Wieder Kunst machen. Vielleicht.

„Das ist so eine Sache, da sind Trauma und ihr Autismus, so richtig SO“, meine Therapeutin verschränkt ihre Hände fest ineinander und deutet an, dass eine Trennung kaum möglich ist.
Wir sprechen über den Kunst-Konflikt. Den Klinik-Gau. Dass sich manche Innere ausdrücken wollen und ich es nicht zulasse. Obwohl ich ein ganzes Zimmer voller Gestaltungsmaterial, eine komplette analoge Foto- und Laborausrüstung, Unmengen an Papier und Werkzeugen besitze. Ich maximal geschützt loslegen könnte. Und darunter leide, dass ich es nicht zulasse.

Ich bin meine erste Woche im Urlaub, nachdem ich 4 Wochen krankgeschrieben war. Erschöpfungsdepression. Meine Essstörung entfesselt. Die Arbeit im Zusammenspiel mit Kinderwunschbehandlung, Traumatherapie und Selbsthilfe im Umkreis von 100 bis 130 Kilometern auf Dauer entkernend.
Also fahren wir die Ressourcenrunde.
Ich habe keine echten Pausen. Und dadurch zu wenig Raum für Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck und Selbstverwirklichung in dem Sinne, dass ich selbst begreifen kann, dass ich wirklich bin.
Meine Krankschreibung, sie führt zu selbstgemachten Therapieanwendungen.
Statt Mandalas bei Panflötenmusik spiele ich Sims 4, statt Gruppentherapie telefoniere ich lange mit Freund*innen. Ich schlafe auch am Tag. Zwinge mich nicht in eine Konzentration, die ich sowieso nicht aufbringen kann.
Nach 3 Wochen habe ich den ersten eigenen Gedanken mit Anfang, Inhalt und Ende. Nach 4 schaffe ich den Dreh zurück ins Essen ohne erweiterte Funktion. Die Therapie ist nicht mehr fast überanstrengend, sondern wieder eher meine Vermeidungsbequemlichkeiten herausfordernd.

So sitze ich da also und beobachte meine Therapeutin mit ihrer erklärenden Geste. Kurz vorher habe ich erst verstanden, dass dieses Thema wichtig ist, weil es mich von positiven Ressourcen trennt. Nicht, weil meine Therapeutin sich bei den Jugendlichen einschmeicheln will, wie R. argwöhnt, ich befürchte und hinter der Nebelwand zu Kindlichem alle Alarme kurz vor Auslösung bringt.
Zuvor wollte sie verstehen, wo das Problem liegt. Ist es Perfektionismus? Ist es Öffentlichkeit? Ist es Angst davor, abgezwungenes Schweigen zu brechen?
Nein, nein, nein.
Es ist viel banaler. Und gleichzeitig überhaupt nicht banal.
Es ist auch meine eigene Schuld. Und gleichzeitig, ein bisschen, auch nicht.
Und es ist mein Autismus. Und die Logik des Traumas.

An diesem Tag im Mai 2016 verließ ich das Besprechungszimmer der Ärztin mit den Worten: „Ich habs immer überlebt.“
Und dann hab ichs überlebt.
Ich bin da raus und wähnte mich in Lebensgefahr, vor der mich niemand schützt. Also bin ich, wie immer, erstarrt. Und gleichzeitig, dank der direkten Intervention meiner ambulanten Therapeutin, funktional in Bewegung geblieben.
Das – solche psychischen Scherkräfte, also parallel und gegensätzliche Kräfte – sind die Zutaten für funktionelle Dissoziation. Die Gleichzeitigkeit, die Trauma und das Leben danach so widersprüchlich und belastend macht. Auf der einen Seite die Todesangst (für die man sich vielleicht selbst verantwortlich macht) und auf der anderen Seite der Alltag. Hier die globale und unendliche Isolation und da Menschen, die mit einer_m sprechen. Oder zusammen in der Bahn sitzen. Oder im Laden stehen. Dieses Spannungsverhältnis führt zu der reaktiven Inflexibilität, die viele traumatisierte Menschen irgendwann in Bezug auf irgendetwas bei sich feststellen.
Dieses Spannungsverhältnis und der Druck, der dabei entsteht, können folgenden Gedanken logisch machen: „Was ich getan habe, um hier hineinzugeraten – das mache ich nie wieder.“
Ich überlebte den Klinik-Gau, diese Retraumatisierung im Hilfekontext, indem ich Entscheidungen traf und dabei blieb. Konsequent wie Stahlbeton. Nicht, weil ich so einen starken Willen habe, sondern weil toxisches Stressniveau und autistische Trägheit zusammen einen unfassbaren Superkleber und in der Folge eine unerschütterliche Inflexibilität produzieren.

Erst verließ ich das Klinikgebäude und beschloss, nie wieder mit irgendjemandem zu sprechen. Ein kindlicher Beschluss. Der hielt bis zum Kontakt mit meiner Therapeutin. „Nie wieder mit irgendwem“ ging also nicht.
Aber „nie wieder so“ und „nie wieder das“, das ging. War sogar gut. Meine Therapeutin kannte sich nicht mit Autismus aus. Ich hatte eine komplementäre Begleitung, die es nicht erforderlich machte, dass sie sich auskannte. Den Begleitermenschen nämlich. Auch der Kontakt zu ihm brauche nicht mehr „so“ zu sein. Und „das“ mit ihm zu besprechen, rückte durch den Ausbildungsalltag an der Berufsschule ohnehin in den Hintergrund. Und irgendwann endete unser Verhältnis auch.

Es dauerte 4 Jahre, bis ich meine an dem Tag getroffene Entscheidung, meine Therapie vom Thema Autismus („das“) und damit aus dem Großteil meiner Wahrnehmungsrealität und dem, was sich daraus für mein Erkennen und Verstehen meiner Selbst ergibt (und mich „so“ sein (interagieren und kommunizieren) lässt), rauszuhalten, revidierte. In Teilen. Unter einem absoluten Vorsichtsdiktat, das ich bis heute halte.
Auch das tat ich wieder in einer brutalen Krise, die mich in ungeheure Spannung brachte. Hier die Therapeutin, die sich bemüht und mit der ich mich überhaupt nicht mehr unsicher fühle – da die Erfahrungen mit sehr vielen Psychotherapeut_innen und ganz speziell der letzten, nach denen es sich immer logischer darstellte, einfach auf etwas von mir zu verzichten. Irgendwas einfach nicht mehr zu machen.
Hätte ich nicht den Eindruck gehabt, dass es mich das Leben kosten könnte, würde ich die Therapie nicht richtig machen, meiner Therapeutin nicht sagen, dass sie Murks macht, wenn sie meinen Autismus mit Fragezeichen versehen am Rand stehen lässt, hätte ich das nicht an sie herangetragen.

Keine meiner Entschlussrevisionen hatten jemals irgendwas mit „mal in Ruhe und ganz objektiv mal drüber nachdenken und dann halt mal anders machen“ zu tun. So wie man sich das von Therapie verspricht oder es in weniger drastischen Situationen im Alltag erlebt.
Meine Generalisierungen sitzen. Und zwar immer und überall. Mein Platz, mein Besteck, mein Geschirr, meine Kleidung, meine Tagesabläufe, meine Leute, meine Themen, meine Interessen, meine Offenheiten – hinter allem stehen bewusste Entscheidungen und „Für immer“-Entschlüsse. Entscheidungen für die Ewigkeit. Es erfordert absolut uneigennützige Bereitschaft, mit mir sachlich und zieldefiniert zu verhandeln, ob ich irgendetwas daran verändere. Kommt auf diese autistische Eigenschaft der Stress des Traumas, bin ich absolut darauf angewiesen. Denn an diesem Baustoff aus Traumastarre und autistischer Trägheit prallt jeder „Wägen Sie vielleicht mal ab, ob …“-Pinsel ab.

Manche meiner generellen Entscheidungen kann ich schnell revidieren. Besonders, wenn mir auffällt, dass ich eine traumalogische Basis dafür hatte. Wenn eine Entscheidung nur in einem einzigen Zusammenhang wirklich sinnvoll war, dann ist es ineffizient und unlogisch, sie auf alle anderen Lebensbereiche auch anzuwenden.
Die Entscheidung gegen meinen authentischen Selbstausdruck hingegen, die habe ich nicht nur im Zusammenhang mit dem Klinik-Gau getroffen. Diese Entscheidung habe ich bis dato in so vielen verschiedenen Momenten getroffen, dass es keinen Bereich mehr gibt, der frei davon ist. Das ist, was man heute so positiv hinzufügend als „Maskierung“ benennt. Und eben nicht negativ als „Verzicht auf sich selbst für andere“.

Der Klinik-Gau war für mich so belastend, weil ich vor der Autismusdiagnose nicht wusste, weshalb ich verschiedene Dinge nicht anspreche oder nur verschleiert und heimlich mit mir allein verhandle. Ich lebte wie ein Salamander mit abnorm gefärbten Körperteilen, die ihm immer erst dann auffielen, wenn andere negativ darauf reagiert haben.
Beim Klinik-Gau kannte ich diese Stellen und wusste, woher sie kamen. Meine Erwartung an diesen „geschützten Rahmen“, diesen Ort, an dem psychologische Exzellenz, psychotherapeutische und soziale Kompetenzen von den Autoritäten vorauszusetzen, logisch und auch gewollt ist, war zu keinem Zeitpunkt überzogen oder grundlegend falsch gesetzt. Sie wurde einfach nicht nur nicht erfüllt, sondern auch noch benutzt, um mich zu demütigen und mich glauben zu lassen, ich sei an meinem Empfinden von Auslieferung, Ohnmacht und Lebensbedrohung selbst schuld, denn ich hätte diese abnorm gefärbten Körperteile. Und die wiederum seien gar nicht das, was ich annahm, sondern etwas noch viel Abstoßenderes, was meine Gewalterfahrungen noch viel stärker zu etwas macht, das ich nie anders verdient und immer selbst verursacht hatte.
Als ich der Ärztin damals sagte: „Ich habs immer überlebt“, war für mich bereits absolut klar, dass ich mir so viele dieser abnorm gefärbten Körperteile wie möglich abhacken muss. Mein Leben voller Verdeckungs- und Vermeidungsperformance war ja offensichtlich nicht genug. Nicht das Richtige. Nichts, was mich als jemanden sichtbar macht, die_r es richtig wirklich und echt doll versucht okay für andere zu sein. Okay genug, um nicht von ihnen verletzt zu werden. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst nichts bin, mit dem ich jemals irgendwo sicher einfach sein kann.

Meine Kunst, die einzige Möglichkeit für jüngere Innere, sich auszudrücken, ihre Geschichte zu teilen und sich in der Gegenwart zu orientieren, war nur ein Opfer dieser Abhack-Entscheidung. Das zweite Opfer war eine Freiheit, um die ich mit meiner Entdeckungsangst ringe – die Freiheit, nicht vermeiden zu müssen. Ich habe mir damals auch abgehackt, mir zu wünschen, dass ich Kunst mache. Irgendwie okay zu finden, was ich früher mal gemacht habe. Mich mit Menschen zu verbinden, die diese Wünsche in mir wecken könnten. Ausstellungen, Werkstätten, Projekte zu besuchen, die mich an dieser Stelle reaktivieren könnten. Mein ganzer Materialkram ist da, weil mein Entschluss, nicht zu verschwenden, besteht. Die Kisten und Ordner sind heute in einem Raum, den ich nur öffne, um ihn zu durchlaufen. Die Tür ist immer zu. Ich gehe da nicht rein, weil ich mir nicht trauen kann, dass nicht doch irgendein Innen irgendetwas macht, was mir und dem Rest der Welt meine abnorm gefärbten Körperteile aufzeigt. Denn klar, als Salamander kann man sich Körperteile abhacken – die kommen aber wieder. Man muss in der Angelegenheit sehr konsistent sein. Was wiederum nicht sehr schwer ist, wenn es sich um eine Sache handelt, die in Auti-Trauma-Beton gegossen ist. Jeder nette Kommentar über meine Kreativität führt zu einem präventiven Hack an mir. Jede Rückmeldung zu einem Text als „selbstdarstellend“ – hack of the doom. Jede Erwähnung meiner Arbeiten früher – hack hack hack.

Mag sein, dass ich damals, 2016 in der Klinik, ganz viel komplett falsch verstanden habe. Und niemand jemals von mir erwartet hat, dass ich mich für mich selbst schäme. Ich bin geübt genug in Reparations-/Entschuldigungs-/Wieder-gut-mach-/Klärungsgesprächen mit nicht autistischen Menschen, um zu wissen, dass am Ende IMMER ich die Person bin, die da was nicht richtig verstanden hat. Die irgendwas zu ernst nimmt. Die sich auf eine Art fühlt, die nicht die Intention war und deshalb halt Pech hat, weil da ja nun wirklich niemand was für kann. Außer mir.
In Bezug auf diesen Klinik-Gau, werde ich zu keinem Zeitpunkt jemals einen Moment haben, in dem die Last, der Schmerz, die Angst, die Verletzung von mir genommen wird. In ihrer Natur ist diese Erfahrung damit meinen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie und jedem anderen sozialen Nahfeld gleich. Infolge dessen sehe ich keinen Grund, meine daraus folgenden Entscheidungen nicht zu generalisieren.
Ja, die Ärztin war nicht meine Herkunftsfamilie, alle meine anderen Mitmenschen zwischen 1986 und 2016, oder irgendjemand anders, die_r mich wegen meiner abnormen Färbung verletzt hat. Aber sie hatte den gleichen Bezugspunkt, um mich zu verletzen und mich in das Erleben einer Lebensgefahr zu bringen.
Es wäre unlogisch, das zu ignorieren. Traumalogisch ausgedrückt: lebensgefährlich dumm.

Meine Therapeutin beendet ihre Geste und spricht eine Weile. Sie sagt, ich könne mich fragen, ob ich das Ereignis mein Leben so umfassend bestimmen lassen will. Ob ich dem weiter so viel Macht geben will.
Diesen Ansatz finde ich unsinnig. Es ist ja nicht das Ereignis, dem ich Macht gebe, sondern die Beschämung, von der ich weiß, dass sie praktisch automatisch kommt, egal von wem und in welcher Absicht. Das Ding ist nicht, dass das passiert ist, sondern, dass es passiert ist, obwohl ich mich so unfassbar aufgerieben und angestrengt habe, dass es nicht passiert. Eine Klinik für Psychosomatik ist der einzige gesellschaftlich gewollte Rahmen und Ort, von dem man annehmen darf, dass man dort nicht wegen sich selbst verletzt wird. Darum war ich da. Ich brauchte Hilfe und war abnorm. Nirgendwo sonst, dachte ich, könnte ich mich risikoarm und sicher damit befassen und arbeiten.
Das Ereignis hat eine Generalisierung, die ich vorher bereits hatte, bestätigt und erweitert. Es hat nicht mehr Macht über mich, als jeder belustigte Kommentar über mein wörtliches Verstehen, jedes amüsierte Nachmachen meines Körperausdrucks, jede Demütigung nach einem Missverständnis, jede soziale Dynamik, die entsteht, weil nicht oder auch anders behinderte Menschen Behinderung mit aufwertender Sonderstellung verwechseln oder Autist_innen (oder auch Menschen mit DIS) als interessant mystische Sonderlinge einordnen.
Jetzt, wo ich weiß, dass sich in diesen Dingen mein Autismus zeigt und Autismus etwas ist, das ich, im Gegensatz zu anderen Dingen, nicht verlernen oder „einfach nicht machen“ kann, sondern ich selbst bin – jetzt ist es unmöglich, dass es keine Macht über mich hat. Es trifft immer mich. Es geht immer um mich. Ich bin immer das Problem der Witz  Trigger Auslöser ja, verdammt, ich kann das nicht einmal sachlich, nicht selbstabwertend benennen, wenn ich es versuche.

Ich habe zu viel Angst, einfach wieder anzufangen und es zuzulassen. Ich weiß, dass es nicht nur wieder passieren kann, ich weiß, dass es mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auch wieder passieren wird. Aber ich weiß, was ich tun kann, damit es mir nicht wegen etwas passiert, das ich sicher auch lassen kann.
Das ist nicht nur Traumalogik.
Das ist auch die Logik der Gewalt.
Beschämung ist Gewalt. Beschämung ist ein Machtinstrument. Sie hat Macht. Es ist irrelevant, ob ich ihr die zuschreibe oder nicht. Ich gebe sie ihr nicht. Sie hat sie. Sie hatte sie schon immer.

Meine Therapeutin redet weiter. Ich antworte und beobachte, wie unsere Worte im Raum, zu einem Bild verwachsen. „Ich könnte es ausdifferenzieren wie beim Schreiben“, denke ich. „Statt mich darzustellen, stelle ich meine Themen und Perspektiven dar. Wer sich daraus ein Bild von mir macht, ist selbst dafür verantwortlich. So hab ich das ja immerhin trotz allem Abhackdruck halten können. Aber geht das beim Fotografieren? Beim Malen? Zeichnen? Comics machen? Drucken?“
Das könnte ich versuchen.
Vielleicht.
Wenn ich mich traue.

Gleichzeitigkeiten

Manchmal sind es Gleichzeitigkeiten, die es mir schwer machen, Auslöser für Traumareaktionen und meine eigenen Fehlschlüsse zu erkennen, obwohl sie mit nur ein wenig veränderter Perspektive unübersehbar sind.
Gleichzeitigkeiten in der Bedeutung von Dingen, um genau zu sein.

Erklärender Ausschwiff, was ich damit meine:
Dass man auch „Verbrenner“ zu bestimmten Autos sagt. Da hatte ich mal eine einigermaßen fürchterliche Zeit, weil ich Verbrennungsvorgänge im Zusammenhang mit Autos nicht vereinbar mit der üblichen Funktionsweise eines Autos empfand. Wenn ein Auto verbrennt, fährt man nicht damit, denn das wäre potenziell tödlich.
Dann habe ich gelernt: Die Fahrzeuge nennt man „Verbrenner“, weil sie im Motor etwas verbrennen, um zu fahren.
Was ich aber brauchte, um eine unfassbare Angst während des Autofahrens nicht mehr zu haben, war eine Einordnung darüber, dass man in einem „Verbrenner“ – ja – in einem Auto sitzt, in dem es brennt (genauer: es einen Verbrennungsvorgang gibt), aber nein – das Auto deshalb nicht automatisch eine Feuerfalle wird, wenn man zu lange damit fährt.
Ja, nein, man macht nicht deshalb eine Rast an Raststätten. Ja, nein, wenn „der Motor überhitzt“, ist das kein erstes Zeichen für eine unkontrollierte Verbrennung, sondern eins für fehlerhafte Kühlung. Ja, wenn die Sonne stark auf die Metallkarosserie scheint, wird sie sehr heiß, aber, nein, der Kraftstoff im Auto kann deshalb weder ausdünsten und wie Gas im Auto entflammt werden – vom Zündschlüssel, den man in das Auto steckt – noch von der Hitze entzündet werden.

Die Gleichzeitigkeit ist in dem Beispiel sowohl die Bedeutung des Wortes, als auch der Schlüsse, die ich damals gezogen hatte. Ich war kein irrational bockiges Kind, das rumspinnt und sich aus Lust am Horror in ein absolutes Katastrophenszenario reinsteigert. Ich habe aus den mir vorliegenden Informationen etwas geschlossen und eine absolut logisch nachvollziehbare Todesangst gehabt, die ich – anders als die Erwachsenen in meinem Leben – weder mit Erfahrungswissen konfrontieren noch mit Vertrauen in meine Bezugspersonen beruhigen konnte.
Bei dem Auto-Feuer-Thema war informierende Differenzierung wichtig, gerade weil es stimmt, dass mit dem Autofahren Feuergefahren bestehen, nur eben nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Ähnliche Differenzierungsbedarfe habe ich bis heute, wenn es um Trigger für traumareaktives Verhalten geht. Nur dass das noch insofern einen weiteren Komplikationsgrad hat, als dass mir meine eigenen Schlüsse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht immer gleich bewusst sind.

Ich habe jetzt den Auslöser für meinen Rückfall in die Essstörung gefunden.
It’s a classic. Drohender Kontrollverlust aufgrund meines aktuellen BMI während meiner Schwangerschaft und unter der Geburt
Für mich mit meinem medizinisch vorbelasteten Autibrain eine absolut klare Kiste: Mediziner *innen haben ihre Werttabellen und daran orientieren sie sich. Punkt. Keine Diskussion. Meine Selbstbestimmung der hill, auf dem ich alleine sterben gelassen werde, weil natürlich niemand jemals wirksam gegen das widerspricht, wozu Ärzt *innen raten. Würde mir ein *e Behandler *in sagen, dass mein BMI irgendetwas nicht zulässt, würde mir niemand beistehen. Ich wäre alleine. Mit einem ausgesprochenen Risiko, das mich vielleicht noch nicht einmal wirklich betrifft, weil der BMI einfach viel mehr zur Messung sozio-ökonomischer und anderer sozialer Diskriminierungsfaktoren taugt als sonst irgendwas. Und es wäre komplett egal, ob ich damit recht habe oder nicht.
Ich wäre allein. Niemand würde mir mehr helfen. Ich wäre in Lebensgefahr.

