Episode 84 mit Renée W. und Felice Meer

der nachgeholte Jahresrück- und Ausblick

Das erste Mal zu dritt und das gleich zum Anfang des neuen Jahres.

Felice, Renée und Hannah teilen ihr Resümee für 2023 und sprechen über Herausforderungen, Grenzen und vieles mehr, was auch 2024 noch Thema sein wird.

Episode 84 mit Renée W. und Felice Meer

Fundstücke #89

Wie geklauter Raum fühlt sich das hier an.
Mein rechter Arm tut weh vom Klicken, ich habe sehr viel herumgeklickt in den letzten Tagen. Setzen, Sims 4 spielen, recherchieren, wie man als Einzelperson einen Verlag gründet, ohne bankrott zu gehen, wenn etwas schiefgeht. Damit ist mein Kopf gefüllt. Meistens.
Wenn ich den Computer ausmache, dann denke ich übers Schwangerwerden nach und darüber, dass ich nicht darüber nachdenken will, ob überhaupt irgendwas von all den Dingen, die in meiner köpfischen Eventuellvielleicht-So-könnte-es-gehen-Planung sind, funktionieren kann, wenn ich schwanger bin. Oder Elternteil. Denn würde ich denken, dass dann nichts funktioniert, dann würde ich es einfach lassen. Einfach hinschmeißen und gucken, ob ich dann noch lebe.

Das klingt heftig, aber ich meine damit nicht, dass ich mich wirklich frage, ob ich dann noch lebe. Meine Zweifel bestehen eher darüber, ob ich dann – so ganz ohne diesen Stress – eigentlich gerade in der Lage bin, mich lebendig, real körperlich zu fühlen. Und gewissermaßen auch: echt.
Denn im Moment fühle ich mich häufiger in mir selbst dissoziiert. Meine Verbindungen in mir, Hannah, die_r mal die Rosenblätter waren, sind weiterhin stabil. Trotzdem frage ich mich zuweilen, ob das wirklich ich bin, die_r organisiert und stützt und moderiert und tröstet und versichert und setzt und prüft und koordiniert und die Trauer über jedes verlorene Ei allein gestaltet, während sie_r hin- und herfühlt, wie ES damals war. Es ist schwierig für mich, abzugleichen, welches Level von Dissoziation normal ist. Wo ist die Grenze? Ich erlebe mich gerade nicht ich-fremd dabei. Aber die Situation ist mir-fremd deluxe, mit 5 von 5 Sternen für Originalität.
Ich komme klar, alles ist belastend, aber wirklich nicht des Todes krass überfordernd schlimm. Alles ist scheiße, aber lösbar. Alles ist unbefriedigend und ungeil, aber dann halt doch nicht alles.
Weird.

Der Zeit_Raum, den ich hier geklaut habe, ist meine Pause. Gleich gehts weiter. Danach noch weiter. Und dann mache ich wieder eine Pause und atme und dann mache ich etwas anderes.
Vielleicht das Vogelhaus reparieren.

2023 – die guten und die schlechten Dinge

Jahresrückblick also.
Das mache ich immer. Weil es mir ganz guttut, aber auch, weil es mir hilft, meine Ziele für das nächste Jahr bewusster zu setzen.
Aber dieses Jahr hat mir nicht so gut gefallen. Es gibt einiges darin, an das ich nicht denken möchte und manches, das so schön ist, dass ich es davon nicht berührt haben will. Aber gut – objektiv betrachtet hat nun einmal alles dieses Jahr stattgefunden, dafür können die guten Dinge genauso wenig wie die schlechten. Irgendwann passieren immer Dinge.

Ich weiß nicht mehr genau, wie das Jahr genau begann. Dass es uns Ende März mit Corona erwischt hat, überstrahlt die gesamte erste Hälfte des Jahres. Mein Partner wurde so schwer krank, dass er 2 Wochen auf der Intensivstation lag. 4 Wochen lang war er positiv. Zu Ostern wurde er entlassen und war kaum fähig allein zur Toilette zu kommen. Zu den Schäden durch die Lungenembolien kam noch ein coronabedingter Diabetes dazu, den er allein managen musste, denn mir als „Freundin“ hatte niemand etwas dazu beigebracht außer die Apothekerin.
Mobilisierung durch Physiotherapie? Pflege zu Hause? Haushaltshilfe? Gabs alles nicht. Ich durfte nichts ohne ihn veranlassen und er war zu schwach, um irgendetwas davon zu veranlassen. Mein Learning: Es ist für ihn weniger kräftezehrend, Kraft zum Überleben aufzubringen, als sich auf die Kraft anderer zu verlassen.

In der Woche seiner Einlieferung ins Krankenhaus hatte ich „Worum es geht“ veröffentlicht. Hätte Werbung machen müssen, meine Onlinelesung ankündigen, statt sie aus meiner Planung streichen sollen. Doch in der gleichen Woche wurde ich mit real stattgefundener sexualisierter Gewalt an Kindern konfrontiert. Ich war beim Durchsuchen eines Hashtags bei Mastodon auf Bilder und Videos gestoßen, die das dokumentierten.
Das Material hatte ich bei der Instanz gemeldet und noch am gleichen Tag war es nicht mehr abrufbar. Mein Versuch, auch eine Meldung bei der Polizei zu machen, scheiterte daran, dass die Polizeistation bei uns nicht besetzt war.
Die folgenden Wochen und Monate waren wild.

