innere Kommunikation

Manchmal ist es, als würde ich in ein Gespräch hineinplatzen, das schon lange mit mir geführt wird, ohne, dass ich davon weiß. Es gibt meine Linien auf dem Boden – das gesicherte, regulierbare Wörterlabyrinth, das sich in Farben und Formen vor mir zeigt und meistens umspült ist von einem weißen Rauschen, das mich in der Regel nicht berührt.

Doch wenn wir einander begegnen, wird es fremd um mich und in meinem Denken.
Plötzlich steht dort: “Ich tue hier nichts Falsches.” und hinter ihm schimmert etwas sehr Konsistentes. Ein anderes Innen, ein festes Wissen, ein anderer Gedanke – es könnte alles mögliche sein. Oder auch nicht.

Seit ein paar Tagen betrachte ich diesen Satz und taste ihn mit meinem Herz ab. Er kommt nicht von mir, aber auch nicht nicht. Er ist fremd, aber doch vertraut.

Vom Schlauberg herunter trötet es etwas von „Bewusstwerdung und dem Wunder der Assoziation“. Irgendwo kichert jemand “Herzlich willkommen in dieser inneren Kommunikation” und ich muss vor allem allein sein, eine Serie gucken und Candy Crush Soda Saga spielen. Dinge sortieren und mich zwischen Schrank und Wand quetschen, um das eigene Atemgeräusch ertragen zu können.

Manchmal tauchen Sätze auf, machen mir Angst und lassen mich selbst zu einem weißen Rauschen werden. Und manchmal tauchen sie auf und fühlen sich gut an. Einfach so. Nicht weil sie einen schönen Ton haben oder weil sie gut schmecken, sondern, weil sie sich so gut in meine kleinen Seligkeitsinseln einfügen.

10 Becher meines Joghurts, die es ohne umzukippen zu uns nach Hause schaffen, damit ich sie ordentlich in den Kühlschrank sortieren kann.
“Ich tue hier nichts Falsches.”

Ein Sprung über Fußgängerzonen einrahmende Bodenplatten.
“Ich tue hier nichts Falsches.”

Ein köstliches Wort, das mich so warm macht, dass ich alles über es wissen will.
“Ich tue hier nichts Falsches.”

Das Geklacker der Tasten während ich tippe und aus_sage, wie für mich ist, was ist.
“Ich tue hier nichts Falsches.”

Und das ist, was mir Angst macht und mich in so einen Kampf darum bringt, mich nicht aufzulösen.

Ich höre von innerer Kommunikation bei Menschen, die viele sind, immer wieder im Zusammenhang von durchzusetzenden Imperativen.
Immer sollen “die anderen da drinnen” irgendwas machen oder nicht machen oder einsehen oder verstehen. Selten höre ich davon, wie es für “diese anderen da drinnen” ist, wenn sie etwas erreicht, was sie so sehr erschreckt, dass sie es nicht aushalten können oder aber auch so sehr verlockt und in ungesicherte Gefilde zu verleiten droht, dass es einen Konflikt gibt.

Ich brauche etwas worauf ich mich stützen kann, um diesen Satz anzunehmen und zu verinnerlichen.
Das Außen eignet sich für mich nicht als Überprüfungsinstanz – es hat immer Recht. Immer ist es mir überlegen. Das Außen ist gefährlich für mich, denn es akzeptiert mich nicht. Und das Innen hat seine ganz eigene Dynamik. Ich berühre den Satz und der Boden wackelt. Die Wände bersten auf und fluten mich mit Reizen.
Man sagt immer einfach “erinnern” dazu. Für mich ist das ein Miterleben, wie etwas stirbt, von dem ich nicht wusste, dass es einmal gelebt hat.

Am Ende bleibt mir der Umgang damit.
Atmen, sortieren und wie einen Zauberspruch über meine Überflutungserfahrung sagen “Ich habe mich an etwas erinnert”, ohne je einen Inhalt tatsächlich aufgenommen zu haben.

Vielleicht muss man “innere Kommunikation” weniger als Büchsentelefon nach innen begreifen, sondern mehr wie das Warten auf eine autokatalytische Reaktion unter stetiger Beigabe entsprechender Einbringungen, während die Reaktion als Antwort dient.

zurück sein

Das Ende ihrer flammenden Rede für unser Recht auf Zustandsverbesserung quillt aus dem Telefonhörer in unser Ohr hinein und schubst uns ein letztes Mal an.
Es ist etwa 5 Uhr morgens. Vor einer halben Stunde sind wir durch ein offenes Kellerfenster zurück in die Wohnung geklettert und außer einem unregelmäßig aufbrandendem Impuls den Kopf zurück zulegen und sich sämtliche Organe aus dem Bauch zu schreien, ist da nichts weiter als kalte Haut unter nasser Kleidung.

“Es kann doch nicht okay für euch sein, dass ihr euch immer wieder in so einem Zustand jwd wiederfindet.”, schiebt sie nach. “Es ist auch nicht okay für uns.”, antworte ich ihr und betrachte die schlammtriefenden Fußenden der Strumpfhose in meiner Hand.
Inmitten unseres Schweigens stecke ich meine Finger in die frischen Löcher und verharre auf ihren Rändern.

“Was war denn los?”. Sie stellt die Frage in den Raum und lässt uns damit allein.

Ich merke, wie es hinter mir vor Wut zittert und sich eine Nebelbank in feinen Schlieren vor meinem Blick ankündigt. Sie macht mich so traurig mit dieser Frage und ich weiß einmal mehr nicht, wie es kommt, dass sie es bis heute vielleicht nicht richtig verstanden hat, wie das ist dissoziative Amnesien zu haben und viele zu sein.
Dass es eben auch bedeutet nicht zu wissen, was los war. Dass es bedeutet, dass selbst meine Annahme, dass ein Innen weggelaufen ist und wir uns deshalb in Schlafsachen auf einem Acker wiedergefunden haben, irgendwas zwischen “vage fühlen” und “mutig geraten” ist.
Ich sehe mich unter Druck ihr eine Ahnung, eine Idee oder eine Theorie liefern zu müssen – obwohl diese, selbst wenn wir eine hätten, im Moment überhaupt keinen konkreten Zweck für uns erfüllen würde.

Eine Andere bringt es statt meiner mit einem Glimmen in der Stimme auf den Punkt: “Die Frage ist zu groß und gerade unangemessen. Wir haben selbst kein festes Wissen und können dir jetzt nichts in die Hand geben, um das Geschehene greifbar zu machen.”. Sie schaltet den Wasserkocher an und holt einen Teebeutel aus der Schachtel. “Sie hat dich angerufen, weil du etwas zum Festhalten geben solltest.”.

“Und wer bist du?”. Die Worte klemmen sich an die Andere und legen sich wie eine Schraubzwinge um ihren Hals. “Ich.”, antwortet sie und drückt auf die rot leuchtende Taste am Telefonhörer.

“Du hast ihr nicht gesagt, dass du jetzt auflegen wirst.”, erinnere ich sie. “Sie wird gleich nochmal anrufen.”.
Sie gießt das aufgekochte Wasser in die Teetasse und in die Wärmflasche. Schlägt mit der Faust auf den großen Oberschenkelmuskel und spürt nach. “Ich weiß.”, antwortet sie und löst sich mit dem Schmerz auf.

Ich halte die Tasse in der einen Hand und wähle mit der anderen. “Entschuldigung – war nicht geplant.”, schmeiße ich in den Hörer noch bevor ich überhaupt weiß, ob es auch wirklich unsere Gemögte ist, die den Anruf angenommen hat.
“Ich war auch zu forsch – tut mir leid.“. Wir atmen gleichzeitig tief ein.