Schon beim Aufschreiben dieses Absatzes habe ich, ohne es bewusst zu merken, mehrfach geschrieben: „Ich wäre alleine“. Und das, was ich nicht aufgeschrieben habe, hat einfach alle Traumaflaggen auf jedem Erker: „Andere würden mit mir machen, was sie wollen können für richtig/wichtig/angemessen/(mich zwingend) nötig halten, ganz egal, wie das für mich ist.“ „Ich müsste alles mit mir machen lassen, damit mich niemand alleine lässt.“

Da ist sie, diese tückische Gleichzeitigkeit von Gewalt-Trauma und Gewalt-Realität.
Ich habe wirklich und echt so gar keinen Grund, dem medizinischen Apparat grundsätzlich vertrauensvoll zu begegnen. Null. Und gerade im Themenkreis „Schwangerschaft und Geburt“ haben Menschen, die Kinder bekommen können, noch x-mal weniger Grund zur Annahme, im Fall des Falls wäre ihre Selbstbestimmung für irgendwen von Wert. Fast jeder Geburtsbericht einer traumatischen Geburt schreit zwischen den Zeilen in die Welt: „Ich hab zugestimmt, damit ich nicht allein sterbe.“
Da ist immer der Wunsch (und Auftrag und Pflicht und Eid) von Behandler*innen nicht zu schaden und von Angehörigen nur das Beste zu wollen. Und gleichzeitig eine Person, die genau deshalb zu Schaden kommt und die eigene Lebendigkeit (und/oder die des Kindes) als das Beste begreifen soll und in vielen Fällen auch muss.

In genau diesem Dreieck fand das statt, was ich heute als Helfertrauma aufarbeite.
Also jetzt gerade ganz akut. In jeder der letzten Therapiestunden. Ich, Hannah, bin immer wieder extrem aufgemacht an dem Komplex, an dem mein Ich entstanden ist. Als Schutzsystem für eine_n Jugendliche_n, die_r am Helfen anderer Schaden nimmt.
Logisch kommt es zu spontanen Querschlägern, unbewussten Schnellschlüssen, erst einmal nicht nachvollziehbaren Reaktionen, die auch aufgrund des Autismus nicht mal eben einfach mit ein bisschen mehr Reorientierung als sonst containt kriege. Ich bin gleichzeitig in der autistischen Kompensation (die ehrlicherweise auch weitgehend Retraumatisierungsvermeidung ist), der Traumaverarbeitung und in der Traumareaktion.

Ich bin gerade in einem Momentum des Traumaverarbeitungschaos. Das entsteht aus mehr Alltagsamnesien als sonst. Dadurch mehr Anspannung. Dadurch mehr Herausforderung an meine Autismuskompensation im Alltag. Die mich so schon oft über meine Grenzen bringt und mich dünnhäutig macht. Meine Dünnhäutigkeit bietet jüngeren Inneren unerwartet große Fenster in die Gegenwart. Meine Ängstlichkeit über das Gefühl ihrer Blicke durch mich hindurch wird zu einem paradoxen Helfer für mich. Ich habe Angst, sie zu spüren, aber durch meine Angst fühle ich mich sicher. – Wieder so eine Gleichzeitigkeit – Angst haben und so daran gewöhnt sein, dass es mehr Angst machen würde, wäre sie weg, weil ich mich dann nicht mehr sicher im Sinne von zuverlässig fühlen kann.
Und gleichzeitig zu all dem, was allein schon wirklich richtig schwer und zuweilen auch schmerzhaft ist, gehört ein Trigger, der mir – obwohl er mir jetzt unübersehbar erscheint – noch nicht wirklich bewusst war: „Jetzt geht DAS wieder los. Die Klapse und alles. Weil ich mitgemacht hab, aber nicht gut genug. Jetzt knall ich komplett unrettbar durch. Jetzt kann mir niemand mehr helfen.

Jetzt werde ich alleine gelassen.
Eingesperrt.
Mir selbst überlassen.

Ohne jede Möglichkeit, über mich zu bestimmen.

Weil ich zeitweise nicht mal mehr weiß, was ich will.
Was wollen ist.
Wie bestimmen geht.

Es wird eben doch nie enden.

Andere müssen vor mir geschützt werden.
Egal, wie das für mich ist.

Es ist das Beste, wenn ich nicht mehr hier bin.
Ich sollte weg.
Ich muss weg.“

Das hat dann alles gar nichts mehr mit der Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen zu tun, sondern mit der Verarbeitung eines Selbstzustandes, in dem die schwierige Erfahrung nicht mehr nur in mir drin ist, sondern auch im Raum, im Kopf, im Herz meiner Therapeutin und dadurch mit einer anderen Perspektive angeschaut.
Ein Selbstzustand mit neuen bisher ungelebten inneren Zusammenhängen, Selbsterfahrungen und Handlungsmöglichkeiten.
Ich, wir alle als Einsmensch, könnten alles Mögliche machen. Da ist ja was zusammengekommen. Mehr verfügbar als vorher. So ganz objektiv draufgeschaut. Heute ist ja, auch wenn ich mich in diesem inneren Chaos befinde, alles sicher. Alles okay soweit. Und gleichzeitig können wir das noch nicht. Wir können gerade nur, was wir als System jeweils können.

Ich kann richtig kompetent Angst haben und meine Therapeutin anrufen und auf alle ihre Fragen „Ich weiß nicht antworten“, darüber komplett verzweifeln und genau deshalb aber auch präsenter und alltagshandlungsfähiger werden.
Die Anderen können die Kämpfe wieder aufnehmen, die sie damals gegeneinander geführt haben, weil sie gegen nichts und niemanden außen kämpfen konnten. In Form von der Essstörung. Das ist ihr Ding. Ihr Lösungsweg.

Ein Lösungsweg, der schon damals überkomplex war und über zwei andere Systeme hinweg überhaupt gar nichts verbessert hat. Aber etwas sichern konnte. Selbstbestimmung als aktiver Akt. Also etwas, das jeden Tag in bestimmten Handlungen gemacht werden kann.
Selbstbestimmtes nicht alleine Verhungern. Selbstbestimmtes hoffentlich vielleicht an Erbrochenem ersticken. Selbstbestimmter Magendurchbruch. Selbstbestimmter Dauerbauchschmerz. Selbstbestimmte Heimlichkeiten. Selbstbestimmte Schamgrenzen. Selbstbestimmt weggegebene Würde. Selbstbestimmte Zahlenziele. Selbstbestimmte Ideale. Selbstbestimmter Zeitlupensuizid.
0 % Angst. 100 % Kontrolle über die Inneren anderer Systeme, die immer wieder aus ihnen rausbrechen, weil sie um ihr Überleben kämpfen.

Vielesein ist genau diese Art der Gleichzeitigkeiten immer und auf so vielen Ebenen.
Alles ist immer irgendwie verbunden und gleichzeitig komplett voneinander abgetrennt.
Ich kann das alles wissen und trotzdem von genau den Dingen, die ich weiß und über die ich schon tausend Mal gesprochen habe, radikal geschnetzelt werden, einfach nur, weil irgendein bisher nicht so präsentes Innen durch meine Haut sieht und versteht, dass Gewicht immer noch Relevanz in Bezug auf die Selbstbestimmung hat.

„Ja, so wie damals, aber nein, nicht so.“, in einem anderen Szenario könnte ich mich hinsetzen, mich konzentrieren und die Sicherheit vermitteln, das zu erklären. „Schau hier sind die Unterschiede, das läuft so und so … deshalb ist es zwar gleich, aber nicht gleich.
In diesem heutigen Jetzt müssen wir alle, die anderen Inneren und ich alle zusammen, das von anderen Menschen erklärt kriegen. Ich brauche Sicherheiten, die anderen das konkrete Erleben von Selbstbestimmung durch für sie so radikale Akte wie selber etwas (anderes als den Essens/Selbstverletzungs/Suizidschissel) wollen und es dann tun. Wie das geht, müssen wir lernen. Mit Anleitung, denn so etwas hat noch kein Mensch von alleine gelernt.

was es gekostet hat

Ich steige mit der Tür ein. Der gelben Tür, die hinter mir zuschlägt und alles verändert. So beginnt mein Manuskript, weil ich so beginne. Nie kam ich davor. Mir fehlte ein Bindeglied. Eine Idee von mir bevor der Deckel der Station schwer in seinen Rahmen schlug.

Zuletzt haben wir in der Therapie viel Raum dafür gelassen, was mich dahin gebracht hat. Was mich gemacht hat. Zuletzt ging es viel um die Klapsleichen. Davor darum, was es uns gekostet hat, Objekt des Hilfesystems zu sein. Am Ende der Stunde war ich zerschossen von den Querschlägern meiner Gefühle.

„Sie waren absolut am Boden“, hat meine Therapeutin gesagt.
Sie hat in 13 Jahren nur zwei Mal etwas gesagt, das mich in einer Situation ähnlich eindeutig verortet, beschreibt, einordnet.
Jetzt fühlt es sich an, als hätte sie damit einen Keil unter die gelbe Tür geschoben. So, als hätte sie eine Kraft aufgebracht, eine Klarheit hergestellt, um die ich seit vielen Jahren gerungen, doch nie erreicht habe.

Ich kann es auf meiner Haut spüren. Dieses „Vorher“, das wie eine Hitzewand vor der Tür steht und die Eigenschaft hat, mich in eine 14-Jährige zu verwandeln, die nicht weiß, wie ihr geschieht, eigentlich noch 13 ist und diese Tür als entbeinende Schleuse erlebt. Als entkernendes, ent-selbstigendes Moment.
Mein Gefühl ist drückend uneindeutig. Die Erkenntnis aber klar.
Das hat es sie gekostet. Nicht nur die Familie. Die erweiterte Familie. Vermögen. Schulfreund *innen. Die Band. Die Chöre. Die Gemeinde. Die Freund *innen da. Die Nachbarin mit dem Klavier. Die Anarchofriends. Jede Aussicht auf Zukunft. Jeder Raum für eigene Wahrheit. Persönliche Freiheit. Selbstbestimmung.

Es hat sie auch sich selbst gekostet.

die Ausnahme, Teil 2

Ich hatte keine Ahnung, was mich so irritierte, aber immerhin altbewährte Reaktionswege. Angst. Die bekomme ich einfach immer unter.
Mir war schon am nächsten Tag klar, dass ich Hilfe brauchen würde. Noch konnte ich meine geistige Verfusselung auf Reisemüdigkeit und Erschöpfung von der vergangenen Woche zurückführen. Aber als ich am Abend merkte, dass ich überlegte, im Büro statt im Schlafzimmer zu schlafen, war klar, dass ich auf direktem Weg auf die Tanzfläche für einen Vermeidungstanz war.

Der informierte Traumamensch denkt in dem Zusammenhang an Trigger. Was ist mit der Puppe? Habe ich mal was Schlimmes mit Puppen erlebt? Gibt es in mir drin Täter_innenintrojekte, die das Objekt nutzen, um Gewalt im Inneren zu wiederholen? Habe ich mich in Traumawahrheiten verstrickt, nach denen ich nichts Schönes haben darf oder nicht es nicht wert bin?
Ich wusste, dass meine Therapeutin mit mir diese Schiene abfahren würde. Und ich wusste, dass ich ihr keine dieser Fragen ohne größere Tiefenwanderung beantworten könnte. Ich müsste mich für Kinderinnens und andere Seiten öffnen, um das Problem wenigstens eingrenzen zu können. Aber hier zu Hause, unbegleitet, unstrukturiert und spontan, machen wir sowas nicht.
Wir haben trotzdem miteinander telefoniert und versucht, eine erste grobe Idee zu bekommen. Am Ende hatte ich keine grobe Idee. Aber ich konnte die Angst teilen und wissen, dass wir beim nächsten Termin daran arbeiten würden, würde ich keine eigene Lösung finden.

Vor ein paar Jahren hätte ich in so einer Situation auch noch den Begleitermenschen anrufen können.
Der ist aber seit einigen Jahren nicht mehr Teil meines Hilfenetzwerks. Deshalb habe ich versucht, seine Fragenstruktur anzuwenden.
Was genau löst die Angst aus? Ist es die Präsenz des Objektes oder seine Beschaffenheit oder virtuelle (implizite oder theoretische) Elemente, die dadurch zum Tragen kommen? Wäre die Angst weg, wäre das Objekt nicht mehr da?

Die Frage hat mir dann weitergeholfen.
Ein bisschen „Erstangst“ wäre dann zwar weg, aber das auslösende und noch unbekannte Problem bestünde weiterhin und das würde zu meinem täglichen Grundrauschen der Unsicherheit (und Angst) beitragen.
Es waren also mehrere Punkte.
1. Ich weiß den Auslöser nicht. (Kontrollverlust)
2. Ich weiß nicht, was ich machen soll. (Ohnmacht)
3. Ich fühle mich nicht sicher damit, etwas auszuprobieren – einfach irgendwas zu machen, ohne zu wissen oder gesagt zu bekommen, ob und wenn ja, wie es wirken würde. (Hilflosigkeit)
4. Die Menschen in meinem Leben müssen konkret gesagt und erklärt bekommen, was mich belastet und warum (und wie sie mir helfen können), damit sie mich nicht ungewollt verletzen oder Überanstrengung auf beiden Seiten entsteht. (zwischenmenschliche Trigger- und Belastungssituation für mich, Verzweiflung)

Mit meiner Therapeutin landete ich am Telefon bei der Frage, ob ich schöne Dinge wirklich haben darf oder ob Erwachsene Geld für eigene Spielsachen ausgeben dürfen, dies das. Nach der Analyse ausgehend von der Angst als solcher, war mir sehr klar, dass es damit wenig zu tun hatte und ich jetzt akut erst einmal ins Angstmanagement gehen musste. Die Analyse gehört bereits dazu – mir hilft ein klarer Überblick eigentlich immer, um mich etwas sicherer zu fühlen.
Dann bin ich am Tag öfter als sonst durch das Schlafzimmer und an der Tüte vorbeigegangen. Wenn ich telefoniert habe, wenn ich meine Wäsche eingeräumt habe. Wenn ich mal zufällig einfach so aus dem Fenster schauen wollte. Meine Dehnübungen gemacht habe. Gezielte Desensibilisierung. Absichtliches Aussetzen, um zu begreifen, dass der Gegenstand unabhängig von mir und nur ein Gegenstand ist, der aus sich selbst heraus nichts macht. Also ich ihn mehr kontrollieren kann, als er mich.

Erst war es schwierig, weil es Zitat „umständlich behämmertes Rumgetue, wegen nichts ist“. Dann wars egal und die Angst eigentlich nur noch da, wenn ich mich darauf vorbereitet habe, sie in die Therapiestunde mitzunehmen. Wo ich mir einen Umgang erarbeiten wollte, aber noch nicht wusste, wie genau, weil ich noch weniger als sonst wissen konnte, ob meine Therapeutin mich überhaupt versteht oder wenigstens das Problem sieht, das ich noch nicht sehen kann. Weshalb ich es ihr nicht schildern und erklären kann, weshalb wir diffus herumsondieren und probebohren würden und es ein gewisses Absturzrisiko für mich dabei gibt.

Solche Stunden hatten wir vor der Autismusdiagnose und ihrer Anpassungsarbeit daran ständig und das war fürchterlich. Fürchterlich anstrengend. Frustrierend. Wenig hilfreich und in manchen Aspekten eine Weiterführung meiner früheren Therapieerfahrungen. Damals habe ich versucht, dem diffusen Rumgebohre zu entgehen, in dem ich das Gespräch vorher in alle Richtungen in meinem Kopf geführt habe, um nicht von mir selber überrascht zu werden und dann nicht zu wissen, was ich machen soll.  Was natürlich fast nie funktioniert hat. Aber Teil meines Angstmanagements war. Auf diese Weise hatte ich die Stunde jeweils schon einmal durchgearbeitet und mich auf alles (wirklich alles) Mögliche vorbereitet – sie dann wirklich zu machen, war so kein Gang ins absolut Ungewisse, keine Auslieferungssituation mehr.

Heute bereite ich mich anders auf die Stunden vor. Nach 12 Jahren gemeinsamer Arbeit wartet in mir niemand mehr darauf, dass meine Therapeutin mir ungefragt und sexuell motiviert (körperlich) nahekommt, Partei für meine Eltern ergreift oder Druck darüber aufbaut, wie schnell oder in welcher Art irgendwelche Fortschritte für sie erkennbar sein sollten. Wir kennen ihre Gesprächsführung und können in den letzten Jahren auch viel besser abschätzen, was sie meint oder worauf sie sich bezieht. Wir haben einen für mich guten Grad an Konkretheit gefunden, der mich enorm entlastet und entsprechend auch viel weniger Versagensängste und Stress produziert.
Ich kann mich heute darauf konzentrieren, worüber ich reden will und brauche nicht mehr zu verstecken, wenn ich meine Therapeutin nicht verstehe oder unter Druck gerate oder Angst bekomme oder mich generell hilflos fühle. Und trotzdem möchte ich mich natürlich nicht so fühlen. Vor allem nicht im therapeutischen Setting, das für mich so vorbelastet ist.
Und doch lässt es sich in manchen Momenten nicht verhindern. Diesen Momenten, wo Autismus und Komplextrauma so wirklich überhaupt gar nicht voneinander zu trennen sind. Weder für mich noch für sie.

Als ich die Treppen zur Praxis meiner Therapeutin hochging, hatte ich eine Woche hinter mir, in der ich bewusst nicht weiter ins Vorausdenken der Stunde gegangen bin. Ich wollte darüber reden, was ich denke und was ich von mir wahrnehme – Punkt. Bedeutung dies das – diese Ebene kann meine Therapeutin schneller sehen als ich und mich entsprechend befragen. Ich kann dann selbstbestimmt prüfen, ob da was dran ist oder nicht.

Die Stunde wurde so lang und anstrengend, wie erwartet. Aber kurz vor ihrem Ende wurde mir mein Problem klar:
Mir fehlte ein Handlungsskript für Neuheiten dieser Art in meinem Leben und ich musste es mir alleine erarbeiten. Und jetzt doppelneu – möglichst nicht komplett brutal entkoppelt von Kinderinnens oder anderen Inneren, die sonst überhaupt nichts in meinem Dunstkreis zu suchen, finden, wollen oder besitzen haben. Und trotzdem mittendrin sind. Und ihrerseits auch versuchen, mit meiner Therapeutin in Kontakt zu kommen.
Ja.
Es ist einerseits so banal (einfach nur auf etwas Neues, Ungewohntes, mit unvorhersehbaren Auswirkungen auf mich klarkommen müssen) und andererseits so eine komplexe Herausforderung.

Neues ist für mich sauschwer. Neues kenne ich nicht. Ich bin noch nicht daran angepasst, nicht vertraut damit, nicht vertraut mit mir darin und entsprechend weder sicher noch kontrolliert. Und Neues ergibt sich für mich sehr schnell, weil ich Unterschiede sehr schnell erkenne und die betrachteten Dinge, Gegenstände, Situationen entsprechend als komplett unterschiedlich einordne.
So habe ich schon oft Puppen gekauft und fühle mich gut damit – sogar so gut, dass ich mich komplett in die Überheblichkeit aufschwingen kann.
Ich habe aber noch nie eine Puppe für mich gekauft, was es für mich insgesamt zu einer komplett anderen Sache macht, die ich noch nicht kenne und für die ich noch kein Handlungsskript von Anfang bis Ende, keine Selbsterfahrung und Erfahrungskompetenz habe. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll oder tun könnte. Geschweige denn, wie genau. Mein Kopf ist diesbezüglich einfach leer. Ich kann nichts umsetzen.
Das ist kein bockiger Quirk, keine Folge von Todesangst. Das ist ein angestrengtes gegen das eigene Gehirn ankämpfen. Das ist eine exekutive Dysfunktion. Die mich wiederum an Todesängste bringt, weil es mich an sämtliche Erfahrungen erinnert, in denen ich in meiner Hilflosigkeit und Ohnmacht einfach nicht gesehen, erkannt, aufgefangen oder begleitet wurde.
Erfahrungen, wegen derer ich heute selber denke, ich würde mich anstellen. Könnte doch, wenn ich nur würde oder wollte. Wegen derer ich überhaupt nur den Impuls habe, solche Schwierigkeiten und Kämpfe zu verschweigen oder unsichtbar zu halten, obwohl es mich viel Kraft kostet und auch meinen Raum für mich selbst total verkleinert und das Bild anderer Menschen über meine Fähig- und Fertigkeiten enorm verzerrt. Überwiegend zu meinem Nachteil übrigens.

An jenem Ende der Therapiestunde fragte meine Therapeutin im Hinblick auf unsere verbleibende Zeit und das bisher ergebnislose Gespräch: „Was machen wir jetzt?“
Für mich war es gut, dass sie das genau so formuliert hat. Wir – was machen wir jetzt?, da war die Erinnerung für mich drin, dass sie da war und ich nichts allein versuchen müsste. Also überlegte ich noch einmal, was ich mich auszuprobieren trauen würde, jetzt, wo eine ganz andere Sicherheit über die Gesamtlage bestand.
Ich schlug vor, eine Erwachsenensache daraus zu machen. Ich könnte den Schritt des Auspackens hier machen und dann gucken, wie es zu Hause ist, damit wir das Thema nicht in die nächste Stunde mitnehmen müssten. Dann müsste das Kinderinnen, das ihr die Puppe auch zeigen wollte, halt damit leben, dass der Kontakt so nicht geht. Mir wäre das auch ganz recht … 1, 2, 3 Vermeidungstanzschritt nach links 2, 3 …

Meine Therapeutin hatte vergessen, dass sie eine Nachricht mit dem Wunsch bekommen hatte, als wir in Italien waren. Ich nicht. Ich wusste, dass sie die Nachricht überhaupt nur bekommen hatte, weil die Ausnahme bestand und war ganz froh darum, dass sie bisher überhaupt nicht weiter darauf eingegangen war, außer nach Erhalt der Nachricht positiv zu antworten.
Grundsätzlich gilt: Ausschließlich in Situationen, die von uns aus innerlich zu lebensgefährlichen Situationen werden könnten, darf exakt ein Kinderinnen (nämlich das, was ich nicht unterdrücken kann und bereits Kontakt mit meiner Therapeutin hatte) Nachrichten an sie schreiben. Für Killefit und Scheiß (also alles andere) bedarf es einer Ausnahme.