Während meines Inneres ein klirrender Sprühnebel aus Traumashit und massiver Not war, arbeitete ich auf der Leipziger Buchmesse und merkte nur einen Hauch von der Krankheit meines Kollegen, die ihn für das nächste halbe Jahr arbeitsunfähig machen würde. Wir arbeiteten alle mehr im Kollektiv. Hofften auf die Rückkehr einer Kollegin, die dann aber ausblieb. Eine zweite Kollegin wurde im Sommer unerwartet schwer krank. Auch sie kam in diesem Jahr nicht zurück.
Im Juni konnte mein Partner seine Mauer aus Medikamenten auf dem Wohnzimmertisch in einem praktischeren Körbchen unterbringen.
Im Juli erlebte ich jeden dritten Tag einen arbeitsbedingten Meltdown. Im August jede Woche mindestens einen kleineren Krampfanfall zusätzlich.

Im September nahm ich 4 Wochen Urlaub, obwohl der Workload im Verlag das eigentlich nicht zuließ.
Zwei Wochen dieses Urlaubs verbrachte ich mit Lebensorganisation und Behördendingen. Außerdem wollte ich mir den toten Zahn ziehen lassen, den ich Anfang des Jahres noch hoffnungsvoll operieren ließ. Ging aber nicht. Hoher Krankenstand bei der Krankenkasse. Die Finanzierung des Zahnersatzes war nicht rechtzeitig klar.
Jetzt, wo er raus ist, ist ein Großteil der Symptomatik, derentwegen ich dieses Jahr beim Kardiologen war, verschwunden. Bradykarde Episoden habe ich aber weiterhin. Offenbar hab ich einfach ein großes Herz zwinkyzwonky.

Zwei Wochen war ich auf dem Fahrrad unterwegs. Bekam einen unerwarteten Sonnenbrand und lernte, dass Kondenswasser nicht nur in falsch aufgespannten Zelten auftreten kann. Ich dachte in der Zeit viel an Felice und Renée, die ihrerseits von kleinen und größeren Wanderungen erzählt hatten. Was ganz schön war, weil es das erste Mal war, dass ich mich ihnen unabhängig vom Podcast und Vielesein verbunden gefühlt habe.

Der Herbst war von konstanter Überarbeitung, Überforderung und wilden Hoffnungskraftausbrüchen geprägt.
Ich hatte mich bei einem Unternehmen zur Bewerbung vorgestellt. Bisher ist nichts weiter daraus geworden. Langer Krankenstand.
Doch ich versuchte natürlich, mich komplett in diese Option hineinzusteigern. Bin teilweise früher aufgestanden oder über Gebühr lange wach geblieben, um mich selbst fortzubilden für diesen eventuell vielleicht zukünftigen Job. Bis ich merkte, dass ich an 3 von 5 Wochentagen bereits im Overload aufwachte und kaum mehr in der Lage war zu verstehen, was meine Kolleg_innen mir sagten.
Nachdem ich täglich Meltdowns erlebte, hörte ich auf damit und begann nach Ausbildungsstellen im IT-Bereich zu suchen.

Irgendwann dazwischen waren wir dabei, als ein älterer Mann Handybilder oder ein Video von kleinen Kindern in der Schwimmhalle machte.
Das Timing war gut für meine Therapie, aber beschissen für die Arbeitsfähigkeit. Ich machte viele Fehler, vergaß Termine, konnte Arbeiten nicht on time fertigstellen. Im Kollektiv kam es immer wieder zu Spannungen und schwierigen Wochen mit doppelt bis dreifach zu viel Arbeit für alle.
Im November beschloss ich, dennoch keine Überstunden mehr zu machen.
Im Dezember schaffte ich das dann auch.
Ich heiratete meinen Partner und lernte seinen Freundeskreis etwas näher kennen. Bei der Feier im Anschluss stellte ich fest, dass eine meiner Freund_innen uns inzwischen länger kennt als unsere Eltern. Später schlug mich die Erkenntnis, dass ich gleichermaßen viel länger Patient_in als Tochter von bin, so weit nieder, dass ich in der Therapie weinen musste.

Kurz darauf veröffentlichten wir unseren Nachruf auf die „Nickis“ und dachten ein Mal mehr darüber nach, wie wir mit unserem Vielesein in der Öffentlichkeit sein wollen. Unter anderem, weil das Vielesein nicht mehr mein Hauptproblem neben der PTBS-Symptomatik ist.
Wir möchten uns nicht am Story-War um organisierte Rituelle Gewalt beteiligen. Sehen kein transformierendes Potenzial darin, Behandler_innen zu verteidigen, die sich nicht offen zu realen Risiken der Psychotherapie für komplex traumatisierte Patient_innen positionieren. Ich will nicht, dass Journalist_innen und problematisch desinformierte Psycholog_innen meine Opferschaft für ihre Klicks und flüchtigen Szenefame missbrauchen.
Was ich will ist, wissenschaftliche Auseinandersetzung und politische Prozesse für mehr Opferschutz und -entschädigung zu unterstützen. Im Zuge dessen werde ich mich weiterhin darauf konzentrieren, die Er_Lebensrealitäten behinderter Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen zu vermitteln. Vielleicht mal mit mehr Konkretheit. Struktur. Mit mehr Rücksicht darauf, dass ich auch verstanden werden muss.
„Viele Leben“, meine Interview-Podcastreihe mit Menschen, die sich als Viele erleben, gehört dazu.