“Liest du mir was vor?”, frage ich sie und merke, wie sich die Müdigkeit Stück für Stück mehr von mir und dem Körper nimmt. “Ich würd mich gern in deine Stimme legen.”. Sie kichert “Ach – mehr nicht?”. “Eh eh, nee”, antworte ich und merke wie leicht es plötzlich dann doch ist, ihr zu sagen, was uns gerade gut tun würde.
Sie wühlt nach “unserem Buch” und fängt an.
Wir liegen unter drei Decken im Bett, schauen dem Seidentuch-Feenreigen in seinen sachten Bewegungen zu. Trinken Tee durch einen Strohhalm. Hören ihr zu. Legen auf, als die Geschichte zu Ende ist.

Und hoffen, dass unsere Gefühle von Entspannung und Sicherheit auch dort angekommen sind, wo wir selbst nichts wahrnehmen können.

Harry Potter und sein Täterintrojekt

Harry Potter quält sich mit der Frage, ob er vielleicht so wird wie Voldemort.
Er spürt Ähnlichkeiten, Verbindungen, bemerkt an sich fremdartig globale Aggressionen nachdem er Zeuge der Tötung eines seiner Mitschüler durch Voldemort wurde.

Well, das ist die Stelle, in der ich meine Brille gerade rücke und mich frage, warum es in der Zaubererwelt eigentlich eine Kenntnis von Wahnsinn und verwirrtem Verstand gibt, doch nicht von PTBS und Täter_innenintrojekten. Die Filme selbst verraten es mir.
Das Rezept ist Freundschaft, Liebe, ein Ziel für das sich zu kämpfen lohnt und die Erkenntnis, dass der frei umhermordende Täter sich durch Magie in den Kopf des Opfers genistet hat, um etwas davon zu haben.
Harry du alte Lusche – kontrolliere halt deinen Geist! Lass das nicht zu! Kämpf halt noch ein bisschen mehr. Retraumatisiere dich und lass uns das zum heldenhaften Kampf erklären.

Oh my.
Versteht mich nicht falsch – es ist nichts falsch daran sich um Freundschaft, Liebe und Ziele im Leben zu bemühen, wenn man schlimme Dinge erlebt hat. Es wird halt tricky, wenn die Person, die verantwortlich für diese schlimmen Dinge ist (oder war) zum immerwährendem und alles bestimmenden Zentrum im Leben der Person, die zum Opfer geworden ist, wird.
Da gibt es verschiedene Arten, wie sowas passiert.

Auf der einen Seite ist die Angst der Person, die zum Opfer wurde vor der Macht und der Person selbst, die die Integrität und Autonomie dieser Person verletzte, einschränkte und/oder zerstörte. Man kann nicht ignorieren, wovor man Angst – manchmal auch Todesangst – hat.
Viele Strategien gegen solche Ängste haben etwas mit Vermeidung oder Gewalt zu tun.
Vermeidung hat folgendes Problem: „Denk nicht an einen rosa Elefanten“ – Woran hast du gedacht? ba da bamm
Gewalt zeigt sich in Aktionen wie: „Dem zeig ichs jetzt“ – wem zeigst du jetzt mal und mit welcher Berechtigung? ba da bamm

Auf der anderen Seite sind die Freunde, Angehörigen, Verbündenten und die vereinigte Helfersfront auf Basis einer angenommenen Opfernot und Gerechtigkeitsstreben.
„Du musst kämpfen!“ – „Lass dich nicht unterkriegen!“ – „Wenn du jetzt aufgibst, hat di_er gewonnen!“ – „Si_er ist es nicht wert sich zu ärgern/zu grämen/schlecht zu fühlen/mit ihm_ihr zu befassen!“ – „Vertraue nur uns – dann bist du sicher!“
Da passieren gewaltvolle Ansagen und oft ist überdeutlich, wie schrecklich gut gemeint sie alle sind. Was will man dagegen sagen? Was kann man sagen, ohne den Kontakt zu gefährden? Wie viel Gegenrede ist in Ordnung? Wieviel Autonomie ist mit Hilfen und Unterstützungen vereinbar?

Häufig verändern sich Kontakte nach Gewalterfahrungen. Viele brechen weg.
Meistens, weil es schwierig ist miteinander zu reden und zwar mit sich selbst, seinem Empfinden und seinem Erleben im Zentrum und dem Ereignis im Kontext, das die Person, die eine Täterschaft zu verantworten hat, an genau dem einem Platz beinhaltet, der noch genug Raum für die Kontexte lässt, in denen sich diese Person bewegt (hat).

Sehr viele Menschen fangen an schreckliche Ereignisse und die Beteiligten zu versachlichen oder gänzlich zu abstrahieren. Deshalb schreiben wir zum Beispiel häufig von „DAS DA“ und „ES“ in unserem Leben.
Das Grauen wird dadurch für uns zwar fassbar (hey-es sind immerhin drei Worte!) und spiegelt doch sowohl die eigene Unfähigkeit nach einem Ereigniss, das jeden Erfahrungs(und Verarbeitungs)rahmen sprengt, es konkret zu erfassen (und zu verarbeiten), wie das Empfinden von Grenzen- und Raum- und Zeitlosigkeit, sowohl in der Situation selbst, als auch häufig genug noch darüber hinaus.

Wenn wir in Workshops sind, kommt die Frage öfter, was man denn richtiger machen könnte.
Gerade, wenn wir dann gerade lang und breit darüber gesprochen haben, welche Sprachführung nicht sinnvoll und am Ende sogar opferfeindlich ist.
Wir raten oft dazu sich selbst zu prüfen und zu schauen, was genau die Erfahrung der zum Opfer gewordenen Person mit einem selbst macht. Was genau wünscht man der Person und warum?
Wieso ist es wichtig, dass es ihr so schnell wie möglich wieder gut geht – ging es der Person vor dem Ereignis denn „gut“ oder erscheint es jetzt aktuell „gut“, weil es ihr nun sehr schlecht geht? Und wieviel Reflektionsleistung kann der Kontakt miteinander eigentlich aushalten?

Was zum Beispiel passiert, wenn man wie Harry Potter gleiche und ähnliche Eigenschaften an sich entdeckt, wie die Person, die einem schwere Nöte angetan hat?
Wenn wir in den Spiegel sehen, finden wir die Mutterfrau. Wenn wir uns dabei ertappen, wie wir uns an einen Türrahmen lehnen, erkennen wir das Warten des Vatermannes.
Wenn NakNak* zum x-ten Mal Katzenscheiße im Garten frisst, brandet ein gleißendes Wüten bis an die Wurzel meiner Zunge hoch und ich merke, wie ich sie verletzen will. Da ist kein Gedanke, keine Überzeugung, kein Wort hinter, das mir sagt:“Oh – hei ich bin ein Täterintrojekt und hier eine Gewalt zu wiederholen – mach mal Platz“.
Das ist pure Energie, die durch eine dumpfe noch nicht greifbare Erinnerung angestoßen wird – aber das wissen wir erst seit ein paar Jahren (NakNak* kam erst danach).
Zu Beginn hatten wir wenig bis keine Kompetenz diesen Energiestoß überhaupt zu erfassen, geschweige denn zu bremsen oder zu kontrollieren.