Sie verfolgte den Faden um die Nachricht weiter und drückte aus, dass es ihr wichtig wäre, diesen Anteil nicht auszuschließen. Ich entgegnete, dass sie die Nachricht ja nur wegen der Ausnahme über die Zeit in Italien bekommen hatte. „Und jetzt ist ja keine Ausnahme, jetzt ist hier Erwachsenenalltag, um den es geht, ALSO GEHT DAS ALLES GAR NICHT“, schrie ich* (*definitiv nicht nur ich) inzwischen maximal frustriert. In meinem Kopf. Natürlich. Sicher ist sicher.

Wir haben dann noch mal eine Weile gebraucht, bis wir eine Ausnahme als nötig und den Umständen angemessen beschließen und von meiner Seite aus auch bewilligen konnten.
Und im Nachhinein betrachtet sehe ich selber, was für eine logische Fortführung das war. Obwohl wir bisher keine Ausnahmen in der Ausnahme gemacht haben. Denn Therapiestunden sind ja bereits eine kommunikative Ausnahme, weil (und je nachdem wie) der Arbeitsraum das erfordert.
Ich konnte an dem Punkt anerkennen, dass ich es anders nicht lösen können würde.

Die Sache – Italienreise, Puppenkauf für mich – ist an sich extrem außergewöhnlich gewesen für mich.
Ich war nicht zu Hause. Alles war anders. Ich habe (für mich) komplett andere Sachen gemacht als sonst. Und das alles ist in dieser Ausnahmenblase geblieben. Bis auf die Puppe und die Nachricht an meine Therapeutin. Ich musste für die Erarbeitung des inklusiven Umgangs damit einen Ausnahmeraum erlauben.

Und als wir an dem Punkt waren, ging es ganz leicht. Extrem merkwürdig, ungewohnt und teilweise ich-fremd, aber absolut nicht so schwer wie alles in den anderthalb Stunden davor, um überhaupt dahin zu kommen.
Es hat geholfen, dass meine Therapeutin das nicht extra kommentiert hat. Für mich war wichtig und gut, dass sie akut mit mir in dem Moment war, für mich ansprechbar war, für mich die Situation absichernd, mich in dem, was ich da tat, versichernd war. Wie es Lisa in dem Laden übrigens auch war. Wie es Daniela und Matthias, das Team in der Hilfeeinrichtung in der ganzen Ausnahmesituation in Italien auch waren. Sie wussten das nicht so in dem Zusammenhang, aber vielleicht war das auch genau gut für mich.

Die Ausnahme hat mir diese Art der Verbundenheit, des Kontaktes ermöglicht. Gleichzeitig hätte ich niemals irgendeine Ausnahme zugelassen, hätte es weder Kontakt noch Verbundenheit gegeben.
Weil alles anders war als sonst, konnte ich etwas anderes als sonst tun – das ist, weshalb die Therapie mein einziger konstanter Ausnahmeraum ist und bis zum Ende der Behandlung auch bleiben wird.
Vielleicht – wahrscheinlich – egal, wie viele Ausnahmen ich in dieser Ausnahme noch brauchen werde, um mich neuen Dingen, Umständen, Selbsterfahrungen anzunähern und darin er.kennen, verstehen und meine Handlungsoptionen zu lernen.

Bis zu dieser Stunde war mir das nicht bewusst.
Und was das für mich bedeutet, wie es sich anfühlt, wie wer in mir darüber denkt – darüber kann ich nachdenken, wenn ich mich daran gewöhnt habe, dass es jetzt einen ersten Gegenstand in meinem Haushalt gibt, der eine außerordentlich weitreichende Ausnahme bezeugt.

die Ausnahme, Teil 1

„Beweglich wie die Hindenburg“, denke ich unzufrieden mit mir selbst, als ich die Praxis meiner Therapeutin verlasse. Ineffizient komme ich mir vor. Komplett behämmert, hätte ich jetzt Zeit und Raum für eine altbewährte Selbsthass-Schleife. Ich habe aber nicht mehr viel Zeit. Die Therapiestunde war sehr lang, ich habe nur noch 50 Minuten für meine anderen Erledigungen, bevor mein Zug nach Hause abfährt. Der Stress macht es mir leicht, den Fokus nach außen zu drehen. Ich ziehe durch. Erledige alles, arbeite im Zug, fahre vom Bahnhof direkt zum Training und von da nach Hause.
Erst geduscht, mit dem Abendessen im Bauch, kann ich mich wieder etwas aufmachen.
Erst dann hole ich die Puppe aus dem Rucksack und lege das schöne Packpapier, in das sie eingeschlagen war, flach ins Bastelregal.

Die Puppe habe ich in Italien gekauft. Im Spielzeugladen in Arezzo.
In meinem üblichen Alltag gehe ich nur in Spielzeuggeschäfte, um jemandem ein Geschenk zu besorgen. Für mich selbst kaufe ich bei diesen Gelegenheiten entweder einen Kreisel, denn die sammeln wir, oder sensorisch interessante Tüddel, die in die Hosentasche passen.

Ich ziehe ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Vielen aus dem Umstand, dass ich in solche Geschäfte gehen kann, ohne in einen kindlichen Zustand zu kippen. Überhaupt bin ich ziemlich stolz darauf, mich in der Hinsicht inzwischen überwiegend im Griff zu haben. Also in 99,9 % der Fälle. 0,01 % der Fälle sind Traumareaktionen. Wechsel, die ich nicht beeinflussen kann, weil ich die Situation nicht (genug) beeinflussen kann. Etwa in der Therapie oder in Situationen, die traumatischen Situationen sehr ähnlich sind. Wie der Zustand nach einer Narkose.

Ich mag, dass Kindliches praktisch kaum eine Rolle in meinem Leben spielt. Ich habe keine designierte „Innenkinderzeit“, ich mache keine außerordentlichen Besonderheiten speziell für meine Kinderinnens und die haben auch keine Freund_innen oder Aufgaben im außen. Es gibt sehr eng gesteckte Rahmenbedingungen dafür, wann Innenkinder etwas neben mir her miterleben oder mitmachen dürfen bzw. können. Und noch viel engere dafür, dass sie sich mit mir vermischen.
M., eine frühere Freundin von mir, fand mich immer fies deswegen. Hat oft zum Ausdruck gebracht, ich wäre viel zu hart, viel zu krass, viel zu brutal in der Hinsicht. Mich hat es verletzt, dass sie nie die Fiesheit, die Brutalität gesehen hat, die dazu führte, dass ich diese Haltung entwickelt habe.

Meine „Fiesheit“ an der Front ist ganz klar das Ergebnis von therapeutischen Eingriffen in stationären Kliniksettings. Von der Brutalität, die sich daraus ergab, dass ich auf eine psychiatrische Unterkunft und Hilfe angewiesen war, um zu überleben, aber Wechsel, dissoziatives Erleben, bestimmte „auffällige Symptomatik“ (wie es Wechsel zu traumareaktiven (kindlichen) Anteilen nun einmal sind) teils massiv sanktioniert wurden. Unterstützung von der Pflege – nur als Erwachsene_r. Anerkennung von Leiden, Beistand in unerträglichem Wiedererleben oder emotionalen Flashbacksituationen – nur wenn man sprechen und verstanden werden kann. Nur, wenn sich Pflege, Betreuung, Therapeut_innen sicher und wohlfühlen, sonst Keule. Also Medikamente. Betäubung. Kopp zu.
Zudem bin ich unter diesen Bedingungen erwachsen geworden. Ich war 16 als das anfing und Anfang 20 als es aufhörte. Den Umgang anderer Menschen mit meinen dissoziativ von mir getrennten kindlichen Anteilen habe ich häufig als etwas erlebt, das benutzt wurde, um mich in meiner Selbstbestimmung einzuschränken und in meiner jugendlichen Alltäglichkeit bzw. jungen Erwachsenheit infrage zu stellen.
Und als Einfallstor der Überforderung für Therapeut_innen, die entweder keine oder wenig oder keine fundierte (bindungs)traumatherapeutische Vor-, Weiter-, Fortbildung hatten und entsprechend inkompetent mit Übertragungen, Traumaexploration- oder -exposition umgegangen sind.

In der Zeit konnte ich nicht verhindern, dass es zu Wechseln (für mich: Amnesie) kommt – diese Gefahrensituationen sind immer wieder aufgetreten und ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, irgendwelche Konsequenzen abzuschätzen. Sollte sie aber antizipieren, um von Therapieerfolg oder Entlassung ausgehen zu können. Ich dachte also, ich würde nur dann je normal oder gesund sein, würde ich mich zu jedem Zeitpunkt kontrollieren können. Und Kontrolle, das hatte ich mir übersetzt mit dem Umgang, der mir in diesen Kliniken geschah: Unterdrückung. Kopp zu. Unsichtbarkeit. Es besteht Kontrolle, wenn niemand was von den inneren Vorgängen mitbekommt. Dann ist alles gut. Alle sind zufrieden. Niemand dringt in mich ein. Niemand überfordert mich.

Dieses Verständnis von Kontrolle über mich selbst nach innen hatte ich vorher nicht. Ich komme nicht aus einem Täter_innenkreis, der mich zur Unauffälligkeit erzogen hat. Mir wurde das nicht in irgendeinem dunklen Keller reingequält, sondern vor aller Augen und mit vollster Unterstützung der Gesellschaft psychiatrisch antrainiert. Ich sollte immer mitmachen – sonst. Ich sollte immer verstehen – sonst. Ich sollte immer reden, denken, einsehen – sonst. Und ich dachte und spürte sehr genau, dass ich nur überlebe, wenn ich diesem Anspruch auch Folge leiste.
Meine Gefühle, meine Einschätzungen von bestimmten Dingen, die wurden stets als bekannt vorausgesetzt und nur von einer Therapeutin, in der Tagesklinik, die ich dann als junge Erwachsene öfter aufsuchte, auch mal abgefragt.
Meine Behandlung war in sehr vielen Bereichen ein von mir unkontrollierbarer Selbstläufer, den ich sehr lange weder verstehen noch wirklich selbstbestimmt mitgestalten konnte. Es war die beste Entscheidung, die ich für mein Weiter- und Rauskommen aus diesem stationäre Psychiatrie-teilstationäre Tagesklinik-Drehtür-Elend treffen konnte, einfach ganz extrem böse fies gemein brutal hart gegenüber meinen Kinderinnens (und Jugendlichen und Bösen und Dunkelbunten …) zu sein. Und sie so weit wie nur irgend möglich zu versiegeln – noch bevor ich sie überhaupt selbst mal frei und im sicheren Rahmen wahrgenommen oder auf ihre Funktionen für mein Innenleben geprüft habe.

Soweit meine Erzählung.
Die übliche Traumaerzählung über so fiese Kinderhasser-Innens wie mich ist: ANPs, die alltagskompetenten (angeblich) untraumatisierten Anteile, suchen Kontrolle über sich, weil sie so die Konfrontation mit dem Trauma vermeiden. Kinderinnens = Traumaträger, also Kinderinnens – Nein, danke. Will ich nicht, kann ich nicht, Adios, Tschö, bitte gerne ohne mich
Ist viel dran. Keine Frage. Trifft komplett auch auf mich zu.
Enthält aber auch das Problem, dass man Verhalten zum Zustand erklärt und in der Folge aus dem Blick verliert, zu prüfen, ob es durchgehende Eigenschaften, Merkmale, Prädispositionen gibt, die dieses Verhalten auch bedingen.

Ich bin nämlich nicht nur extrem fies zu Kinderinnens. Ich bin auch richtig gemein zu Anteilen, deren Auftauchen oder Bedarfslage unsere Handlungskripte herausfordern oder bestehende Situationen unübersichtlich machen. Und dabei geht es 0 um Traumakonfrontationsvermeidung, sondern um die Vermeidung einer Traumatisierung.
Ich bekomme Probleme durch „abweichlerische Innere“, weil mir diverse alternative Handlungsskripte fehlen, die ich heute als erwachsene Person einfach nicht mehr beigebracht bekomme und für die mir auch kaum mehr Lern- und Übungsraum zugestanden wird.
Die Erwartung ist, dass ich jederzeit einfach weiß, welche Konventionen wann greifen, einfach merke, was wer wie wann warum meint oder denkt oder fühlt. Verhalte ich mich unkonventionell oder sozial unangemessen, wird einfach angenommen, dass ich ne schräge (gefährliche) Else oder „voll gegen den Mainstream“ bin. Und entsprechend ist der Umgang mit mir. Man fürchtet mich vielleicht einfach oder meidet mich oder tritt mir gegenüber konfrontativ auf – und ich weiß nicht, warum.
Oder man öffnet sich mir gegenüber komplett in der Annahme, ich wäre bereit für emotionale oder auch sexuelle Intimität und ich muss gucken, wie ich das balancieren kann und will. Grenzen dies das – Sicherheit! dies das. Und das immer unerwartet, nicht beeinflussbar und unabhängig davon, welches Innen aktiv ist oder wo wir gerade sind oder was wir warum, wie mit wem machen.
In diesem Zusammenhang ergibt sich die traumareaktive Dynamik erst nach einer ganz anderen Problematik, nämlich der, ein autistischer Mensch unter nicht-autistischen Menschen zu sein und als solcher den Alltag, aber auch die Therapie, die Beziehungen und Lebensthemen zu navigieren.

In Italien zu sein, war eine der krassesten positiven Ausnahmesituationen der letzten Jahre für mich.
Ich mache Ausnahmen. Ich kann Ausnahmen. Wenn ich weiß, wie lange, wofür und warum.
Und manchmal werde ich in so einer Situation über.mutig. Dann denke ich, dass, weil in der Situation, in diesem Moment im Grunde alles möglich ist, weil es eine Ausnahme ist, mir selbst auch alles möglich ist.
Neue Dinge auszuprobieren, fällt mir dann auch tatsächlich leichter. Essen, das ich nicht kenne. Mit Menschen reden, die ich nicht kenne. Irgendwo schlafen, wo ich noch nie geschlafen habe, zum Beispiel.
In einer Ausnahmesituation sind für mich alle Parameter sämtlicher Eigenschaften und möglicher Verläufe in die Zukunft auf einem Level. Alles kann genauso gut, wie schlecht laufen.
Das Gantt-Flussdiagramm in meinem Kopf, über die Abläufe, Funktionen und Mechaniken in meiner direkten Umgebung, wird dann eher zu einer Momentsammlung. In einer Ausnahmesituation kann ich gar nicht viel mehr aufnehmen und prozessieren als den akuten Moment. Ich weiß, dass ich mich an Ausnahmen nur selten so umfänglich und detailliert erinnern kann wie an meinen Alltag. Vor allem nicht, wenn ich mir keine Notizen mache oder Ankerpunkte zum Prozessieren setze. Wie und was genau ich da erlebe – die Kapazität, das einzuordnen und zu bewerten, die halte ich dann gar nicht erst bereit.

Ausnahmen, die ich gezielt zulasse, müssen sich für mich lohnen. Ich muss mich sicher fühlen. Ich muss (wenigstens für mich allein) wissen, dass ich sie jederzeit sofort beenden kann und niemanden dafür brauche.
Dort im Spielzeugladen von Arezzo war die Ausnahme bereits bestehend. Und ich in alle Richtungen offen wie ein Scheunentor. Hätte mich etwas ungünstig getriggert, hätte es mich umklatschen können und tja Ciao Kakao, mal gucken, wie es weitergeht. Es hat mich aber nichts getriggert. Ich stand da, Lisa, die Praktikantin, mit der ich da war, zeigte mir ein besonders weiches Objekt und ich folgte einem Wunsch, die anderen Gegenstände in dem Regal auch anzufassen. Uns, einigen Kinderinnens, Jugendlichen und mir, hat ein Objekt gut gefallen, weil es viele verschiedene Strukturen hat. Wir wollten es haben und wir haben es gekauft. Nicht sofort, aber auf dem Rückweg, als mir klar wurde, dass ich es nicht umsetzen würde, wäre die Ausnahme vorbei. Ohne Ausnahme kaufe ich im Spielzeugladen einen Kreisel oder einen Tüddel oder ein Geschenk. Das ist das Skript. Zu Hause habe ich keinen Anlass für eine Ausnahme.
Wir bezahlten das Objekt, das ich, einmal ausgesucht und länger in der Hand, überhaupt erst als Puppe erkannte, und sagten ja, als wir gefragt wurden, ob sie eingepackt werden soll. Und so brachten wir sie nach Hause. In einer großen bunten Papiertüte, in braunem bedrucktem Packpapier.

Die Tüte stellte ich ins Schlafzimmer, meinen Rucksack in den Flur. Ankommen, auspacken, Wäsche waschen, den Text schreiben, Maillawine auffangen …
Alles war gut.
Bis ich am nächsten Morgen an der Tüte vorbeiging und von echter Panik ins Gesicht geboxt wurde.

vom Erarbeiten von Erinnerungen

Es ist 10 Jahre her, dass es 13 Jahre her war.
Ich erinnere mich an den Tag, an die Situation und daran, wie es mir damals ging. Hier habe ich sogar darüber geschrieben. Ich erinnere mich daran, wie belastend es für mich war, überhaupt zu diesem Termin zu kommen. Die innere Vorarbeit, die äußere Vorarbeit. Ich musste für die Zugfahrt sparen und sparen hieß damals noch, dass ich auf Notwendiges verzichte. Ohne Sookie bin ich dahin gefahren. Dumm aber klug. Ich war ohne jeden Anker, aber die Rückfahrt wäre ein Albtraum für sie geworden.

Ich war allein. Mit dieser Person, die so maßgeblich an dem beteiligt war, was damals passierte. Mit mir, in mir, meinetwegen. Und wie damals blieb ich ungesehen von ihr.
Oder ich konnte die Art, wie sie mir gezeigt hat, dass sie mich sieht, nicht übersetzen. Dann reden wir von einem Gefühl von mir. Einem Eindruck. Einer Erlebensrealität von mir, die zwar passiert und wirkt, aber kein Faktum über die Sache darstellt. Finde ich wichtig.
Obwohl mir ehrlich gesagt lieber wäre, wäre es so einfach, wie es mir mein Gefühl vermittelt. Hier eine unsensible Person, die rücksichtslos ihren Interessen folgt und ignoriert, welches Leid dabei entsteht und da ich, leidend. Klare Grenze, eindeutige Rollen.

Ich leide aber nicht, oder?
Ich kaue daran. Komme immer wieder darauf zurück. Verbringe keinen Monat, vielleicht nicht mal keine Woche, ohne dass ich über drei, vier Ecken dann doch wieder daran denke. Sei es, weil ich helfe oder weil mir geholfen wird. Sei es, weil ich mit der Innenarbeit weiterkomme oder eben genau nicht.
Im Moment schreibe ich mein nächstes Buch. Das wird eine narrative Biografie. Faktisch richtig muss darin nicht alles sein. Es ist meine Erzählung davon, wie bestimmte Dinge waren. Und natürlich stoße ich an dieses Ding. Das inzwischen 23 Jahre her ist und verdächtig stark überhaupt kein Gefühl bei mir weckt, sondern schlicht beunruhigenden Druck durch eine viel zu nah drängende Nebelwand der Dissoziation. Und Loyalitätskonflikte. Verantwortungsfragen.

Wann immer man sich traumatisierenden Erfahrungen widmet, muss man sich fragen, wozu man das eigentlich macht. Dadurch bekommt man Kraft. Eine kleine Lücke zwischen Wahrnehmen und Reagieren, in der man sich einen Plan machen kann. In der man Dämme gegen Erinnerungsfluten und Drainagesysteme gegen Gefühlsstau errichten kann. Es ist einfacher, wenn man ausgestattet und vorbereitet den Hahn aufdreht.
Mein Hahn tropft. Und obwohl ich gewappnet und vorbereitet bin, weiß ich: Der Boden darunter ist bereits komplett und weiträumig aufgeweicht. Der wird mich nicht tragen, sondern einsinken lassen. Es ist unwahrscheinlich, dass ich in Fluten ertrinke oder mit der Masse nicht klarkomme. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass ich nicht mehr da wegkomme und der Hahn wirklich komplett abgebaut werden muss, weil sich ein neuer Standpunkt von mir ergeben hat.
Übersetzt also: Diese Sache sickert schon so lange in mich ein, dass eine Beschäftigung damit etwas mit mir machen wird, von dem ich bereits diffus, unsortiert, uneindeutig, vage weiß. Wahrscheinlich brauche ich den „Hahn“ noch nicht einmal weit zu öffnen, also meine Erinnerungen angestrengt kommen lassen. Sehr wahrscheinlich fluten mich weniger die Erinnerungen als ihre Bedeutung für mich. Ihre Implikationen für viele Aspekte meines Lebens. Die Verantwortung, die ich habe.

