die letzte Etappe

Ich saß in Emden. Gerade angekommen, mariniert in Sonnencreme-Rest und eingeschweißt von 42 Kilometern auf dem Fahrrad. Am Morgen hatte ich den Rücken eines verirrten Schafkindes berührt, nun zupfte ich mein T-Shirt vom Rücken. Die Sonne stand hoch, die Bedeutung dessen, was der Fahrradhandwerker zum Raspeln meiner Kette sagte, sickerte langsam ein.

Meine Radtour würde nun also ihr Ende finden. Noch die gut 23 Kilometer bis Greetsiel, dann ist Schluss. Kette verschlissen, Ritzel hin, am Montag in die Werkstatt.
Ich kaufte mir ein Eis, ein anderes als sonst, damit die außerordentliche Andersheit dessen, was Urlaub ist, nicht von meiner Routine beeinflusst wird. Denn das soll es ja sein: Ein Bruch, ein Anders, ein Raus aus dem Wieimmer. Die geplante Überstrapazierung der Kapazitäten zwecks ultimativer Energiereservenentleerung, mit dem Ziel zu schauen, was sie aktuell effektiv wieder auflädt und was nicht. Ich kann mir so etwas nur im Urlaub erlauben – im normalen Alltag ist so eine Versuchsanordnung, so eine Forschungsstrecke kaum möglich. Viel zu viel Ablenkung, viel zu viel Anpassungsdruck.

Mit geringer Energiereserve steigt meine Triggerbarkeit, es sinkt aber auch die Anzahl der Fucks, die ich auf meine Anpassung gebe, um damit umzugehen. So bewegte ich die Kiwischeibe in meinem Mund herum und spuckte sie aus, als mir das Knirschen der Kernchen im Mund zu unangenehm wurde. Eine Person in luftiger Sommerkleidung schaute mich an. Neutral vielleicht. Oder nicht? Sie wandte den Blick ab, ließ mich ohne weiteren Hinweis auf ihre Gedanken und Gefühle zurück. Ich hob das Eis an meinen Mund und erinnerte mich an meine Mutter. Eis essen und Kaffee trinken gehen. In der Innenstadt. Ein Mal im Sommer, ein Mal im Herbst oder Winter. Beim zweiten Mal definitiv nach der offiziellen Anerkennung meiner Klatsche. Sie hatte mir Fragen gestellt, meine Antworten haben sie fast zum Weinen gebracht. Ich war ehrlich, sie überfordert.

So wie ich mich gerade fühlte, hat sie sich vielleicht damals gefühlt. Was geht in dir vor?
Und ich, damals wie heute, fast ertrinkend und erblindet im Geklapper von Tassen auf Tellern, Gesprächen und dem Glockenspiel direkt über uns. Bemüht, aber unzureichend. Bindungswillig, aber unfähig. Das Eis lecker, der Kaffee gut, die Sonne schön, die Zeit mit einem Elter allein, ganz wunderbar – und zerreißend schlimm. Weil die Kluft einfach da ist. Unüberwindlich. Die Dissoziation der Gewalt, das Alter, die Er_Lebensrealitäten. Meine Welt war noch so wortlos und ihre Versuche nach mir zu greifen, mich zu halten vielleicht, so vergeblich. Nicht weil ich ein bockiger Teenie war, nicht, weil sie schon allein zum Selbstschutz gar nicht so richtig wirklich mit mir verbunden sein konnte, sondern einfach nur…
weil da etwas fehlte.
Nicht Liebe. Nicht Zugehörigkeit. Und auch nicht der Wille zum Miteinander.
Sondern einfach … dieser eine Klick.
Vielleicht der letzte Dreh, das letzte kleine Ruckeln oder Drücken, das Zahnräder verbindet, Puzzle zusammenfügt, B auf A folgen lässt.
Kurz lasse ich mich in den Lärm fallen. Löse mich auf und nehme der Erinnerung seinen Druck.

Satt, eingelitscht und nachgeweisst wie eine griechische Häuserfassade sitze ich wieder im Sattel. Meine Elternobligatorik durchgehend vergebe ich mir diesen Routinendurchbruch. Es gibt keine Alternative zu: „Es ist wie es ist.“ und auch keine zu: „Es gibt nichts, was ich tun kann, damit meine Eltern und ich so verbunden sind, wie ich es mir wünsche.“
Aber es gibt eine Alternativroute nach Greetsiel.
Und die puckle ich dann auch lang.

das Leiden – #AutismAcceptanceMonth

Leiden entsteht, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden.
Je umfassender der Mangel, desto größer der Leidensdruck.