Das hat uns letztlich zu einer nicht tragbaren Jugendlichen gemacht. Wir waren ein böses Mädchen. Eine Gewalttäterin*. Klar musste man uns „ordentlich bestrafen“ – „so, dass wir es auch begreifen“ – „auf, dass wir nicht denken, wir wären wer“  und selbstverständlich musste man handeln, um sich selbst zu schützen.
Und während unser hochprofessionelles Außenrum uns behandelt hat wie der letzte Dreck, war alles in uns bestätigt, was uns erst zu Handlungen brachte, die uns zum „bösen Mädchen“ machten. Wer so böse ist, dass Erzieher_innen einem Privatsphäre, Ruhe und Unversehrtheit vorenthalten, di_er hat genau dies allem äußeren Anschein nach wohl auch nicht verdient.

Bis heute weiß ich nicht, wie wir je von allein auf die Idee hätten kommen sollen, dass dieses plötzliche Kippen in Selbst_Verletzung, Zerstören von Beziehungen, Ver_Bindungen und anderen Dingen, die uns wichtig sind, etwas mit den Übergriffen zu tun hatten, die wir erlebten und bis heute auf anderen Ebenen erleben.
Auch wenn es oft irgendwie schräg bis lächerlich klingt – bitte liebe Menschen – unterschätzt das nicht, wenn Menschen mehrfach diskriminiert sind und jeden Tag mit diversen Formen der Unterdrückung (Gewalt) konfrontiert sind. Es ist die gleiche Mechanik. Es sind die gleichen Muster. Es ist das verdammt noch mal immer und immer und immer Gleiche.
Auch wenn kein Blut fließt oder keine Strafanzeige erstattet werden kann. Auch dann!

Es frisst sich rein und bricht als Selbst_Zerstörung wieder raus.
Die Einen kotzen, hungern, schneiden sich auf – die Nächsten verletzen andere Menschen, machen Werbung auf Kosten anderer und wählen die AfD, während die Letzten vor lauter „denken sie nicht an…“ die Kunst des Eskapismus perfektionieren und aus allen Wolken fallen, wenn sie mit Menschen konfrontiert sind, denen Dinge geschahen, die unfassbar sind.

Manchmal isolieren sich Menschen, die Schlimmes erlebt haben, weil sie das Gefühl haben, dass sie niemand versteht. Dass niemanden ihren Kampf um Kontrolle versteht. Dass niemand ihre Angst versteht.
Und leider haben sie oft auch noch das Pech, dass sie wirklich nicht verstanden werden, weil die Personen drum herum auf Dinge achten oder von Umständen oder Empfindungen ausgehen, die nicht in den Personen wirken.

Herrje, wie oft Menschen uns für ein zartes Seelchen halten, das aber doch unfassbar stark sein muss, weil sonst hätte es ja nie überleben können.
Tse – wir haben überlebt, weil wir überlebt haben. Wir hätten auch das stärkste Menschlein auf der Welt sein können und unser Risiko zu sterben wäre gleich groß gewesen.
Wir verbinden mit unseren Gewalterfahrungen nicht solche Wabbeldinge wie Würde oder Ehre und wir fragen uns auch nicht, wer uns denn jetzt noch nehmen wollen würde.
Wir hängen uns oft an einem „hätte würde wenn“ auf, weil unser Zentrum nicht andere Menschen, wohl aber unsere Pläne in Abhängigkeit von anderen Menschen sind.

Das ist zum Beispiel , was das Finden von Triggern für uns sehr leicht macht – aber auch Aufhänger liefert, in denen wir uns in Gedankenkreiseln wieder finden, die sich damit befassen wie oft man hätte den linken Fuß auf dem Fußabtreter hätte reiben müssen, bevor man die Wohnungstür öffnete oder damit, welche Wörter wann wie warum genau falsch waren. Über solche Dinge denken wir stundenlang nach und machen uns darüber selbst Stress.
Und natürlich kann man wenig produktiv über andere Dinge nachdenken, wenn man solche Schleifen im Kopf hat, auf der Suche nach dem ultimativ sicheren Plan für immer und ewig, auf das nie wieder irgendjemand käme und uns verletzte.
Weil der ultimative Plan ja auch dafür sorgen würde, dass wir keine Gefahr darstellen – unabhängig davon, wieviel Täter_innenintrojekte in uns wüten und wieviele Monster an ihren Käfiggittern reißen.

Manchmal denke ich, dass die Annahme des eigenen Bösen in sich einfach genau das ist, was niemand von Ex-Opfern hören will.
Es ist so bequem davon auszugehen, dass eine Person immer und grundsätzlich gut ist, weil so der Umstand der Ungerechtigkeit der an ihr begangenen (Straf-)Tat stärker hervorsticht.
Als wären die Menschen vor dem Gesetz (und für manche Menschen auch: vor G’tt) nicht gleich.

Würde, Ehre, Gewollt sein – das hat alles mit der Gesellschaft zu tun, die für uns als Einsmensch irgendwie immer eher wie wissenschaftlich interessantes bis nervenaufreibendes Beiwerk an uns vorbei geblubbert ist. Wir haben die Erwartungen dieser Gesellschaft nie erfüllt und werden das vielleicht auch nie schaffen.
Für manche Menschen macht uns das zu einem Menschen, dessen erlebtes Unrecht nicht das gleiche Unrecht ist wie für eine Person, die ihr Leben lang beliebt unter „den Richtigen“ und „erfolgreich an der richtigen Stelle“ war. Glücklicherweise nicht für viele – aber für genug, dass ich mich daran erinnerte, als wir gerade „Harry Potter und der Orden des Phönix“ schauten.

Ich habe daran gedacht, wie ich mir vielleicht 2 – 3 Jahre früher jemanden gewünscht hätte, di_er mir erklärt, was Täter_innenintrojekte sind und was die Introjekte oder auch Innens sind, die mir helfen könnten mit ihnen so umzugehen, das weder wir noch andere Menschen unter ihnen leiden.
Und ich dachte, wie schade es ist, dass Harry nur zu hören bekam: „Mach deinen Geist frei“, statt: „Mach deinen Geist mit den Dingen voll, die das Böse in dir gleich groß wie alles andere in dir macht, denn es gehört auch zu dir.“

Vorstellungen

Gestern war ein Tag, von dem ich später sagen kann: “Ja, und dann war da „Tag der offenen Tür“ und ich bin hingefahren, hab gesagt, dass ich die hundische Assistenz brauche und, dass ein ruhiger Ort gut wäre und dann hab ich mich noch ein bisschen umgeguckt und bin zurück nach Hause gefahren.”, als wäre es einfach nur so passiert.
Einfach so. Weil man das so macht.

In meinem Kopf entsteht im Moment so ein Bild davon, wie das wohl sein könnte, wenn wir vielleicht nicht mehr so völlig allein klar kommen müssten, weil wir endlich eine passende Betreuung gefunden haben und dann in eine Ausbildung gehen und viele spannende Sachen lernen und danach dann ganz viel Zeug erschaffen können und uns vielleicht auch endlich mal ganz selbst finanzieren können und so.
Einfach so. Weil das dann ist.
So normal halt.

Es gibt Menschen, die finden normal langweilig. Weil “einfach so” ja gar nicht sein kann. An jedem “einfach so” muss es einen, einen wie auch immer genehmen Haken geben, der zusätzlich definiert.
Und ich stehe daneben und frage mich, wie man überhaupt gelangweilt sein kann von Dingen, die egal ob normal, einfach so oder unüblich, komisch passieren. Als sei das Geschehen von Dingen und Dynamiken nicht grundlegend irgendwie immer interessant, weil es doch genauso wie es geschieht, auch gar nicht geschehen kann.

Wir könnten eine Landschaft von Fleischklopsen sein und wären doch interessant. Oder etwa nicht? Schonmal ne Landschaft aus Fleischklopsen gesehen?
Eben.