Vielleicht schätze ich das jedoch nur so ein, weil ich ein kleines Intellektualisierungsmupfi bin.
Lange über das Ereignis nachdenken und grübeln, das habe ich vor etwa 20 Jahren als Merkmal der posttraumatischen Belastung kennengelernt. Nicht aufhören können, daran zu denken, im Kopf immer wieder die gleichen Brandreden halten, sich immer wieder überlegen, was wäre wenn; was würde gewesen sein, wenn; hätte nicht, würde, wäre wenn … Das ist genau meine Sparte.
Dinge, die ich nicht verstehe, Dinge, die ich nachvollziehen kann, Dinge, die ich nicht vorhersehen kann, Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, Dinge, die ich nicht ändern kann, Dinge, die ich gerne ändern, verstehen, vorhersehen, nachvollziehen, kontrollieren können, würde – alles immer in meinem Kopf. Das ist meine Stärke, meine Ressource, mein Umgang mit allem. Allerdings kann ich das in Bezug auf die meisten anderen Dinge in meinem Leben beeinflussen. Wenn ich eine Idee habe oder einen Plan, dann höre ich auf. Dann hat das Nachdenken keinen Sinn mehr.
In Bezug auf Traumainhalte habe ich diese Kontrolle nicht. Ich komme einfach nie zu einer Idee. Einem Plan. Das ist, weshalb es klug ist, mit anderen darüber zu sprechen. Alle gemachten Gedanken auszubreiten und mit jemand anderem darauf zu schauen. Dafür ist es sinnvoll, alle gemachten Gedanken zu kennen.
Ich kenne nur meine Gedanken. Die der Anderen in mir noch nicht.
Und deren Gefühle? Die auch nicht. Nicht wirklich.

Am Ende dieser Arbeit werde ich haben, was man „kohärente Erinnerungen“ nennt. Ich werde sagen können, dass ich mich nach 23 Jahren endlich klar erinnere. Und es wird klingen, als hätte ich mich dafür entschieden, weil es mir jetzt in den Kram passt. Oder als ob da vorher nichts gewesen wäre, kein Problem, kein Grauen, kein Trauma – aber dann plötzlich doch.
Und in Wahrheit habe ich die ganze Zeit immer wieder und wieder und wieder Erinnerungen daran gehabt. Immer und immer und immer wieder darüber nachgedacht und versucht sie zu be.greifen, zu ordnen, mich selbst zu verorten in Bezug dazu, ohne den persönlichen Standpunkt zu verlassen, auf dem ich mich sicher fühle.

Seit 10 Jahren geht das so. Mindestens. Denn die Reise vor 10 Jahren war bereits ein Versuch, aus dieser ständigen Kreiselei herauszutreten. Und ja, das ist mein Leiden darunter im Kern. Nicht, dass es passiert ist, nicht, dass ich einer gewissen Verantwortung nachkommen muss, wenn ich diese Erfahrung öffentlich teile, sondern, dass ich bis dato nicht aus mir selbst heraus klären, be.greifen, ordnen und abspeichern konnte. Ich war so allein, als es passierte, wie ich allein war, als ich versuchte, es zu begreifen. Und auch hier wieder: kein Faktum, sondern Erleben.

Vor 10 Jahren bin ich allein losgezogen, um das zu klären.
Heute habe ich andere Möglichkeiten.

der Podcast „Geteiltes Leid“, eine Besprechung in 4 Teilen

Transparenzhinweis: Dieser Text entstand unbeauftragt. Finanziell ermöglicht haben ihn Steady-Unterstützer_innen. Die im Podcast und diesem Text erwähnte Emanuel Stiftung hat sich 2019 mit einem kleinen Beitrag an der Realisierung meines ersten Buches „aufgeschrieben“ beteiligt.

„Der Podcast ‚Geteiltes Leid‘ entstand im Rahmen des Projekts ‚Hast du schon gehört‘, welches durch das Programm ‚Demokratie im Netz‘ der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben umgesetzt wurde. Mit diesem Projekt setzt Arbeit und Leben ein klares Zeichen gegen Desinformation und für eine stärkere Demokratie.“

Ich musste lachen. Denn da saß ich nun nach einigen Tagen mit E-Mails und Gesprächen über diesen Podcast und der Desinformation, die damit verbreitet wird, und las diesen Abschnitt auf der Projektwebseite. Nachdem ich die vierteilige Podcastserie gehört habe, erscheint mir kaum erreicht, was man sich mit dem Projekt vorgenommen hat. „Kritisches Hinterfragen“, „ein eindrucksvolles Beispiel für investigativen Journalismus“, „die Politik auffordern, Verantwortung zu übernehmen“ – das habe ich nicht gehört. Aber dramatische Geschichten. Viele Annahmen und unvollständige Andeutungen. Viel Vermischtes. Und das alles ohne eine Perspektive der Menschen, um die es letztlich geht.

Teil 1 – „Der Fall Leonie“

In den ersten beiden Episoden wird die Kranken- und Leidensgeschichte von Leonie (Pseudonym) erzählt. Es wird aus ihrer Krankenakte vorgelesen. Ihre Medikation und andere Details geteilt, die normalerweise besonders geschützte persönliche Informationen sind. Die man als Journalist_in nicht ohne weiteres öffentlich zitieren darf, auch wenn einem die Eltern die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.

Das alles passiert ohne Leonie. In meinen Augen der größte Makel an „Geteiltes Leid“.
Denn der Podcast entmenschlicht sie und verdeckt die Ausbeutung ihrer Geschichte. Sowohl dadurch, dass Hörende sich keinen eigenen Eindruck von ihrer Person machen können, als auch durch unkommentierte Aussagen ihrer Eltern. Zum Beispiel die von ihrem Vater in der ersten Folge: „Wenn die Leonie zu Hause war, dann war sie ein unheimlicher Zeitfresser.“, „Man konnte auch mit ihr praktisch kein Gespräch führen. Sie konnte ins Wohnzimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und schlechte Laune verbreiten, alleine durch das, wie sie sitzt und welche Ausstrahlung sie hat. Wie ein Scheißhaufen von einem Hund.“ Es ist entsetzlich und verantwortungslos, dass eine solche Aussage überhaupt oder zumindest nicht einordnend ausgespielt wird. Man könnte oder sollte bereits hier den Podcast einfach ausschalten.

Die Erzählung von Leonies Krankengeschichte passiert nicht, um über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Auswirkungen auf ihre Familien zu sprechen. Selbst die lange Zeit der lebensbedrohlichen Behinderung eines Kindes und der strukturellen wie individuellen Kämpfe, Sorgen und Prozesse, die dadurch in der Familie entstehen, wird nur ansatzweise und gefiltert durch die Leidenserzählung der Mutter erahnbar. Etwa, als sie in Folge 4 über die wöchentlichen Besuche ihrer Tochter im Pflegeheim sagt: „Und das ist so, das ist der schlimmste Nachmittag in meiner Woche.“
Das Podcast-Team möchte vielmehr aufzeigen, dass Therapeut_innen an Verschwörungserzählungen glauben und ihre Patient_innen als Beweis dafür missbrauchen, um persönliche wie politische Ziele zu erreichen.

In allen Folgen wird Leonie, genauer gesagt ihre Kranken- und Leidensgeschichte, nun wiederum als Beweis dafür benutzt, dass eben jene Erzählung über missbräuchliche Therapeut_innen und einen vor diesem Unrecht und Leid der Opfer passiven Staat wahr ist. Das ist Objektifizierung.

Für mich besonders brisant daran: Leonie ist heute offenbar schwer beeinträchtigt. Die Beschreibung ihrer Eltern legt nahe, dass sie nicht oder nur eingeschränkt fähig ist, ihre Lage zu überschauen, zu gestalten und über sich selbst zu bestimmen. Es wird nicht offengelegt, wer sie rechtlich vertritt. Dass Eltern über ihre erwachsenen Kinder aber nicht ohne richterlichen Beschluss beziehungsweise ohne eine von den Kindern erteilte Vollmacht bestimmen dürfen, wissen viele Menschen nicht. Damit erscheint Zuhörenden wahrscheinlich auch legitim, dass Leonies Eltern und Journalist_innen ihre Geschichte erzählen. Der Gedanke ist möglicherweise: „Leonie kann das ja vielleicht gar nicht mehr – dann müssen es ja andere für sie machen.“

Weil es im Podcast nicht ausführlich begründet wird, frage ich mich: Kann Leonie aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst im Podcast sprechen? Oder bedarf es Anstrengungen von Seiten der Journalist_innen, Eltern und anderen Menschen, ihr das zu ermöglichen? Anstrengungen, auf die von dieser Seite gern verzichtet wurde? Wenn das der Fall war, warum war das für alle Beteiligten in Ordnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Einwilligung und einem Einverständnis. Einen Willen kann auch jemand haben, die_r kein Verständnis von der Gesamtlage hat. Hat Leonie ein Verständnis von dem Bild, das ihre Eltern in der Öffentlichkeit von ihr vermitteln? Ist sicher, dass sie das so will? Fragen wie diese ergeben sich ganz natürlich, wenn man es mit psychisch schwer erkrankten oder intellektuell („geistig“) behinderten Menschen zu tun hat. Es erfordert eine umfassende Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, über statt mit behinderten/(chronisch) kranken Menschen über ihre Er.Lebenserfahrungen in öffentlich zugänglichen Medien zu berichten. Das ist alles andere als trivial.

Entsprechend tauchte für mich bei diesem Podcast bereits in der ersten Folge die Frage auf, warum man sich für Leonies Geschichte entschieden hat, wenn Leonie selbst gar nicht zu Wort kommen kann oder will oder möchte. Oder soll? Direkt von etwas betroffene Menschen sind sogenannte „unzuverlässige Erzähler_innen“ – man muss ihre Aussagen stets einordnen. Warum wurde darauf verzichtet?

Später, in Folge 4, kommt eine Person, die Amelie genannt wird, zu Wort. Sie wurde ebenfalls mit der falschen Annahme konfrontiert, sie könnte Rituelle Gewalt erlebt haben und hätte eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Warum nicht diese Geschichte? Weil diese Person weniger schwer geschädigt wurde? Weil ihr Leid entsprechend geringer ausfällt – sie konnte sich ja wehren oder schützen? Brauchen Menschen wie Leonie so eine (diese?) Plattform, weil sie den schwersten Schaden haben? Woran soll das gemessen werden? Oder weil schwer geschädigt zu werden eine große Angst aller Menschen in einer ableistischen Gesellschaft wie unserer ist, wo Behinderung nach wie vor in vielen Lebensbereichen gleichbedeutend ist mit „unwert sein“?
Wie schnell man sich im Nachdenken über diese Fragen doch in einer Dynamik findet, die von ableistischer Opferfeindlichkeit und der Vermeidung der Anerkennung von Gewalt als immer leidauslösend gekennzeichnet ist. Bei einem Format, das die Demokratie stärken will, finde ich das bemerkenswert.

Ich komme nicht umhin, anzunehmen, dass man sich mit dieser Geschichte die Emotionalisierung der Debatte sichern wollte. Als sei eine Fehldiagnose, eine Behandlung durch missbräuchliche Psychotherapeut_innen oder ganz allgemein eine psychotherapeutische oder psychiatrische Falsch- oder Nichtbehandlung nicht schon schlimm genug.

Boulevard-journalistisch mag das lauter sein – menschlich, moralisch, ist es in meinen Augen nieder. Niemand, wirklich niemand, dem eine Betroffenheit zugesprochen wird, die sie_r nicht hat, von einer_einem Therapeut_in missbraucht wurde oder eine falsche Diagnose hat, hat etwas von einer emotionalisierten oder ableistischen Debatte darüber.
Die Aufmerksamkeit dient ausschließlich dem Medium und im Verlauf den Journalist_innen. Diese Art der Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der man nur in ganz spezifischen Kontexten etwas anfangen kann. Marginalisierte Menschen, wie behinderte Menschen oder Opfer von Gewalt, finden nicht in diesen Kontexten statt. Auch wenn das Narrativ von Opferschaft als lukratives Mittel der Selbstdarstellung weiterhin viele Vertreter_innen findet. Opferfeindlichkeit ist einfach eine der Alltagsgewalten, der sich sehr viele Menschen bis heute nicht bewusst sind.
Bis sie selbst zum Opfer werden.

Über psychische Krankheiten reden

Wenn man möchte, dass sich viele Menschen für das Leid anderer Menschen interessieren, dann muss ein Bezug hergestellt werden. Man muss eine Geschichte aus einem Leben erzählen, das wie jedes andere auch sein könnte. Sonst können sich Menschen nicht reinfühlen. Nicht annehmen: Das könnte auch ich sein.
Deshalb beginnt fast jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit, und weil die meisten Menschen Krankheit als temporären Zustand erleben, endet auch jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit. Oder mindestens der zuversichtlichen Aussicht darauf.
Leonies Geschichte beginnt mit Krankheit und endet damit. Das gefällt mir sehr gut, denn das sind die Geschichten über psychische Krankheit, die so gut wie nie gehört werden. Egal, wie oft wir Betroffenen sie der Öffentlichkeit vermitteln. Es wird von vielen Redaktionen einfach als zu deprimierend eingeschätzt. Nicht sexy. Nicht uplifting. Nicht oder nur schwer vereinbar mit kommerziellen Interessen.

Unheilbare, tödliche psychische Krankheiten sind eine Realität, mit der sich die meisten Menschen nicht abfinden wollen. Auch Leonies Eltern nicht, die mit diesem Podcast schon das zweite Mal die Geschichte ihrer Tochter benutzen, um ihre für viele Menschen absolut nachvollziehbar inakzeptable Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen. [1] Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesellschaft behinderte, unheilbar kranke Menschen verhindern will und Mitleid mit diesen Eltern hat. Und dass eben jene Gesellschaft psychische Krankheiten überwiegend als individuelles Kampfgeschehen begreift, das man „quick and dirty“ mit nur genug Willen und Kraft beenden kann.

Anorexia nervosa, die Magersucht, an der Leonie bereits als Kind erkrankt (nachdem sie eine Kindheit mit Erstickungsgefahr durchs Essen erlebt hat), ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Laut Prof. Manfred Fichter von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sterben 10 bis 15 Prozent der an Magersucht erkrankten Menschen. 7 Prozent der erkrankten Magersüchtigen sterben durch Suizid. Die durchschnittliche Zeit der Erkrankung liegt bei 15 Jahren. [2]
Das ist schlimm. Traurig. Bitter.
Was noch bitterer ist: die durchschnittliche Wartezeit für einen Klinikplatz zur Behandlung einer psychischen Krankheit außerhalb psychiatrischer Notfallversorgung. Vor allem, wenn der körperliche Zustand einer medizinischen Mitbehandlung und Überwachung bedarf. Und erst recht, wenn zusätzlich noch eine Behinderung oder weitere Erkrankungen wie eine stoffgebundene Sucht oder eine (komplexe) Traumafolgestörung dazu kommen und eine entsprechend spezialisierte Behandlung erforderlich ist. Wie bei Leonie.

Dieser Komplex – die bittere Krankheits- und Behandlungsrealität – wird in dieser Podcastreihe nicht beleuchtet, und das ist meiner Meinung nach desinformierend. Denn das Bild von Leonies Lage, aber auch das ihrer Eltern und aller Helfer_innen, Betreuer_innen und Psychotherapeut_innen, wird dadurch massiv verzerrt dargestellt.

Die Aussagen der Eltern, die durchgehend ihr eigenes Leiden unter Leonies Krankheit, Verhalten und Re.Agieren beschreiben, kommunizieren im Kern immer auch, niemand habe ihr geholfen, niemand habe ihnen geholfen, obwohl das doch möglich gewesen wäre. Mit genug Kompetenz. Und Strenge gegenüber Leonie vielleicht. Oder Autorität. Oder Zwang, wenn nötig. Tatsächlich aber darf niemandem geholfen werden, die_r es nicht will, und nicht jede Hilfe bedeutet ein Heilungsversprechen. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von Ärzt_innen, Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Krankenhäusern behandelt werden kann, die aufgrund des demographischen Wandels und des Wirtschaftlichkeitszwangs im deutschen Gesundheitswesen einfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen jeder psychiatrischen, psychologischen oder auch pädagogischen Hilfe- und Therapiemaßnahme gehört immer auch, dass sie nicht hilft oder den Zustand sogar verschlimmern kann. Wie bei Medikamenten gilt: Alles, was wirkt, kann wirken. Auch im unerwünschten Sinne.
Das ist ein absolut grundlegendes Faktum über Maßnahmen dieser Art. Jede_r Behandler_in, jede_r Helfer_in muss das wissen und den Patient_innen, Betreuten, Begleiteten und deren Angehörigen mitteilen. Befremdlich, dass die Ärztin, die uns Hörende als Host durch diesen Fall führt, das nicht vermittelt.

Dass die Eltern offenbar bis heute glauben, sie wurden um eine geheilte Tochter betrogen, kann man in diesem Zusammenhang sogar verstehen. Die (psychotherapeutische) Versorgung und Unterstützung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen ist nämlich noch viel schlechter und erfordert manchmal eine Psychodiagnose, die man sich als Beamte_r (als Lehrer_in oder Polizist_in zum Beispiel) nicht ohne Sorge um negative Konsequenzen geben lassen kann.
Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Kind möglicherweise unheilbar krank ist und ein Leben mit Behinderung(en) führen muss, ist für manche Menschen unfassbar schwer. Und wenn man dabei nicht unterstützt wird, kann eine Vermeidungshaltung und die Anschuldigung Dritter eine naheliegend logische Entwicklung sein.

Schwierig, problematisch, ja im Grunde tragisch wird es, wenn Dritte solche Anschuldigungen benutzen, um eine eigene Geschichte zu erzählen.

Teil 2 – „eine Geschichte, alles zu erklären“

Am Ende der zweiten Folge passiert ein Sprung, den ich auch beim zweiten und dritten Mal Anhören nicht verstehe.
Bis dahin erfahren wir, dass Leonies Zustand immer schlechter wird. Und wir erfahren, dass ihr Vater, nachdem sie absolut unfähig zur Selbstbestimmung im Krankenhaus ist und keine rechtliche Betreuung mehr hat, ihre Sachen aus ihrer Unterkunft holt. Dabei findet er einen USB-Stick, auf dem ein Video gespeichert ist. Laut der Moderation zeigt das Video, wie Leonie getauft wird. An einem offenbar schönen Tag, an einem schönen Ort, umgeben von offenbar wohlgesonnenen Menschen. Obwohl aus den im Podcast abgespielten O-Tönen keinerlei Bedrohung oder soziale Beziehung der Leute zu einander ersichtlich ist, sagt die Sprecherin zu dräuender Musik, dieses Video mache dem Journalist_innen-Team klar, dass es in Leonies Fall um ein Netzwerk ginge. Das ist angesichts dessen, was wir hören, eine irritierende Schlussfolgerung.

Mit dieser Passage endet für mich nicht nur die erste Folge des Podcastes, sondern auch mein Wille, an eine ergebnisoffene, investigative und umfassend recherchierte Arbeit dieses Teams zu glauben. Denn welches Netzwerk kann nur hinter einer Taufe stecken? Die christliche Kirche. Ein globales, ideologisch verbundenes Netzwerk, das als Organ einer Weltreligion einen allgemein legitimierten Platz in der menschlichen Kulturgeschichte einnimmt.
Der Eindruck, der hier zu erwecken versucht wird, ist, dass diese (in Leonies Leben zweite) Taufe, dieses Ereignis, das ausschließlich religiösen Zwecken dient und in der Regel mit einer standesamtlich wie sozial anerkannten Gemeindezugehörigkeit einhergeht, in irgendeiner Weise aufgezwungen wurde. Von Leuten, die Leonies Leiden entweder nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Also von Leuten, die gar nicht das Beste für sie wollten, sondern im besten Falle religiöses Brauchtum, im schlechtesten Fall, dass sie leidet.

Die trotz gemeinschaftlicher Verbindung letztlich doch individuelle und in der Regel selbstbestimmte religiöse Widmung und Auseinandersetzung mit sich selbst in schweren Lebensphasen wird hier als gefährlich kommuniziert. Ob es Leonie gutgetan hat, sich ein zweites Mal taufen zu lassen, ob sie es gewollt hat, weil es ihr emotionale Kraft gegeben hat, erfahren wir nicht. Wir hören jedoch erneut ihren Vater, der sein Entsetzen über seine Annahme äußert, Leonie sei zu diesem Zeitpunkt auch körperlich nicht versorgt worden. Was niemand außer Leonie und ihren Begleiter_innen wissen kann.
Zuhörende werden mit dieser Darstellung in die Idee manipuliert, die freikirchliche Gemeinde, die Leonie damals Unterkunft und soziale Gemeinschaft gab, hätte lieber für sie gebetet und Unsinn geglaubt, als sie medizinischer Behandlung zuzuführen.