Aber erst ein Mal muss ich meine Arbeitssituation auf die Kette kriegen.
Und abwarten, was NakNak*s Ableben mit uns macht. Denn das war bereits in diesem Jahr absehbar.
Aber sie wacht weiterhin jeden Morgen auf und steht wie ein kleines Ausrufezeichen am Futternapf. Sie läuft noch mit, weiß halt leider nur noch sehr begrenzt, wo sie eigentlich gerade warum mitläuft. In den letzten Wochen gab es häufiger Sauberkeitsunfälle, an manchen Abenden kommt sie ohne CBD-Tropfen überhaupt nicht zur Ruhe. Bubi ist eine große Orientierungshilfe für sie. Und eine emotionale Stütze für uns. Dieser große dunkle Riesenhund, dessen Gesicht inzwischen auch immer weißer wird.
Der aber noch längere Wanderungen mit mir schafft. Zum Beispiel Anfang dieser unserer Urlaubswoche an der Ostsee.

Landschaftsaufnahme durch kahles Gestrüpp auf die Ostsee unter leicht bewölktem Himmel

Ich habe in diesem Jahr sehr viele Dinge liegen lassen müssen, die mir wichtig sind. Einige Menschen hat das enttäuscht, die meisten aber hatten Verständnis und Geduld mit mir. Sie vertrauen mir und das stärkt mich.
Das nächste Jahr hat viele Tage – mal gucken, was wir da so alles hinkriegen.

die „Nickis“ – ein Lichtstrahl

farbiges Portrait von Nickis, die freundlich in die Kamera lächeln
„Nickis“

Die „Nickis“ sind tot.
Wir trauern um einen kraftvollen Menschen und eine Stimme, die die Belange von Betroffenen Ritueller organisierter Gewalt in Deutschland so klar und weit verbreitet hat wie noch niemand zuvor.

„Nickis“ traten 2001 im Film „Höllenleben“ erstmals in die breite Öffentlichkeit.
Sie waren auf Spurensuche. Suchten Beweise für die Gewalterfahrungen, die ihre Kindheit prägten und die Entwicklung ihrer dissoziativen Identitätsstruktur (DIS) zur Folge hatten.
Der Mut, der dafür nötig war, ist kaum zu bemessen. „Rituelle Gewalt“ war im Deutschland der frühen 2000er Jahre praktisch kein Thema, schon der Themenkreis „sexualisierte Gewalt“ hatte in der Öffentlichkeit nur wenige schwer erkämpfte Räume.
Und „multiple Persönlichkeiten“, so nannte man damals Menschen, die sich als Viele erleben, galten gerade einmal als in ihrer Existenz umstritten – es gab einfach viel zu wenige Psychotherapeut* innen und Mediziner*innen in Deutschland, die sich fundiert darüber hätten streiten können.

1998 haben „Nickis“ eine Selbsthilfezeitung für „Multis“ herausgebracht. „Lichtstrahlen“ enthielt Briefe, Fotos und Bilder, aber vor allem die Botschaft: „Du bist nicht allein“, die viele Üb.erlebende dringend brauchen.

Für mich ist es so, dass es eine Lebensaufgabe ist, anderen Multiplen den Weg leichter zu machen als unseren Weg. Unser Weg war so unendlich schwer, und ich möchte anderen Systemen den Weg ein bisschen leichter machen.“

„Nickis“ wollten vermitteln und erklären – also haben sie es gemacht. Klar, konkret, ohne zu beschönigen. 2005 ist ihr Aufklärungsfilm „Ein Körper mit System“ erschienen und wird bis heute in Fortbildung und Beratung von Menschen mit DIS genutzt. Über 1000 Exemplare liegen heute in Bibliotheken, Beratungsstellen und Therapiepraxen, um das „Vielesein“ begreifbarer zu machen.

In den Folgejahren haben sie viele verschiedene Projekte angestoßen und etabliert, um anderen Menschen, die sich als Viele erleben, den Austausch und Kontakt miteinander zu ermöglichen. Ihr „Lichtstrahlenforum“ ist bis heute eine der ältesten Anlaufstellen zu Vernetzung und Selbsthilfe für Üb.Erlebende organisierter Ritueller Gewalt im deutschsprachigen Internet.
2009 gründeten sie zusammen mit einigen Vertrauten den Verein „Lichtstrahlen Oldenburg e. V.“ und organisierten mehrere Tagungen für private wie professionelle Unterstützer- und Helfer*innen. Außerdem hielten sie Vorträge und leiteten Workshops.

Nach so einem Vortrag traf ich die „Nickis“ 2014. „Wir sind viele. Opfer ritualisierter Gewalt und organisierter Pädokriminalität“ hieß die Veranstaltung. Ich war überrascht von den Fragen der Besucher*innen an „Nickis“ und beeindruckt von deren ruhiger Aufmerksamkeit und Offenheit. Damals hatte ich meinen Plan, in meinem Blog übers „Vielesein“ aufzuklären, gerade begraben, weil ich merkte, dass ich nicht so eine freundliche und nahbare Stimmung herstellen kann, wie es den „Nickis“ zum Beispiel immer wieder gelungen ist.
Wir haben an dem Tag kurz miteinander gesprochen.
Beim Händewaschen im Waschraum.
„Mutig!“ – „Joa, naja – sonst ändert sich ja nix, nä?“ – „Jau.“

Unsere Wege sollten sich in den kommenden Jahren immer wieder kreuzen, bis wir 2018 bei der Lichtstrahlentagung „Nach der Gewalt – Wir nehmen das Leben in die eigene Hand“ sogar zusammen auf der Bühne saßen und Fragen beantworteten.
Die Organisation war umfangreich und kräftezehrend. „Nickis“ wollten keine Tagungen mehr machen und fanden, es sei eh Zeit, die Aufklärung der „jüngeren Generation“ zu überlassen. Ende 50 waren sie da. Blogs, Webseiten und andere soziale Medien hatten Selbsthilfezeitungen und Vorträge in Seminarräumen abgelöst, um Aufklärungsarbeit aus der Innensicht zu machen.
Was früher „multiple Persönlichkeitsstörung“ (MPS) hieß, wird nun in mehreren Diagnosen differenziert und therapiert. Was Anfang 2000 kaum jemand als reales Gewaltszenario eingeordnet hat, wird heute in einer Reihe mit anderen schweren Gewaltverbrechen erwähnt und zunehmend anerkannt.