Ich dachte gestern in der Berufsschule darüber nach, wie das wäre, wenn es sich nach ein zwei Wochen eingebürgert hätte, dass wir da halt sind und NakNak* auch und es so einen Lauf der Dinge für uns gäbe, in dem wir so anders sind, wie alle anderen, die dort lernen. Ich glaube, das wäre unnormal für uns und deshalb besonders.
Das ist etwas, worüber noch nicht sehr viel gesprochen wird, wenn es um das Thema Inklusion geht. Der Aspekt von neuer Normalität.
Neues kann nicht normal sein. Erst das Alte, Bekannte, Übliche kann normal sein.

Meine Ausgrenzungserfahrungen sind für mich normal und allein meine Integration in eine Schule wäre für mich so ein Zustand, der mir als Schritt schon reicht. Ich halte Schulen nicht für Orte, an denen Inklusion gelebt werden kann. Zumindest so lange nicht, wie Integration noch keine Normalität ist.
Wenn Dinge normal sind, verlieren sie irgendwann ihren Reiz als grundlegend interessantes Ding. Dann fängt man an, zusätzliche Worte dazu zu machen und bestimmte Eigenschaften herauszudefinieren.
So werden übrigens moderne Ernährung, Mode und all die Variationen von Putzmitteln gemacht. Wozu einen Apfel kaufen, wenn man auch ein Superfood apple power/Rawfood juicy apple/unverpackt bio fair trade vegan special Obst mit Namen “Grannie Smith” kaufen kann, das viel toller, spannender, interessanter sein muss, weil es ja sonst nur “Apfel” heißen würde.

Wenn man es gewöhnt ist umgeben von Menschen zu sein, die behindert sind/werden (also Integration von Behinderten lebt), dann fällt einem irgendwann schon ganz von allein auf, dass es gerechter und schöner wäre, würden diese Menschen auch die gleichen Rechte haben und alle Möglichkeiten bekommen, diese auch einfordern zu können. Das nennt man dann Inklusion. Und auch daran müsste man sich erstmal wieder gewöhnen.

Jedenfalls habe ich mich gestern ein bisschen näher an so einer Idee von “normal” gefühlt und gemerkt, wie gleichzeitig der Reflex hoch kam, mich zur Ordnung der Dinge im Moment zurückzurufen.
Meine Vorstellungen von einem Umfeld, dass uns beim Haus.halten, Arbeiten schaffen, uns selbst organisieren und tragen, beim Therapie machen unterstützt und in dem es dann auch noch eine Schule gibt, die das übliche Schulnervzeug mit sich bringt, halte ich selbst für etwas, das nicht nah an einer möglichen Realität sein kann, weil es so ein unnormales Ding wäre.
Ich denke mir, dass es mindestens 300% anders (und natürlich genauso viel schlimmer) sein muss, weil ich ja keine Ahnung hab, was ich mir da eigentlich wünsche vorstelle.

Und dann lehne ich mich zurück und erlaube mir das.
Weil ich mir doch immer mindestens vorstellen muss, was sein könnte. Einfach nur so. Fern aller Realitäten und Normen. Wie sonst soll ich denn sonst merken, wenn ist, was ich mir gewünscht vorgestellt habe?

Ich erdenke mir also einen Schulalltag und eine Heimwegroutine mit NakNak* an der Seite auf ein Zuhause zu, das mich nicht chronisch überfordert und mir Raum lässt mir zu wünschen vorzustellen, was ich mache, wenn ich fertig bin.
Einfach so.
Auch, weil es nichts Neues wäre, würde auch dieser Wunsch diese Vorstellung als nicht umsetzbar vor meiner Nase zerplatzen.

nah dran

Wenn ich lese: “Mir fehlen die Worte.”, “Ich bin sprachlos.”, “Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.”, denke ich: “Ist okay – ich brauche auch keine Wörter von dir.” oder: “Schon gut, für mich musst du auch keine Wörter haben.”. Aber dann kommt ja noch der ganze Rest. Die ganze Hilflosigkeit. Der große  Schreck und die Versuche mich daran teilhaben zu lassen.

Nur weil wir uns fast das Leben genommen – was ist das eigentlich für eine bescheuerte Formulierung? “Das Leben genommen”. Als könnte man durch Regale gehen und sich Leben nehmen.
Als geschähe Leben nicht einfach so. Oder eben nicht. Oder eben nicht mehr.

“Nur, weil wir uns so unkontrolliert vor der Entscheidung des Weiterlebens oder nicht mehr Lebens  empfunden haben.”, so ist es richtig formuliert.

Mich überrascht die Angst um uns. Und die Bindung, die zu uns aufgebaut wurde.
Und sie erschreckt mich. Macht mir Angst. Tritt genau diesen einen unheimlichen Schritt zu nah und greift nach etwas von uns, dass es nicht gibt. Nie gab. Vielleicht nie geben wird. Und vielleicht auch nicht gewollt ist, weil es als unaushaltbar erlebt wird.

Ich würde gerne sagen: “Hey – es ist nur Suizidalität. Es ist nur eine Entscheidung. Kopf hoch – es geht nur um Tod.”, aber ich weiß, dass ich das vor einer Wand sagen würde, die weiß vor und unter dem Leben in unserer Zeit, unserer Gesellschaft, unserer Kultur vor sich hin rauscht, wie die vielen Bäche durch die Alpen.
Es ist genau die Wand, die wir manchmal auch als Kluft zwischen uns und dem Rest der Welt erleben.

Weil wir erlebt haben, was wir erlebt haben. Weil wir wahrnehmen, was und wie wir wahrnehmen. Weil wir in unseren Fähig- und Fertigkeiten mit anderen Begrenzungen als die Mehrheit der Menschen umgehen.

Zwischendurch passiert es noch, dass Menschen mit uns in Kontakt treten und in Austausch gehen möchten, weil sie denken, wir wären besonders (stark/mutig/whatever). Was dann immer wieder passiert ist Stille. Das Moment der fehlenden Worte und die Angst vor dem Schweigen. Die vielen vielen Worte, die uns nichts sagen, doch für diese Menschen zentnerschwer mit Bedeutung beladen sind.
Und dann die Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass wir einfach nur sind. Dass es uns einfach nur gibt und das schon die ganze Besonderheit ist.

Ich blätterte heute durch “Sensation des Alltäglichen”, einem großartigen Fotoband von Anja Conrad und dachte: “Genau das ist es. Nichts weniger. Dieses Leben.”.

Manchmal frage ich mich, ob es Menschen gibt, die uns kennen und denken: “Wär mir genauso gegangen an deren Stelle.”. Heimlich unterstellen wir das auch Menschen. Wissen es aber nicht. Weil sie uns lieber sagen, wie sprachlos sie sich vor dem schockartigen Bewusstsein um unsere Not, unsere Verzweiflung, die Nähe zum radikalen Ende empfinden.
Ich würde gerne sagen: “Sagt uns einfach, dass ihr unsere Not auch nicht ertragen wolltet/würdet/könntet. Weil sie ist und war und bleibt, bis sie zu Ende ist.” und kann es doch nur schreiben.