Diese Erzählung – „Ideologisch überzeugte Hokuspokus-Therapeut_innen und Helfer_innen enthalten kranken Menschen echte Hilfe vor“ – sehe ich seit über 20 Jahren in Veröffentlichungen, die ihrerseits wissenschaftlich widerlegte Aussagen über die „Fälschbarkeit von Erinnerungen“ und verschwörerisch anmutende Theorien über die Unterwanderung von Medizin und Forschung durch (feministische) Akteur_innen verbreiten.
FMS, ick hör dir trapsen.
Und tatsächlich. Im Interview mit podcast.de sagt Khesrau Behroz, Mitgründer von Undone und Produzent des Podcast „Geteiltes Leid“: „Auf die Protagonisten kamen wir durch Beratungsstellen, die sich um Opfer schädlicher Therapien und deren Angehörige kümmern. Eine davon ist False Memory Deutschland e. V..“[3]

Alles, was nun in „Geteiltes Leid“ erzählerisch skizziert und argumentiert wird, folgt der Argumentation und Logik der „False Memory-Erzählung“.
Einschließlich des extrem emotionalisierenden Schlagwortes „satanic panic“, der im Titel der dritten Folge steht. Ein Begriff, der – wie immer, wenn die Protagonist_innen oder die Meinung der Redaktion davon beeinflusst ist – in der Folge nicht umfassend und inhaltlich unzureichend erläutert wird, was dazu führt, dass ein weiteres Mal das Gesamtbild verzerrt, also ein weiteres Mal desinformiert wird. Eine Dynamik, die ebenfalls seit jeher zur Debattenführung von False Memory um Rituelle Gewalt gehört und als Strohmann-Strategie[4] bekannt ist.

Der Begriff „satanic panic“ wurde in den 80er Jahren im US-amerikanischen Sprachraum verwendet, um eine teilweise auch religiös gefärbte Massenhysterie der US-Gesellschaft zu beschreiben, nachdem ein Buch mit dem Titel „Michelle remembers“ erschienen war. Das Buch handelte von einer Frau, die berichtete, mittels Hypnose an verschüttete Erinnerungen an satanistischen Missbrauch gekommen zu sein. [5]
Die davon ausgelöste Debatte beeinflusste massiv auch die öffentliche Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren, das klären sollte, ob Betreiber_innen und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool ihre Schutzbefohlenen missbraucht und in satanistisch anmutenden Szenarien gequält haben. [6]
Es gab ein für diese Zeit, in der das Privat-Fernsehen gerade erst etabliert wurde und der Kampf um die Einschaltquoten praktisch entfesselt tobte, unfassbares Medieninteresse und eine Berichterstattung, die sich zügellos in Mutmaßungen und moralischer Raserei erging.

Anfang der 80er Jahre gab es praktisch keine Standards für die polizeiliche Vernehmung bzw. Befragung von Kindern. So kam es sowohl zu wiederholten als auch suggestiven Befragungen, die zu Falschaussagen der Kinder führten. Diese Falschaussagen und deren schiere Anzahl führten zu dem Eindruck eines begründeten Verdachtes, in dessen Folge es zu dem Verfahren gegen die Schulleitung und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool kam.
Auslöser der polizeilichen Befragungen der Vorschulkinder war die Meldung einer Mutter, ihr entfremdeter Ehemann und ein Lehrer (Enkel der Schulleitung) hätten ihr Kind missbraucht. Die Mutter hatte ihr Kind entsprechend suggestiv zu Bauchschmerzen befragt.
Das Verfahren lief in Etappen bis 1990, als letztlich sämtliche Vorwürfe fallengelassen wurden.

Die im Podcast „Geteiltes Leid“ genannte Sendung mit Geraldo Rivera lief 1988 und war eine der meistgesehenen Talk-Show-Sendungen ihrer Zeit. Ein kommerzieller Traum für den Sender. [7] Ein kommerzieller Traum, den sich sowohl vorher als auch nachher viele Sender erfüllen wollten. Obwohl bereits damals offensichtlich wurde, dass mit der Erzählung von rituell mordenden Satanist_innen, die Kinder sexuell missbrauchen, auch die Zahl von Anzeigen und Falschaussagen im ganzen Land stieg.
Mit einer „Panik über oder vor Satanist_innen“ hat das, was der Begriff „satanic panic“ beschreibt, weniger zu tun als mit einem kulturellen Wandel der US-Gesellschaft, der bestimmte moralische Grundwerte in Frage zu stellen schien und bekämpft werden sollte. Der Begriff, der soziologisch gesehen zutreffender für dieses Phänomen ist, lautet: „moral panic“ [8] und beschreibt die gesellschaftlich kontrollierende Wirkung dieser und ähnlicher Erzählungen.

Menschen eine irrationale, weil von Panik verzerrte Annahme, also gewissermaßen eine wahnhafte Überzeugung nahezulegen, wenn sie ideologisch motivierte oder legitimierte und sexualisierte Gewalt in jedwedem Kontext für möglich halten, ist DIE Strategie von False Memory seit Gründung der ersten Gruppe. Verrückt, also krank, verantwortungslos und egoistisch motiviert muss sein, wer glaubt, dass Inzest und andere Formen sexualisierter Gewalt ein regelhaftes Geschehen in praktisch jeder Gesellschaft sind. Das ist eine implizierte Folgerung dieser Gruppe, mit deren Ideologie und orchestrierten Strategien sich zuerst Jennifer Freyd, die Tochter des Gründer-Ehepaares, herumschlagen musste[9] und bis heute in gewissem Grad jedes einzelne Opfer sexualisierter Gewalt in jedem nur möglichen Zusammenhang. Diese Strategien lassen sich mit dem Akronym DARVO nachvollziehen: Deny (Leugnen), Attack (Attackieren) and Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Für einen investigativen Podcast, der „die Mechanismen hinter Verschwörungsideologien sichtbar zu machen und einen Beitrag zur politischen Aufklärung zu leisten“ zum Ziel hat, ist die Protagonisten- und Geschichten-Akquise aus diesem Umfeld das Ende für den eigenen Anspruch. Denn unter False Memory kommen Menschen unter der Prämisse zusammen, dass sexualisierte Gewalt sehr selten und regelhaft von Psychotherapeut_innen eingeredet sei, um unschuldigen Individuen zu schaden. Was in Bezug auf die Realität von sexualisierter Gewalt nicht stimmt und nicht objektiv belegbar ist in Bezug auf die Psychotherapeut_innen.
Das schließt False Memory und damit assoziierte Protagonist_innen für jegliche Zusammenarbeit, die Üb.Erlebenden von sexualisierter Gewalt und/oder Menschen mit psychischer Erkrankung nach Gewalterfahrungen nicht schaden soll, aus.

Ich stelle mir im Hinblick auf die Realität von sexuellem Missbrauch und einer Psycho- bzw. Traumatherapie, die inzwischen ganz anders arbeitet als in den 70er und 80er Jahren, auch die Frage, warum man sich für das Ziel der Aufklärung über Verschwörungstheorien und ihre Folgen nicht mit QAnon, Chemtrails oder Impfgegnern befasst hat. Die Recherche dazu stelle ich mir viel einfacher vor, weil sie viel weniger Risiko bietet, dass Einzelpersonen in ihrem persönlichen Leid zur Schau gestellt und letztlich ausgenutzt werden.

Aber vielleicht geht es bei der Wahl dieses Themenkomplexes ja tatsächlich um Menschen, die an schlechte Therapeut_innen geraten und so Opfer von Falschbehandlung geworden sind.
Diese Geschichten passieren und ihre Protagonist_innen lügen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Begründung dieser Geschichten mit einem einge.schworenen Netzwerk aus verschwörungsgläubigen (also irrationalen) Einzelpersonen mit Verbindungen bis „ganz nach oben“ und wissenschaftlich als falsch nachgewiesenen Annahmen[10], [11] über die Folgen und Auswirkungen von Psychotrauma muss einer Redaktion als einer Verschwörungstheorie nahekommend auffallen. Und in ihrer Folge ebenfalls als etwas erkennbar sein, das den Betroffenen nicht hilft.

Schrödingers Journalismus – investigativ und unfähig, das Naheliegende zu sehen

So ist der Verlauf der Podcastserie für mich wie ein Autounfall, bei dem ich nicht weghören kann. Man versucht, sich als Patientin für ein Erstgespräch getarnt bei der Psychotherapeutin von Leonie einzuschleichen, um sie zu etwas zu befragen, worüber sie überhaupt nicht sprechen darf, weil sie einer Schweigepflicht unterliegt.
Eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, unter der die Journalist_innen nicht leiden – dafür aber die Patient_innen, die gerade in Not sind und ein Erstgespräch brauchen.

Man spricht mit einer Psychotherapeutin, die selbst für mich als halbwegs informierten Laien erkennbar nicht korrekt informiert ist über die ganz basalen Grundlagen der aktuellen Traumaforschung – und dazu noch irritierend überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns und Wirkens als Therapeutin und Ärztin. Aber man meldet sie offenbar nicht bei der Kammer, wie es die Eltern von Leonie damals bei einer anderen Behandlerin von Leonie ganz richtig gemacht haben. Wie es jede_r machen kann, wenn sie_r an eine_n Behandler_in gerät, an dessen_deren Kompetenz und Handlungsweise Zweifel bestehen. Für solche Situationen gibt es Strukturen. Verantwortliche. Handlungsoptionen für Patient_innen. Niemand muss in so einem Fall schweigen oder wird von irgendwem davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Ressourcen dazu habe ich in den Quellnachweisen dieses Betrages zusammengetragen.[12] Das journalistische Rechercheteam, das neben Politik und Wissenschaft auch die Zivilgesellschaft zur Verantwortungsübernahme aufrufen will, hätte diese Informationen ebenfalls teilen können.

Doch nein, man kreiselt sich immer weiter hinein in die ebenfalls kaum haltbare Erzählung von Unklarheit und fehlenden Belegen für Rituelle Gewalt.
So wird gesagt, die Polizei habe keinerlei Kenntnis über Fälle von Ritueller Gewalt. Auch das ist eine desinformierende, weil unvollständige Aussage.
Denn: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst keinerlei religiöse oder politische Motive für Straftaten. Es gibt eine Abteilung im Bundeskriminalamt, die „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ beobachtet, doch die konzentriert sich auf Islamismus und keine andere Religion oder Weltanschauung. [13]
Wenn also Journalist_innen die Polizei fragen, ob sie Fälle von Ritueller Gewalt kennen, dann antwortet diese: „Nein.“, weil Rituelle Gewalt kein erfasstes Kriterium für die Polizei ist. Mord im Namen einer Religion ist Mord, ideologisch motivierte Vergewaltigung ist Vergewaltigung.

Abgesehen davon gibt es allgemein bekannte Fälle Ritueller Gewalt. Eine einfache Google-Suche zu folgenden Fällen bzw. Gruppierungen hilft: Colonia Dignidad, Kwa Sizabantu, Niederbonner Schwestern, Zeugen Jehovas, Scientology, Orde der Transformanten.

Warum Fälle wie diese nicht als Rituelle Gewalt verstanden werden, kann anhand dieses Podcasts ganz gut illustriert werden:
Zum Einen bewegt man sich, wie gesagt, im Kontext eines Strohmann-Arguments.
Man will einfach, dass Rituelle Gewalt als von Satanisten ausgehend verstanden wird. Immer wieder wird in einen (von False Memory oder „Zweiflern“) selbst geschaffenen und selbst aufrechterhaltenen Diskursraum getragen, „die da“ (die unfähigen Hokuspokus-Therapeut_innen, die religiös wahnhaften Christenpriester und wer nicht noch alles) würden an satanistische Eliten glauben, die ihre sadistischen Phantasien an wehrlosen Kindern ausleben und alle Schichten der Gesellschaft damit beeinflussen – genauer gesagt: verrückt machen.

Während „die da“, welche forschend über Rituelle Gewalt sprechen, die jedwede ideologisch geprägte Weltanschauung zugrunde liegen haben kann und zunehmend als „Thema“ zur Vertuschung oder „inhaltliche Gestaltung“ von organisierter Gewalt verstanden wird. Weshalb es immer wieder auch die sprachliche Weiterentwicklung zur schärferen Abgrenzung dieser zu anderen Formen von Gewalt geben wird. So funktionieren Wissensentwicklung und Diskurs. Wer es genauer weiß, spricht nicht in einfachen Schlagworten. Und schon gar nicht in so übertrieben vereinfachten Worten, wie es für ein Strohmann-Argument notwendig ist.

Eine umfassende Entwicklung der Definition des Begriffs „Rituelle Gewalt“ ist öffentlich zugänglich einsehbar und zeigt, wie sich über die Jahre hinweg mehr und mehr Trennschärfe ergeben hat.[14]
Es ist desinformierend, in einem Podcast zu behaupten, es gäbe keine eindeutige Definition. Und in meinen Augen einfach unverschämt, Menschen um Begriffsklärung und Erläuterung der eigenen Arbeitsgrundlage zu bitten und ihnen dann „Schlagwort-Slalom“ vorzuwerfen.
Das passiert in Folge 3, nachdem Eva Lauer von Lüpke, Vorsitzende der Emanuel-Stiftung und Unterstützerin von Leonie. Lüpke wurde vom Podcast-Team zu einem allgemeinen Gespräch über ihre Stiftung eingeladen und hat offenbar viel Zeit und Mühe aufgebracht, so unmissverständlich wie möglich Definitionen und allgemein missverständliche Schlagworte zu klären. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf eine über 45 Jahre andauernde Begriffsentwicklung mit erheblichem Anspruch einhergeht.

Das Verhalten des Podcast-Teams erscheint mir spätestens dann nur noch dreist, als Olga Herschel, die Journalistin, die uns als Sprecherin durch diesen Podcast führt, sagt: „Alles, wirklich alles an Ritueller Gewalt scheint heikel zu sein und dadurch bleibt vieles im Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke sehr schwammig. Aber es gibt einen Fall von Ritueller Gewalt, der ist sehr konkret und den hat Eva Lauer von Lüpke aus nächster Nähe erlebt: Leonie.“
Plötzlich haben sich also die Klarheiten gedreht. Leonie ist also doch ganz konkret Rituelle Gewalt geschehen und die, die es wissen muss, schließlich leitet sie eine Stiftung, die sich unter anderem für Opfer Ritueller Gewalt einsetzt, spricht schwammig.
Interessante Wendung.

Nach dem Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke spricht Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Zum zweiten Mal bekommt das Team sinngemäß vermittelt: „Hey, Leute, ‚satanistischer Missbrauch‘ – damit sind wir hier überhaupt nicht befasst. Niemand hier redet von dem, was ihr unterstellt. Es gibt gar nicht so viel Unklarheit, wie ihr annehmt. Hier, diese Zahlen konnten wir erarbeiten, das ist unser Stand der Auseinandersetzung, das ist unsere Datenlage.“
Und wieder wird einer klar erläuternden und daher wenig missverständlichen Interviewpartnerin „Schlagwort-Slalom“ vorgeworfen, weil diese nicht sagt, was das Team hören will, um die Argumentationslinie, der sie inhaltlich folgt, zu bestätigen. Hier sind wir schon weit von seriösem Journalismus entfernt.

Wer dieser Argumentationslinie zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefolgt ist und anschließend als mutiger Gegenpol dargestellt wurde, ist Jan Böhmermann mit einer Folge der Sendung „ZDF Royale“. Seine vom Podcast-Team sogenannte „Kritik“ an der Erzählung über Rituelle Gewalt wurde nach mehreren Beschwerden beim Fernsehrat vom ZDF depubliziert. Eine außergewöhnliche Situation, denn so schnell wird von einem Sender nichts depubliziert. Da müssen dann schon extreme Mängel zu finden sein.
In dieser Sendung jedoch, die als Satire-Sendung bekannt ist, wurde nicht, wie für Satire üblich, nach oben getreten. Also sich über Menschen oder Umstände lustig gemacht, die politisch oder gesellschaftlich verantwortlich sind für Dinge, die schieflaufen. Tatsächlich wurden Gewaltbetroffene und ihre Erfahrungen herabgewürdigt und sich über die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber als Einzelperson lustig gemacht. Eine Person, deren Einfluss auf Deutschland kaum zu vergleichen ist mit dem eines_r Politiker_in oder ähnlichen Verantwortungsträger_innen.

Eine Fernsehsendung, deren Witz nur dann funktioniert, wenn man annimmt, dass Menschen mit Traumafolgestörungen und/oder spezifischen Gewalterfahrungen lügen oder ihre Krankheit und die Überzeugung, bestimmte Gewalterfahrungen gemacht zu haben, von jemandem wie Michaela Huber eingeredet bekommen, ist keine Satire. Das ist nicht einmal Kritik. Das ist opferfeindlich und abwertend gegenüber Menschen mit psychischer Krankheit und gegenüber Michaela Huber möglicherweise auch üble Nachrede oder Verleumdung.[15]

Auch wenn – und darüber muss es einen gesellschaftlichen Konsens geben – es nötig ist, das Thema auch kritisch in der Öffentlichkeit zu besprechen, um Falschbehandlung und Falschanzeige oder Falschverdächtigungen zu verhindern oder aufzudecken – so wie es das ZDF Royale gemacht hat, ist es einfach nicht in Ordnung. Denn egal, wie man es dreht und wendet – es wird nie witzig oder gesellschaftlich anständig sein, darüber zu lachen, dass Menschen Gewalt erfahren haben. Sei es, weil sie ihnen tatsächlich passiert ist oder sei es, weil ein_e Therapeut_in sie davon überzeugt hat. In beiden Fällen ist den Menschen etwas passiert, das nicht in Ordnung war und ein soziales Umfeld erfordert, das diese Erfahrung ernst nimmt, in ihrer Bedeutung begreift und angemessen reagiert. „Hihi haha, Satan-Kostüm, guckt mal, die komische Frau und der Quatsch, den sie erzählt“, ist kein angemessener Umgang. Eine solche Sendung zu depublizieren und auch im Nachhinein nicht noch einmal neu produziert zu veröffentlichen, ist unter der Prämisse, nicht zu schaden oder zur Herabwürdigung von Menschengruppen beizutragen, nur richtig und hat mit umfassender Diskursverhinderung, wie es das Podcast-Team von Undone in Interviews und in der dritten Folge vermitteln, nichts zu tun.

Dass ein Rechtspsychologe wie Andreas Mokros den Schutz von Opfern durch Verhinderung solcher Sendungen erschreckend findet und eine universitäre Verantwortungsposition inne hat, finde ich nun wiederum erschreckend.
Jemand, der etwas für Menschen wie mich tun und erreichen möchte, sollte mir nicht vermitteln, ich müsse es aushalten, dass ganz Deutschland darüber lacht, was mir passiert ist oder passiert sein könnte. Die Konsequenz eines solchen Umgangs mit meinen Gewalterfahrungen – wie gesagt, entweder durch Therapeut_innen oder organisierte Straftäter_innen – ist eine Demütigung aufgrund meiner Erfahrung und meiner Erkrankung. Für mich ist das eine weitere Gewalterfahrung und in letzter Konsequenz auch offene Diskriminierung.

Bedauerlich ist zudem, dass mit ihm und seinem Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu einem Streit verkommt, dessen Ziel nicht das Schaffen oder Erweitern des Wissensstandes zu ideologisch oder weltanschaulich motivierter Gewalt und ihren Folgen zu sein scheint, sondern – ja, was eigentlich?

Die intersektionale Forschung, also die Zusammenarbeit verschiedener Professionen zu einem gemeinsamen Thema, könnte enorm bereichernd sein und Betroffenen tatsächlich helfen. Warum ist es in der deutschen Wissenschaft so viel leichter, einander zu diskreditieren und in der Fachlichkeit in Frage zu stellen, als zusammenzuarbeiten? Vor allem, wenn es doch allen „nur um die Sache geht“?
Der Gedanke, der mir in Bezug darauf sehr naheliegend erscheint, ist, dass es eben nicht „nur um sie Sache geht“. Wäre dem so, würde meiner Ansicht nach über nicht über Rituelle Gewalt diskutiert oder darüber, dass andere Forschende den Herrn Mokros für einen „wadenbeißerischen Bösewicht“ halten, sondern über die Möglichkeiten und Grenzen unabhängiger Forschung zu Gewalt, die so selten von Täter_innen selbst angezeigt wird, dass es ganz zwangsläufig immer wieder zu „Aussage gegen Aussage-Situationen“ kommt und damit zu einer außerordentlich herausfordernden Zugangs- und Interpretationslage. Keine Seite wird schnell zu eindeutigen Ergebnissen kommen, solange sie sich im Streit mit der anderen befindet. Aber immer wird es Menschen geben, die davon profitieren, dass es noch unzureichend beantwortete Forschungsfragen und einen extrem schwierigen Zugang zum Forschungsfeld gibt: Menschen, die Gewalt ausüben und Menschen, die Täter_innen vor der Strafverfolgung schützen wollen.

Teil 3 – „und die Nebelkerze brennt“

Im Folgenden macht der Podcast inhaltlich einen breiten Bogen.
Er macht Aussagen über Studien- und Forschungsbetriebsarchitektur, die eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit kaum in ihrer Validität einschätzen kann, und ordnet sie zum nächsten emotionalisierenden Schlagwort zu, das diesmal jedoch von der UKASK kommt: „Memory Wars“.
Für mich ein irritierender Sprung, ging es bei den „Memory Wars“ doch um die Frage, ob und wenn ja, wie sehr Erinnerungen an traumatische Erfahrungen verdrängt werden können. Ob Verdrängung überhaupt ein Ding ist. Was eine Erinnerung ist. Wie man sich unter welchen Umständen erinnert. Was eine Erinnerung von einer Überzeugung unterscheidet.
Das wissenschaftliche Veröffentlichungs-Pingpong der 90er Jahre hat nicht darüber diskutiert, ob es Rituelle Gewalt gibt oder nicht, sondern ob man sich als Opfer in welcher Form und in welcher Zeitspanne wie konkret und bewusst erinnert.