Wäre das auch passiert, wenn „Nickis“ ihr persönliches Erleben und ihre schrecklichen Erfahrungen sowohl in der Sekte, die sie gequält hat, als auch im Gesundheitssystem nicht öffentlich gemacht hätte? Wenn andere „Viele“, „Multis“, „Überlebende“ sich nicht von ihnen ermutigen und inspirieren lassen könnten, ihre Gewaltbetroffenheit nicht weiter für sich zu behalten, sondern für sich einzutreten? Wir werden es glücklicherweise nie erfahren, denn sie waren da und haben enorm viel geleistet, das von ihnen bleibt.

Zuletzt waren „Nickis“ 2020 in einer 2-teiligen Dokumentation von ze.tt, dem Videoportal von ZEIT-Online, zu sehen. (Teil 1, Teil 2). Auch in diesen Beiträgen ist ihre Entwicklung und die Entwicklung der Auseinandersetzung mit der Thematik sichtbar. Es sind nicht mehr nur die „Nickis“, die von organisierter Ritueller Gewalt berichten. Längst gibt es wissenschaftliche Auseinandersetzung und politische Bewegungen, die sie als real anerkennen und sich um die Versorgung der Opfer bemühen.

„Nickis“ Einsatz und unermüdliche Arbeit für Aufklärung und Selbsthilfe haben unzählige Leben berührt, verbessert und gerettet.
Ein unermesslich großer Verdienst.
Ein Lichtstrahl.

Was ich anderen sagen möchte, ist: Kämpft für Euch!
Ihr werdet es schaffen.
Es ist ein langer Weg, aber es kann funktionieren.“

Fenster und Türen

„Schließt sich eine Tür, öffnet sich ein Fenster“ denke ich und halte müde lächelnd inne. Ich sitze am Computer. Natürlich. Meine Finger sind kalt, der Nacken steif, mein Körper hat eine shrimpähnliche Form. Es ist 2 Uhr morgens, die Welt ist still.
Auf dem Bildschirm habe ich so viele Tabs geöffnet, dass die gesamte Browserzeile belegt ist. Ich suche nach einem neuen Job. Suche mich in Anzeigen und Angeboten, überlege, was ich will und wie viel Kraft ich aufbringen kann, um integriert zu werden.
Gleichzeitig suche ich nach Geld. Mit ein paar Millionen würde ich das Nachwachshausprojekt umsetzen. Dann würde ich gar nicht erst über Ausbildungen und Teilzeitjobs nachdenken. Andererseits würde ich mit ein paar Millionen auch den Verlag kaufen und so grundsanieren können, wie ich es mir seit Monaten immer wieder ausmale.
Wenn alle immer einfach an benötigte Millionen kommen würden, bräuchte es vielleicht weder das Nachwachshaus noch den Verlag.

Ich seufze und klicke die nächste Seite zu, auf die ich mit irreführendem Teaser geleitet wurde. Meine Arbeitssituation im Moment ist schwierig und kostet mich zuweilen mehr Kraft als ich mir an anderer Stelle wieder hereinholen kann. Ich arbeite seit dem Sommer in Übervollzeit und habe regelmäßig Meltdowns aus Erschöpfung. Kann aber nicht einfach aus der Stelle raus. Ich verliere meine Berufsförderung – mein einziges Bonbon für Arbeitergeber_innen, mich einzustellen, da sie meine Lohnkosten deckt – wenn ich kündige, ohne woandershin zu wechseln.
Durch die Heirat habe ich keinen Anspruch mehr auf Hartz IV – ohne Hartz IV habe ich keinen Anspruch mehr auf die Förderung.

Ich muss mir etwas Neues suchen, weil die Verlagsarbeit in der aktuellen wirtschaftlichen Lage keine gesicherte Zukunft hat. Ich verbrenne gerade, weil zwei unersetzbare Kolleg_innen dauerhaft krank geworden sind. Die Pandemie ist ein Domino des Kackejackpots – es kommt immer noch was obendrauf und erodiert an allen Ecken und Enden, worauf man sich verlassen können muss. Selbst ein millionenschweres Pflaster kann an der Stelle vermutlich nur oberflächlich helfen.

Das nächste Browserfenster erinnert mich daran, wie ich noch vor einigen Wochen dachte, ich könne mich parallel zur Arbeit selbst weiterbilden. „Zeit wird nicht mehr durch Aufteilung“, das ist mein Erkenntnisgewinn aus diesem gescheiterten Vorhaben.
Ich lasse es offen.
Ich bin das Pastme der Zukunft, es ist meine Aufgabe vereinzelt Krümel liegenzulassen, mit denen ich mich in der Zukunft davon überzeugen lassen kann, dass meine Ideen gut und nur der Zeitpunkt ungünstig ist. Alles hinschmeißen und blanko Neubeginn machen ist eine Traumareaktion. Die merke ich natürlich auch wie einen unterdrückten Reflex kurz vor der Auslösung. Der Gedanke, einfach unerreichbar für alle, die etwas Unschaffbares von mir wollen, zu verschwinden und in komplett anderen Umständen alles wieder neu – und diesmal natürlich absolut richtig, erfolgreich und mühelos – umzusetzen, ist gerade extrem verführerisch. Aber sein Kern enthält eine Traumawahrheit, die in der Realität keine Substanz hat.