Ich wünsche mir mehr von dieser einen Ehrlichkeit, die genauso wenig Rücksicht auf uns nimmt, wie die Entscheidung zum Suizid keine Rücksicht auf irgendjemanden oder irgendetwas außerhalb eines sich Suizidierten nimmt.
Woran sollen wir denn glauben, wenn wir nur von Füllwatteworten umgeben werden, aus Angst man könnte – ja was? Uns beeinflussen? Uns indirekt in den Suizid treiben? Uns verletzen? Aus Angst man könnte selbst bemerken, welchen einen Schritt genau man zu nah an und in uns hinein getreten ist?
Geht es am Ende nicht vielleicht genau darum die Erkenntnis zu vermeiden, wie sehr man sich mit uns verbunden fühlt und dennoch scheut in etwas gemeinsam zu sein, was einem selbst fremd ist, weil man auf der anderen Seite der Kluftwand steht?
Ist es Angst unser Schweigen, unsere Sprachlosigkeit, unsere Suche nach Worten am eigenen Selbst zu fühlen?

Ist es Angst vor dem Leben, wie es für uns ist?

Jenes Leben, das wir uns jetzt, wo die Entscheidung gegen einen Suizid zum jetzigen Zeitpunkt getroffen wurde, neu anzusehen versuchen.
Jenes Leben, in dem wir ein Medikament nehmen, das uns beruhigt und hilft aus dem ständigen Hyperarousel zu kommen. In dem wir auf eine Antwort auf unseren Antrag auf Wiederaufnahme in einer Klinik für Psychotherapie warten und streng mit uns sind, wenn von hinten nach vorn die Argumente kommen, wir würden so etwas doch gar nicht brauchen/müssen/dürfen/sollen/hätte würde wenn/ jatta jatta jatta. In dem wir uns erlauben, die deutsche Gebärdensprache zu lernen. In dem wir (Sensation des Alltäglichen!) zwei Mal am Tag essen. In dem wir uns eine Jahreskarte für die Stadtbücherei erlauben.

Und ab und zu, kurz, schmerzhaft, unheimlich und nah, an den Rand der Kluft zwischen uns und der Welt treten.

wenn etwas ist

Und dann steht da die 16 jährige “darkcloud” und soll wählen, wo gar nichts zu wählen ist.
Soll frei entscheiden, obwohl sie unfrei ist und keine Entscheidung von ihr tragbar ist.
Sie soll leben. Sie soll sich nicht verletzen. Sie soll was sagen. Sie soll etwas verstehen wollen. Sie soll sich gut fühlen. Sie soll nach innen hören, ob jemand mithört.

“Ich weiß noch, dass es mich ewig beschäftigt hat, ob man das Hören der anderen hören kann. “

Der Ton ist grässlich, das Bild unscharf. Die Spannung unerträglich.
Selbst 13 Jahre später schafft sie es, sich über das Videomaterial um meine Brust zu legen und mir den Atem zu nehmen.

Während ich ausatme und ein Stoppsignal nach vorne gebe, drehe ich mich nach innen.
An den Rändern murmelt es und im Inmitten weint es.
Das Rauschen des Tons und die Spannung verleiten mich dazu, vom Innen wegzutreiben und kurz bin ich dankbar für den Fersensporn mit dem wir an dem Tag schon 20 Kilometer gelaufen sind.

Ich merke an der Seite einen Flashback und beschließe das Ende des Versuchs.
Mit Traumakonfrontation habe ich nicht gerechnet, obwohl mir schleierhaft ist, warum eigentlich nicht.

Als wir in die milde Sommerwärme hinaus treten, wähle ich eine schlichte Mustermusik und lasse S. allein in der fremden Stadt.
In den letzten Wochen habe ich verstanden, dass ich ihn nie hören werde. Er ist nonverbal und spricht mit Bildern. Wenn er kann, schreibt er.
Darauf muss man erst mal kommen.

Als wir an Wasser vorbeikommen setze ich mich ins Gras und wiege das Telefon in der Hand. Ich möchte mehrsam sein. Mich verbinden. Ich möchte mitteilen, dass es weh tut. Ich möchte Erleichterung.  Am Ende spreche ich mit einer Viele-Gemögten und wähle dann die Telefonnummer der Therapeutin.

Über uns kreist ein Vogelschwarm. Ab und an quakt eine Ente.
Und die Welt dreht sich weiter.

Niemand wusste, dass “darkcloud”, M. und die anderen, sogar auf dem Klinikgelände von Tätern angesprochen wurden. So sagt es die Therapeutin, die damals mit ihnen gesprochen hatte und die Gesprächsaufzeichnungen heute für uns zugänglich gemacht hat. “Die hatten ja alle keine Ahnung, wie gefährdet ihr noch wart.”, sagt sie und ich frage mich, ob sie Ahnung hätten haben können.
Ich glaube, wir hätten mehr äußern können, wenn wir nicht hätten frei drauflos sprechen müssen. Wir haben noch nie einfach nur Substantive benutzt oder angedeutet und uns darauf verlassen, dass die Menschen, denen wir sie übermitteln verstehen, welche Wörter darin sind. Wir kommunizieren nicht symbolisch.

Wir essen wildgepflückte Brombeeren und schauen dem Wasser beim Fließen zu. Ich lasse die gesehenen Bilder an mir vorbeiziehen und betrachte mein Mitleid. Die Personen, die versuchen zu helfen, zu versichern, zu beruhigen und das Mädchen in schwarz, das einzelne Worte nach vorn scriptet und sich Antworten abkämpft, noch während es in Todesangst und allgemeiner Desorientierung ist. Ruhig auf einem Stuhl sitzend.

Ich verstehe noch einmal mehr, warum es Helfer_innen schwer fällt anzuerkennen, dass Situationen, in denen sie ihre Arbeit so gut machen, wie sie es können, traumatisch auf die Personen wirken können, denen sie helfen wollen.
Man sieht es nicht. Es gibt keine Schreie, kein Blut, keine Zerstörung. Es gibt nur eine sich langsam zersetzende innere Konsistenz bei gleichzeitiger Anpassung.

Ich erinnere mich daran, dass irgendwann jemand sagte, M. sei tot. C und C wären jetzt an ihrer Stelle da. Leider weiß ich nicht, ob das verstanden wurde. Ob klar war, dass es einen massiven Bruch gegeben haben musste, wie er nur aufgrund von toxischem Stress zustande kommt.
Noch während wir in der Klinik waren – dann ohne Täterkontakte. Ich weiß nicht, ob das jemals irgendwie als Idee im Raum stand: “Könnten wir “die sechszehnjährige E.” mit dem, was wir implizit verlangen, so massiv überfordern, dass es für ihr Gehirn die gleichen Auswirkungen hat, wie es die Überforderungen  durch absichtliche physische und psychische Verletzung der Täter_innen hatten?”.
Wo steht der Diskurs der Fachwelt um die Frage wie freiwillig Kinder und Jugendliche eigentlich in eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung einwilligen können? Welche Definition von Konsens liegt dem zugrunde?
Wie freiwillig waren wir dort und lauschten nach einem Hören der anderen, wenn die Wahl war, zurück in ein Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen mitten in den Wallakutten zu ziehen, wo es immer wieder zu Übergriffen von Täter_innen kam oder sich das Leben zu nehmen? Ist “das kleinere Übel mit Hoffnungsschimmer”, nicht eben doch auch ein Übel?

Aus C. und C. sind später die Rosenblätter hervorgegangen. Also auch ich.
Ich mag über die eineinhalb Jahre Klinikzeit nicht sagen, sie hätten nichts gebracht.
Das stimmt nicht.
Aber wir hätten etwas anderes gebraucht.

