss ich sagen, dass ich keine Therapeut_in bin und nur teilen kann, was ich (wir) als gute Begleitung empfunden habe(n).

In unserem Fall haben Therapeut_innen wenig konkreten Anteil an unserem Ausstieg gehabt. Wir waren in der Zeit des Täterkontaktes, der mit wiederholter Ausbeutung und körperlicher Bedrohung zu tun hatte, nicht in der Lage mehr als halbgare Stabilisierungsarbeit und permanente Krisenintervention in der Therapie zu machen.
Bewusste aktive Innenarbeit konnten wir nicht leisten und vielleicht war das Aushalten dessen, die beste Begleitung durch Therapeut_innen, die uns passieren konnte.

Wir haben in den ersten Jahren (da waren wir 15 bis 21 Jahre alt) viel am Verständnis von Symptomen als Ausdruck für bestehende Belastung gearbeitet.
Und dann daran, nicht an den Symptomen zu sterben. Und dann daran, uns nicht aus Versehen oder aus einem Affekt heraus umzubringen. Oder andere. Menschen wie Tiere.
Und dann daran, keinen Täterkontakt aufzunehmen, nur weil wir keine Therapie mehr hatten und unsere Betreuungssituation so eine Katastrophe war.

Und dann war das äußere ausgestiegen sein irgendwie zur Normalität geworden und es war 2012. Wir waren wir 26 und begannen die Arbeit mit der Therapeutin, die uns noch heute begleitet.
Heute sind wir 30 und in der Innenarbeit, die für den inneren Ausstieg und die Verarbeitung des äußeren Ausstiegs wichtig ist.
Wir erleben an der Begleitung durch die Therapeutin als hilfreich:

– dass wir uns regelmäßig treffen (und wir wissen, mit wem wir uns treffen können, wenn sie krank/im Urlaub/auf Fortbildung/nicht erreichbar ist)
– dass wir gemeinsame Absprachen haben, an die wir uns beide halten können
– dass im Vordergrund der Arbeit das Verstehen und nicht die Kontrolle über uns und unsere Erfahrungen steht

– dass sie ihre Hilflosigkeiten offen legt und daran genauso arbeitet, wie wir
– dass sie sich regelmäßig fortbildet und insgesamt offen ist
– dass sie die Zusammenarbeit mit uns nicht beendet hat, als die Asperger-Diagnose dazu kam

– dass wir sie auch außerhalb der Termine kontaktieren dürfen (dazu gibt es Absprachen, die gut für sie und gut für uns sind)
– dass wir mit unterschiedlichen Mitteln und Techniken arbeiten (je nachdem, was wir gerade brauchen können)
– dass ihr Raum immer gleich aussieht (und weder mit Raumduft noch mit sehr vielen dekorativen Elementen gestaltet ist)

– dass wir eine Stundenroutine haben (Ankommen, Thema besprechen, orientiert und sicher gebunden verabschieden)
– dass wir einen Platz in dem Raum haben (und Dinge von uns neben anderen Dingen dort sein und bleiben dürfen)
– dass Neuerungen und Abweichungen vorhersehbar sind

– dass sie vor uns niemals die Menschen verurteilt, die uns mit Gewalt begegnet sind, sondern deren Handlungen
– dass wir manchmal Stunden machen können, in denen es weniger um uns, als die Welt und ihren Lauf der Dinge geht
– dass sie uns in unseren Wünschen nach mehr Selbstbestimmung und Autonomie bestärkt

– dass wir es schaffen, trotz langer Arbeitszeit miteinander, nicht an Stellen aufzuweichen, die später zu Konflikten und Abgrenzungsschwierigkeiten führen könnten
– dass sie ihre Veranwortungsbereiche aktiv von uns trennt

Uns hilft heute auch, dass wir mehr als nur die Therapie im Leben haben.
Auch wenn wir uns immer wieder mal überfrachten und überfordern mit den Projekten, die wir anfangen und durchziehen.
So sind wir. So ist das Leben.

Unsere Projekte sind selbstbestimmt begonnen, autark umgesetzt und frei gestaltet.
Sie tragen nicht immer und an allen Stellen dazu bei, dass unsere äußere Sicherheit maximal und konstant gewährleistet ist. Projekte, wie das Blog hier, haben uns schon Projekte verunmöglicht und (therapeutische) Zusammenarbeiten verhindert.
Und doch.

Wir sind an unseren Arbeiten gewachsen und haben Fähig- und Fertigkeiten entwickelt, die uns helfen uns als selbstwirksam und befähigt zu erleben.
Und zwar fern ab von psychologischer Deutung(smacht) oder Behandlungsplanung.
Es ist uns wichtig geworden, auch losgelöst von psychiatrisch/psychologischen Kontexten zu sein, zu funktionieren und uns okay zu fühlen, weil wir die Belegung unseres Seins als “krank” als gewaltvoll erleben.

Durch die Auseinandersetzung mit unseren Projekten haben und hatten wir die Gelegenheit das zu erkennen und als auch von uns internalisiert zu begreifen.
Das ist ein Privileg. Und wir nutzen das.

Kontakte zu Menschen, die von dem Körper, mit dem wir verbunden sind, profitieren, würden uns dieses und viele andere Privilegien, die wir in den letzten 10 Jahren erreicht haben, verlieren lassen.
Mit den Jahren wird dies auch nach innen immer bewusster.
Das Heute, in dem wir vor dieser Form des Zugriffs auf uns sicher sind, beginnt eigene neue Spuren in unserem Gehirn zu hinterlassen und die Spuren der Gewalt zu überschreiben.

Heute, 10 Jahre nach dem äußeren Ausstieg, kennen wir beides: das Früher, in dem alles schlimm und vieles schön war und das Heute, in dem alles schön und vieles schlimm ist.
Das gibt uns die Chance auf eine Idee von einer Zukunft.

Und vielleicht haben wir nur dafür den Kontakt zu Menschen, die uns verletzt und ausgenutzt haben, beendet.

*Text als PDF zur freien Weitergabe

10 Jahre später

10 Jahre sind seit unserem Ausstieg vergangen.
10 Jahre, die ein Drittel unseres Lebens sind.

Manchmal denke ich: “Ach das ist doch wie ein Rezept. Ein Teil Freiheit, ein Teil Gewalt und ein Teil Lauf der Dinge…” und stelle mir uns und unser heute-am-leben-sein, wie einen Hefeteig vor, der wächst und reift und sich entwickelt und … zu etwas wird, das man anders benennen kann.
Kuchen, Keks, Butterbrot – mir egal. Hauptsache irgendwie fertig.
Fertiger als jetzt.

Als wir uns damals dazu entschieden haben, der Selbstverständlichkeit unserer Verfügbarkeit etwas entgegenzusetzen, taten wir das ohne konkrete Vorstellungen oder Ideen davon, was dann so passieren würde.
Wir taten es nicht, wie es in zahlreichen Büchern zum Thema vorgeschlagen oder angeraten wird. Wir taten es nicht getragen von einer großen inneren Übereinkunft, dass der Ausstieg das Beste für uns sei. Wir taten es nicht einmal im Bewusstsein aller Innens.

Wir haben diesen neuen Lebensabschnitt angefangen, wie wir alle neuen Lebensabschnitte angefangen haben.
Überfordert, dissoziativ und letztlich: allein.

Das macht unseren Ausstieg nicht zu einem falschen Ausstieg oder zu einem, der nicht echt ist.
Es ist nur einer, der die Kluft zwischen außen und innen verstärkt hat.