Vor meiner Autismusdiagnose habe ich am meisten darunter gelitten, mit Menschen in Kontakt kommen zu wollen und doch nie zu kommen. Selbst dann, wenn ich physisch, thematisch und konsensuellen und gemeinschaftlich beschlossen Kontakt mit ihnen hatte. Selbst wenn alle lieb mit mir waren. Vom Viele-, Behindert-, Anderssein wussten und alles.
Es ist eine spezielle Einsamkeit und eine spezielle Isolation – ein umfassendes „mit-sich-selbst“-Sein – umgeben von Menschen zu sein und doch allein. Und zwar nicht auf die „armes Opfer ist so unverstanden/ungesehen/unbeachtet von der Welt, weil nicht alle Menschen die Gewalterfahrungen teilen“-Art, sondern auf die „autistischer Mensch unter nicht-autistischen Menschen“-Art, bei der es darum geht, dass sich nicht nur die Lebens-, sondern auch die Er_Lebenserfahrungen ganz grundsätzlich unterscheiden und die Schnittmenge zuweilen frustrierend gering ist.

Ich habe darunter gelitten, immer wieder aus dem Raster zu fallen. Immer wieder zu merken: Ich enttäusche Erwartungen an meine Funktionalitäten. Ich irritiere mit meinen Dysfunktionalitäten, meiner Bewertung von Situationen und Umständen und leide bis heute darunter anders zu sein als die meisten Menschen in meiner Umgebung und ihre Normen oder auch Ideale, weil ich keine selbstverständliche, intuitive Kongruenz herstellen kann.
Kongruenz ist ein von den meisten Menschen unterschätzte Bedingung zur Erfüllung des Grundbedürfnisses nach sozialem Kontakt bzw. Bindung.
Als autistischer Mensch bin ich nicht bindungsbehindert. Und nein, auch meine Komplextraumatisierung hat meine Bindungsfähigkeiten nicht zerstört, gestört oder auf irgendeine Art verformt. Ich binde mich einfach anders und dieser Stil wird häufig abgelehnt, nicht wertgeschätzt, belächelt oder gar nicht erkannt, weil man von mir das gleiche Bindungsverhalten, wie neurotypische Menschen es zeigen, erwartet.

Mein autistisches Er_Leben umfasst alle Qualitäten des Empfindens. Es gibt keinen Lebensbereich, der davon unberührt ist. Es gibt weder eine Grenze zwischen meinem Alltag und meinen Traumata, noch eine zwischen meinem autistischen Er_Leben und dem, was alle Menschen machen müssen, um zu über_leben. Entsprechend umfassend ist auch mein Inkongruenzerleben.

Manchmal ist das hilfreich. Gerade in der letzten Zeit, in der ich viel mehr als sonst mit anderen Vielen kommunizierte, merke ich: Ich bin nie so sehr in das „Inkognito-als-Opfer-in-dieser-Gesellschaft-unterwegs-sein“-Ding eingestiegen, weil es mir nie die gleiche Beruhigung, den gleichen Gewinn gebracht hat, wie Menschen, deren (einziger) Inkongruenzbereich die eigene Opferschaft/“Verrücktheit“ ist.
Oder negativ ausgedrückt: Egal, wie ich mich zu verbergen versuche, mein „anders-als-die-meisten-Menschen“-Sein, ist nicht zu verbergen. Und weil nicht ich es bin, die_r darüber bestimmt, ob „anders als die meisten Menschen“ etwas schlechtes (weil Erwartungen enttäuschend oder Normen/Hierarchien infrage stellend) ist oder nicht, blieb und bleibt es bis heute so, dass ich oft so allein in Kontakten bleibe, wie ich es bin.
Hilfreich ist das insofern, als dass es mich davor bewahrt hat zu glauben, ich könne durch jedes beliebige Verhalten in jeder beliebigen Situation beeinflussen, dass Menschen sich mit mir verbinden. Ein Kerngedanke des komplex traumatisierten Kindes: „Wenn ich lieb bin, haben mich alle lieb und binden sich positiv an mich (und verletzen mich nicht (mehr)).“
Ich hatte nie Anlass, das zu glauben, weil meine Lebens- und Kontakterfahrungen so umfassend anders waren. Selbst wenn ich lieb war, selbst wenn ich alles richtig gemacht habe, selbst wenn ich gar nicht mehr ich war, es hat nie gereicht, um die nicht-autistischen Menschen in meiner Umgebung umfassend (positiv) an mich zu binden.

Gleichzeitig hat es aber natürlich etwas mit meinem Weltbild gemacht. Von meiner Idee davon, was mich retten könnte. Wofür ich über_leben könnte. Was ich alles mitbedenken muss, wenn ich mich für mein Über_Leben entscheide.
Während viele suizidale Menschen Halt im Kontakt mit anderen Menschen finden oder am Leben bleiben, weil sie eine Familie haben, die sie brauchen oder für die sie sich verantwortlich fühlen, habe und produziere ich tausend Projekte und Vorhaben, die ich nicht unvollständig abgeschlossen liegen lassen will.