In einem Utopia wäre die DIS-Diagnose, genau wie die Autismus-Diagnose, spätestens in der zweiten Klinik gestellt worden. Da waren wir 15 Jahre alt und hatten erst 5 Suizidversuche hinter uns.
Es hätte eine Pflegefamilie oder eine Kleinstwohngruppe gegeben, die sich mit einem 1:1 Betreuungsschlüssel um uns kümmern konnte. Wir wären auf eine integrative Gesamtschule gekommen und hätten jeden Schulabschluss machen können, den unsere Leistungsfähigkeit hergibt. Wir hätten kompetente Traumatherapie bekommen durch Therapeut_innen, die nicht an uns lernen, sondern mit uns.
In einem Utopia wäre es uns erspart geblieben von Hilfemaßnahmen auf eine Art traumatisiert zu werden, die ein spezifisches Funktionssystem für Therapie hervorbringt.

In einem Utopia hätten wir nicht jahrelang gedacht, wir wären ein schweigsames Opfer.
In einem Utopia hätte man unser Sagen gehört.

Ich stehe auf und laufe zum Bahnhof.
S. gefällt die Musik und die kleinen Wasserfontänen auf dem Vorplatz. Er deutet auf das im Sonnenlicht glitzernde Wasserspiel und lächelt selig.

Der Gedanke: “Wenn etwas ist, dann muss man sich damit auseinandersetzen.”, zieht durch mein Denken.
Ich schreibe das Inhaltsverzeichnis für unser Buch nieder.

Verbindungen

Die Therapiestunde endete mit einem Flächenbrand, der unterm Scheitel begann, sich über einen Krampfanfall auf den gesamten Körper verteilte und bis in den späten Abend unterm Denken schwelte.

Menschen verstehen nicht, wenn wir versuchen zu vermitteln, wie schwer Sprache wird, wenn es uns nicht gut geht. Die wenigsten wissen, dass wir in Krisen seit Jahren das Fingeralphabet und einzelne Grundgebärden nutzen, um zu kommunizieren. Die meisten wissen, dass wir Menschen meiden, wenn wir nicht sprechen können. Die meisten denken, wir wären dann lieber allein. Niemand denkt daran, dass die Kluft des Missverstehens zwischen uns auch ein Grund ist.

Dass es der Weg zu Worten ist, der alles erschwert, wenn wir zwischen Erinnern und Nachspüren stehen und auf Impulse aus dem Heute reagieren sollen, haben wir gestern verstanden.

Das Hier und Heute verlangt nach Reaktionen, die bestimmte Formen haben muss. Der Mindeststandart sind Lautsprache und Blickkontakt. Ist das nicht gegeben, wird geraten und nachgefragt. Wird mit jeder Frage eine Palette von optional gemeinten Räumen eröffnet, von denen einer zu wählen ist. Exakt einer führt zielgenau zu dem Verstehen, das gebraucht wird – die anderen schließen dieses Verstehen nicht aus, führen aber zu weiteren Fragen mit neuen Räumen und Wegen, die zu gehen sind. Auch dann, wenn man keine Kraft dazu hat.
Hier kommt die Zeit <—-> Kraft –Dynamik dazu.
Je mehr Kraft wir in ein Hier und Heute pumpen müssen, damit es uns versteht, desto weniger schaffen wir es dauerhafte Belastungen zu kompensieren. Wie zum Beispiel überflutende Körpererinnerungen, Pseudohalluzinationen, den Drang die Satzbausteine rauszuwerfen, die mit am wenigsten Anstrengung zu greifen sind, den Impuls das zu Sagende nicht mehr zu kontrollieren oder schlicht Dinge zu tun, die uns entlasten, aber im Hier und Heute nicht okay sind (selbstverletzendes oder spezifisch selbstansprechendes Verhalten).

Es hätte uns gut getan, real verletzungsbedingte Schmerzen zu haben oder im komplett Dunklen oder Stillen oder Eingeengten zu sein.
Paradoxerweise hätte es uns wahrscheinlich am Besten geholfen, zurück zu einem “normalen” Reiz-Reaktionsmuster zu finden, wäre die Gewalt, die für uns neben dem Jetzt passierte, das Jetzt gewesen.

Wir haben Anfang dieser Woche unser Podcast “Viele-Sein” mit den Sommers aufgenommen (wird bald veröffentlicht) und dabei auch darüber gesprochen, dass durch den Ausstieg ein Faktor in unserem Leben wegfiel, der vieles in uns zusammengehalten hat: die Gewalt.
Nach gestern und im Zusammenhang mit den Überlegungen um die Autismusdiagnostik denke ich auch: die Reize und die Eindeutigkeit, die mit der Gewalt einhergingen.

Manchmal blende ich (erwachsenes Alltagsinnen) aus, wie auch aufgefasert frühere Gewalt schon auf uns eingewirkt hat. Wir wurden misshandelt – aber das war nicht immer das, was einen Leidensdruck auslöst. Manchmal kommt der Leidensdruck eher aus einem Bedauern des gegenseitigen Missverstehens oder anderen Dynamiken, die nicht dazu führen, verbunden zu sein.
Dazu gehörte schon früher auch: die Un_Logik von Gewalt zu durchschauen, eine Idee von Opportunismus als Faktor von Gruppengewalt zu haben, loyal sein zu wollen, aber andere Kontexte nicht ausblenden zu können – zusammengefasst vielleicht: das eigene Denken nicht unterdrücken zu _können_  obwohl man doch sehr möchte und merkt, dass die dominierenden Personen das doch auch so gern möchten.

Zwischenmenschliche Gewalt gilt als zusammenhängend mit Trennung. Wenn jemand jemandem Gewalt antut, dann muss eine Trennung her. Separation gilt als (einziger) Weg des Umgangs. Stichwort: Alle in den Knast (in Therapie/ Psychiatrie/Rettungseinrichtung/helfende Hände)
Manchmal frage ich mich, ob von uns erwartet wird, vor allem deshalb unter der Gewalt auch im Nachhinein zu leiden, weil es moralisch schlimm ist, Gewalt erfahren zu haben und moralisch schlimm ist, Gewalt auszuüben.

Für mich ergibt sich aus diesem moralischen Anspruch, die Trennung zum Leiden darunter, dass sie nicht mehr so passiert, wie ich mit ihr umgehen kann und ein Verbot, Dinge als quälend, schlimm, (gewaltvoll) zu empfinden, die für andere Menschen einfach so damit einhergehen ein Leiden lindern zu wollen.

In meinem Erleben war es ein Kraftaufwand bis an den Rand der Therapeutin zu sagen: “Wäre ich jetzt zu Hause, würde ich einen Krankenwagen anrufen.” – ich weiß nichts mehr von dem, was danach geschehen ist, außer einem zerreißenden Impuls aus dem Nicht-IchWir nach dem anderem.
Fragen, Berührungen, Entscheidungen, Geräusche, Licht, verwirrende (Decken-) Muster in einem Vielzuviel, das keinen Kontext mehr hatte und nicht mit mir zu verbinden war. Ich konnte mich nicht mehr verbinden und gleichzeitig mich selbst nicht berühren.
Im Bericht aus dem Krankenhaus wurde daraus “Lichtempfindlichkeit – eventuell liegt eine Migräne vor”.
Meine Versuche mich ausdrücken verwandelten sich in “psychomotorische Unruhe”.

3

18.32 Uhr, 4 Stunden nach dem Anfall und der Gabe von Schmerzmitteln und einem leicht sedierenden Mittel gegen Übelkeit später, saßen wir mit unserer Therapeutin unter einer Raumdecke mit  reiz-voll-em Muster im Foyer der städtischen Psychiatrie.
Es waren inzwischen 4 Stunden voller Missverstehen und überbordenden Versuchen und Fehlschlägen der Kommunikation vergangen.
Patient_innen liefen an uns vorbei. Gesprächsfetzen, Rufe und das Geräusch der automatischen Schiebetür durchdrangen die Halle.
Wir hatten zuletzt in der Praxis der Therapeutin einen Schluck Wasser zu uns genommen und zuletzt vor über 24 Stunden etwas gegessen.