Ausstieg, das klingt, als würde man eine Tür öffnen und von einem Raum in einen anderen treten.
Tatsächlich sind wir einfach in irgendeine Richtung gelaufen und merkten erst viele Jahre später, dass wir nicht mehr “im Ausstieg” waren, sondern mitten in einem Niemandsland aus Therapie, Selbstreflektion, klar kommen, wachsen, schrumpfen, verzerren, zerfallen, sich sammeln, erstarken, Hoffnung schöpfen, doch Bitterkeit schmecken.

Für uns war das eine Zeit, in der Stabilisierung wichtig war. In alle Richtungen.
Essen, trinken, schlafen, ausscheiden, interagieren, sicher sein – um nicht viel anderes haben sich diese ersten Jahre gedreht, denn nichts davon hat normgerecht funktioniert.

Wir haben nicht über das, was vor dem Ausstieg war, gesprochen.
Die, die vor dem Ausstieg waren, haben bis heute nicht gesprochen.

Aber gefunden haben wir sie. Wir sind uns ihrer inzwischen bewusst.
Haben verstanden, dass wir nur ihre Schutzschicht, ihr Beiwerk, eine Art funktionaler Alltagsschmuck sind.
Verstehen uns als ihre Dissoziation auf das Trauma, das unser Ausstieg für sie war.
Denn unser Ausstieg – unser ach so gutes uns selbst retten, war ihr Kontrollverlust, ihre Todesangst, ihre Vernichtungserfahrung ohne Hilfe oder Rettung von außen.

10 Jahre, das kann man so lesen und denken: “Boa das ist aber ganz schön viel Zeit.”.
Das kann man denken, wenn man erlebt, wie Tag und Nacht einander abwechseln, wie sich eine Woche in Tage hacken und hintereinander wegleben lässt und Zeiträume zwischen “Anfang” und “Ende” klemmen kann.
Wenn es diese Eindrücke des Selbst- und Umwelterlebens jedoch nicht gibt, sind 10 Jahre eine bloße Zahl in einem irrelevanten Kontext.

Gestern hatten wir Anlass darüber nachzudenken, ob es ein Zurück geben könnte.
Könnte man heute noch so auf uns zugreifen, wie vor 10 Jahren?
Könnten wir heute noch so funktionieren, wie es vor 10 Jahren wichtig war?
Was, wenn die letzten 10 Jahre nur eine Pause, ein Spiel, Teil eines Plans sind und das überbordende Gefühl der Innens, denen unser Ausstieg passiert ist, dass das alles einfach gar nicht wahr ist, stimmt?

Wir sind heute nicht mehr so allein wie vor 10 Jahren.
Wir sind heute auch nicht mehr so einsam und insgesamt dysfunktional wie damals.
In den Jahren seit dem Ausstieg haben wir uns so viel Bewusstsein erarbeitet, so viele dissoziative Brüche verschlossen – haben uns eingebracht und die Welt angefasst.
Aber ist das ein Schutzschild?

Wir wissen noch immer nicht, woraus wir da eigentlich ausgestiegen sind. Wissen nur, dass wir ausgestiegen sind, weil wir dachten, dass das unsere Aufgabe ist. Dass man so Therapie macht, wenn man viele ist und andere Menschen das ausnutzen.
Wir haben das nicht für uns gemacht.

Wir konnten es aber auch nie für uns machen.
Wir wussten damals noch gar nicht wer wir sind, was wir können und wollen.
Was wir wünschen und was wir empfinden.
Wovor wir Angst haben und was das überhaupt sein soll: Leben

Das hat sich inzwischen verändert.
Wir wissen umeinander. Wir wissen um unsere Vorstellungen und Ideen. Haben Ziele, die über akute Bedürfnisbefriedigung hinausgehen.
Wir haben ein Bild von uns als Körper, der re_agiert und auf den hin re_agiert wird.
Nichts davon ist in jeder Situation sicher abrufbar – aber es ist da und wird mal schneller, mal erst nach einiger Zeit als fehlend erkannt, wenn es nicht da ist.

Realistisch gesehen ist das kein Schutz vor Täter_innenzugriff. Wir wissen, dass wir als inneres System nur dann funktionieren, wenn wir auch “an” sind. Wird ein anderes System angesprochen, funktioniert dieses System. Das ist nachwievor so und wir würden uns bescheißen, würden wir das ausblenden.
Aber unsere Funktion und unsere Arbeit bisher ist ein Schutzfaktor.

Bewusstsein ist keine Einbahnstraße. Therapeutische Arbeit keine Punktlandung. Interaktion mit anderen Menschen keine Einzelaktion.
Wir können nicht wissen, was es mit bisher noch gar nicht oder wenig für das Heute bewussten Innens macht, wenn wir mehr von ihnen oder über uns verstehen. Wir können nie ausschließen, dass die Entwicklungsschritte, die wir machen, nicht auch die Entwicklungsoptionen der anderen Innensysteme begrenzen oder erweitern oder in ihrer Form modifizieren.

Aber das Risiko erneuter Übergriffe müssen wir als immer bestehend anerkennen und akzeptieren.
Das ist, was einfach nicht in unserer Verantwortung liegt.

Vielleicht liest sich das ernüchternd für andere (Viele), die im Ausstieg sind oder auf ihren Ausstieg, der schon eine Weile zurückliegt, schauen.
Vielleicht gibt es die Idee, dass 10 Jahre später ALLES vorbei ist, das Leben gut, alles verarbeitet – insgesamt einfach: alles tutti paletti – und dann schreiben wir so einen Text und alles steht wieder in Frage.

Dazu möchten wir Folgendes sagen: Herzlichen Glückwunsch zu der Idee an sich.
Es ist gut eine zu haben und wichtig sie sich zu bewahren – ganz egal, als wie realistisch umsetzbar sie sich später entpuppt.
Es gut alles verarbeiten zu wollen.
Es ist gut, eine Idee davon zu haben, wie “alles tutti palletti” konkret aussehen könnte.

Wir haben ungefähr 7-8 Jahre bis zu dieser Idee gebraucht. Und 9 bis wir verstanden haben, dass es weder falsch noch böse, noch zu viel verlangt, noch etwas, wofür man eine Erlaubnis braucht, ist, sie zu verfolgen und ihre Umsetzung im eigenen Leben zu wünschen. (Und wer weiß, wie lange wir noch brauchen, bis wir dieses Verstehen in eine echte innere Wahrheit, die für alle Innens passt, transformieren können.)

Aus Kontexten jeder Art auszusteigen (und das gilt für die, die gut tun genauso wie für die, die eher schädigen) bedeutet immer einen Weg zu gehen. Entwicklung zu machen. Manche machen das wie wir, indem sie einfach so vorwärts stolpern ohne nach links und rechts oder auf sich selbst zu schauen (also hoch dissoziativ und reaktiv auf äußere Impulse hin) und manche sehr bewusst, einen Schritt nach dem anderen. Manche verfolgen mit ihrem Ausstieg ein konkretes Ziel, manche verstehen das Ziel erst im Ausstieg selbst und manche begreifen erst am Ziel, was sie eigentlich erreichen wollten.

In der Literatur finde ich diese Varietät der Ausstiegsarten, bzw. der Wege an sich, nicht so vertreten. Schon gar nicht der Entwicklungsverläufe danach.
Das wird aber auch an der Literatur liegen. Beziehungsweise daran, dass wir dazu nur psychologische Fachliteratur gelesen haben.
Nicht alle Aussteiger_innen haben 10-20 Jahre nach dem Ausstieg noch die gleichen Behandler_innen wie zu Ausstiegszeiten und nicht alle Aussteiger_innen haben 10-20 Jahre nach dem Ausstieg noch Therapiebedarfe. Oder den Wunsch oder die Motivation oder den Mut oder irgendeinen Anlass, ihre Erfahrungen aufzuschreiben und zu teilen.