Ich habe nichts falsch gemacht. Die Situation ist nicht durch etwas, dass ich hätte verhindern können, so gekommen, wie sie kam. Die Grenze, an der ich jetzt bin, erleben alle Menschen irgendwann, einfach, weil Menschen begrenzt sind. Dass ich denke, ich müsse meine ohnehin schon häufig übergangenen, missachteten oder schlichtweg ignorierten Grenzen noch weiter ausreizen – noch weiter übergehen und missachten – liegt daran, dass ich ungeprüft, unhinterfragt, aus der totalen Gewohnheit heraus denke, das würde von mir erwartet werden. Von mir wird aber nicht erwartet, mich selber zu zerstören – von mir wird erwartet, in einem Umfang zu funktionieren, den ich nicht leisten kann. Das ist ein Unterschied, den ich mir im Moment immer wieder bewusst machen muss. Jede E-Mail, die liegen bleibt, jede Verabredung, die ich vergesse, jeder schlecht vorbereitete Termin, jede Ideen- und Lustlosigkeit, die ich wie eine umfassend quetschende Leere empfinde, ist ein Grenzmarker. Wenn ich sie ignoriere, ignoriert sie mein Umfeld auch. Wenn ich mich dafür schäme, ermächtige ich mein Umfeld dazu, mich darüber zu beschämen.

Meine Grenzen kommen immer mit. Auch als whimsy Autor*in in einer Hütte am Meer oder voll integrierte_r Mitarbeiter_in in einem stabilen Unternehmen werde ich nicht gut leben, wenn ich nicht zu genug Schlaf, Erholung, Anregung, Sicherheit und Freundlichkeit komme.

Halb 3. Ich schalte den Computer aus und schließe die Bürotür.
Die Tür zum Schlafzimmer ist offen. Die Küche hat keine. Ich kann mich versorgen. Ich kann schlafen. Die Suche geht weiter.
Im nächsten geöffneten Zeitfenster.

die Hochzeit

„Das sind die Dinge, über die man später spricht“, sagte unsere Nachbarin aufmerksam auf die von Schnee gerahmte Straße schauend. Neben ihr mein Partner, der eine Stunde später auch mein Ehemann sein würde. In Hemd und Kragen, Ausnahmekleidung und mit einem Blumenstrauß in der Hand saßen wir zusammen in ihrem kleinen Auto, denn unseres sprang nicht an. Ausgerechnet!
In unserem Haushalt bin ich die_r Außenminister_in und wenn es einen Zeitpunkt gab, an dem sich mein Wirken als erfolgreich herausstellte, dann den unserer Hochzeit. Denn es war auch diese Nachbarin, die mir die Haare machte und der Sohn jener Nachbarin, der die Batterie in unserem Auto auflud, während wir weg waren.
Wir sind hier draußen nicht allein. Wir sind nicht nur auf uns gestellt.
Wie toll ist das?

Unsere Hochzeit war schön.
Wir haben fünf Gäst_innen an Corona und Coronaverdacht verloren, aber dennoch eine Gruppe von echten Freund_innen und ihren Partner_innen auf dem klassischen Hochzeitsfoto, von dem ich nie dachte, dass es mal mit mir mittendrin gemacht werden würde.
Die Standesbeamtin hat eine angenehme Rede gehalten und nichts unnötig kitschig ausgedehnt oder schmerzlich verkürzt. Ja, es hat gezeckt, als „Frau XY“ angesprochen zu werden und ja, es wird mich vermutlich immer zecken nur innerhalb meiner sozialen Ehe als die „Eheperson“ oder „Ehepartner_in“ gedacht und angesprochen zu werden, die_r ich bin. Aber die Rede enthielt keinen starken Mann, der die zarte Frau auf immer versorgen muss. Oder eine Frau, die sich den Mann erziehen muss. Es ging um gegenseitige Fürsorge, füreinander da sein, um gegenseitigen Halt, die gemeinsame Aufgabe, die Beziehung zu pflegen und die vielfältige Liebe füreinander.

Diese Liebe spürte ich im Restaurant, wo wir sehr gut aßen und saßen und redeten und lachten, in kleinen Wellen und einer großen Woge. Denn natürlich wollten wir unsere Freund_innen auch miteinander bekannt machen und mit allen teilen, was wir an ihnen jeweils schätzen und wofür wir dankbar sind.
Auch, weil wir unsere Freund_innen seit unserem Zusammenzug nie alle zusammen einladen konnten. Seit der Pandemie haben wir keine Gartenparty gegeben, keine Geburtstage gefeiert, keine anderen Anlässe wie Weihnachtsfeiern oder Sommerfeste besucht. Die Hochzeit war der erste Anlass, zu dem wir maskenlos an einem öffentlichen Ort mit ihnen zusammenkamen.
So standen mein Partner und ich vor der Gruppe und bedankten uns vor allem für die Unterstützung und Zuwendung, die wir erhielten, als er Anfang dieses Jahres so schwer und so lange krank war. Wie er da stand und weinte, erinnerte mich daran, wie es war, als sein Vater gestorben war. Wie lange wir uns schon kennen. Wie intensiv so viele Momente unserer Partner_innenschaft waren. Wie alleinstehend wir als Paar in diesen Momenten waren und wie gemeinsam wir jetzt sein können. Nicht nur durch die Ehe verbunden, sondern auch durch diese Feier in der Runde.