Wessen Denken fing langsam wieder an, im üblichen Rahmen zu funktionieren?
Genau.

Wir wissen, dass man nicht oder nicht viel hätte anders machen können und das ist auch nicht, worüber wir jetzt nachdenken. Uns wird ja gern gesagt, wir sollen sagen, was man hätte anders machen sollen, weil man zu gern missversteht (verstehen muss/will), warum wir solche Ereignisse hier mit_teilen.
Ich teile sie, weil ich möchte, dass Menschen verstehen, wie es uns ging, während die Helfenden um uns herum, ihr Bestes taten ein Leiden zu lindern, das sie in uns vermuteten. Ich möchte auf das trennende – das auf uns sehr ähnlich wie erlebte Gewalt  wirkende – Missverstehen hinweisen, das dazu führte, dass wir uns sehr viel länger gequält haben, als vielleicht unumgänglich gewesen wäre.

Ich möchte ausdrücken, dass wir uns tatsächlich tief gequält haben und am Ende wieder unsere Anpassungsfähigkeiten an Zustände körperlicher wie psychischer Erschöpfung, dazu führten, Kontakt mit dem Außerhalb aufnehmen zu können, wie es das Außerhalb braucht, um zu verstehen.
Es ging uns nicht besser – wir sind einfach nur in eine andere Art Notzustand gekommen, der weniger am Sprechen und am Weg zur Lautsprache behinderte.
Das ist ein Unterschied, den ich versuche sichtbar zu machen, weil ich davon überzeugt bin, dass es vielen Vielen schon so ergangen ist, die sich dann aber nicht zu äußern trauen (können), dass es ihnen unter den Worten noch immer nicht “okay” geht.

Als wir noch einmal Stunden später in unserem Käfig lagen und Wasser aus einer Flasche durch einen Strohhalm trinken konnten, konnten wir endlich auch NakNak* spüren und uns darüber auch im erinnernden Innen mit dem Hier und Heute verbinden. Es war dunkel, still und so eng, dass wir uns nicht frei bewegen konnten.
Es war wieder okay.
Endlich.

brachial sein üben

Und in den Worten an die Psychotherapeut_innen, die Autist_innen behandeln steht: “Nehmen Sie ihre Klient_in ruhig wörtlich” und hätte ich nicht ein längst leer geweintes Menschenköpfchen würde ich auch diese Seite volltropfen.

“Weil kann man nicht ändern diese scheiß was sie sagen ist unser Leben. Für uns ist wichtig, dass sie wissen und nicht vergessen, wir leben mit Furcht und Angst, mit Überforderung und Erinnern. Immer wenn wir sagen und versichern davon (egal wer, egal wie) sie machen ein Thema und reden eine Ebene davon.  Aber das ist nicht alles. Das ist nicht fertig und wird nicht fertig. Man kann nicht verstehen was man MACHEN soll oder könnte, wenn sie sagen nur „Sie fühlen…“, „Sie denken…“.
Merken sie nicht Unterschied von Verständnis und jemanden verstehen lassen?
Sie lassen uns nicht verstehen. Sie lassen uns verstanden.
Da wo wir stehen lassen sie uns und sagen: „Ich habe Verständnis für sie.“
Das ist schön jemand hat etwas für uns – aber es ist egal für was ist und wo wir stehen“

Wir räumen in der Wohnung herum und schmeißen Dinge weg.
Es gibt zuviel Zeug in unserer Wohnung, in unserem Leben, das uns anstarrt und uns suggeriert,  es gäbe eine Wahrheit, die unserem Erleben und Äußern widerspricht.
Wir werden aber nicht mehr in eine weiterführende Schule gehen. Wir werden aber keine Kinder bekommen, denen wir unsere mitgenommene Baby Born Puppe vererben werden. Wir werden aber H. nie wieder als Gemögte haben. Wir werden aber keine Klassenkamerad_innen aus der Heimatstadt mehr treffen. Wir werden aber nie wieder Klavier spielen. Wir werden aber nie Gitarre spielen lernen. Wir werden aber keine geklebten Puzzles an die Wand hängen. Wir werden aber nie die Fähigkeit bekommen unsere früheren Kunsttherapiesachen zu besprechen. Wir werden aber nie wieder unter 55kg wiegen.

Wir dachten, dass man das so macht. Dass es nicht genug ist, wenn wir die Dinge tun, die wir tun, weil wir sie tun wollen und können. Immer muss irgendwo ein verborgener Wunsch sein – irgendwo muss eine versteckte allumfassende Wahrheit sein, die wir nur nicht mitkriegen, weil wir nicht ganz dicht sind. Oder sie nicht kennen sollen. Weil frühere Gewaltopfer haben sowas.
Wir haben soviel Zeug aufgehoben von dem wir dachten, es wäre später vielleicht mal wichtig.

“Als Option doch gut zu wissen, weil man weiß ja nie und in Wahrheit möchte man es doch auch. In Wahrheit geht man doch davon aus, dass es ein Morgen und ein sicheres Bald gibt und man sich dafür alle Optionen offen halten will.
Du denkst jetzt es ist sinnentleerter Mist, weil du dich jetzt halt aus dem Leben, der Welt, dem Allem rausgerissen und entfremdet fühlst – aber in Wahrheit… aber in ein paar Jahren…”.

In Wahrheit bleibt es sinnentleerter Mist, weil er das schon damals war und man auf eine Wahrheit wartet, die nicht die eigene ist.

Wir werden nie eine Wohnung haben, die wir zum Wohnen benutzen, bis wir nicht verstanden haben, was “Wohnen” eigentlich ist.
Ich habe die besten Ideen, wenn ich mich verletze. Vielleicht weil ich mich in dem Moment auf vielen Ebenen berühre und dabei so roh bin, wie das Innen, das unserer Therapeutin geschrieben hat.

Und sie denken vielleicht ist Traumadummheit weil man will nach Hause ans Meer wo man freie Blick hat und nicht wie hier überall Berg und eng und laut und Leute die ungefragt anreden. Sie denken vielleicht ist Traumadummheit man will ein Baby sein, das erlaubt gar nichts muss oder soll und trotzdem nicht sterben muss – aber vielleicht sind wir nie eigentlich weiter gewachsen als Baby und später einfach eine dressierte Äffchen geworden.
Vielleicht sie haben vergessen, Innens sind Kunststückchen für dass man nicht stirbt.

Menschen machen Wahrheiten, wo sie kein Wissen haben.
Sie wissen nicht, dass wir sie nicht verstehen.
Deshalb glauben sie uns nicht.

Wir üben brachial sein.
Die brachiale Veräußerung, die vor 13 Jahren noch in einer Fünfpunktfixierung und Diazepamspritzen endete.

Autismus und DIS #4

Es gibt diese Tage von denen man nicht weiß, dass es Tage sind. Dieses Sein voll Reiz und Reaktion, ohne irgendeine Dimension, die ihre Hand austreckt und vor dem Ertrinken bewahrt.
Wenn man den Absprung aus dem intrusivem Erleben in die Orientierung hinein nicht geschafft hat, sondern von Impuls zu Impuls springt und froh ist, wenn man einen Fetzen seines Intellekts sieht und sich ver_stehend erlebt.

Wir müssen sortieren. Vor der Flut des Innen und Außen stehen wir. Sind seltsam unberührt, doch Schreie fühlend, die aus dem Inmitten quellen, dringen und drängen wollen.
Man kann nichts damit anfangen, weiß keine Reaktion und am Ende ist der Impuls egal, obwohl er macht, das man kopflos getrieben wird.