Darum schreiben wir unseren Weg und unsere Auseinandersetzung damit auf.

Wir können jetzt, gut 10 Jahre später, nicht zurückgelehnt in einer Hängematte sitzen und davon ausgehen, dass wirklich alles von dem ALLES vorbei ist.
Wir wissen noch nicht alles über ALLES.
Erinnern noch nicht alles – schon gar nicht als selbst erlebt.
Aber wir haben mit unserem Ausstieg einen Raum verlassen, in dem wir immer wieder darin gestört werden, uns damit auseinanderzusetzen.

Das hat unser Ausstieg uns ermöglicht und in diesem Stadium angekommen, können wir sehen, dass wir so etwas wollten bzw. dass die Personen um uns herum damals, genau das für uns wollten: eine Unterbrechung permanenter Reaktion auf Todesangst, Verletzung und konkrete Bedrohung.

Es ist bitter für uns, am Ende des Tages mit der Dankbarkeit für 10 Jahre freien Entwicklungszeitraum im Herzen, die Realität von wer weiß vielen Jahren, die da noch kommen werden, Unsicherheit darüber, ob ES wirklich ganz und gar vorbei ist, im Hinterkopf vereinen zu müssen.
Aber so ist es.

Genauso wie viele andere Dinge auch.

Liebe Leser_innen,

… manchmal ist das Schlimmste die Kluft zwischen uns und euch.
Ja – euch. Dir. Du – di_er das hier liest und uns, die das hier aufgeschrieben haben.

Wir lesen euch nicht. Schauen nicht in euer Leben hinein.
Schauen nicht in euch hinein.
Unser Miteinander passiert niemals auf der gleichen Ebene. Egal, was wir tun. Egal, wie transparent wir uns für euch machen. Egal, wie greifbar wir als Person für euch sein können. Niemals werden wir mit euch auf Augenhöhe sein.

Wir erfahren von euch Achtung.
Manchmal Beachtung – manchmal Missachtung – manchmal Verachtung.
Ihr benutzt unsere Texte und manche von euch bedanken sich dafür.

Manche unserer Arbeiten erreichen Menschen, die wir primär gar nicht ansprechen wollten.
Manche unserer Arbeiten werden von Menschen beachtet, die uns als Person missachten, ohne es zu reflektieren.
Die meisten unserer Arbeiten, werden nicht als solche anerkannt.

Bloggen ist für noch so viele Menschen eine leichtsinnige Spielerei in einem gefährlichen Fremdland, dass für uns als Person kein Respekt mehr übrig bleibt.
Keine Idee von Kompetenz ihren Raum in diesem Bild bekommen kann.

Würden wir Bücher schreiben wäre das etwas anders.
Bücherschreiben, das ist ja eine echte Arbeit.
Würden wir einen Titel vor dem Namen tragen, wäre das etwas anderes.
Für mehr Menschen, als man glauben mag.
Und auch für mehr Menschen als die, die das von sich wissen.

Für uns ist genau das reizvoll.
Diese Nische. Diese Lücke, die da ist, aber von viel zu wenigen in Anspruch genommen wird.
Auch von uns.
Aber an anderen Stellen.

Das Recht da zu sein. Den Raum einzunehmen, den man selbst stellt.
Einfach da zu sein und irgendwas zu machen, weil man es will und kann und darf.

Wir schreiben ins Internet, weil es niemanden interessiert, di_er sich nicht interessiert.
Wir sind hier sichtbar und nicht in einem Bücherregal, auf Plakatwänden, in Talk-Shows, in Foren, in Selbsthilfegruppen und inzwischen nicht einmal mehr in Kontexten, die uns eigentlich noch auf anderen Ebenen wichtig sein könnten:  Kliniken, Ambulanzen, diversen anderen Hilfesystemen

Als H.C. Rosenblatt haben wir einen enormen Preis dafür bezahlt uns auszudrücken, unsere Er_Lebensrealität zu teilen und uns als Autorin zu entfalten.
Das ist so und wir empfehlen niemandem mit gesteigertem Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe und vorbehaltslosem Miteinander, das nachzumachen.

Wir leben in einer Zeit, in der es unüblich ist, einfach so zu sein und einfach so Dinge zu tun.
In unserer Zeit ist es üblicher von anderen Menschen und Instanzen legitimiert zu werden.

Wir werden nicht legitimiert.
Wir werden toleriert, weil man uns das Recht auf freie Rede und Meinungsäußerung nicht aberkennen darf.

Wohl aber darf man uns in anderen Bereichen des Lebens ausschließen und macht davon auch regen Gebrauch.
Bisher ohne, dass wir das in diesem Kontext mal so ausführlich wie jetzt thematisieren.
Denn uns geht es meist nicht um den Ausschluss an sich, sondern um den Umstand, wie normal das für uns ist, wieder vor irgendeiner zugeschlagenen Tür zu stehen und zu wissen, wie noch mehr wir uns erniedrigen würden, begännen wir zu bitten und zu betteln.

Und wie sehr es an unserem Entschluss für ein aushaltbares Leben zu kämpfen, rütteln würde, solche Anstrengungen nicht honoriert zu erleben.

Für uns war die Entscheidung öffentlich zugänglich zu schreiben alternativlos.
Wir wollen uns nicht verstecken, als wäre das was wir hier tun etwas, dass “man nicht macht”. Wir haben auch kein Interesse daran, hiermit berühmt zu werden oder uns einen Schrein für uns selbst zu bauen.
Jede_r mit ein bisschen Netzerfahrung weiß, wie solche Blogs in der Regel aussehen und welche Themen eben genau dann nicht mehr besprochen werden.

Wir hatten schon mehrere Verlagsanfragen, Werbepartnerschaftsangebote und all den anderen Quatsch mit dem man Netzcontent verhökert, Autorenegos streichelt und Nebenverdienste ermöglicht.
Wir haben uns in den letzten Jahren immer wieder dagegen entschieden. Aus Gründen.

Aus Gründen der Armut und der strukturellen Abhängigkeit von staatlichen Leistungen, die unsere Zuverdienstmöglichkeiten enorm einschränken – aber auch aus dem Grund, dass man sich mit einem Blog, das weder massentauglich noch einnahmenstark ist, und Workshops nicht selbst finanzieren kann.  Unsere Einnahmen kann man auf Patreon sehen. Mehr ist da nicht. Mehr wird da auch nie kommen. Und wir sind okay damit und unser Jobcenter auch.

Es gibt aber auch noch andere Gründe.
Aus Gründen nicht vorhandenen Opferschutzes zum Beispiel, der unsere Anonymität schützen helfen könnte.
Bezahltexte schreiben, Workshops geben, Vorträge halten – alles ein Anlass für Rumgeeier um den Klarnamen, das so anstrengend ist, wie man sich das nicht vorstellen will.

Und es gibt die Gründe, die etwas damit zu tun haben, dass wir einfach keine Kapazität dafür haben, unsere Inhalte für andere Menschen zu machen.
Wir sind hier, weil wir hier sind und nicht irgendwo anders. Wir sind hier, weil wir hier sein wollen. Einfach, weil wir das so wollen und das möglich ist.
Nicht, weil man uns hier lesen kann, sondern weil man hier etwas lesen kann, wenn man etwas lesen möchte.

Gäbe es analoge Orte, die gleichermaßen einfach und auf unsere Fähig- und Möglichkeiten zugeschnitten funktionieren würden, wären wir dort.
Diese Orte gibt es aber nicht.
Oder – vielleicht inzwischen doch, aber sie als H. C. Rosenblatt zu nutzen erscheint inzwischen unmöglich.