Menschen halten mich nicht. Weder am Leben noch im Kontakt.
Sie verorten mich, das ist im Alltag extrem hilfreich.
Sie stimulieren mich, das ist manchmal gut, manchmal re_traumatisierend.
Sie sind ein Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung, das ist eindeutiger ausgedrückt, als es die meisten anderen Menschen über Menschen sagen würden, aber deshalb nicht weniger wahr oder gar ein Anzeichen einer Pathologie.

Ich leide nicht unter meinem Autismus, ich leide nicht unter mir selbst.
Ich leide darunter, dass mein Grundbedürfnis nach sozialem Miteinander von so vielen sozialen Barrieren bestimmt ist, die ich alle nicht auch selbst kompensieren kann. Ich brauche dafür immer mein_e Gegenüber und viel zu oft wird dieser Bedarf nicht angenommen, geglaubt und ihm entsprochen.

Es ist also ein verhinderbares Leiden.
Es wird allerdings nicht verhindert.
Heute leide ich am meisten darunter.

der Perfektionismus – #AutismAcceptanceMonth

Perfektionismus gilt als Persönlichkeitsmerkmal, das mit (extrem) hohen Leistungsstandards und Ansprüchen an die (soziale) Umwelt einhergeht. Viele autistische Menschen werden als perfektionistisch bezeichnet oder als solche gedacht. Vor allem, wenn es darum geht, ihnen zu vermitteln, dass ihre Ziele, Wünsche oder Ansprüche die Grenzen der (sozialen) Umwelt berühren oder brechen könnten.

In solchen Situationen wird nicht gesagt: „Du möchtest zu viel von mir“, „Du überforderst meine Möglichkeiten“, „Du willst etwas Unrealistisches“ sondern „Du bist perfektionistisch. Wärst du nicht, wie du bist, dann hätten wir hier kein Problem.“ oder „Dein Perfektionismus verzerrt deine Wahrnehmung der Realität – du bist nicht fähig richtig einzuschätzen, was richtig ist.“
Es passiert also eine Situation, in der eine Person die Deutungsmacht über die Situation an sich nimmt und die andere Person als nicht nur in ihrer Veräußerung, sondern auch in ihrer Persönlichkeit (ihrem Sein) falsch einordnet.

Perfektionismus ist meiner Ansicht nach ein Schutz- weil Verteidigungsmechanismus.
Wer sich stets und ständig 100 von 100 möglichen Punkten reinholt, stets und ständig alles und immer richtig macht, senkt das Risiko als Fehlerquelle wahrgenommen und abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden. Perfektionismus ist ein Verhalten, das viele Menschen besonders in gewaltvollen Kontexten erlernen und einüben, weil es auch ihr Risiko der Verletzung (der Lebensgefahr) senkt. Es kann wie jedes andere Verhalten so lange eingeübt werden, dass es als genuiner Teil der Persönlichkeit, des Seins, eines Menschen erscheint und auch von den betroffenen Menschen selbst irgendwann nicht mehr als Reaktion, sondern als aktives Handeln aus sich selbst heraus empfunden wird.

Ich für mich selbst bin nicht perfektionistisch. Ich bin fixiert auf Vervollständigung und das ist ein Unterschied, den ich immer wieder deutlich zu machen versuche. In der Regel mit mäßigem Erfolg. Möglicherweise, weil ich Gewaltopfer war und man meine Selbstaussagen deshalb nicht ernst nimmt, möglicherweise aber auch, weil sich der Vorwurf von Perfektionismus in unserer Gesellschaft besser als (kommunikative) Waffe eignet.

Ich bevorzuge Vollständigkeit, weil ich mich darin leichter und weniger energieaufwendig zurechtfinde.
Meine Selbst- und Umweltwahrnehmung ist fragmentiert, also unvollständig. Was ich nun sowieso jeden Tag mehrmals machen muss, ist die Eindrücke von meiner Umwelt und mir zu verbinden, um ein (annähernd) vollständiges Bild davon zu erhalten, was (mir) passiert ist und wie der Status des Kontextes ist, in dem ich mich befinde, um eine (annähernd) korrekte Einschätzung darüber zu bekommen, wie ich mich wann wem gegenüber und warum verhalten könnte.
Diese ständige Vervollkommnungsarbeit wird mir erheblich erleichtert, wenn sich Menschen konkret ausdrücken, spezifische Sprache verwenden und mir eindeutig klargemacht wird, welches Verhalten oder auch welche Leistung von mir erwartet wird. Es hilft mir auch, vergleichsweise wenig Varianz in meiner Umwelt zu haben und so wenig wie möglich Abweichung kompensieren zu müssen. Wenn etwa Geräte genau nach Bedienungsanleitung verwendet werden können oder die Räume, in denen ich öfter Zeit verbringe, nicht immer wieder umgestellt oder neu dekoriert werden.