Der Tag fand seinen perfekten Abschluss mit einer Runde „Flügelschlag“ mit meinen Freund_innen und dem Partner der einen. Das war mir wichtig, denn alle hatten NakNak* lange nicht mehr gesehen und werden sie vielleicht auch nicht mehr sehen vor ihrem Tod. – Und wir konnten es noch nie in voller Besetzung spielen. Ein Skandal, der nun gelöst wurde 😅

 

Montagabend

Es ist spät, als ich von der Fahrschule nach Hause fahre. Spät, dunkel und eisschneeregnerisch. Vor mir stieben die Flocken ins Licht, als würde ich mit Warp 5 durch die Galaxie fliegen, der Tacho steht bei 35 km/h.
Mein Unterricht geht von 18 bis 21:30 Uhr, ich fahre immer schon um 17 los. Wildes Niedersachsen, da muss man durch, hier ist alles weit voneinander entfernt.

Ich denke oft, wie leicht mir hier etwas passieren kann. So kurz vor der Hochzeit, das wär doch kacke. Danach aber auch.

Ich bin allein auf dieser weltallschwarzen Strecke einzig gerahmt von den Leitposten links und rechts. Mal mit, mal ohne blauen Reflektor. Es ist nicht still und das ist auch gut so. Im Klang meiner Pusteheizung finde ich angenehme Kongruenz. Durchgehendes Rauschen, das habe ich auch in mir gerade.
Die Arbeit, der Haushalt, die Projekte. Bewerbungen, Fahrschule, Hochzeit. Noch 3 Wochen, dann machen wir Urlaub. Ich will alles geschafft haben bis dahin, denn nichts von dem Stress, der Aufregung, der Unsicherheit, der Unzufriedenheit und Aufreibungsnotwendigkeit will ich ins neue Jahr mitnehmen.

Ob ich meine Theorieprüfung noch im Dezember machen kann?

Ich will mit dem Partner und den Hunden, NakNak* – bis dahin noch?, am Strand spazieren gehen. Will ausschlafen, mittagsschlafen, frühschlafen, durchschlafen.

Meine Nachbarin war da und hat mit meinen Haaren operiert. Einen Buzzcut hat man im Leben frei, ich glaube, im Sommer ist es soweit.
Ich werde eine fitte, fette Person mit 3 mm Haarbelag auf der Kopfhaut sein und vielleicht wird alles anders. Nicht deshalb, aber damit. So, wie jetzt, mit der Zahnlücke.
Oh G’tt, wie der Zahn gestunken hat, meine Fresse, das war heftig. Und als Frau Doktor sagte, das wäre der Eiter, war es noch heftiger. Über ein Jahr ist der Zahn gestorben oder vielleicht schon tot gewesen. Ganz schön widerlich. Mein toter schwarzer Stummelbert.

Mein Mund fühlt sich noch an wie ein fremdes Zuhause und wenn ich kräftig Puls habe, spüre ich es in der Lücke. Denn natürlich ist das Stück der provisorischen Brücke gleich an Tag 2 abgebrochen und ich kann diese Woche nicht mal eben einen Tag freinehmen. Kann und will und möchte. Ich kann nicht, wegen der Fahrschule, will nicht wegen dem Gefummel am Kopf und möchte nicht, weil ich es unseren Gästen am Wochenende schön machen will. Putzi putzi blitzi blanki, hier hat sich einiger Wohlfühlschmodder angesammelt, das muss ja nicht sein.

Eigentlich ist es doch ganz schön so.
Vieles ist viel, aber nur noch die Arbeit eine zehrende Wartesache voller Unklarheiten und Gemuddel. Aber es wird. Irgendwie wird es ja immer.

Ich fahre auf unseren Parkplatz vor dem Haus, schalte alles ab und lausche auf das Knistern des Eisschneeregens. Da drinnen warten 3 Jemande auf mich. Ein warmes Bett, ein Abendbrot. Ein Morgen mit Übermorgen drin.

Ich bin froh.

so ziemlich Ich

„Männer gibts in allen Formen“ kleinlautete ich durch die Geräuschkulisse des Ladens. Beschämt bis auf die Knochen, bemüht mich nicht beirren zu lassen, blieb ich weiter im Kontakt mit dem Berater der Herrenabteilung von Peek und Cloppenburg.
Ich ließ mir Sakkos zeigen, Westen, Anzugoberteile und versuchte mich weder von meiner fettigen Hülle noch den Blicken der anderen Kunden in der Anprobe aufhalten zu lassen. „Ich möchte nichts Falsches. Ich möchte, was alle hier machen. Ich bin hier, weil ich hier etwas kaufen kann, was sie an alle verkaufen. Ich bin nicht falsch.“ In jeder Blicklücke, jeder Peinlichkeitspause sagte ich mir das und trampelte meinen aufkochenden Selbsthass nieder wie Altpapier in der Tonne.
Später saß ich dann in einem doppelten Selbsthassgewitter. Warum bist du so fett so hässlich so falsch so schräg bescheuert // Warum akzeptierst du dich nicht endlich liebst dich nicht kümmerst dich nicht ordentlich um dich Mach doch endlich

Ich fing an zu weinen, weil ich über meine Optionen nachdenkend bemerkte, dass ich, selbst wenn ich mich für diesen Anlass als Mädchen verkleiden würde, genauso wenig Kleidung finden würde, die ich sowohl sensorisch aushalten, als auch an mir schön finden würde. Frauen gibt es auch in allen Formen. Das weiß die große Modeindustrie nur leider nicht. Und ich – ich weiß, dass meine Form (noch?) keine hat, die ähnlich festgeschrieben ist wie die für Männer und Frauen.

Nicht Fisch nicht Fleisch sein bin ich. Nicht passen bin ich. Ohne Zutun, ohne Wollen.
Es tut mir so leid.