 

Liebe Leser_innen – an Tagen wie heute fühlen wir uns euch sehr fern.
Da schaue ich auf die Followerzahl und frage mich, wer von diesen hunderten Menschen, der ist, der uns so sehr hasst.
Wer ist es, di_er uns so kaputt und isoliert von allem und allen sehen will.
Und warum.

Da schaue ich auf die Followerzahl und hasse es, dass wir kaum jemanden hinter dieser Zahl selbst mal getroffen haben – obwohl wir das nicht aushalten würden, alle Menschen zu kennen, die hier regelmäßig mitlesen.

Und ich werde ungerecht euch gegenüber.
Denn ich frage mich auch, warum uns niemand vor dieser Person schützt. Warum wir keinerlei öffentliche Fürsprache bekommen und darüber sehen, dass man solidarisch mit uns ist, in dem was wir hier tun und wollen.
Ich finde das ungerecht von mir, denn ihr könnt nichts für meinen Wunsch danach.
Ihr kennt uns und unser analoges Leben und Sein nicht – ihr könnt uns weder schützen, noch ist es förderlich auf irgendeiner Ebene mit uns in Verbindung gebracht zu werden.
Ihr seid einfach nur die, die mit dem zu tun haben, was wir hier machen, denn ihr lest unsere Arbeiten. Warum auch immer.
Das rechtfertigt meinen Wunsch vor mir selbst in keinster Weise.

 

Ich frage mich, warum wir das tragen sollen. Warum wir das übergriffige Agieren von einzelnen Leser_innen ertragen sollen. Warum wir einfach so sang- und klanglos damit umgehen sollen, wegen unseres Arbeitens und Wirkens hier zum Allgemeingut ohne Anspruch auf Privatsphäre und Respekt vor uns als Person erklärt zu werden.
Warum sollen wir sie verschweigen – die Gewalt, die uns von Menschen entgegengebracht wird, die H.C.Rosenblatt lesen, aber den Menschen und dessen Gefühle, Menschenrechte und Bedarfe dahinter vergessen?

 

Wieder sind wir an dem Punkt das Blog zu löschen, den Namen zu verbrennen, uns selbst den Kanal zu verschütten über den wir einander überhaupt erst wirklich gefunden haben.
Aufzuhören und zu verschwinden.

Ich weiß, dass das ein altes Reaktionsmuster ist.
Ich weiß, was wir tun müssen, um wieder daraus auszubrechen.
Aber ich weiß auch, dass das nicht das erste und auch nicht das letzte Mal ist, dass uns das passiert.
Und, dass wir auch dann wieder allein damit sein werden.
Und, dass auch dann wieder niemand von euch irgendetwas tun kann.

Außer weiterzulesen.
Und vielleicht mit uns zu sein, ohne das zu sagen.

Fundstücke #44

Sie hört sich fremd an. Unsere Gemögte, die ich anrufe, weil ich über den Text von vor 3 Jahren stolperte und plötzlich sehe, dass wahr wurde, was wir verhindern wollten: ein Kontakt, der ist, dann war und danach im Lauf der Dinge unterging, wie ein Boot aus Zeitungspapier.

“Wie geht es euch?”, fragt sie und es fühlt sich hohl an. Höflich.
Als nähme sie ein Stück Kuchen, das gerade verfügbar ist in die Hand und reiche es an uns, die gerade im Weg herumsteht.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bin sowieso zurück in meinem dumpfen Brüten fern von allem, vor allem dem, was sie als “uns” kennt.
Ich frage mich, warum ich sie anrufe, wo ich die gleiche Kraft doch in Emails und Anrufe geben könnte, wo ich weniger erklären müsste.
Dann weint es Bäche aus mir heraus und ich denke: “Na gut, vielleicht dafür.” und warte bis es aufhört.

Sie sagt gar nichts. Vielleicht wartet sie auch.
Dann frage ich sie, ob ich zuerst fragen darf, weil doch ich es bin, die sich gefragt hat, wie es ihr geht. Was sie macht. Ob sie glücklich ist, oder wenigstens zufrieden.
Sie erzählt und ich höre zu.
Es ist ein fremder Alltag und doch ist sie es, die sich darin bewegt. Das merke ich und bin beruhigt.

Dann erzähle ich vom schwach sein, vom zum Opfer geworden sein und davon, was es mit mir macht, inzwischen einen Alltag zu leben, der für mich beinhaltet einmal ein Opfer gewesen zu sein, jedoch keinerlei Raum dafür in ihm zu haben.
Außer in der Therapie. Die ich im Moment aufgeben und kaputt machen will, gerade weil ich dort als Opfer gesehen werde.

Opfer-Talk – klar ist das das Einzige, was ich zu bieten habe. Nach gut einem Jahr, dass wir uns nicht gehört und gesehen haben, ist es das, was ich mit ihr teile und wieso ich mich noch gefragt habe, was unseren Kontakt hat austrocknen lassen, verstehe ich auch nicht mehr.
Ich ärgere mich schon wieder über mich selbst. Greife nach dem Wörterhahn, um ihn mir abzudrehen, denn what the fuck – es gibt doch so viel mehr als das.

Dann überrascht sie mich mit einem Dank und erzählt mir, dass es mein Opfer-Talk ist, der ihr heute immer wieder hilft Menschen zu verstehen, die früher mehr als ein Mal geschlagen, vergewaltigt, verkauft, ausgenutzt, verraten wurden.
Und plötzlich kann ich sie wieder fühlen. Spüren, wo sie steht und was es ist, was da so weit trennend zwischen mir und allem, was mich angucken kann, ist.

Es ist eben doch genau das. Das Opfer-Ding. Das Opfer-Ding, das schon so lange vorbei, aber doch in mir drin ist, wie in ihr das Vertrauen in Menschen, Welt und eigenes Wehe.

Ich werde es immer nur fühlen und anerkennen können. Selbst wenn mein Leben weiterhin so eine gute Wendung mit mir nimmt, werde ich immer wissen, woraus ich hervorgegangen bin. Auch dann, wenn ich mich dagegen entscheide, dem wie viel oder wie wenig Gewicht auch immer zu geben.

Meine Geschichte ist geschrieben. Und darin war ich Opfer.
Es gibt nichts, das ich dagegen tun kann.
Es gibt jedoch vieles, das ich dem hinzufügen kann.

Das Heute zum Beispiel. Und das, was ich über mich, uns und alle anderen in meiner Geschichte denke.
Was ich zunehmend erinnere. Und was ich mit mehr und mehr Erinnern über mich, uns und alle anderen denke.

Sie erinnert mich daran, dass ich nicht gezwungen bin, mich als Opfer zu sehen, nur weil ich eines war und wir lachen beide bitterlich, als wir wieder einmal merken, mit wie wenig Menschen man die Wahrheit, in dieser sich scheinbar widersprechenden Haltung, teilen kann, ohne Schaden zu nehmen.

Als wir uns von einander verabschieden, fühle ich mich anders. Ich fühle mein am Leben sein und spüre all die kleinen großen Quetschungen, die dieses unser neues Leben an mir macht, weil es mich darin nicht gibt. Nicht, weil man mich nicht will, sondern, weil es fremd ist so am Leben zu sein wie ich.

Ich sitze am Fenster und schaue auf ein Stückchen Welt, das mich nicht braucht und doch in sich trägt.
Das Heute bewegt sich ungerührt weiter.
Und ich bin immernoch da.

die Gefahren des Internet? – sicher nicht das Internet! – #sid2017

Heute ist der “Save Internet Day” (oder auch “safer Internet day”, kurz: #sid2017).
Viele Organisationen und Vereine informieren darüber, wie man sich am besten vor dem Internet schützt und geben Tipps zur Netznutzung, die unterm Strich dazu führen, am Besten in klitzekleinen gated online communities zu bleiben.
Ich halte das für nicht sehr sinnvoll.
Und das, obwohl ich sogenannte “safe spaces” unterstütze und wichtig finde.