Ich brauche im Alltag mindestens eine Ahnung von der Vollständigkeit der Dinge und Kontexte um mich herum, damit ich mir bestimmter Dinge sicher sein kann. Dabei geht es nicht darum, dass ich mich sicher fühlen möchte, denn dieses Gefühl konnte ich bisher noch nie irgendwo wirklich vollständig herstellen. Es geht um Vorhersehbarkeit und um Klarheit darüber, wie umfassend ich auf meine Schutzmaßnahmen zurückgreifen kann. Also wie und womit ich mich verteidigen bzw. schützen kann.
Seit ich mir diesen Wunsch als legitimes Grundbedürfnis anerkannt habe, statt es weiter als perfektionistische oder traumabedingte Verzerrung meiner Realitätswahrnehmung und deshalb falsch, irrelevant, krankhaft, nicht zuverlässig … zu sehen, schaffe ich es, mir Kontakte und Räume zugänglich zu machen, in die ich vorher praktisch ausschließlich in mehr oder weniger stark dissoziierten Zuständen gehen konnte. Grundbedürfnisse gehören zum Leben. Wer sie nicht achtet, stirbt. Da kann man noch so perfekt die Realität gesehen haben.

Meine Vollständigkeitspraxis ist im Allgemeinen logisch.
Dennoch vervollständige ich (gleichermaßen logisch durch die inzwischen 37 Jahre lange Praxis dessen) zuweilen auch Dinge, die keiner Vervollständigung bedürfen oder nur unter unnötigem Energieaufwand oder auch nie zu vervollständigen sind. Zum Beispiel abgeschnittene Dekormuster. Wegplatten. Die Gespräche von Komparsen in Filmen. Geschirrsets. Serien, die ohne Finale eingestellt wurden. Ich bin mir dessen bewusst, habe Gefühle dazu, kann sie aber auch wieder ziehen lassen, wenn ich die Gründe dafür nachvollziehen kann.
Außerdem genieße ich geometrische Vollständigkeit, die mit Symmetrie einhergeht, sehr, weil sie mir als einziges visuelles Stimming ermöglicht, das in der Regel nicht sozial unerwünscht ist. Scheinbar gibt es hier eine Schnittmenge mit den meisten Menschen.

Vollständigkeit ist kein Synonym für Perfektion.
Zu vervollständigen kann eine Beschwichtigungsgeste sein, weil es (berechtigte) Ängste vor Fehlern oder Mängeln gibt. Ich habe die letzten mir fehlenden Staffeln „Emergency Room“ aber nicht gekauft, weil ich Angst davor habe, dass mein DVD-Regal scheiße aussieht, wenn eine unvollständige Serie darin steht, sondern weil ich weiß, dass ich sie im Kopf immer wieder vervollständige, wenn ich sie sehe.
Jetzt gehe ich daran vorbei, bin froh über die Vollständigkeit

und peste mich, dass die Boxen nicht alle das gleiche Design haben. 😅

Wofür

Kleben blieb, dass sie sagte „Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wofür sie da raus sind“.
Weil es ein wunder Punkt ist. Etwas, das mir lange das Gefühl gab, ich könne meine Situation nicht mit der von Menschen vergleichen, die aus komplett abgeschlossenen Gemeinschaften oder Gruppen ausgestiegen sind.

Ich bin da nicht raus, weil ich einen Vergleich angestellt habe und fand: „Ja, nee, draußen ist schon besser für mich. Da bin ich frei, Freiheit ist cool, ich will coole Freiheit.“ Am Anfang meines Lebens „draußen“ stand keine Möglichkeit mir aufzuzählen, was ich jetzt alles darf und vorher nicht. Ich durfte immer alles tun oder nicht tun. Die Grenzen unter denen viele Aussteiger_innen aus „high controlling groups“ gelitten haben, habe ich gesucht, habe ich verlangt – ziehe ich mir heute in mein Leben um Halt und Orientierung zu haben. Mein Leben im Kontext organisierter Gewalt war nicht die Hölle und hat sich, was den täglichen Energieaufwand, die Zermürbung, die seelenzerquetschende Inkongruenz zwischen mir und dem Rest der Welt betrifft, ehrlich gesagt nur im Framing des Leidens darunter unterschieden. Jedenfalls soweit ich mich daran erinnere.

Viele sprechen von ihrem Ausstieg als eine Art Ausbruch aus einem Kerker – ich habe viele Jahre nur in einem Hundekäfig schlafen können, weil es der Rahmen war, in dem ich überhaupt Entspannung finden konnte. Ruhe im Kopf, Orientierung in meiner Körperlichkeit, Pause vom ständigen Greifen nach Dingen außerhalb von mir, um mein eigenes Ende zu fühlen.
Ich litt nie unter der Todesangst anderer Aussteiger_innen, die sich mit freiem Willen oder freien Entscheidungen eingestellt hat. Mir hat nie jemand verboten frei zu denken oder frei zu wollen – ich wurde immer nur für falsches Handeln, falsches Wollen umgebracht. Das ist ein Unterschied. Und ja, ich sehe, wie perfide das ist. Wie elaboriert bösartig das ist, gerade weil das außerhalb solcher Kontexte auch passiert.