Ich verwende viel Kraft darauf, mich nicht im negativen Selbstbild zu verlieren und dabei auch ganz klar im Bewusstsein zu behalten, dass mein Gefühl bei der Anpassung zu versagen, aus einer Fehlannahme meines (früheren) Umfeldes kommt. Das Umfeld, das es für eine Kleinigkeit hält, sich als Person mit einem Körper wie meinem, in Kleidung für Personen mit meinem Körper gut zu finden. Oder wenigstens okay. Sie machen eine Zuordnung, die ich nicht mache. Das ist schon alles. Ich kenne diesen Fehler. Ich weiß, dass sie aufgrund dieses Fehlers falsche Erwartungen an mich haben.
Ich weiß, dass ich nichts dafür kann. Dass es nichts mit mir zu tun hat.
Ich muss ein Stein sein, der nicht nachgibt. Der sich von dem sandstrahlenden Anspruch nicht beeinflussen lässt.

Zwei Wochen und langes Suchen später fahren mein Partner und ich in eine Stadt mit vielen Geschäften. Ich bin emotional gepanzert und damit beschäftigt nicht daran zu denken, wie viele Fressattacken ich diese Woche hatte. Aus Stress, aus Kummer, aus Überforderung, aus dem Druck mich nicht aufzuschneiden, zu schreien, zu weinen, sondern klar, sachlich und konzentriert zu arbeiten, zu interagieren und kommunizieren. Ich will das hier schön finden. Wir finden so selten zeitgleich Kraft, Zeit und Lust für solche Ausflüge, ich will es schön finden und mir nicht von meinem Seelenscheiß oder der dya cis sexistischen Dickenfeindlichkeit kaputtmachen lassen.

Ich probiere verschiedene Anzüge an, doch rutsche in die Lücke zwischen Über- und Normalgröße. Ich betrachte mich im Spiegel und merke, dass ich gar nicht wirklich dünn sein will. Ich will nur nicht ich sein, wenn mich jemand ansieht. Bemerkt. Einordnet. Beansprucht. Ich will nicht die Person sein, die ständig enttäuscht oder irritiert. Ich will unsichtbar sein, weil ich anders nicht verhindern kann, dass mir Menschen wehtun.
Für ein paar Sekunden bin ich mit einer Intensität suizidal, dass mir schlecht wird. Mit der gleichen Wucht wird in mir eine Tür zugeschlagen. Ich stehe in der Kabine, die auch eine im All umhertreibende Kapsel sein könnte.
Die Bräutigamsbrigade nebenan reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich spüre der Umarmung meines Binders nach und vergrabe mich im guten Grundgefühl, des Tragens, als wäre ich eine Krabbe am Strand.

Mein Partner ist auch nicht fündig geworden. Ein Mantel gefällt ihm. Er nimmt ihn dann aber doch nicht. Wir steuern den nächsten Laden an. Ein weicher heller Strickponcho fällt mir auf und dann doch wieder aus meinen Optionen. Ich möchte mich nicht verhängen, mich nicht verstecken. Dieses eine Mal will ich dem Umstand des Gesehenwerdens nicht aus dem Weg gehen. Doch langsam verliere ich meine Ideen und auch die Kraft für den Mut vor mir selbst, überhaupt diesen Wunsch zu haben.

Wir starten noch einen letzten Versuch. „Wie kaufen Sie denn sonst so Ihre Kleidung?“, fragt Frau Fischer und mustert mich interessiert. „Alle 4 -5 Jahre fahre ich zu C&A, kaufe 10 Basic Shirts und hoffe das Beste.“ Ich lache angespannt und bin erleichtert als ich merke, wie mein Partner das Gespräch sozial abpuffert. Frau Fischer schätzt meine Größe ab, fragt nach meinen Wunschfarben und bespricht meinen Typ mit ihrer Kollegin. Es ist meine erste Shoppingerfahrung wie aus dem Fernsehen. Aber der Laden hat keine Musikbeschallung. Keinen Raumduft. Frau Fischer hält Abstand zu uns. Bietet uns Kaffee an, denkt und plant und überlegt mit einer Aufrichtigkeit, die mir ein Pflaster auf die Verkaufskratzer der letzten Zeit ist. Es ist mein Partner, der erwähnt, dass ich mit einem Sakko geliebäugelt habe. Frau Fischer kommt mit einem Oberteil, das dem sehr nah kommt aus dem Sortiment.
Am Ende habe ich eine Form. Etwas maskulin, etwas sportiv, etwas elegant, ohne Schnickschnack.
„So gar nicht Mädchen“, wie Frau Fischer sagt, „So ziemlich Ich“, wie ich denke, als wir nach draußen gehen.

dunkelbunte Anteilnahme

Es hat funktioniert.
Abweichung beobachtet, Kontextprüfung, Verantwortungsprüfung, entsprechendes Handeln. Grenze erkennen, Abstand einnehmen.
Ich habe es gut gemacht. Wir haben es gut gemacht.
Wir haben das Richtige getan.
Aber es kam keine Heldenwolke. Kein gutes Gefühl. Keine noch so kleine Überlegenheits-ich-bin-die_r-Coolste-Besoffenheit.

Erst war mir schwindelig, dann musste ich mich übergeben. Dann verkeilte sich ein Weinkrampf in meiner allgemeinen Verwirrung und auch meiner Therapeutin auf den AB zu sprechen war nicht so erlösend, wie gedacht. Auch später, als ich dem Partner davon erzählte, entstand keine Erleichterung. Ebenso wenig wie durch das Teilen der Situation bei Mastodon.