Was ist also für mich problematisch an so manchen Ansagen, die zum save Internet day (aber allgemein auch immer wieder mal) auftauchen?
Ich sehe die größten Gefahr des Internet im Missverstehen des Internet und damit auch den Gefahren, die mit der Nutzung einhergehen.

First of all: Das Internet als Ort

Das Internet ist ein Kommunikationsnetz!
Früher gab es die Post und das Telefon. Doch als sich diese Netze als Verbreitungsweg von Propaganda, Werbeflut und mitunter Grenzüberschreitung darstellten, gab es noch keine “safer Briefpost/Telefon”-Tage. Warum?
An der globalen Verbreitung des Netz und der Möglichkeit auch anonym eine Nachricht abzusenden, kann es wohl kaum gelegen haben.

Ein weiteres Missverständnis ist meiner Ansicht nach, die Auffassung zur Quelle der Gefahren, mit denen man es über das Internet zu tun hat.
Es ist nicht das Internet. Es ist nie das Internet.
Niemals ist ein Internet auf mich zugekommen und hat mir in die Twittermentions gekackt.
Niemals wird es das internet sein, das es in Ordnung findet, meine persönlichen Daten auszuspähen und zu verkaufen.

Die Gefahren des Internet sind – as always – andere Menschen.

Menschen, die lügen und betrügen.
Ob bei Ebay, Amazon oder Facebook – viele Plattformen ermöglichen den Handel mit Waren oder Dienstleistungen. Und wo der Handel ist, da ist der Beschiss nicht weit.  Nur, weil wir in analogen Geschäften an Mondpreise und andere kundentäuschende Aktionen gewöhnt sind, heißt das nicht, dass die gleichen Mechanismen über die Netzkommunikation gefährlicher für Konsument_innen sind.
Wer macht solche Aktionen? – Menschen.
Warum? – Weil sie es können.

Menschen, die Werbung für ein notwendiges Übel des kapitalisitschen Internet halten.
Hier könnte jetzt viel darüber stehen warum Facebook und andere Plattformen aussehen wie ein Werbekatalog – es ist aber nicht nur die Werbung als solche, die der Gewalt übers Netz immer mehr Vorschub leistet. Es ist die rückschtlose Gier dahinter.
Schon lange bewege ich mich nicht mehr ohne (mehrere) Adblocker von Webseite zu Webseite. Zum Einen weil Werbegewackel mich vom Seiteninhalt ablenkt, zum Anderen aber, weil sich immer häufiger Miniprogramme hinter Werbeanzeigen verstecken, die sich meine Daten zum Frühstück und meinen Rechner zum Mittagessen reinziehen.

Man kann sich einreden, dass man gegen Internetwerbung immun ist. Der Wurm, der dir deine Mails wegfrisst, weil du nichts dagegen hast, während der Recherchen für ein Projekt auch noch über Schuhe, Klamotten und eine mögliche Karibikreise “informiert” zu werden, nutzt aber deine persönliche Konsequenz dieser Überzeugung aus.

Wo kommen solche Schädlinge her? – Von Menschen.
Wer ermöglicht die Platzierung solcher Gefahren? – Menschen.

Was ist das Internet in diesem Szenario? – Das Medium. Und nichts weiter.

Wer macht so einen Scheiß?
Menschen, die (unter anderem) die technische Unversiertheit von User_innen ausnutzen.
In einer Sozialgemeinschaft, in der alle respektvoll und rücksichtsvoll miteinander umgehen, sollte es nicht notwendig sein, einen Abschluss in Kommunikationstechnik oder was weiß ich zu benötigen, um sich der Nutzung des Internet gewappnet genug zu fühlen.
In der vorherrschenden Gewaltgesellschaft, die derzeit existiert jedoch, wird es zur Pflicht, die bei Nichterfüllung zu victim blaming und dem “Rat” das Internet nicht zu nutzen führt.

Jedes Mal, wenn dir dein Antivirenprogramm oder irgendjemand anderes einredet, du müsstest deinen Schutz aufrüsten, weil du sonst selbst schuld am Systemcrash deines PC bist, redet es gerade nicht auf jemanden ein, der einen Virus programmiert oder Spammails mit Trojanern im Anhang versendet.

Das ist wichtig zu sehen.
Am Save Internet Day werden nicht die Menschen angesprochen, von denen sich ein Großteil der Nutzer_innen bedroht fühlen.

Warum? Weil mit Antivirenprogrammen, individuellen Schutzprogrammen und als safe spaces nutzbaren social media-Plattformen mehr Geld zu machen ist.
Weil Menschen in unserer Gesellschaft es verdammt nochmal gewohnt sind, für ihren eigenen Schutz zu bezahlen, statt, dass sich Forderungen nach dem Ende einer Bedrohung als wirksam erweisen.

Ich halte es für falsch, sich immer weiter in diesem gewaltkulturell geprägten und kapitalistisch motiviertem Kreisel zu bewegen, wenn es um das Internet unserer Zeit geht.
Das Internet ist schon immer nichts weiter als ein Kanal, der von Menschen bedient wird.
Zum Guten wie zum Schlechten. Zum Konstruktiven wie zum Destruktiven.

Das Internet ist kein Ort, vor dem man so warnen sollte, wie man Frauen™ davor warnt, nachts allein durch einen Park zu gehen.
Es ist auch kein Ort, wo Fremde mit Süßigkeiten in der Hand nur darauf warten, dass kleine medieninkompetente Kinder an ihnen vorbei laufen.

Das Internet ist ein Kommunikationsmittel mit dem Menschen, die Gewalt ausüben wollen, so geschützt wie sonst nirgendwo sind, weil das Internet an den entscheidenden Stellen schlicht missverstanden ist.

Hier also meine Ansagen zum save Internet day:

– sprecht über das Internet nicht als Ort, sondern als Kanal, der von Menschen mit unterschiedlichsten Interessen benutzt wird
– bringt euren Kindern bei, dass ein Posting eine Aussage ist und, dass man für das, was man aussagt, immer auch die Verantwortung tragen muss – analog, wie digital!
– bringt euch selbst bei, die Verantwortung für das zu tragen, was ihr wann wie wo postet, programmiert, als Plattform zur Verfügung stellt

und: Netzpolitik ist ein Ding – macht mit, wenn ihr könnt, denn es ist unser aller Internet.

allein allein – kann ich mir sicher sein

Als ich mich letztes Jahr aufmachte, mit dem Rad ans Meer zu fahren, da fragten mich meine Menschen, ob ich denn keine Angst hätte.
Weil ich doch allein war. Als Frau. Als behinderte Person. So ohne genug Geld.
Ich hatte keine Kraft für Angst. Aber das konnte ich damals noch nicht sagen.
Für den Sicherheitsbegriff hinter der Frage nach meiner Angst auf dieser Tour, hatte ich auch keine Nerven, denn Sicherheit ist ein Thema, das durch die Gewalterfahrungen, die wir gemacht haben und immer wieder machen müssen, eines, das wir nicht gut mit Menschen besprechen können, die sich vor dem Alleinsein, dem Frau sein, dem behindert sein fürchten.

So startete ich meine Tour auf einem Rad, das mir bald kaputt ging, einem Tagesbudget von 3,50€, meiner Assistenzhündin, deren Futter die Hälfte meines Rucksacks einnahm und einem Sicherheitsbegriff, den ich erst während der Tour begreifen konnte.