Zu sagen: „Sowas kann doch keiner verdrängen oder vergessen!“, ist eine der Attacken, die False Memory von jeher fährt, nachdem Vertreter_innen dieser Bewegung sexualisierte Gewalt lange geleugnet hatten, indem sie äußerten: „Würde es sowas geben, gäbe es ja Beweise.“
Heute ist allgemein bekannt, dass es das gibt. Selbst in „Geteiltes Leid“ wird eingeräumt: „Natürlich gibt es organisierte Gewalt an Kindern, Menschenhandel und Ausbeutung. Das ist alles vielfach dokumentiert. Und es gibt Fälle, in denen organisierte Gewalt in einer Sekte stattfindet. Und ja, viele Opfer organisierter oder sexualisierter Gewalt berichten auch von Einschüchterungen, von Manipulationen. Das ist ein Grund, warum sich Betroffene lange nicht trauen, sich Hilfe zu holen.“ Heute kann sich wirklich niemand mehr in die Öffentlichkeit stellen und die Leugnung (Denial) über sexualisierte Gewalt aufrechterhalten.
Aber attackieren (Attack), wer Erfahrungen teilt, ohne objektive Beweise anzubringen, oder Menschen glaubt, die Erinnerungen oder Überzeugungen teilen, ohne Beweise dafür einzufordern oder auch nur dazu forscht, um vorliegende Hinweise zu untersuchen – das funktioniert noch heute. False Memory muss das auch machen, sonst würde die Argumentation aus der Opferrolle heraus (Reverse Victim and Offender) nicht funktionieren.

An diesem Punkt in der Serie wünscht man sich mehr Klarheit in all dem Nebelkerzenrauch.
Nachdem man nun vieles gehört hat, zu dem man selbst als nicht-wissenschaftliche_r Zuhörer_in kaum eine fundierte Meinung, ja, nicht einmal einen Einblick in die Arbeitsrealitäten haben kann – da ist man versucht, der Abgrenzung des Teams zu folgen. „Was es aber nicht gibt: Brutalste Folter und Morde, die unsichtbar im Untergrund passieren … “ – Ein Ausschluss, der bei einem Format mit journalistischem Anspruch irritiert. Etwas komplett ausschließen, das ist vollkommen unjournalistisch. Vielmehr ist es journalistisch, dort etwas zu finden, wo andere sagen, da sei nichts. Deshalb ein kleiner Realitätscheck: Guantánamo Bay, Colonia Dignidad, die Mafia, kalter Krieg – Zweifelsfrei gibt es Folter und Morde in Zusammenhängen, die dem Großteil der allgemeinen Bevölkerung verborgen sind. Das ist, was der Begriff „im Untergrund“ an dieser Stelle bedeutet.
„… und an die die Opfer jahrzehntelang keine Erinnerungen haben, weil ihre Persönlichkeiten zersplittert und programmiert sind.“
So ausgedrückt – ja. Kann ich zustimmen. Die „Zersplitterung“ einer Persönlichkeit ist nicht möglich, da die Persönlichkeit eines Menschen das Ergebnis seiner Interaktion und Kommunikation mit dessen Umwelt ist und kein fester Gegenstand, an dem mal hier, mal da was absplittern kann, wenn jemand draufschlägt. Dieses Bild von Persönlichkeit ist massiv überholt und führt zu falschen Annahmen über die Leistungsfähig- und Fertigkeiten der menschlichen Psyche und dem folgend ihre (neuro)biologischen Grundlagen.

Entsprechend redet heute kein wissenschaftlich fundiert arbeitender Mensch mehr von „verschütteten Erinnerungen, die in einer Therapie hervorgeholt werden“, sondern davon, wie ganz normale Prozesse der Reiz- und Informationsverarbeitung dafür sorgen, dass man sich sowohl banaler als auch ganz massiver Dinge teilweise oder auch ganz nicht (ich-)bewusst sein kann. „Sich der eigenen Erfahrungen (ich-)bewusst sein“ über Dinge oder (biografische) Erfahrungen ist etwas anderes, als „sich an Dinge erinnern“. Das eine kann erreicht werden mittels Datenauf- und -übernahme – das andere durch Erfahren bzw. erfahrungsbedingtes und kontextualisiertes Lernen.
Wenn mir jemand einredet, ich hätte Gewalt erlebt, kann ich dieses mir eingeredete Wissen jederzeit abrufen und wiedergeben.
Wenn ich Gewalt jedoch erfahren habe, gibt es bedingt dadurch, wie im Moment der Gewalterfahrung das Gehirn funktioniert, schwer vorhersehbare Grenzen der Reiz- und Informationsverarbeitung.[16] Das, was man im Nachhinein dann über die Erfahrung sagen kann, ist zwangsläufig lücken- und fehlerhaft und in manchen Fällen auch als ich-fremd erlebt. Die betroffenen Menschen erleben sich selbst und werden oft auch von anderen Menschen als „nach dem Ereignis nicht mehr die_rselbe“ wahrgenommen.
Ein Umstand, der relativ gut erforschte (Schutz-)Reaktionen der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen fördern kann. Wie zum Beispiel Vermeidungsverhalten.

Im Fall der DIS kann man von extrem gut eingeübter traumabedingter Vermeidung (die durch Dissoziation ermöglicht und aufrechterhalten wird) sowohl vor sozialem Umfeld, als auch vor sich selbst ausgehen.[17] Wer sich selbst nicht umfassend mit einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang bringen kann, entwickelt ein Selbstbild, das damit einfach nichts zu tun hat und im gegebenen sozialen Alltag und Miteinander so angepasst wie möglich funktionieren kann, um diese Vermeidung bzw. das eigene Selbstbild nicht aufgeben zu müssen.
Die eigene Funktionsfähigkeit um jeden (auch langfristig schädigenden) Preis zu erhalten, ist in diesem Zusammenhang gesund, normal und ein zum Niederknien großartiges Ding, zu dem Menschen fähig sind. Alle Menschen. Nicht nur Überlebende oder Menschen in schweren Krisen.

Dissoziation ist ein natürliches Phänomen. Kein Mensch würde ohne durch den Tag kommen – übrigens der Grund, weshalb Amelie unter der Aufforderung, sich „immer auf jede noch so kleine Stimme im Kopf“ zu konzentrieren, so enorm gelitten hat, wie sie in der vierten Folge „Geteiltes Leid“ schildert. Es ist für das menschliche Gehirn biologisch überhaupt nicht vorgesehen, alles immer zu jedem Zeitpunkt bewusst und präsent im Denken zu haben. Wir brauchen nicht so zu tun, als wäre Dissoziation ein von windigen Therapeut_innen ausgedachtes Spezialfeature oder eine besondere Begabung von Opfern sexualisierter Gewalt, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, nämlich einem Menschen mit DIS oder assoziierter dissoziativer Störung.

vom Besonderen zum Absurden – eine gefährliche Abkürzung

Diese „Besonderisierung“ (dieses Othering) von Menschen mit DIS bietet einen extrem isolierenden Nährboden für alle möglichen von mir so genannten „Multimythen“, die letztlich bis heute dafür sorgen, dass die Allgemeinheit entweder annimmt, diese Störung sei mit dem Leben nicht vereinbar, oder aber denkt: „DIS – ja ha Sybil, Split, Satanistische Elite, Quatschtherapeuten und Trauma-Opferbonus“ und entsprechend mit Betroffenen umgeht.

Zu den klassischen Multimythen gehört in meinen Augen die Erzählung von Medikamenten, die bei allen Anteilen unterschiedlich wirken. Anteile mit unterschiedlichen Augenfarben, extreme Fähigkeiten bei allen möglichen Anteilen gleich, zu 100 % komplett autonome Doppel-Dreifach-Vierfachleben und die „absichtlich gemachte DIS“, auch „künstliche DIS“ genannt in Abgrenzung zu „natürlicher DIS“.
Jede meiner Recherchen in den vergangenen 20 Jahren zu diesen und anderen Multimythen, von denen einige auch in den ersten Auflagen von Michaela Hubers Buch „Multiple Persönlichkeiten, Überlebende extremer Gewalt“ stehen, führten zu nichts. Keine Studien, nichtmal qualitative Befragungen, nur anekdotische Evidenz in den sozialen Medien und Veröffentlichungen von Betroffenen sowie eine praktisch quellenlose Beschreibung der Idee der „planvollen Spaltung“ von Gaby Breitenbach[18] habe ich bisher dazu gefunden – und das ist mir zu wenig.

Um diese kritische Haltung einzunehmen, brauche ich nicht zu negieren, dass die DIS eine valide und unterforschte Erkrankung ist, oder dass es für Täter_innen außerordentlich praktisch sein kann, es mit Menschen zu tun zu haben, die es gewohnt sind, Opfer zu sein und sich entsprechend leicht fügen oder sogar „aus freiem Willen“ für Gewalt zur Verfügung stellen.
Zu dieser kritischen Haltung komme ich, weil ich ein Mensch bin, wie andere Menschen mit einer anderen Diagnose auch. Wer heute in Epileptiker_innen noch jemanden mit direktem Draht zu G’tt sehen würde, würde zuverlässig vor dieser und ähnlichen längst überholten Fehlannahmen geschützt werden. Und zwar nicht nur von Professor Doktor_innen und den spezialisiertesten Fachärzt_innen, die es gibt, sondern auch von der Mehrheit der Menschen. Wer jedoch auch heute noch eine DIS-Diagnose bekommt, steht diesbezüglich praktisch allein auf weiter Flur. Wie allein, das wird in der vierten Folge des Podcasts gut illustriert.

Teil 4 – „Die Helfer_innen und die Hilfe“

Eine Diagnose ist etwas, das Beobachtungen von fachspezifisch geschulten Menschen zusammenfasst. Sie sehen etwas, erkennen etwas und gleichen ihre Beobachtungen ab.
Damit in Medizin und Psychologie Klarheit darüber besteht, welche Beobachtungen wie eingeordnet werden können und in jedem Land auf der Welt die gleiche Einordnung und Behandlung möglich ist, gibt es standardisierte Verzeichnisse. Diese Verzeichnisse sind das „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM).
Die World Health Organisation (WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat Aufgaben, deren Ergebnisse auf vielen Ebenen dazu führen sollen, dass überall auf der Welt das Recht jedes Menschen auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgesetzt werden kann. Im Zuge dieser Aufgaben ist die WHO an der stetigen Aktualisierung des ICD beteiligt.

Eine Diagnose kommuniziert also eine Beschreibung des Bildes, das sich jemand von jemand anderem gemacht hat. Sie ist kein Messinstrument. Sie ist kein Werkzeug zur Bestätigung oder Bewertung individueller Lebenserfahrungen eines Menschen. Eine Diagnose kann nicht bestellt oder geliefert werden. Diagnostik hingegen kann beeinflusst werden, denn Menschen planen sie und führen sie durch.
Im Podcast „Geteiltes Leid“ geht man der Idee nach, dass Psychotherapeut_innen und Mediziner_innen von Verschwörungstheorien beeinflusst sind und deshalb nicht nur eine falsche Diagnose an schwer erkrankte Menschen vergeben, sondern diese Menschen auch noch so beeinflussen, dass diese die verschwörungsbedingten Überzeugungen ihrer Behandler_innen bestätigen. Ein Geschehen, das man ironischerweise als Rituelle Gewalt einordnen könnte.

The wheels on the bus go round and round and round and round

Beim Hören entsteht der Eindruck, die Beeinflussung durch den Verschwörungsglauben an satanistische Eliten wäre das Hauptproblem für falsche Behandlung und alleinige Grundlage für die Vergabe einer DIS-Diagnose. Würde man nicht daran glauben, dann würde man die Diagnose nicht vergeben und auch keine schädigende Behandlung machen.
Diese bis zum Schluss nicht falsifizierte Vorannahme der vierten und letzten Folge der Serie, wird deutlich im Gespräch zwischen der Sprecherin und Journalistin Olga Herschel, die in 5 Jahren an 3 verschiedenen Standpunkten als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, und ihrem Interviewpartner Stefan Röpke, der seit 22 Jahren Facharzt ist und an der Charité forscht.
Man kann sich aufgrund der Vorstellung seiner Person nicht erschließen, wie viele Patient_innen er pro Tag sieht, ob und wenn ja, wie er in Diagnostik und Behandlung eingebunden ist. Ja, nicht einmal, woran genau er in Bezug auf Traumafolgestörungen forscht. Sein Expertenprofil auf der Webseite der Charité zeigt lediglich, dass eines seiner größten Themen die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (BPS) ist.[19]

Die Diagnose der BPS hat viele Überschneidungsbereiche mit einer DIS-Diagnose. So können zum Beispiel auch Menschen mit BPS teils schwere dissoziative Symptome, Identitätsstörungen und suizidale Krisen haben. Suchterkrankungen und selbstverletzendes Verhalten unterschiedlicher Ausgestaltung sind keine Seltenheit in der Gruppe der Menschen mit dieser Störung, und viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen in ihrer Biografie. Im Vordergrund steht jedoch häufig eine Affektregulationsstörung, die das soziale Miteinander mit anderen Menschen erheblich beeinflusst und zu wiederkehrenden Bindungskrisen durch Angst vor dem Verlassenwerden führt.[20]

Für mich erklärt sich mit diesem Hintergrundwissen zu Röpkes Expertise schnell, weshalb er noch nie eine DIS-Diagnose vergeben hat. Wer einen Hammer hat, sieht auch in einer Schraube einen Nagel und kriegt sie mit genug Kraft auch an die vorgesehene Stelle.
Ein verbreitetes Phänomen, das auch unter dem Stichwort „confirmation bias“ bekannt ist und nichts damit zu tun hat, ob man von einer Verschwörungserzählung überzeugt ist oder nicht.
Es ist eine natürliche Tendenz, sich selbst in dem zu versichern, was man kennt und entsprechend überwiegend den Fokus auf das zu legen, was man eindeutig erkennt. Man erkennt am sichersten, was man am häufigsten gesehen hat. Was man am häufigsten gesehen hat, hat man am häufigsten angesehen. Was man dabei alles nicht gesehen hat, hat man auch nie gesehen.

In einem Podcast, der zur Verantwortungsübernahme mahnt, muss man meiner Ansicht nach der Verantwortung nachkommen, diese Tendenz und die Folgen von selektiver Wahrnehmung auch im eigenen Projekt zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Das ist meiner Meinung nach nicht passiert.

der echte Teufelskreis

So verpasst das Podcast-Team im Abschnitt über die Dresdner Privatklinik „Waldschlösschen“, Amelies Behandlungserfahrung und die Aussagen von Martina Rudolf, der Leiterin der Klinik, das tatsächliche Hauptproblem – den für so manche Menschen mit DIS wahren Teufelskreis – zu erkennen: die ganz allgemein und für alle Menschen gleich unzureichende und entsprechend häufig auch mangelhafte psychotherapeutische, psychiatrische, medizinische, pädagogische und sozialarbeiterische Versorgung in Deutschland und sämtliche Konsequenzen für Patient_innen mit jedweder Diagnose daraus.

In diesem Abschnitt können wir anhand von Amelies Behandlungserfahrung sehr gut nachvollziehen, wie schädlich es ist, wenn eine ambulant gestellte Diagnose und die sich daraus ergebenden Behandlungsansätze im stationären Rahmen nicht umfassend überprüft, sondern offenbar einfach übernommen wird.
Zahlen kann ich für diese Praxis leider nicht anbringen, daher muss an dieser Stelle die anekdotische Evidenz ausreichen. Jeder, egal, ob psychisch oder physisch chronisch kranke Mensch, den ich kenne, hat zu einem oder mehreren Zeitpunkten im Leben eine Fehldiagnose in der Akte stehen gehabt, die noch mindestens eine weitere behandelnde Person ohne validierende Diagnostik einfach übernommen hat. Ein Grund dafür: „Husch husch – Zeit ist Geld.“ In Deutschland das typische Grundrauschen jedes medizinischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsgeschehens.
Damit, dass jemand bestimmte Diagnosen stellen will, weil sie das eigene Weltbild bestätigen, wie im Podcast über die DIS und Rituelle Gewalt unterstellt, hat das nichts zu tun.

Am Ende des letzten Teils schrieb ich, dass man als Mensch, der diese Diagnose bekommen hat, allein auf weiter Flur ist. Und dass das ein Problem ist.
An Amelies Geschichte kann man sehr gut aufzeigen, inwiefern das so ist.
Da ist zum einen der Umstand, dass vor der DIS für die meisten Betroffenen viele andere Diagnosen, Klinikaufenthalte, Therapien und Hilfemaßnahmen kommen, die unterschiedlich hilfreich (heilend) oder zerstörerisch (verletzend) wirken und in jedem Fall mit dem Stigma und der Diskriminierung von psychischer Krankheit bzw. Behinderung einhergehen.
Viele Betroffene verlieren im Lauf ihrer „Psychokarriere“ nicht nur zeitweise ihre individuelle Freiheit, Würde und Selbstbestimmung (etwa durch Zwangsbehandlungen oder den Umstand, dass es gar nicht genug Einrichtungen mit passendem Behandlungskonzept gibt, sodass eine selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart unmöglich ist), sondern auch den Kontakt zur eigenen Familie, den Anschluss an Schule, Arbeit und Freund_innen.
Je länger die Phase der psychischen Krankheit andauert, desto wahrscheinlicher ist eine solche Entwicklung. Und davor haben so gut wie alle Menschen Angst. Ob sie nun wissen, dass etwa 76 % der obdachlosen Menschen „auch psychisch krank sind“[21] oder nicht. Es ist absolut klar, dass, wer nicht gesund im Sinne von arbeitsmarktgerecht funktionstüchtig ist, ein echtes Problem hat und sich um Hilfe bemühen muss.
Ob welche da ist oder nicht. Und auch: Ob sie hilft oder nicht. Bevor man gar nichts macht und man für jemanden gehalten wird, die_r krank sein will, nehmen sehr viele Menschen auch Angebote an, die nicht für sie geeignet oder für Menschen mit ihrer Diagnose unerprobt sind. In so mancher Krisenphase ist „zu wenig oder nicht ganz richtig“ schnell mal „immerhin etwas und nicht ganz falsch“. Die Folgen solcher Kompromisse können verheerend sein und die Entscheidung darüber kann von niemandem in allen möglichen Konsequenzen vorhergesehen werden.

Eingegangen werden müssen diese Kompromisse dennoch. Für komplex traumatisierte Menschen mit mehreren assoziierten Erkrankungen gibt es de facto keine andere Wahl, denn „Traumatherapie“ ist kein geschützter Begriff. Als Psychotherapeut_in und Heilpraktiker_in für Psychotherapie kann man praktisch alles „Traumatherapie“ nennen, was dabei helfen soll, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Der Fort- und Weiterbildungsmarkt zur Thematik ist voll mit allen möglichen Akteur_innen, die viele verschiedene Methoden anbieten oder weiterentwickeln. Manche davon, wie zum Beispiel EMDR, sind umfassend erforscht, während anderen, wie der „(traumafokussierte) Familienaufstellung“, ganz klar ein Personenkult und damit verbunden eine esoterisch-autoritäre Weltanschauung zugrunde liegt.

Als Patient_in mit Traumafolgestörung ist eine umfassende Psychoedukation wichtig, um überhaupt zu verstehen, worum es bei der eigenen Erkrankung geht. Nur so gibt es eine Chance, Kompetenzen im Umgang damit zu entwickeln und sich vor Betrug und wirkungslosen Behandlungen zu schützen.
Auch um diesen ganz basalen Punkt der Aufklärung ist ein Abgleich mit der Realität wichtig. Man muss sich fragen: Wann und wozu erhalten Menschen eine Diagnose und wie wird sie ihnen erklärt? Sind Behandler_innen – egal ob sie medizinisch, psychiatrisch oder psychotherapeutisch arbeiten – immer in der Lage, ihre Patient_innen aufzuklären? Gibt es wirklich immer die Zeit und die Ruhe und die angemessenen Umstände, um sich auf jede_n einzelne_n Patient_in einzulassen? Auch die, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen? Die Leichte Sprache brauchen? Die gehörlos, taub oder taub-blind sind? Die temporär oder dauerhaft Probleme mit dem Gedächtnis haben? Die mental instabil oder sogar dekompensiert sind?

Gerade in Bezug auf Notfallbehandlungen können meiner Meinung nach die wenigsten Patient_innen davon ausgehen, eine Diagnose zu erhalten, die tatsächlich auch etwas mit ihnen zu tun hat. Viel eher werden hier schnelle und durchaus auch fachfremde Sichtdiagnosen gemacht und die Spezifizierung, wenn nötig auch Richtigstellung und Patient_innenaufklärung, den (weiter)behandelnden Kolleg_innen überlassen. Ob die Patient_innen einen Behandlungsplatz zur Weiterbehandlung haben oder nicht. Und ob die_r weiterbehandelnde Kolleg_in die Ressourcen dafür hat oder nicht.