Im Laufe der Tage steigerte sich R. immer weiter in die Idee, wenn sie ihm eine reingehauen hätte, dann wäre das besser gewesen. Und ich zermürbte mich mit der Idee, es könnte ja wirklich einfach der schusselige Opa gewesen sein, der seine Kinder filmt oder fotografiert. Im Schwimmbad. Wo man an drei Handyverbotsschildern lang kommt, bevor man das Becken überhaupt erreicht. Das Becken, das nicht der Kinderbereich ist, wo die Bademeister_innen immer alles im Blick haben. Und ich mit meinem verdrehten Gewaltverständnis habe schon wieder etwas gesehen, was in Wahrheit gar nichts war.
Ich konnte nicht richtig darüber nachdenken, keinen richtigen Schluss ziehen, mich nicht versichern. Das ist wohl so ein Momentum, das Traumatisierungen auch begünstigt, denke ich im Nachhinein. Eingeklemmt sein zwischen der Klarheit über etwas, das man mit allen Menschen teilen kann, und der Unklarheit dessen, was entsteht, weil man etwas anderes nicht mit allen Menschen teilen kann.

Weil die Situation so eindeutig war und ziemlich genauso abgelaufen ist, wie man es als das Richtige und Beste etabliert hat, wirkt meine Verwirrung, meine Belastung diesbezüglich unverständlich. R.s Gedanken vielleicht sogar so, als würde sie ein eigenes Momentum wollen, das ihr gar nicht zusteht.
Ein Trigger.
Die Reaktion: Die permanente Selbstbefragung, was ich denn noch wolle. Ob ich denn nie mal einfach die Fresse halten den Kopf zumachen dankbar sein könne. Was denn bei mir kaputt ist, dass ich immer alles so kompliziert mache. Alles zum Drama mache. Wieso kann ichs denn nicht einfach mal gut sein lassen. Was für ein krankes Ego muss sich denn immer so nervig herausstellen. Hör auf zu nerven. Hör auf zu denken.

Ich arbeitete, organisierte, erledigte. Füllte meine Freizeit mit Terminen und stundenlangem Blasenschießen auf dem Handy. Manchmal geht das. Manchmal tötet das meine Gefühle und Gedanken zu irgendwas so weit ab, dass ich nie wieder drankomme.
Aber so funktioniert das nicht mehr. Schon gar nicht in der Therapie.
Statt, dass mich meine Stachelpanzer zerquetschen, klirren sie inzwischen bereits im Wartezimmer zu Boden und alles, was ich wie man es mir schon als Kind beigebracht hat abgetötet habe, steigt wie Phönix aus der Asche um meine Therapeutin zu nerven.

Sie sprachen darüber, wie Rache durch Strafe ersetzt wurde, um Schwächere und Stärkere gleichzustellen. Darüber, dass Strafe kein Ersatz für Rache ist. Und darüber, dass es okay ist, keine guten Gefühle dazu zu haben.
Irgendwo in mir drin bewegte sich eine brennende Schlange, die ich nicht zu greifen bekam. Bis ich am Tag darauf für einen Text zu Transformativer Gerechtigkeit nochmal den Handlungsleitfaden zum Umgang mit Menschen, die Gewalt ausgeübt haben, las.

Die Bademeisterin hatte ihn angesprochen. Ist mit ihm in Kontakt gegangen. Nicht mit den Kindern. Nach dem Vorfall waren wieder mehr Mitarbeiter_innen in dem Badebereich präsent, um zu verhindern, dass das wieder passiert. Aber dass es überhaupt passiert war – intellektuell daran be.anteiligt, dass es passiert war – / voraussetzend, dass die Kinder (ca. 3/4 Jahre alt) die Situation noch nicht einschätzen konnten / waren der Mann und ich. Der vermutliche Täter und die_r Zeug_in.
Ein Trigger für Traumaketten auf vielen Ebenen.
Der Bezug.skonflikt, die Sprachlichkeit, die Kluft zu anderen Menschen, der Abstoß, die Ohnmacht, die Einsamkeit, die Gefühle uneindeutiger Art, die Verbundenheit im Verbotenen, während das Umfeld spiegelt: „Ist alles okay. Kein Grund für … irgendwas das in dir vorgeht.“

Ich hatte angenommen, dass die Situation so viel in mir auslöst, weil ich über Pädokriminalität Bescheid weiß. Weil ich selber Opfer von Taten pädokrimineller Menschen geworden bin. Und mich heruntergemacht, weil ich annahm, ich würde mich mit den Kindern überidentifizieren und müsste mich mal nur ordentlich orientieren und meine Rachefantasie als nachvollziehbar, aber halt doch nicht zur Gesellschaft passend verstehen.
Und dann hat es damit doch irgendwie gar nicht so viel zu tun, sondern mehr damit, dass ich mich als Anteilnehmer_in in einer – wie auch immer motivierten – Übergriffsituation erlebt habe. Und niemand dieses Erleben bestätigt oder versichert oder orientiert oder eingeordnet oder überhaupt als möglich angenommen hat.

Irgendwie hat niemand daran gedacht oder an mich herangetragen – und ich noch nie so bewusst erlebt – dass sich auch täterimitierende, täterloyale und bezeugende Anteile von dieser Situation angesprochen gefühlt haben könnten. Und ganz eigene Konflikte, desorientierte Identifikation und Gefühle dazu haben.
Petzen fühlt sich nicht gut an. Verrat ist immer kacke für jemanden. Das Begreifen von gewaltvollem Handeln als massives Problem kann krass desorientieren, wenn man ohne Gewalttabu aufgewachsen ist. Es ist ein scheiß Gefühl, wenn die, die man in tausend Jahren Therapie nie über ihre Stereotypen hinaus wahrgenommen hat, auf ein Mal etwas von der Gegenwart mitbekommen.
Da kann man noch viel richtig und gut gemacht haben.