Ich bin nicht für irgendetwas ausgestiegen und bleibe auch nicht für irgendetwas ausgestiegen. Ich bin wegen etwas ausgestiegen und das ist im Moment ein Problem, weil es sich bedroht anfühlt.

Vor einigen Jahren formulierte ich, dass das Leben immer nur sich selbst für sich selbst will. Weil das so ist.
Mir war klar, dass viele Menschen diese Formulierung nicht verstehen würden, weil sie sich selten, manche auch nie, mit solcherlei in sich geschlossenen, sich selbst brauchenden, selbst befriedigenden, selbst erschaffenden Systemen befassen. Dabei ist daran überhaupt nichts geheimnisvoll oder kompliziert zu verstehen – es ist nicht einmal besonders, sondern vielleicht einfach viel zu naheliegend, um es zu bemerken. Oder auch zu sehr im Widerspruch mit der Norm, in der alles Sinn und Zweck über sich selbst hinaus haben muss, um als etwas behandelt zu werden. Ein Menschenleben zum Beispiel. Oder ein Lebensziel.

Ich wusste, dass ich sterben würde, würde ich in diesen Kontexten bleiben. Entweder durch jemanden, die_r sich nicht genug im Griff hat oder durch mich selbst, weil ich mich nicht genug unter Kontrolle hatte, um mein eigenes Nicht_Handeln vorherzusehen oder zu beeinflussen. Und ich wusste, dass ich lebe. Dass das ein eigener Wert ist. Eine eigene Ressource. Dass ich, um zu leben, am Leben sein muss.
Und dass ich diesem Kontext nicht geben können würde, was er von mir braucht, fordert, erzwingt, wenn ich tot bin.

Mein Ausstieg war also nie die totale Abgrenzung von diesen Leuten und dem, was sie tun oder glauben, sondern das einzige Mittel, dass ich noch hatte, um zu tun, was sie von mir wollten. Es war eine täter_innen- eine kontextloyale Entscheidung.
Keine Umarmung meiner individuellen Freiheit. Keine Selbstermächtigung. Keine heroische Selbstrettung. Keine Entscheidung aus einem wundersam erhalten gebliebenem Körnchen Selbstwert. Ich hatte einfach nur Glück, mit meinen Überlegungen zufällig die eine logische Lücke in dem ganzen Gebilde gefunden zu haben und damit keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte.

Ich habe die Intentionen dieser Menschen nie verstanden. Selbst heute, wenn mir außenstehende Menschen erzählen, ich sei so sehr angelogen worden, sie hätten immer nur ihre eigenen Ziele verfolgt – ich verstehe es nicht. Für mich handelten sie logisch im eigenen Bezugsrahmen. Sie haben mich also nie angelogen. Sie wollen eine bessere Welt möglich machen. Das wollen viele andere Menschen mit anderen Mitteln auch tun. Wo ist also die Lüge? – In jedem anderen Bezugsrahmen, außer dem, in dem es passiert ist.
Zu welchem Bezugsrahmen gehöre ich? In welchem Kontext hat mein Leben nur eine Bedeutung für sich selbst? – Bis jetzt nur in meinem eigenen. Und in dem sind die Bezugsrahmen anderer Menschen und Gruppen für mich eher Räume, die ich vereinzelt betreten darf. Mal nur kurz und für den Zeitraum einer Arbeit oder gemeinsamen Tätigkeit – und mal über Jahre hinweg, sodass ich das Gefühl habe, ich gehöre dazu, dürfte Wurzeln schlagen und mich verbinden, obwohl ich weiß, dass Verbindung nicht das gleiche wie Verschmelzung ist.

Und das ist das einzige, das mich heute trägt. Dass ich weiß, dass selbst, wenn wir wieder zurückgehen, um das im Moment praktisch 24/7 in mir hallende Schreien, die Todesangst, die Albträume, dieses fahrig zittrige Greifen nach Halt zu beenden, es nicht bedeuten würde, einen Bezugsrahmen zu betreten, mit dem wir 1 zu 1 verschmelzen würden.

Es wäre alles anders und alles gleich.
Wozu also der Aufwand.

Autofahren lernen

Am Montag habe ich die praktische Führerscheinprüfung bestanden.
Als ich mit der praktischen Fahrschulzeit begann, fragte ich auf Twitter, ob es interessiert, was für mich schwierig war und was geholfen hat. Es hat interessiert und so kommt nun ein Text dazu.