In Telgte traf ich auf zwei Ordensschwestern. Die eine war beeindruckt von meinem Vorhaben und fragte, ob ich denn keine Angst hätte. Ich verneinte und die andere Schwester sagte: “Wovor soll sie denn Angst haben – hier ist doch niemand.”.
Diese Worte wurden mir wichtig, denn ich erinnerte mich daran, dass ich schon einmal viel weiter und bewusster im Verstehen vieler meiner Ängste war, als ich es mir in der Zeit bis zu diesem Tag zugestanden hatte.

Wovor ich Angst habe sind andere Menschen und ihre Macht mich zu verletzen.
Und Wildschweine. Ein bisschen hatte ich Angst vor Wildschweinen, denn das sind große Tiere.

Ein Aspekt meiner Traumatherapie war (und ist) die Etablierung und Sicherung von innerer und äußerer Sicherheit.
Man muss wissen, dass Menschen aus organisierter und/oder familiärer Gewalt von den in Deutschland gegebenen Strukturen und rechtlichen Möglichkeiten nicht geschützt werden können. Das ist wichtig zu begreifen, wenn man sich Gedanken um äußeren Schutz macht.
Gesetze und Strukturen greifen, wenn etwas passiert ist und müssen von Menschen ausgelegt und bedient werden, um überhaupt zu funktionieren.
Allein sind sie nichts weiter als Worte, die im Moment der Gefahr für Leib und Leben nicht mehr als eine ferne Idee von einer fremden Welt sein können.

Die Sicherheit von Menschen hängt also überwiegend von anderen Menschen ab.
Und ist damit ein schier unmöglich umsetzbares Unterfangen für Menschen, deren Gewalterfahrungen das Hintergrundrauschen von anderen Faktoren darstellt. Wer sicher sein will, verzichtet auf Hilfen durch sozialpädagogische oder gesetzliche Betreuungen. Wer sicher sein will, verzichtet auf staatliche Leistungen und Versicherungszahlungen. Wer sicher sein will, meidet Menschen und lebt ein konkretes Leben.

Wer sich jedoch ehrlich mit sich und der eigenen Lage zur äußeren Sicherheit auseinandersetzt, nutzt jede Hilfe, die greifbar ist.
Für manche (viele) Menschen aus organisierter Gewalt gibt es in Deutschland und zum heutigen Zeitpunkt keinerlei Option jemals von Sicherheit für sich auszugehen.
Was sie letztlich schützt ist die Akzeptanz dieses Umstandes und die Fähigkeit mit der Furcht ihrer Mitmenschen umzugehen, ohne selbst Schaden zu nehmen oder darunter zu leiden.
Und: innere Sicherheit.

Wenn Menschen in Gewalt hineingeboren werden, vielleicht sogar nur als Zielobjekt für Gewalt konzipiert wurden, entwickeln sie Anpassungsmechanismen, die ihnen das Überleben von Körper, Geist und Seele sichern, soweit es möglich ist.
Soweit so normal. Auch Menschen deren Umfeld nicht kriminell, sondern einfach nur sexistisch, kapitalistisch, rassistisch und durch und durch ableistisch ist, entwickeln solche Anpassungsmechanismen. Doch diese Gewaltformen werden häufig nicht als etwas ausgewiesen, wovor man sich um des eigenen Überlebens willen schützen soll und sind damit ein anderes Thema.
Relevant ist: Menschen kommen mit eingebauter innerer Sicherheit auf die Welt – es kann also nie darum gehen eine innere Sicherheit zu etablieren, sondern darum, die bestehende zu modulieren und zu etwas zu machen, das dem Individuum nutzt und nicht dessen sozialer Umgebung.

Meine Radtour hatte ich einem Zeitpunkt erdacht, an dem mir nur zwei Optionen einfielen: Suizid aus dem Gefühl absoluter Überforderung mit dem Schmerz einer sozialen Verletzung und einer neuen Diagnose, die mein Leben und Selbstbild grundlegend veränderten oder zurück in die gewaltvollen Strukturen aus denen ich 13 Jahre vorher geflohen war.
Wegzufahren und mich anderen Menschen zu entziehen, war meine Rettung und folgten einem sehr frühen Impuls zur Herstellung von innerer Sicherheit, der mir in den Jahren nach der Flucht fast systematisch als krankhaft oder problematisch gelabelt wurde, weil er immer bedeutete sich aus äußeren Strukturen und konkreter Helfer_innenmacht zu begeben.

Meine Tour war nur 11 Tage lang und doch waren es 11 Tage, an denen ich keine Todesangst hatte. Was für viele von organisierter Gewalt und Ausbeutung betroffener Menschen das Hauptmerkmal für Sicherheit darstellt und für viele von ihnen nicht einmal in Bezug zu ihnen denkbar ist. Und zwar buchstäblich.

Tatsächlich war ich aber nie sicher. Ich war nur keinen Menschen und Dingen ausgesetzt, die mich zu Tode ängstigten.
Das zu Erfassen hatte mir die Antwort der Ordensschwester am Aussichtpunkt ermöglicht.

Jetzt planen wir unsere nächste Tour.
Es gibt viele Gründe sich gegen solche anstrengenden Aktivitäten zu entscheiden und doch erscheint es mir als Urlaub.
Es ist eine Pause von einer Angst und Grundspannung, die mir so vertraut ist, dass es mir schwer fällt sie im Alltag als den Energiefresser zu akzeptieren, die sie ist.

Und jetzt, wo ich anfange mir erste Routen anzusehen und überlege, in einen neuen Rucksack und ein neues Rad zu investieren, fällt mir auf, dass ich mir sicher bin.
Ich bin mir sicher, dass ich nicht sterben werde, weil ich mir diese Tour wünsche. Ich bin mir sicher, dass ich Wege und Mittel finden kann, sie zu machen, selbst wenn ich nicht noch einmal so viel Hilfe von anderen Menschen bekommen kann, wie in den 11 Tagen der letzten Tour.

Das macht es zu einer Lebenserfahrung, die weit über das hinausgeht, was mir als wichtig zur Etablierung innerer und äußerer Sicherheit beigebracht wurde. Immer wieder ging es um Abgrenzung der Täter_innen und ihrer Strukturen. Doch um sich von etwas oder jemandem abzugrenzen, muss man sich immer wieder damit befassen und so eine Nähe beibehalten, die es verunmöglicht sich ganz und gar zu emanzipieren.

Allein unterwegs zu sein, hat mir die Möglichkeit gegeben, mich selbstständig und (einigermaßen) selbstbestimmt zu entscheiden, was ich tun und lassen will, um mir meinen (Lebens)Weg zu erleichtern oder zu gestalten. Das ist eine Erfahrung, die man in einer Wohnung die voller Zeugnisse struktureller und sozialer Kompromisse ist, anders macht, als unter freiem Himmel mit nichts als Lauf der Dinge unter sich.

Ich dachte, das schreibe ich mal auf.

Fundstücke #40

In der Deutschklassenarbeit gab es eine Aufgabe,
die mir geholfen hat etwas über (Innen)Kinder zu verstehen.
Das will ich mit.teilen.

Die Aufgabe zeigte eine Zeichnung.
Die Zeichnung sah so aus:

Man sieht 2 Figuren, die auf unterschiedlichen Ebenen stehen.
Die Figuren werden durch einen Dialog verbunden.
Das sieht man, an der Form des Wortes “Dialog”.
Die Form soll an eine Leiter erinnern.

In der Aufgabe sollten wir erklären, warum es wichtig für gute Kommunikation ist,
wenn man auf der gleichen Ebene zueinander spricht.