Der hochproblematische „Doktor Google“ ist nicht der ständige Mitbehandler vieler Patient_innen geworden, weil diese hypochondrisch sind oder ihre Pathologie zelebrieren, sondern weil das Internet mit seinen massenhaften Informationen verfügbarer ist als ein_e kompetente_r Behandler_in mit ausreichend Zeit und angemessen spezifischem Wissen, um die Informationen, mit denen Patient_innen kommen, fachlich richtig einzuordnen.
Es ist die Folge eines strukturellen Problems im deutschen Gesundheitswesen, das alle Patient_innen und (Weiter)Behandler_innen gleich betrifft. Es sind jedoch marginalisierte Personengruppen ((darunter chronisch (psychisch) erkrankte Menschen)), die den größten Schaden davontragen. Denn sie sind es, die mit Diagnose A bei Behandler_in A sind, aber die Notaufnahme mit Diagnose B oder C oder D verlassen und damit zur Weiterbehandlung zu Behandler_in B müssen, weil Behandler_in A, Krankheit B, C oder D nicht behandeln kann. Es liegt an Behandler_in B, ob nun Krankheit A, B, C oder D behandelt wird und ob die_r Patient_in umfassend und für sie_ihn nachvollziehbar aufgeklärt werden kann.
Und ob Behandler_in B überhaupt weiter von der_dem Patient_in aufgesucht wird. Vielleicht ist die Praxis nicht barrierefrei. Vielleicht ist die Praxis zu weit weg. Vielleicht muss die Behandlung bei Behandler_in B anteilig selbst gezahlt werden. Vielleicht ist es Teil der Erkrankung, Termine nicht pünktlich wahrnehmen zu können oder sie gänzlich zu meiden, weil sie mit unerträglichen Inhalten konfrontieren könnten. Vielleicht ist eine Assistenz oder Betreuung notwendig für den Termin, das Budget der Fachleistungsstunden aber bereits ausgeschöpft. Oder Assistenz/Betreuung beeinflusst die_n Patient_in mit negativen Kommentaren oder anderem unangemessenem Verhalten.

Verschwörungsindoktrinierte Behandler_innen sind nicht der Grund für Patient_innen (und ihre Angehörigen), die Antworten in Selbsttests, windigen Artikeln oder laieninformierter Selbstdiagnose suchen – das Gesundheits- und Abrechnungssystem besorgt das schon von ganz allein und fördert es zuweilen sogar noch mit unmoderierten Selbsthilfegruppen, die lediglich eine Selbstauskunft erfordern oder dem sozialen Notausgang „Sie sind die_r Experte_in für sich selbst“.
Patient_innen jeder wie auch immer gelagerten Erkrankung sollen und müssen es am Ende immer selbst am besten wissen. Auch dann, wenn sie das gar nicht können, weil ihnen das Fachwissen nicht angemessen zugänglich gemacht wird oder sie initial fehldiagnostiziert wurden, was sie als Patient_innen ohne die entsprechenden Kompetenzen überhaupt nicht wissen oder an sich selbst auch nicht in allen Fällen überprüfen können. Sie sind auf ihre Behandler_innen und deren Behandlung, aber auch ihre Behandlungsempfehlung angewiesen.

Bei einer Erkrankung wie der DIS bewegt man sich im Fachbereich der dissoziativen Störungen und der Traumafolgestörungen. Das macht die DIS jedoch nicht zu einem juristischen Beweis oder wissenschaftlich eindeutigen Nachweis für Gewaltbetroffenheit und schon gar nicht zu einem Beweis für eine bestimmte Form von Gewaltbetroffenheit.

Ein Trauma ist kein Ereignis. Es ist die Folge eines oder mehrerer Ereignisse.
Eine Traumafolgestörung entsteht durch die unzureichende Verarbeitung der Folgen eines oder mehrerer Ereignisse. Aufgrund der unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Einschränkung und Veränderung der Reiz- und Informationsverarbeitung während eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, ist es unmöglich, spezifischen Gewalttaten spezifische Traumafolgestörungen zuzuordnen.
Man kann jedoch in Wahrscheinlichkeiten denken. Wenn beispielsweise ein Berufssoldat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einem Einsatz entwickelt und diese Erkrankung bei Berufssoldaten allgemein als „Berufskrankheit“ eingeordnet wird, dann ist es zwar nicht wissenschaftlich oder juristisch gesichert, dass der Einsatz eines Berufssoldaten zu dessen PTBS geführt hat – als medizinische_r oder psychologische_r Behandler_in die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch als hoch einzuschätzen, wird dadurch nicht automatisch falsch. Eine Überprüfung im zur Verfügung stehenden Rahmen (also das Gespräch mit jenem Soldaten und wenn vorliegend dessen Krankenakte) geschieht im Zusammenhang mit der Diagnostik.

Diese für viele Menschen so komplizierten Feinheiten, die zu verstehen und nachzuvollziehen so viel Wissen um wissenschaftliches Denken und Ordnen, Kategorisieren und Bewerten erfordert, sind die Teile, die dem Podcast „Geteiltes Leid“ fehlen, um die Situation von Amelie im Waldschlösschen, aber auch von Leonie und Thomas, dem Sohn von Herrn Bartel, dessen Geschichte in der dritten Folge erzählt wird, wirklich umfassend zu verstehen. Vielleicht hätte Thomas etwas davon erzählt, doch wir werden das nie erfahren, denn das Podcast-Team hat nur dem nach eigener Aussage fälschlicherweise des „knallharten Missbrauchs“ beschuldigten Vater ermöglicht, sich persönlich zu äußern.

Amelie hingegen kann sich äußern. Und was sie über die Klinik „Waldschlösschen“ in Dresden sagt, stimmt: Jede_r in der DIS-Bubble kennt diese Klinik.
Warum? Weil sie, soweit ich informiert bin, die einzige Klinik in Deutschland ist, die eine eigene Station für Frauen mit DIS hat und nicht nur allgemein „auch dissoziative Störungen und Traumafolgestörungen“ behandelt. Die Konkurrenz ist rar. Die Wartezeit unfassbar lang. Für Kassenpatient_innen nur mit enormem Aufwand überhaupt finanzierbar.

Das Hilfeversprechen wirkt nicht nur auf Patient_innen, sondern auch Behandler_innen. Besonders, weil praktisch allen Behandler_innen von Menschen mit komplexem Krankheitsbild klar ist, dass die Krankenkasse aufhört, die Therapie zu bezahlen, bevor die Krankheit geheilt bzw. das Leiden erheblich verringert oder weg ist. Eine Intervalltherapie in einem teil- oder vollstationären Rahmen wird daher von ambulanten Psychotherapeut_innen häufig als begleitende oder ersetzende Behandlung angestrebt bzw. der ambulanten Behandlung hinzugefügt, um ihrem Arbeitsauftrag weitestgehend nah zu kommen.
Eine Überprüfung der Behandlungsqualität von an Patient_innen empfohlenen Kliniken ist wünschenswert, aber auch nur im bestimmten Rahmen für Behandler_innen leistbar.
Die Patient_innen sollen und müssen selbst entscheiden. Leider ganz egal, ob sie das auch können oder nicht.

Die meisten können – egal, ob es bei ihrer Behandlung um eine DIS geht oder nicht – erst vor Ort und nach einer gewissen Behandlungszeit wissen, ob die Behandlung wirkt oder nicht und ob sie ihnen hilft oder nicht. Und wenn sie merken, dass sie Quatsch mitmachen sollen und mit ihnen Dinge passieren, die ihnen falsch oder verfälschend erscheinen, dann haben sie nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Haufen.
Denn an wen können sie sich in so einem Fall wenden? Wer kann ihnen ganz sicher sagen, was ihnen wirklich hilft und was nicht? Worauf sollen und worauf können sie sich verlassen? Wie erfolgversprechend ist das Kontaktieren des Qualitätsmanagements? Wie viel von ihrer Würde und ihrer Privatsphäre müssen sie opfern, um ihre Lage klarzumachen? Wer muss alles involviert werden, um eine Klinik erfolgreich wegen Falschbehandlung oder Betrug, Versorgungsmängeln oder der Desinformation von Patient_innen dranzukriegen? Wer glaubt ihnen? Wer nimmt sie ernst, obwohl sie psychisch krank sind?

Und überhaupt – was ist denn danach? Wo ist die Heilbehandlung denn realistisch noch zu erwarten, wenn die spezielle Spezialklinik nicht in Frage kommt? Wo gehen von Helfer_innen verletzte Menschen hin, wenn sie Hilfe brauchen?

Die wenigsten Patient_innen in Amelies damaliger Lage sind Therapeut_innen hörig, die ihnen Verschwörungsstuss einreden. Die meisten kämpfen um ihr Leben und tun, was nötig ist: Mitmachen, bis ihnen kein (angenommener oder realer) Schaden mehr entsteht, wenn sie damit aufhören. Das ist eine Dynamik, die nicht speziell für das Waldschlösschen steht, aber im Podcast wird es so impliziert.

Außer Frage steht für mich, dass man über Handouts und andere Inhalte, die in einer Klinik vermittelt werden, auch kritisch sprechen können muss. Es ist äußerst problematisch, dass Patient_innen kein fundiertes Material zum Umgang mit ihrer Symptomatik gegeben wird. Das ist in meinen Augen ein erheblicher Mangel und bedarf mehr Erklärung als das, was wir dazu, gefiltert von der Podcast-Redaktion, von der Klinikleiterin erfahren.
Und es ist kaum zu fassen, dass Kliniken die Behandlung von Patient_innen deshalb finanziert bekommen, weil sie der Krankenkasse und anderen Kostenträgern gewissermaßen garantieren, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder nach höchstem fachlichen Standard zu behandeln, sich dies aber nicht durchgehend in Einzel- oder Gruppentherapien, der Unterbringung oder pflegerischen Versorgung zeigt. Würde das vorliegen, wäre dies in meinen Augen Betrug und ein Skandal – egal, ob es dabei um eine Klinik mit Schwerpunkt auf DIS geht oder nicht.
Eine Einordnung, die diesem Podcast nicht gelingt.

Und noch mehr Einordnungen passieren in diesem Podcast nicht.
Zum Beispiel die um den Komplex darum, ob es möglich ist, dass die WHO von einer nicht näher benannten Gruppe, die sich nicht im Rahmen der Satzung der WHO bewegte, getäuscht wurde, damit sie die Diagnose der DIS im ICD platziert und infolgedessen Rituelle Gewalt (als von satanistischen Eliten, die unbemerkt foltern und morden, ausgehend) als reales Geschehen anerkennt.

Für mich als Laien klingt genau das nach einem Element einer Verschwörungstheorie. Deshalb fütterte ich den VerschwörungsChecker[22] mit der Geschichte. Hier ist das Ergebnis:

Screenshot, das Ergebnis ist nahe an

Normalerweise bekomme ich ein besseres Bild von Zusammenhängen, wenn mir klar ist, was Quatsch ist und was nicht. Bei diesem Podcast hilft es mir nicht sonderlich, die einzelnen Abschnitte und Erzählungen so zu ordnen. Ich muss an die Bemerkung von Aurelia Bazekovic, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Podcast denken: „Lost in Amalgam“.[23]

Das Podcast-Team vermittelt, die WHO sei unfähig zur Analyse, Verifizierung und Falsifizierung wissenschaftlicher Daten, und wer sich auf ihre Veröffentlichung, also den ICD-11-Katalog, beziehe, würde Falschbehandlung gewissermaßen aus Überzeugung durchführen. Was diese Unterstellung für sämtliche anderen Diagnosen im ICD und entsprechend für Behandler_innen jeglicher Professionen bedeuten würde, bleibt den Zuhörenden und ihrer Vorstellung überlassen. Meiner Meinung nach ein grober Fehler und eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber allen Behandler_innen weltweit, da die WHO global agiert.

So einen großen Bezugspunkt medizinischen Konsenses anzugreifen und frühere Fehlannahmen wie die, dass auch Homosexualität lange von der WHO als Krankheit verstanden wurde, heranzuziehen, führt dazu, dass Patient_innen und Behandler_innen verunsichert werden. Wer unsicher ist, gibt bestimmte Grundhaltungen tendenziell schneller auf. Die Grundhaltung, um die es hier geht, ist die, wem man was unter welchen Bedingungen und warum glaubt.

Die Verpflichtung zu helfen

Eine Gesellschaft, die Gewalt an Menschen in unterschiedlichsten Formen für real, die Opfer von Gewalt für Individuen mit ganz eigenen Reaktionsfähig- und -fertigkeiten hält und die zwischenmenschliche Fürsorge auch in Form von medizinischer Behandlung für ein Grundrecht – so eine Gesellschaft kommt wohl kaum zu dem Schluss, zu sagen: „Wir könnten uns über Ausmaß und Gestaltung der Ursachen irren, deshalb glauben wir niemanden und haben entsprechend auch keine Grundlage zu helfen, wenn nötig.“
Letztlich ist doch aber das ein Kernstück des hippokratischen Eides und dessen Pendants in anderen helfenden Berufen: die Verpflichtung, zu helfen.

Aus dieser Verpflichtung ergeben sich unzählig viele Fragen und Ansätze darüber, was Hilfe eigentlich ist. Wer wie helfen kann und wer nicht. Was genau wem wann und warum hilft und was nicht.
Die Bundesregierung hat sich mit der Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, derzeit besetzt von Kerstin Claus) und der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) für einen pragmatischen Weg der Klärung und des Erkenntnisgewinns entschieden. Die staatliche Anerkennung der Realität aller Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie ihrer individuellen Folgen für die Betroffenen ist damit implizit erfolgt. Ein unvergleichlicher Meilenstein.

Die Anerkennung von offenen Fragen zum Themenkomplex „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ und bisher wenig oder nur unzureichend beantworteten Fragen ist damit jedoch auch passiert. Daher wurden eindeutige Aufgaben und Ziele formuliert.
Die UKASK soll:

  • […] Tatsachen offenlegen, Verantwortlichkeiten identifizieren und Wege zur Anerkennung des Unrechts aufzeigen.
  • Sie soll einen geeigneten Rahmen bieten, um Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend sowie Zeitzeug*innen anzuhören und somit die Möglichkeit schaffen, auch verjährtes Unrecht mitzuteilen.
  • Daraus sollen Schlüsse zur besseren Versorgung heute erwachsener Betroffener sowie zur Prävention gezogen werden.
  • Sie soll Wege der Anerkennung des Unrechts und Leids durch Politik und Gesellschaft aufzeigen, sowie modellhaft Eckpunkte der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch entwickeln und empfehlen.
  • Sie soll institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen anregen, Forschungsfragen zu relevanten Themen der Aufarbeitung identifizieren, Forschungsaufträge vergeben oder deren Vergabe anregen.
  • Sie soll regelmäßig öffentlich über ihre Tätigkeiten und Erkenntnisse informieren[24]

Die UKASK generell, aber speziell auch Silke Gahleitner, deren Thema Rituelle Gewalt in dem Zusammenhang ist, hat nicht den Auftrag, Vorfälle zu verfolgen, bei denen Ärzt_innen von Journalist_innen unterstellt wird, sie würden ihren Patient_innen die eigene Weltanschauung einreden und in der Folge falsch behandeln. Also Fälle wie jenem in der Schweiz rund um den Arzt Matthias Kollmann, der im Podcast unvollständig und damit desinformierend erwähnt wird.
Die UKASK soll sich mit Tatsachen befassen. Mediale Berichterstattung, die nicht primär den Erkenntnisgewinn um Rituelle Gewalt, sondern eine Debatte um die Frage von möglicher Falschbehandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat, ist für die Arbeit der UKASK zum Thema Rituelle Gewalt nicht brauchbar. Gahleitners Distanzierung ist entsprechend überhaupt nicht „bemerkenswert“, sondern vielmehr logische Folge ihres Auftrages.

Bemerkenswert für Hörer_innen sollte meiner Ansicht nach sein, wie systematisch die Erzählung des Podcastes versucht, das Bild einer passiven UBSKM Kerstin Claus zu zeichnen, die dem Diktat von Betroffenenberichten unterworfen sei und deshalb dem Familienministerium nicht einfach vorgeben könne, dass Rituelle Gewalt durch Satanist_innen wahrscheinlich eine Verschwörungserzählung ist, denn wissenschaftlich lässt sie sich nicht belegen. Als wäre, dem Familienministerium zu sagen, was es machen soll, die Aufgabe der UBSKM. Was sie nicht ist. [25]

Auch dieses Interview mit einer Vertreterin einer für Betroffene von sexualisierter Gewalt wichtigen Institution bzw. Instanz bringt diesen Podcast inhaltlich überhaupt nicht weiter und wirkt seinem eigenen Anspruch als demokratiestärkend entgegen. Denn auch hier wird am Vertrauen in Institutionen, auf die man sich im Bedarfsfall verlassen können will, manipuliert – und wieder wird Unsicherheit bei den Zuhörer_innen in Kauf genommen.

Diese Unsicherheit wird zur Rampe in die letzten Passagen dieses Podcasts.
Da wird der Themenmixer nochmal ganz tief in das Sujet der Podcastreihe geschoben und abgedrückt, sodass man als Hörer_in nur allzu bereit ist, unkritisch hinzunehmen, was nachkommend noch erwähnt wird. Zum Beispiel die unbelegbare Behauptung, die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber habe die Verschwörungserzählung über Satanist_innen nach Deutschland gebracht. Oder die Aussage, ein nicht näher benanntes oder definiertes „Rituelle Gewalt Netzwerk“ hätte durch sein Wirken erheblich dazu beigetragen, dass QAnon und andere Verschwörungserzählungen in Deutschland überhaupt greifen konnten.

Komplett erwartbar ist das Ende von „Geteiltes Leid“ eines, das die ganz großen Gefühle wecken soll. Allem voran: Mitleid. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man damit niemandem hilft.
Ein Impuls, die Zivilgesellschaft dahingehend zu aktivieren, die eigene Haltung, die eigene Meinung und Bewertung des Themas kritisch prüfend vorzunehmen – der wird nur in eine Richtung gesetzt. Und zwar gegen Opfer sexualisierter Gewalt und ihre Helfer_innen.

Mein Fazit

Ich halte diesen Podcast für eine verpasste Möglichkeit, ein relevantes Thema umfassend und für die Zivilgesellschaft verständlich aufzubereiten.
Mit Protagonist_innen wie Amelie und der Zeit, die das Podcast-Team in die Recherche investieren konnte, hätte ein Podcast entstehen können, der ein echtes Problem ganz grundsätzlich aufzeigt und in seinen Auswirkungen allgemein nachvollziehbar macht.

Stattdessen blieb man in dem bereits als solchem bekannten Strohmannargument, nämlich „Therapeut_innen/Helfer_innen glauben an Satanisten, die Kinder quälen und nennen das Rituelle Gewalt, um überall Opferbonus abzugreifen und schaden allen damit“, verfangen und vermischte alle Aspekte, die es berührt. Dabei ist eine ableistische Abwertung behinderter und (chronisch) kranker Menschen und umfassende Desinformation passiert.

Meiner Meinung nach hat das Podcast-Team von Undone mit „Geteiltes Leid“ eine Geschichte erzählt, die dazu dient, Opfern sexualisierter Gewalt und (chronisch) psychisch kranken Menschen die Glaubwürdigkeit und die Legitimität ihrer Selbstbestimmung in Frage zu stellen. Aber auch, um Behandler_innen und Helfer_innen verschiedener Professionen zu diskreditieren und allgemeines Misstrauen in Institutionen mit Versorgungs- und wissenschaftlichem Auftrag zu schüren.

Die Reihe begann mit etwas, das Laien überhaupt nicht beurteilen können und auch nicht können müssen, nämlich allen Fragen rund um die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung. Es entsteht der Eindruck, dass zum einen nur verschwörungsgläubige Therapeut_innen Falschdiagnosen und unwirksame bzw. schädigende Behandlungen machen, und zum anderen, dass die DIS deshalb keine valide Diagnose sei. Ein Eindruck, der in diesem Podcast zu keinem Zeitpunkt berichtigt wird.

Ebenfalls fehlt eine Angabe dazu, wie viele Psychotherapeut_innen der Glaube an Verschwörungstheorien allgemein und den an satanistische Eliten, die Kinder quälen, im Speziellen überhaupt beträfe. Ohne diese Informationen als faktischen Bezugspunkt, der Hörer_innen ermöglichen würde, eine Vorstellung vom Umfang des Problems zu entwickeln, wurde dann noch eingebracht, verschwörungsgläubige Therapeut_innen/Helfer_innen würden Institutionen unterwandern und damit der ganzen Welt schaden. Immerhin hätten sie es mit ihrer Erzählung bis in die WHO geschafft. Ein weiterer verstörender, allgemein verunsichernder Blick auf mögliche Mängel in Strukturen und Institutionen, die zweifellos real bestehen können, im Gesamten jedoch für die Mehrheit der Menschen nicht oder weit weniger schädlich oder gefährlich sind als in „Geteiltes Leid“ impliziert.

Inmitten dieses zuweilen nur schwer zu entwirrenden Gemischs fanden sich alte Bekannte der False-Memory-Rhetorik: die emotionalisierenden Schlagworte „satanic panic“, „memory wars“ und „Scheinerinnerungen“. Von denen nur einer – und zwar von einer Betroffenen – im richtigen Zusammenhang verwendet wurde: Amelie, der ich für ihren großen Mut und ihre Offenheit an dieser Stelle meinen tiefen Respekt und Dank ausspreche.

Meiner Ansicht nach führt die permanente Vermischung von Annahmen und unvollständig vermittelten Tatsachen dazu, dass die Hörer_innen, die nicht sonderlich tief oder lange mit der Thematik befasst sind, am Ende kaum mehr klar und eindeutig einordnen können, was sie da eigentlich für eine Geschichte gehört haben. Und das bei einem Podcast, der uns doch „investigativ recherchiert“ zeigen wollte, dass es ein krasses Problem gibt. Was von den vielen aufgebrachten Problemen nun genau das Problem, in welchem Ausmaß, für wen eigentlich genau ist, das wird nicht klar.