Die Vorrede

Zu Beginn möchte ich sagen, dass ich nie vorhatte ein Auto oder Mofa oder irgendetwas anderes von verbrennendem Benzin oder Diesel angetriebenes als Fahrer_in zu benutzen. Es stinkt, es ist unpraktisch, frisst Ressourcen, die für andere Dinge so viel dringender gebraucht werden könnten – oder auch gut im Boden verbleiben könnten.
Dann sind wir aufs Land gezogen. Und zwar nicht das Land 15 Kilometer außerhalb einer Großstadt oder das Land mit zwei bis fünf größeren Städten drum herum, sondern das Land, wo jeden Tag LKWs, Trecker und Sondertransporte durchfahren, weil „da ja nix ist“. Hier braucht man für eine Strecke von 22 Kilometern Luftlinie schon mal anderthalb Tage, wenn man morgens ankommen will oder vier Stunden mit drei Umstiegen, wenn man nachmittags ankommen will, weil die ÖPNV-Infrastruktur so schlecht ist und es keinen politischen Willen (und auch nicht die Gelder) für Veränderungen daran gibt. Das Angebot wird überwiegend von Schüler_innen gebraucht. Die machen hier mit 15 spätestens 16 den ersten Führerschein. Selbst an Mitfahrbänken ist mehr Betrieb als an den einsamen, schief im Wind stehenden, Schildern mit dem grünen H auf gelbem Grund, weil es immer noch Ortschaften gibt, durch die nie ein Bus fährt.
Es ist also schwierig, hier draußen irgendwo hinzukommen und man hat keine andere Wahl als irgendwohin zu müssen, denn wirklich alles ist immer woanders. Einkaufen? Der nächste Edeka ist im Dorf 7 Kilometer von hier. Apotheke? Post? Buchladen? Markt? 18 Kilometer. Bahnhof? Schwimmhalle? Jobcenter und andere Behörden? 25 Kilometer. Spätestens im Winter sind diese Strecken nicht mehr sicher mit dem Fahrrad zu bewältigen, denn auch hier gibt es kaum jemanden who kehrs die Radwege.

So hat sich also immer deutlicher abgezeichnet, dass ich einen Führerschein machen muss, wenn ich nicht vom Partner abhängig sein und meine Mobilität erhalten will.
Schon vorher war klar, dass ich keinen Führerschein der Klasse B (den ganz normalen Autoführerschein) machen und auch kein Fahrzeug führen möchte, das von Diesel oder Benzin angetrieben wird. So haben wir also schon vor 2 Jahren nach einem gebrauchten Leichtkraftfahrzeug mit E-Antrieb gesucht und wurden dann zufällig fündig.
Die Klasse AM erlaubt es, kleine und leichte Krafträder zu fahren. Er wird deshalb auch als Roller- oder Mopedführerschein bezeichnet. Er gilt für zweirädrige und dreirädrige Krafträder, aber auch für vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge, was mein Auto ist.
Es kann bis zu 45 km/h schnell fahren und ist damit absolut schnell genug für mich. Ich kann die Hunde mitnehmen, Einkäufe und Gepäck bis 70 kg transportieren und habe eine Reichweite von 80 bis 120 km pro Ladung (die von ganz leer auf ganz voll 3 Stunden dauert und bei meinem Modell über den üblichen Haushaltsanschluss passieren kann).
Solcherlei Auto-Eckdaten sind für Leute, die nicht selber Autofahren vielleicht langweilig – sorry – aber ich führe sie hier auf, um zu zeigen, dass ich in meinem Alltag hier auch gar nicht mehr brauche als dieses kleine Fahrzeug. Ja, lange Strecken, Urlaube, Umzüge, größere Eskalationen bei IKEA oder im Baumarkt sind damit nicht zu stemmen, doch dafür kann ich immer auf das Fahrzeug des Partners, das nun öfter stehen bleibt, und dessen Fahrbereitschaft zurückgreifen.

Die Fahrschule und das Handicap

Ich bin ein_e schlechte_r Beifahrer_in auf der Autobahn. Und wenn es regnet. Oder schneit. Oder wenn wir durch Tunnel fahren. Oder tausend Jahre durch die Stadt, in der sich ständig irgendetwas bewegt, jemand ist, Dinge passieren. Es sind einfach zu viele Eindrücke auf einmal, gibt zu viel zu sehen, zu viele Details, die ich nur mit sehr viel Konzentration und aktiver Verarbeitung zu einem generellen Eindruck werden lassen kann. Das ist, neben vielen anderen Features, die mein traumatisiertes autistisches Gehirn hat, mein Haupthandicap, wenn es ums Radfahren und auch Autofahren geht.
Um eine Verkehrssituation richtig einzuschätzen, ist nicht relevant, dass der Fußgänger, der vor mir auf die Straße springt, offene Schnürsenkel hat und die Morgensonne Gänsehautstrukturen auf der Straßenoberfläche aufleuchten lässt – in der Situation ist der gesamte Kontext wichtig und ich muss ihn jederzeit und immer bewusst haben, um mich und andere sicher re_agieren zu lassen. Dennoch werde ich immer erst solche Details wahrnehmen bevor ich den Kontext klar habe und das gilt es zu kompensieren.