Während die einen noch vor dem Wort “Autismus” stehen, als sei es ein Kleid, in das hineinzuschlüpfen, man sich errechnen muss, obwohl die Zahlen im Kopf weh tun, ruft es im Innen nach einer höheren Instanz, die anleitet und beruhigt. Sicherheit, Entlastung schafft.
Andere lauern auf ihren Moment an ihren Projekten zu arbeiten – um ihr Ende finden und genießen zu können, um sich von der helldunkelbunten Masse  des Inneren lösen zu können, die stiert und starrt und dumpf pulsend versucht das eigene Sein möglichst wenig fühlen.

Es ist der Gedanke, die Verheißung, die Idee, ein Sein – ein Sosein zu haben, das nicht impliziert ein So-tun-als-ob-Spiel zu spielen, damit man überleben kann.
Die Idee, dass kein Innen mehr so tun müsste, als wäre es wie die, mit denen sie es zu tun haben. Die Verheißung, aufhören zu können diese eine Kluft zu überbrücken zu versuchen und trotzdem noch zu sein.
Das ist ein Maß an Orientierung, im Hier und Heute, das wir nicht kennen.
Das wir nicht sortieren können, weil es zu viel bedeutet.
Es bedeutet nicht nur anzuerkennen: mein Innenalter, entspricht nicht dem Körperalter; mein Selbst ist von einem fragmentierten Ich (vielen ichs) umgeben und definiert oder “ES und DAS DA ist vorbei” – es bedeutet auch: Die Kluft ist wirklich und das Spiel “So tun, als ob sie überwindbar sei”/ “So tun, als ob sie nicht da wäre”, könnte jetzt aufhören. Ist vielleicht schon vorbei und wartet darauf, dass auch wir aufhören.

Es bedeutet Gespräche für andere genauso anstrengend wie für uns zu machen.
Indem wir aufhören so zu tun, als würden wir wissen, was das gegenüber meint. Indem wir schweigen, wenn eine Antwort von uns bedeuten würde, sie wäre unbefriedigend eingedampft für uns – aber bereichernd und inspirierend für andere. Indem wir äußern, wann wir verwirrt sind, uns gestört, bedroht, unberührt fühlen.

Es bedeutet Alltagsgewalt an uns zu unterlassen und uns in der Folge nicht mehr zu Konventionen zu zwingen, die uns unsinnig und schmerzend erscheinen.
Es bedeutet zuzulassen, dass das Konzept von innerer und äußerer Sicherheit, die Gewalt an uns bedeutet, die wir wahrnehmen doch bis heute nicht nach außen getragen haben, weil die Norm es nicht gern hat, normativ genannt zu werden.
Es bedeutet Selbstfürsorge als so schwer und überfordernd sichtbar zu machen, wie wir sie erleben.

Es bedeutet ein Zugeständnis an die Alleinigkeit, den Autismus als Lebensform, vor dem man sich verschlossen hat, weil unsere Gesellschaft die Alleinigkeit mit Einsamkeit, mit Asozialität und darüber mit Anormalität verbunden hat und so tut, als wären Kluften, wie die über deren Überwindung wir uns schon unser ganzes Leben lang aufrauchen,  schlicht inexistent, weil nur wir sie spüren.

Es bedeutet ein Zugeständnis an den Unterschied zwischen der Einsamkeit der Opfer und derer, die Opfer waren und der Einsamkeit, die sich aus Inkompatibilität und Lügen_leben ergibt.
Es bedeutet die Anerkennung einer Isolation, die beides ist: Entlastung und Auslieferung

Es bedeutet: Dinge werden sich verändern.

danach

“Hm, wollte ich am Ende eigentlich nicht eher fragen, ob sie uns jetzt anders sieht?”, frage ich mich und betrachte das rote Ampelfigürchen auf der anderen Straßenseite.  “Vor allens hast du vergessn zu fragen, ob sie uns jetz trotzden noch gern hat”, denkt es durch meinen Hinterkopf hindurch.

Die Ampel schaltet, ich zupfe ihm am Denken. Er stößt das Rad an und rollt über die Straße.
Während er und sein Begleiter sich bemühen, nicht im warmen Gegenwind zu versinken, drehe ich mich um.
“Das habe ich nicht vergessen. Die Frage ist irrelevant.”. Das Mädchen schüttelt den Kopf. “Stimmt nich.”, schiebt es hervor, “Es ists megaobersuperwichtig!”.

“Äh ja.”, ein Innen mit gekräuselter Stirn stützt sich auf den Kopf des Kinderinnens und wackelt mit seinen Fingern vor dessen Augen herum.  “Voll wichtig. Ph. Voll peinlich!”. Es fuchtelt mit den Armen durch meine Konzentration und ich merke, wie sich meine Ränder auflösen.

Ich verlasse die beiden und setze mich in den Fahrradkorb.
Der Wind streichelt mich und einen Moment lang bin ich gar nicht da.

Wir warten erneut vor einer Ampel und ich denke an Abendbrotgespräche.
Meine Mutter fragte, wie es im Kindergarten war. Mein Geschwist konnte nichts erzählen. Später verstand sie, dass es erzählen konnte, was es zu essen gab, wenn sie es aufzählte.
“Kartoffeln, Reis, Nudeln oder Suppe? Gemüse oder Fleisch? Pudding, Jogurt oder Obst?”.
Ich weiß nicht mehr, was ich auf die Frage antwortete. Ob sie mir gestellt wurde.

Ich denke darüber nach, ob das Erinnern daran, etwas verändern würde. Denke, dass es vielleicht diese Dinge sind, die Menschen, wenn sie in einer Familie erwachsen werden, einfach wissen, weil sie manche Geschichten und Begebenheiten immer wieder mal hören.

Was ich am Klarsten von dem, was ich in meinen Eltern bewegt habe, erinnere ist:
1) die Frage, ob mir klar ist, was ich ihnen mit meiner “Krankheit” antue
2) “Wir wussten ja nicht, ob wir dich am nächsten Morgen tot im Bett finden würden”

Er streckt die Hand aus, um sie durch einen Busch, dessen belaubte Äste auf den Weg ragen, gleiten zu lassen.

Ich glaube, meine Eltern sind sehr hilflose Menschen gewesen. Vielleicht sind sie es heute weniger, weil die Probleme, bei denen sie Hilfe – gute umfängliche Hilfe – gebraucht hätten, von ihnen wegkompensiert sind.

Die Kleine baumelt kopfüber in meine Gedanken hinein.
”Kannst ruhig weinen, wenn du willst. Is oke.”. Sie schaut einem Reiher hinterher, der über uns hinweg durch die Luft gleitet.

Ich überlege und merke, dass ich nicht weinen will.
Ich will eine Familie. Eine äußere Mehrsamkeit  zum erwachsen werden. Zum Aushalten des Umstandes erwachsen zu sein und doch noch immer weiter zu wachsen.

“Du willsts, dass dich jemand auch gern hat und bei dir is, ne?”, sie piekst mit ihrem Finger auf meinen Kopf und setzt sich dann neben mich.
Wir halten unsere Gesichter in den Fahrtwind und hören seinem wohligen Brummen zu.

“Bisschen is das schon wie Familie, wenn man weiß, da sinds welche Leute draußen, die haben einen gern.”. Sie hebt eine Augenbraue und öffnet sich vor mir, bis ich ihr Herz sehen kann.

“Wenn du willst, frage ich sie nächste Woche, ob sie uns trotzdem noch gern hat.”.
Sie lächelt und hält mir ihre Hand hin.