Das Problem für mich an dieser Podcastserie: Eine Er_Lebensrealität wie meine ist für Journalisten wie von diesem Podcast-Team von „Geteiltes Leid“ nicht mehr als eine krasse Story darüber, was so manche Leute für real halten. Für Showleute wie Jan Böhmermann nichts weiter als eine Witzvorlage. Für False Memory Deutschland e. V. ein traditionell benutztes Ziel in einem längst verlorenen Kampf und ein stets und ständig zu komplexer Fall für Wissenschaft und anders fachlich orientierte Hilfelandschaft.
An uns, den Menschen, die mit der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung leben, haben alle ein Ding. Ein Thema, einen Konflikt, ein komplett eigenes, zuweilen fachliches, doch immer auch eigennütziges Interesse.

Unsere Stimmen fehlen in dieser Auseinandersetzung.

Text als PDF

Quellen:

[1] Rituelle Gewalt und Scheinerinnerungen: Wenn die Therapie destabilisiert | Y-Kollektiv https://youtu.be/o8AD5hz3s0Q?si=OcCSVPadRXkhC9Iw
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirbt-400121.html
[3] https://www.podcast.de/podcast-news/verschwoerung-und-missbrauch-khesrau-behroz-im-interview-zum-neuen-undone-podcast-geteiltes-leid
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Satanic_panic
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/McMartin_preschool_trial
[7] https://gizmodo.com/when-geraldo-rivera-took-on-satanism-and-a-very-confus-5829171
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Moral_panic
[9] http://dissoc.de/02-05.html
[10] Dallam, S. J. (2002). Crisis or Creation: A systematic examination of false memory claims. Journal of Child Sexual Abuse,9 (3/4), 9-36.
[11] Dalenberg, Constance & Brand, Bethany & Gleaves, David & Dorahy, Martin & Loewenstein, Richard & Cardeña, Etzel & Frewen, Paul & Carlson, Eve & Spiegel, David. (2012) Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Psychological bulletin. 138.550-88.10.1037/a0027447.
[12] FAQ der Ärztekammer zu Fragen über die Meldung eines Arztes oder einer Ärztin und umfassender Artikel von ProPsychotherapie e. V. mit Link zu einer Liste von Anlaufstellen zur Beratung und Klärung von Fällen vor einer Meldung oder Anzeige
[13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKreligioes/PMKreligioes_node.html
[14] https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/
[15] https://www.juraforum.de/lexikon/satire
[16] https://www.scinexx.de/news/biowissen/gefahr-gehirn-ist-sofort-in-alarmbereitschaft/
[17] Denial and Dissociation: 10 things to consider https://www.youtube.com/watch?v=z4-y8SFpW-Y
[18] Gaby Breitenbach, „Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt, Ware Mensch – die planvolle Spaltung der Persönlichkeit“, erschienen bei Asanger, 2012
[19] https://forschungsdatenbank.charite.de/experts/expertenprofil.xhtml?id=35605da015d548ec9d1a1103398b0d31&type=ps&lang=de
[20] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/krankheitsbild/
[21] https://pmc-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/articles/PMC8423293/?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
[22] https://verschwoerungschecker.org
[23] https://www.sueddeutsche.de/medien/geteiltes-leid-podcast-undone-kritik-lux.CNtKhRb3gB3Nkm6NihKz1X?reduced=true
[24] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/beauftragung/
[25] https://beauftragte-missbrauch.de/ueber-uns/aufgaben-und-aktivitaeten

die Möglichkeit und das Machen

Was für eine Woche das war, begriff ich erst am Wochenende.
Da habe ich mit einer Freundin telefoniert und gemerkt, dass ich einen Knaller nach dem anderen in meinen Bericht der aktuellen Lage einbrachte.
Später fiel mir aber auch auf, dass ich jeden dieser Knaller komplett erinnere und kongruent empfinde.
So ist das also. Dieses stabil, gesichert und weniger dissoziativ sein.
Wie immer. Nur mehr.

Diese Woche fiel mir dann noch etwas auf.
Ich habe in der Auseinandersetzung mit meinen Psychiatrieerfahrungen einen Prozess angestoßen, der hätte sein können wie immer. Intellektuell. Analysierend. Ganz so, wie ich es immer brauchte, um mich damit sicher zu fühlen. Wenn man Ursache und Wirkung versteht, kann man sich schützen. Und ich, Hannah, die mal die Rosenblätter waren, die mal die Anderen waren, die Menschen und Leben in Klapse und Therapie gut können, brauchte auch nur das. „Wie war es dazu gekommen?“ – „Alles klar, dann ergibt das ja alles Sinn, dann mache ich mal dies und das …“
Jetzt kann ich die fühlen, die vor mir waren. Und manchmal mischen wir uns auch. Manchmal auch schon so sehr, dass es mich nicht einmal komisch befremdet.
Jetzt ist die Auseinandersetzung damit wie immer. Und mehr.

Jetzt merke ich, wie mein Anspruch des Bewusstmachenwollens von Helfer*innen- und speziell Psychiatriegewalt auch daraus entstanden ist, sie mir selbst bewusst zu machen. Und zu halten. Nicht nur für alle, die es (im Gegensatz zu mir) nicht verdient haben, so etwas zu erleben, sondern auch für alle, die es erlebt haben. Wie ich ich? ich.

Und ich merke, wie weit mich meine Intellektualisierung gebracht hat. Obwohl sie zu meinem Vermeidungsverhalten gehört und damit aus therapeutischer Sicht zu den Dingen, die meine komplexe posttraumatische Belastungsstörung aufrechterhält. Böse böse also. Irgendwie.
Andererseits musste ich intellektuell begreifen, was meine Diagnose ist. Es hat nicht gereicht zu glauben, ich hätte mich „abgespalten, um mit traumatischen Erfahrungen klarzukommen“. Ich musste wissen, was toxischer Stress ist und wie er sich auswirkt. Ich musste wissen, wie Gehirne üblicherweise funktionieren. Wie Lernen funktioniert. Was Angst ist. Was andere Emotionen sind. Ganz konkret. Was Macht ist. Was Gewalt ist. Warum alle Menschen dagegen sind und gleichzeitig viel dafür tun.
Ohne diese Auseinandersetzung, diese Forschungs- und Versteharbeit hätte ich nie erfahren, dass Intellektualisierung und die vorerst kognitive Erfassung von Umständen nicht ausschließlich traumabedingtes Vermeidungsverhalten sind. Wofür ich mich schämen sollte, weil sich manche Leute davon überfahren, bedroht, eingeschüchtert, abgewertet fühlen. Und weil es meine psychotherapeutische Behandlung unnötig in die Länge zieht. Nur für mein eigentlich irrelevantes und mit diesem Verhalten dreist und aus narzisstischer Motivation erschlichenes Wohlgefühl.

Ohne diese distanzierte Analyse und die Schemata, die ich dafür gebraucht habe, hätte ich nie welche für mein Verhalten und meine Gefühle entwickeln können. Ich wäre Quatscherzählungen übers Viele- und Menschsein, über Gewalt und Hilfe schutzlos ausgeliefert. Wäre enorm abhängig von meiner Psychotherapeutin oder anderen Be.Handler_innen. Würde so vieles von meinem Verhalten immer noch als etwas von meiner viel weniger veränderbaren Person behandeln.

Meine Birne macht wirklich vieles komplizierter, als es manchen Menschen erscheint. Und vielleicht auch umständlicher. Aber sie schützt mich auch. Und stärkt mich dabei, noch andere Schutz- und Kraftquellen zu entwickeln.
Und eine zu sein. Für mich.

Diese Auseinandersetzung ist anders. Wie immer und mehr.
Wie ich sie mache und wie die anderen in mir sie machen.
Sie haben Angst und ich nicht.
Sie haben detaillierte Erinnerungen und ich nicht.
Ich kann die Umstände als Struktur und Dynamik überblicken und analysieren, und sie nicht.
Sie waren komplett auf sich allein gestellt. Jetzt haben wir uns.
Und einen Partner. Und Freund_innen. Und Begleiter_innen.

Ich habe lange geglaubt, um an so einen Punkt zu kommen, müsse etwas mit mir passieren, das ich in keiner Weise beeinflussen kann. Irgendwie würden mir unvorstellbare, bisher unerreichbare Fähigkeiten wachsen. Wenn ich mich als würdig erwiesen habe. Wenn ich durch genug unangenehme Therapietermine durch bin. Wenn ich die richtigen Medis habe. Wenn ich gut genug bin.
Dann würden sie auftauchen wie Krokusse im Frühjahr und dann ginge es von ganz allein weiter in Richtung Heilung und Normalität.

Aber auch Krokusse kommen nicht beliebig aus der Erde geschossen. Da hat jemand mal eine Knolle in die Erde gedrückt. Da war Wetter und Klima. Da ist keine Maus drangegangen. Kein Rasenmäher drübergefahren. Da war Zeit und Ort und Raum und Möglichkeit. Und genug Leben drin, um sich selbst zu wollen und die nötige Arbeitskraft freizusetzen.
Das, was man vom Krokus sieht, ist das, was ihm das Überleben als Spezies sichert. Das, was ihm Kommunikation und Interaktion mit allem, was dafür nötig ist, sichert. Die Wurzeln sieht man nicht. Ihre ständige Arbeit lässt sich trotz vieler Kenntnisse über Pflanzen kaum insgesamt erfassen. Man wird nie erfahren, wie viel Wasser, wie viel von welchen Mineralien im Verlauf eines Tages, einer Woche, eines Jahres dieser eine Krokus wann genau wie wozu sammeln und wie genau umwandeln und einsetzen musste.
Wir werden vielleicht nie erfahren, ob sich die Knolle für ihr Leben entscheiden oder einfach nur dem Leben als Impuls hingeben musste. Aber wir können uns sicher sein, dass da sehr vieles sehr günstig zusammenkommen musste, das nicht allein von ihr beeinflussbar war. Wir können Glück dazu sagen. Und Lauf der Dinge.

Und müssen immer an beides denken.
An das Glück und die Arbeit.
An die Möglichkeit und das Machen.

Grenzen, Limits, Möglichkeiten

Was ich vergessen hatte, war, dass unser Zug in unserer Herkunftsstadt halten würde.
Und dass sich mit dem Öffnen der Waggontüren die Zeit zurückdrehen würde. Dass alles sein würde wie vorher, als wäre das wie Normalität nun einmal funktioniert. You never know anything. Alles ist immer möglich.

Zum Glück.
Es war möglich, stützenden Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Veränderungen zu suchen und zu finden. Angst zu fühlen. Traurigkeit zu fühlen. Fremdheit zu fühlen. Vermissen zu fühlen. Verrat wahrzunehmen. Und weiterhin einen festen Stand in mir selbst zu haben. Zu sein und zu bleiben und zu werden, wie ich sein will. Belastbar. Konfrontierbar. Berührbar. Kontaktierbar.

20 Jahre später ergibt diese komische Therapie-Übung mit den Seilen, die man vor sich auf den Boden legen sollte, Sinn. Endlich kapiere ich: Das ist gemeint – Die Möglichkeit, dass da nicht nur die Dinge möglich sind, die ich so gut kenne, dass ich sie in aller Gründlichkeit fürchten und vermeiden kann, sondern auch Dinge, die ich noch gar nicht oder nur vage kenne. Und dass es etwas gibt, das ziemlich genau und deutlich aufzeigt, wo das eine anfängt und das andere aufhört: Grenzen.
Und nicht: Limits.

Ich weiß, dass viele Menschen diese Worte synonym verwenden, doch please hold the line – Ich habe einen Punkt. Einen wichtigen.
Denn für viele komplex traumatisierte Menschen gibt es so etwas wie Grenzen des Möglichen nicht – es gibt viel mehr points of no return. Eskalationsstufen, die mit Bewusstlosigkeit enden. Mit Dissoziation, mit Betäubung, mit Meltdown, Shutdown, Überdosis, Suizidversuch, reale Todesnähe.
Die Grenze, die Menschen in chronisch toxischem Stress permanent (zu) managen (glauben) ist die zwischen Leben und Tod. Und das ist ein Limit. Da geht es um ein Kontingent, das irgendwann einfach aufgebraucht ist. Nicht um Möglichkeiten.

Dieser Umstand ist es, der Helfenden, Begleitenden und manchmal auch Behandelnden schwer einsichtig ist. Vor allem, wenn die Gewalt, die Traumatisierung, das traumatisierende Umfeld nicht mehr besteht. Und wenn da doch Anteile sind, die den blauen Himmel und die bunten Schmetterlinge so toll finden können. Und eh viel tolle Alltagsstabilität da ist und tralla la.

Gerade Alltagsstabilität ist für viele Viele so lange ein Thema von Limits, weil sie nicht mit Grenzen aufgewachsen sind. Man kann nur sehen, was man kennt und auch Vorstellungen nur von dem entwickeln, was man schon einmal erfahren hat.
Deshalb war diese Übung damals vor 20 Jahren für mich auch ziemlicher Käse. Wie um alles in der Welt hätte ich diesen doppelten Geistes-Rittberger hinkriegen sollen? Erstmal die Abstraktion vom Seil auf dem Boden vor meinen Füßen hin zu dem, was berührt wird, wenn mir was im Leben passiert und von mir eingeordnet werden muss. Was ich damals ja kaum mitgekriegt habe. Und als ich es mitgekriegt habe, nicht einordnen konnte, weil meine Affektverarbeitung gestört ist und ich außer den Grundemotionen keins meiner Gefühle ohne aktives Nachdenken einordnen kann.

Und – nichts, kein einziger Aspekt in meinem damaligen Leben hatte nichts mit Limits zu tun. Ich hatte menschlichen Kontakt nach Stundenlimit – Therapie, Betreuung, Lehrplanzeiten. Meine Unterkunft, meine allgemeine Versorgung, meine körperliche Integrität – alles hing davon ab, wie weit ich meine Limits ausstreichen konnte. Es musste immer genug sein, um allen, die (ihre Arbeitskraft und -zeit) in mich investiert haben, mit Erfolgen bei der Stange zu halten, weil es so schwer, so herausfordernd war, mit mir klarzukommen. Und gleichzeitig genug, um jenen, die mir diese Räume zu nutzen gewährt haben, den grenzenlosen Zugriff auf meinen Körper und meinen Geist zu überlassen.

Also. Ja.
Wie hätte ich das früher verstehen können. Gar nicht.
Vielleicht war selbst dieser Moment im Zug ein Glückstreffer?
Oder ein erster Treffer? Wie Babys erster Schritt nach viel Hochziehen und Umfallen, komisch Weitermurksen und Wackeln und plötzlich, endlich, haben sich die neuronalen Netzwerke passend gekabelt und es klappt immer wieder?
Oder hab ichs schon ganz lange und es ist mir jetzt endlich auch selbst mal aufgefallen?

Alles ist immer möglich.

Autismus von Trauma unterscheiden

Die Thematik kommt an. Die Frage wird häufiger gestellt.
Neue Literatur wird veröffentlicht. Zuletzt ist das Buch „Autismus, Trauma und Bewältigung, Grundlagen für die psychotherapeutische Praxis“ von Brit Wilczeck dazu erschienen. Ich kann es uneingeschränkt empfehlen, da es ein umfassendes 101 zu Autismus, zu Trauma und Fragen der Therapie bietet.
Für mein eigenes Buch „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“, hätte ich das Buch gern gelesen, denn meiner Ansicht nach sind es neben persönlich falscher Motivation von Behandler_innen auch unhinterfragte Multimythen und falsche Vorstellungen von Autismus, die eine Unterscheidung bei vorliegender dissoziativer Identitätsstruktur (DIS) schwer machen.

Menschen mit DIS wird häufig eine ähnliche Individualität wie autistischen Menschen nachgesagt. Viele Betroffene fordern deshalb sogar ein, nicht mit anderen Vielen verglichen zu werden.
Für mich ergibt sich daraus ein Momentum, in dem Sachstände zu Wahrnehmungen verklärt werden. So kann keine eindeutige Position mehr eingenommen werden und jeglicher Abgleich wird unmöglich. So auch in der Frage: Was ist die DIS und was der Autismus?

Die Herausforderung der Unterscheidung von DIS und Autismus liegt meiner Meinung nach darin, diesen Abgleich, die Diagnostik, mit angemessenem Mittel und einer grundlegenden Reflexion persönlicher Annahmen vorzunehmen.

Es gibt viele Aspekte im Leben mit DIS, die ich meinem Leben mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) zuordne. Denn nur im Zusammenhang damit wird meine dissoziative Symptomatik überhaupt sichtbar, nachvollziehbar und letztlich auch therapierbar.
Die DIS ist eine Anpassungsleistung, eine Kompensationsstrategie. Sie ist eine messbare Reaktion – keine Grundlage, auf deren Basis allerlei Empfinden und Verhalten passiert. Die gesamte „Krankheitsmechanik“ hat mit Stressverarbeitung und -kompensation zu tun. Es hat sich für mich nie als hilfreich herausgestellt, das Konzept von Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen anzulegen, um die DIS zu verstehen oder zu behandeln.

In Bezug auf meinen Autismus hingegen ist das Konzept einer Kompensationsstrategie unzureichend. Autismus ist keine Anpassungsleistung, sondern eine neurobiologische Grundlage. Die meisten Symptome sind im Kontakt und im Vergleich mit nicht autistischen Menschen sicht- und messbar. Das, was meinen Autismus zur Störung bzw. Belastung macht ist, dass ich ihn immer aktiv kompensieren, verstecken und unter Umständen erklären muss, um in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen.

Jemand, die_r aufgrund von falschen Vorstellungen glaubt, alle Menschen mit DIS und alle Menschen mit Autismus seien unvergleichbar verschieden, kann die Unterscheidung nicht korrekt vornehmen. Die Datengrundlage ist einfach nicht verlässlich. Jedes Ergebnis kann alles und nichts bedeuten. Jeder Hinweis kann alles und nichts bedeuten. Eine sichere Einschätzung und ein sicheres Ergebnis sind so nicht zu erwarten und in der Folge nichts wert. Die Individualisierungsfalle ist zugeschnappt. Keine Therapiemethode ist zweifelsfrei anwendbar, Medikation ohnehin nicht. Klinikbehandlungen werden undenkbar und die Frage, ob bestehender Leidensdruck überhaupt je gelindert oder behoben werden kann, bleibt immer bestehen.

In Bezug auf die Behandlung von Menschen mit DIS habe ich diese Falle schon oft zugehen sehen. Immer entstanden daraus re-traumatisierende (weil gewaltvolle) Beziehungserfahrungen mit Behandler_innen. Denn diese Unsicherheit betrifft nicht nur die Klient_innen, die sich oftmals bereits wegen ihrer Gewalterfahrungen und der davon bedingten Einsamkeit als one of a kind fühlen und in diesem Gefühl bestärkt werden, wenn sie erfahren, dass ihre Diagnose „umstritten“ oder selten oder besonders speziell sei, und/oder sie deshalb keine Behandlung oder sonstige Hilfestellung erhalten. Auch Behandler_innen haben nicht immer einen Umgang mit Unsicherheit, der ihren Patient_innen nicht schadet. Ich habe schon Therapeut_innen getroffen, die sich für allein verantwortlich gefühlt haben, Patient_innen zu behandeln, die „durch alle Raster rutschen (weil sie so individuell anders krank sind als alle anderen)“ oder weil „das Krankheitsbild ja so umstritten ist, dass man damit eigentlich nirgendwo ankommen kann (in Supervision, Fortbildung, Kliniken etc.).“
Besonders tragisch ist es, wenn es sich initial sogar um eine Fehldiagnose handelt.

Aufgrund von Annahmen wie: „Autismus ist extrem selten.“, „Autismus betrifft Jungen häufiger als Mädchen.“, „Autismus ist offensichtlich.“, „Autist_innen sind in sich gefangen/unfähig zur Kommunikation.“, wurde ich erst mit 30 als autistisch erkannt. Das Glück zur Diagnostik an jemanden geraten zu sein, der seine Verantwortung in Bezug auf sein nötiges Fachwissen so ernst genommen hat, ist unermesslich. Es war eine der wenigen Diagnostiken in meinem Leben, bei der ich das Gefühl hatte, jemand würde sich die Mühe machen, meine Persönlichkeitsstruktur, mein Verhalten und meine Schwierigkeiten mit den meisten anderen Menschen abzugleichen. – Und nicht nur mit denen, bei denen der Vergleich (aufgrund verschiedener Vorannahmen) angemessen erscheint.
Zudem war hilfreich, es mit jemandem zu tun gehabt zu haben, für den die DIS keine soziale Aussage hatte. Der also nicht dachte: „Ui – exotisch“ oder „Wow – Satanisten“ oder „[insert völlig schräges Medienprodukt, in dem Vielesein der Gag oder Grusel ist]“

In meinem Leben und in meiner therapeutischen Behandlung war die Unterscheidung von Traumafolgen und Autismus ausschließlich für die saubere Diagnostik wichtig.
Ich habe ein Er_Leben, das von diversen schwerwiegenden und komplexen inneren Konflikten flankiert und ohne gewisse Formen der Unterstützung bei der Einordnung, Verarbeitung und Integration nicht zu ertragen ist.
Geholfen haben mir immer die Therapeut_innen, welche die sozialen Implikationen der DIS meiner konkreten Lebensrealität nachrangig und ihre Vorurteile über Autismus wirklich gründlich als solche aufgearbeitet haben bzw. immer wieder mit Fachwissen konfrontieren. Und zwar nicht für mich oder meinetwegen, sondern weil das zur Grundlage der Behandlung gehört. Weil sie es gut und richtig machen wollen – und nicht weil sie richtig Recht haben wollen.