Und zu kommunizieren, denn auch wenn eine Fahrschule damit wirbt, dass sie auch Menschen mit Behinderung den Führerschein ermöglichen wollen, sind damit häufig eher Menschen gemeint, die ihr Fahrzeug an ihre körperlichen Möglichkeiten anpassen lassen müssen als Menschen mit Lernbehinderung oder Problemen der Reiz- und Informationsverarbeitung.
Ich habe sehr viel Zeit und Kraft in die Kommunikation meiner Herausforderungen gesteckt, um dann wie immer zu merken, dass es nicht gut klappt und ich wieder einmal eine doppelte Ausbildung, ein doppeltes Training durchlaufe.

Die Theorie

Ich habe mich im Dezember 2020 zur Fahrschule angemeldet. Pandemiebedingt fand der Theorieunterricht damals ausschließlich online statt. Für mich, die_r hier draußen das Internet über LTE empfängt – es sei denn es regnet, schneit, stürmt oder im Funkturm ist ein Staubkorn umgefallen – war das, wie fremdsprachigem Rap von Legomännchen zuzugucken, nämlich völlig sinnlos, weshalb wir auf das Frühjahr und den Sommer gewartet haben, wo auch wieder Unterricht vor Ort stattfand.
Ich trug im Unterricht meinen Gehörschutz, anders hätte ich die Mitschüler_innen und den Straßenlärm vor der Fahrschule nicht ausblenden können. Außerdem machte ich mir Notizen und arbeitete die Lektionen der Fahrschule zu Hause mit dem Lehrbuch nach, denn der Unterricht selber war für mich kaum nutzbar. Ich musste – da ich ein vierrädriges Fahrzeug führe – den Theorieunterricht für die Führerscheinklasse B mitmachen und selbstständig erarbeiten, was für AM relevant ist. Dazu kam eine Lektion des Motorradunterrichtes, die ebenfalls herzlich wenig mit meiner Fahrrealität zu tun hatte.
Und natürlich war es Unterricht für neurotypische Menschen: also in der Regel unkonkret, voller prosozialer Floskelwitzchen und mit einem großen Fokus auf soziale Versicherung von Status. Dazu kamen auch noch sehr viele Geschichten von tragischen wie vermeidbaren Unfällen mit Todesfolge, die mich manchmal noch eine Weile verfolgten, Alpträume auslösten und vor dem praktischen Unterricht ängstigen ließen.

Ich war extrem froh darüber, dass es heute eine App gibt, mit der man die Fragen der theoretischen Prüfung selbstständig trainieren und lernen kann. Anders hätte es entweder noch sehr lange gedauert oder vielleicht auch nie geklappt.

Meine erste theoretische Prüfung habe ich dann trotz mehrfachen Bestehens von Trainingsprüfungen dann nicht bestanden, weil die Zulassung zu der Prüfung an dem Tag eine einzige Katastrophe und ich ein zerschossenes Hühnchen war.
Ich war pünktlich, doch vor der Anmeldung noch einmal runter zum Auto gelaufen, um meinen Ausweis zu holen. Wieder oben wollte mich der Prüfer nicht mehr zulassen, weil ich ja weg war (während er noch andere Leute vor mir in das System eincheckte). Dann entdeckte er meinen Gehörschutz und, dass meine Behinderung nicht in der Anmeldung vermerkt war und ab da weiß ich selber nicht mehr genau, was alles passierte, nur dass ich als behinderte Person ja prinzipiell nicht zugelassen würde ohne speziellen Spezialzettel. Der Partner half mir dann und ich konnte die Prüfung eine halbe Stunde später versuchen, was ich auch tat. Aus Trotz. Aus Wut. Mit dem vollen Bewusstsein darum, dass ich nicht bestehen würde, weil in mir schon längst alles blutete und eigentlich eine ganz andere Versorgung brauchte als eine bestandene Prüfung.
Der Vorfall wurde übrigens nie geklärt, es hat sich nie jemand entschuldigt oder Verantwortung dafür übernommen. Vermutlich, weil ich meine Diskriminierung falsch verstanden habe zwinky zwonky

So bezahlte ich also eine zweite Prüfung zwei Wochen später an einem anderen Standort, ließ meinen Gehörschutz im Auto des Partners und bestand mit einem Fehler, den ich vielleicht hätte noch finden können, hätte ich nicht die kruschelig laute Situation so dringend verlassen wollen.