Was ich über (Innen)Kinder verstanden habe,
zeige ich jetzt auch mit einer Zeichnung.
Die Zeichnung sieht so aus:

Man sieht eine kleine Figur und eine große Figur.
Die kleine Figur bedeutet ein (Innen)Kind.
Die große Figur bedeutet eine erwachsene Person.

Die Figuren werden durch den Dialog verbunden.
Das Wort sieht wieder wie eine Leiter aus.
Weil das Kind kleiner ist als die erwachsene Person.

Obwohl beide Figuren auf einer Ebene stehen
funktioniert jede Kommunikation zwischen ihnen wie eine Leiter.

Ich kenne Leitern.
Ich finde es anstrengend Leitern zu benutzen.
Man muss aufpassen
– dass man nicht daneben tritt
– dass man das Gleichgewicht behält
– dass man nicht vergisst, was man machen will
– dass jemand da ist, der die Leiter gut festhält

Wenn (Innen)Kinder einen Dialog mit erwachsenen Personen machen,
müssen sie auch aufpassen.
– Dass sie die richtigen Wörter benutzen
– Dass sie alles sagen, was sie wollen
– Dass sie beim Sprechen nicht vergessen,
dass sie laut genug sein müssen

Mir ist aufgefallen, dass viele Kinder, die mit erwachsenen Personen sprechen,
Hilfe beim Dialog machen bekommen.
Zum Beispiel:
– die erwachsene Person gibt Wörter, wenn dem Kind eins fehlt
– die erwachsene Person versucht alle Wörter zu verstehen
– die erwachsene Person macht leicht verständliche Dialoge mit dem Kind
– zum Beispiel mit leichten Wörtern
oder mit kurzen Sätzen

Mir ist aufgefallen, dass wir andere Dialoge machen.
Dafür habe ich eine Zeichnung gemacht.
Die Zeichnung sieht so aus:

Man sieht zwei Gesichter und zwei Sprechblasen.
In der oberen Sprechblase* steht:
“Monolog
– Einleitung/These
– Begründung/Beispiele
– Fazit/Spiegelfrage/Überleitung”

In der unteren Sprechblase steht:
“viele Wörter-Antwort”
Man sieht viele kleine Pünktchen und Linien,
die durcheinander sind.

Ein Pfeil zeigt auf die untere Sprechblase.
Dort steht:
“dazwischen verstecken sich die Wörter,
die man zum Überlegen einer Antwort braucht”

Das soll darstellen, dass wir ein festes Schema beim Reden haben.
Und, dass wir die Antworten von anderen Menschen nicht als Schema erkennen,
sondern als Aufgabe.
Oder als Rätsel.

Jetzt schreibe ich, was ich über Innenkinder verstanden habe.

Ich habe verstanden, dass sie einen Dialog immer wie eine Leiter machen müssen,
weil sie noch klein sind.
Und gleichzeitig die  Wörter für eine Antwort finden müssen,
und ihnen niemand hilft.
Weil die anderen Menschen eine erwachsene Person sehen
und anders mit Wörtern und Sprache umgehen,
als wir.

Ich habe verstanden, dass wir den Innenkindern helfen können,
damit es nicht so anstrengend für sie ist.
Zum Beispiel
– wenn wir unsere gesammelten Wörter mit ihnen teilen
– wenn wir bei ihnen sind, wenn sie einen Dialog mit einer erwachsenen Person machen
– wenn wir alles leicht verständlich für sie sagen
– wenn wir versuchen alles zu verstehen, was sie uns sagen wollen

Wir sind erwachsen.
Wir können für die Innenkinder gute An.Sprechpartner_innen sein.
Dann wird es weniger anstrengend für uns alle.

Dafür habe ich auch eine Zeichnung gemacht.
Weil ich Lust dazu hatte.


*Das Sprechschema ist von Innensystem zu Innensystem unterschiedlich starr bzw. wird unterschiedlich flexibel gehandhabt.

“Happy Hunger” #2 – Experiment mit Süßkartoffel

“Ich geb dir ein paar Wochen, dann wirst du Tiere retten”, neckte mich eine Gemögte vor ein paar Wochen.  Wir sprachen über Veganismus, Dafür-entscheidungs-Gründe und die Quatschigkeit mancher Konflikte darum herum.
Ich erinnerte sie an unsere #wastunwennskomischgucktChallenge und dachte später noch darüber nach, dass wirklich viel dran ist an dem Spruch “Du bist, was du isst.”. Gerade heute, wo so gut wie alle Produkte und Produktkategorien ganz gezielt ganz bestimmte Menschentypen bzw. Personengruppen ansprechen (sollen) und jede Werbung, sowohl Konsumwünsche, als auch Selbstdefinitionen provozieren will, soll, kann.

Wir ernähren uns im Moment ausschließlich pflanzlich und merken immer wieder, wie wir uns selbst aus der Zuschreibung, ein_e Veganer_in zu sein, herausdrehen. Vor Gemögten und Freund_innen genauso, wie vor der Werbung im Supermarkt und anderswo.
Für uns ist die Aufnahme von Nahrungsmitteln nicht mit Identität aufladbar, ohne uns in Konflikte mit so viel Konfusion um innen und außen zu bringen, dass sich Spaltungspotenziale entwickeln.

Damit haben wir schon Erfahrungen gemacht, als die Essstörung noch keine eigene Ziffer im Arztbrief hatte. Damals – als C. nur noch von dem Knubbelmuster der Rippen unter den Fingern eine Beruhigung empfinden konnte und jedes Fleisch verweigerte und A. in Todesangst durch Gefühle des extremen Hungers jedwede energiedichte Nahrung – darunter eben auch Fleisch – aufnahm, die verfügbar war.
Nach außen wirkten wir widersprüchlich und niemandes äußere Identität wurde in der Folge anerkannt. Weder C.’s als Vegetarier_in noch A.’s als “Mir egal was”-Esser_in.

Heute erleben wir diese Aufladung als Vermeidungstanz.
Denn natürlich kann ich mich als Allesesser_in, als Vegetarier_in, als Veganer_in, als Rohköstler_in, als Frutarier_in, als … kategorisieren und diesen grundlegend elementaren Bereich meines Lebens auf die Aufrechterhaltung dieser Kategorisierung ausrichten – das hat seine Berechtigung und ist total okay so! – aber man kann sich auch klar machen, dass man essen muss, um nicht zu sterben und, dass es ganz am Ende nur darum geht.

Wir haben es für uns als sehr wichtig etabliert, weder Ekel vor grundsätzlich essbaren Lebensmitteln aufzubauen (im Sinne von: “uns selbst in Ekel- oder andere allgemein aversive Empfindungen reinzusteigern”), noch allgemein, grundsätzlich essbare Lebensmittel zu verweigern, wenn es nur diese Lebensmittel gibt.

Durch unseren Hintergrund mit Nahtoderfahrungen unter Anderem durch Hunger und Durst, haben wir nicht viel Raum für die gesellschaftlich akzeptierte Dissoziation zur Realität von Sterblichkeit.
Wenn wir zu wenig essen, geht es uns nicht nur schlecht, weil wir zu wenig gegessen haben – dann geht es uns schlecht, weil etwas im Innen an eine Zeit der Todesnähe erinnert wird. Für solche Etwas, Jemands, Seins oder Innens, ist es weder Trost noch Hilfe, dann von uns zu erfahren, dass wir gerade nicht essen, weil in dem, was vor uns liegt etwas drin ist, was wir aus egal welcher Überzeugung oder Performance heraus zu essen ablehnen.
Für diese Innens, Jemande, Seins und Etwasse ist es wichtig ganz konkret zu erfahren, dass zu essen etwas ist, das losgelöst von Überzeugungen und Identitätsperformance jeder Art getan werden kann und darf. Dass es grundsätzlich und immer bedingungslos getan werden darf.
Und: dass es uns damit gut gehen darf.

Das ist, wo unsere #wastunwennskomischgucktChallenge angesetzt hatte.
Wir wussten, dass wir während der Radtour nicht mehr essen konnten, was und wie wir das üblicherweise getan haben und wir wussten, dass wir uns sehr wahrscheinlich Lebensmitteln zuwenden würden, die wir üblicherweise nicht aufnahmen, weil sie komisch guckten, uns beunruhigten, fremd waren, irritierten.
Die Erkenntnis, dass es Pflanzen und Früchte sind, die uns dann aber doch allgemein am Wenigsten irritieren kam zu dem Zeitpunkt sehr gelegen. Es war Hochsommer – überall kamen wir jederzeit an viele frische Früchte. Wir fuhren durch die Natur fern von Städten und fanden essbare Pflanzen vor, die zu essen sehr viel leichter fiel, als sich im Supermarkt mit verarbeiteter Nahrung einzudecken.
Wir konnten in diesen 11 Tagen bemerken, dass rohe pflanzliche Nahrung allein, für uns um ein Mehrfaches barrierenärmer, körperlich verträglicher und näher an uns und unseren Entscheidungen ist, als die Komposition mit der wir uns vorher ernährt haben.

Die Radtour endete abrupt und mit einer massiven Erschütterung.
Die Art der Ernährung jedoch nicht. Während sich NakNak* von der Operation erholte, blieb für uns plötzlich so viel mehr greifbar verfügbare Kraft als sonst übrig.
Einfach nur dadurch, dass wir statt 3x die Woche nur noch 1x die Woche einkaufen müssen, jederzeit irgendein Obst oder Gemüsen essen können, wenn sich Hunger meldet und nicht permanent irgendwelche diffusen Bauchschmerzen/beschwerden versorgt werden müssen.
Wir erlebten uns satt, wach und leistungsfähig – obwohl unsere kleine Welt in Flammen stand.

In der Reflektion dieses Umstands haben wir bemerkt, dass wir uns durch die Radtourzeit und die selbstgesetzte Challenge eine unerwartet reichhaltige und vielseitige Lebensmittelgruppe erschlossen haben, mit der alleinig umzugehen, für uns weniger beunruhigend zu hantieren ist, als sie in Kombination mit anderen Lebensmittelgruppen zu bringen.
So begannen unsere Experimente.
So begann diese Textserie “Happy Hunger”.

So kam es zu diesem

__________________________________________________________________________

“Experiment mit Süßkartoffel”

20161015_203147
Arbeitsschritt 1:
Zutaten einkaufen.

– 1 kleine bis mittelgroße Spitzpaprika, (ca. 2€, eine 1 kg – Packung enthält viele unterschiedlich große)
– 1 kleine Zucchini (etwa 150gr),( ca. 0,80€ pro kg im Moment)
– 3 kleine Frühlingszwiebeln, (0,25€ pro Bund, enthält ca. 6 bis 8 Stück)
– 1 richtig große Süßkartoffel (3,99€ pro kg, enthält ein Stück und viel Überwindung so viel dafür auszugeben – die sich aber sehr lohnt! Versprochen!)
– 1 x veganer Kräuterfrischkäse von Bedda (2,99€, enthält 2 bis 3 Portionen für die Zubereitungen dieser Mahlzeit)
– 1 x Kernmischung “Salattopping” (1,79€, enthält x viele Portionen zur Zubereitung dieser & anderer Mahlzeiten)
– TK “Knoblauch-Duo” (0,99€, enthält x viele Portionen zur Zubereitung dieser & anderer Mahlzeiten)
– Salz
– Pfeffer
– Öl

Arbeitsschritt 2:
Utensilien bereitstellen

– eine Schüssel für die Füllung
– ein Schneidbrett
– ein Gemüsemesser
– Backpapier auf Backblech
– die eingekauften Zutaten

Arbeitsschritt 3:
die Süßkartoffel von oben nach unten halbieren

Arbeitsschritt 4:
eine Mulde in die Hälften der Süßkartoffel schnitzen
(etwa so tief, das noch 1 bis 2 cm Fruchtfleisch bis zur Schale verbleibt)

Arbeitsschritt 5:
den Backofen auf 230° C vorheizen

Arbeitsschritt 6:
die rausgeschnitzten Süßkartoffelstückchen kleinschneiden und in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 7:
die Süßkartoffelhälften
– abwaschen
– die offene Hälfte mit etwas! (nur so 3-4-5 Tropfen) einölen
– leicht salzen

Arbeitsschritt 8:
die Süßkartoffelhälften auf das Backbleck legen und in den Backofen schieben

Arbeitsschritt 9:
einen 20 Minuten-sind-um-Alarm im Handy oder einem anderen System stellen

Arbeitsschritt 10:
die Paprika kleinschneiden und in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 11:
die Zucchini kleinschneiden und in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 12:
die Frühlingszwiebel kleinschneiden und in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 13:
etwa 20 gr des “Salattoppings” in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 14:
ca. 10 bis 15 gr des “Knoblauch-Duo” in die Schüssel geben

20161015_195205

Arbeitsschritt 15:
etwa ein Drittel des Kräuterfrischkäses in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 16:
etwa 5 gr Salz in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 17:
etwa 3 gr Pfeffer in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 18:
einen Esslöffel Öl in die Schüssel geben

Arbeitsschritt 19:
die Mischung durchrühren bis alles gut vermischt ist

Arbeitsschritt 20:
mit der Gabel in die offene und nun schon weichere Oberfläche der Süßkartoffelhälften im Backofen einstechen (an mehreren Stellen)
(dafür entweder das ganze Backblech aus dem Ofen holen, oder nur ein bisschen hervorholen, danach wieder reinschieben)

Arbeitsschritt 21:
auf den Alarm warten

Arbeitsschritt 22:
wenn der Alarm losgeht, die Süßkartoffelhälften aus dem Backofen holen und auf einen geeigneten Untersetzer stellen

Arbeitsschritt 23:
die Füllung in die Hälften geben
(wenn ein Rest bleibt, kann man den in eine kleine Form geben und mit auf das Backblech stellen, wenn da noch Platz ist)

Arbeitsschritt 24:
das Backblech mit den gefüllten Süßkartoffelhälften (und der Form mit Füllungsrest) zurück in den Backofen schieben

Arbeitsschritt 25:
den Backofen auf 200° runterschalten

Arbeitsschritt 26:
einen 25 Minuten-sind-um-Alarm einstellen

Arbeitsschritt 27:
– Küche aufräumen
– Essplatz gemütlich machen

Arbeitsschritt 28:
wenn der Alarm losgeht, das Backblech aus dem Ofen auf einen geeigneten Untersetzer stellen

Arbeitsschritt 29:
die Süßkartoffelhälften auf einen Teller legen (und eventuelle Füllungsreste daneben geben)

Arbeitsschritt 30:
Essen und wenn’s geht: genießen
(man kann alles aus der Schale herauslöffeln, man kann die Schale aber auch abziehen und dann scheibenweise abschneiden, was man essen möchte)

20161015_203107

Ich hoffe, es schmeckt anderen so gut wie es uns geschmeckt hat. Rückmeldungen zum Thema “Ernährung und Identität im Kontext von Essstörungen” bitte gerne in die Kommentare. Und wenn du oder ihr das Rezept nachgemacht hast/habt, natürlich auch.