Die Praxis

Hier draußen in der Klüste fahren viele Leute schon mit ihrem Fahrzeug, bevor sie den Führerschein haben oder auch obwohl sie keinen mehr haben. Das ist so häufig, dass mein Fahrlehrer mich in den ersten drei Fahrstunden erst einmal schön überfordert hat und ich mich entsprechend gleich mit.
Dann kam der Fahrlehrerpraktikant dazu. Ein junger Mann, der neben mir saß, während der Fahrlehrer hinter mir herfuhr und über Funk Anweisungen gab. Keiner von beiden hat je mit einem Fahrzeug wie meinem zu tun gehabt oder Erfahrungswerte mit Elektroantrieben, geschweige denn der Behinderung, die ich nebenbei auch noch ohne jede Unterstützung zu kompensieren lernen musste, während ich die Benutzung und Führung meines Fahrzeuges lernte. Und beide gaben mir ihre überwiegend unvorhersehbaren Anweisungen zeitweise unabhängig voneinander.
Die Funkverbindung war oft gestört von Bauarbeiten- und Stadtfunk, was zu unfassbar schmerzhaften Geräuschen führte und mich neben der allgemeinen Über_Anstrengung während der Fahrstunden, regelmäßig in die Dissoziation abrutschen ließ, ich also immer wieder völlig „out of the zone“ war und tatsächlich nur noch auf die Anweisungen reagierte, ohne irgendetwas zu interpretieren oder aufzunehmen.

Wir fuhren schnell nur noch in der Stadt, in der auch die Prüfung stattfinden sollte. Für mich bedeutete das jedes Mal eine Kette von Anstrengungshürden und immer wieder einen zerschossenen Tagesablauf, weil ich danach nicht mehr arbeitsfähig war – aber es Arbeit gab, die zu erledigen war.
In meinen 14 Fahrstunden habe ich einen Fastunfall gehabt, weil jemand viel zu schnell durch eine verkehrsberuhigte Zone fuhr und bin ein Mal mit leerem Akku liegengeblieben, weil mein Fahrlehrer mir nicht glaubte, dass der Akku gleich leer sein würde. Was beides kurz hintereinander passierte und mich sehr belastet hat.

Mehrfach wurde mir vermittelt, dass wenn mir die Fahrschule zu chaotisch, der Lehrer zu tüffelig (also hauptsächlich aus Gedankenlosigkeit und zu wenig Erfahrung) meine Grenzen übergeht und der Unterricht zu überfordernd ist, ich die Fahrschule wechseln müsse. Was ja leicht gesagt ist, aber für mich nichts weiter als eine nächste sehr fordernde Sache gewesen wäre.
Erstens, weil es pandemiebedingt gerade nicht viele Fahrschulen mit Kapazitäten gibt, zweitens, weil ich nach dem Ding mit dem Theorieprüfer und der Erfahrung mit dem Fahrlehrer wieder eher vermeide mich über die Behinderungen in meinem Leben zu outen und drittens, weil mein Fahrzeug in der Kombination mit der Führerscheinklasse eine Lehrer-Prüfer-Kombination aus wirklichem Enthusiasmus fürs motorisierte Fahren und viel Erfahrung braucht. Und beides hatte der Clown, mit dem ich gelernt habe einfach. Und andere eben nicht. Die hätten mich in die Klasse B, die ich nicht mal hätte bezahlen können oder in den Treckerführerschein, den ich aus Gründen nicht wollte, gedrängt und die Theorie hätte sehr viel länger gedauert.
Also – ein Wechsel war zwar eine Option, aber nur eine, die ich in Betracht gezogen hätte, hätte ich zum Ende hin nicht den Zeitdruck gehabt, den ich dann hatte.

Die Prüfung und was geholfen hat

Zu Beginn des praktischen Unterrichts sagte ich dem Praktikanten, dass ich Fahrstunden mache, bis ich das Gefühl habe, sie nicht mehr zu brauchen. Dieses Gefühl hatte ich beim „Warmfahren“ für die Prüfung so deutlich, dass ich richtig genervt von den Kommentaren und Hinweisen des Fahrlehrers war.
Dennoch war ich nervös bis kurz vor ängstlich, denn auch das hatte ich mir mit der chronischen Überreizung und entsprechenden Überforderung in dieser Zeit eingefangen: eine wieder enorm gesenkte Schwelle zur Ängstlichkeit, die ich jetzt, wo ich allein und nicht mehr in der Stadt langsam wieder hochfahren spüre.

Ich habe mir zuletzt für die Therapie einige Anker gesetzt. Also mir schöne Mineral/Steinanhänger ausgesucht und mir einen um den Hals gehängt und den anderen an der Gürtelschlaufe befestigt, um ihn sowohl in der Hosentasche als auch außerhalb dessen berühren zu können. Die Idee ist, dass ich mich an bestimmte Dinge erinnere, wenn ich sie berühre oder ihrer Aufliegefläche nachspüre und das funktioniert für mich auch relativ gut. Die Dinge, an die ich mich erinnern will, sind Dinge, auf die ich mich unabhängig von allen Menschen und Umständen verlassen kann und mich deshalb beruhigen. Ich habe da also keinen Satz im Kopf wie „Alles wird gut“ oder „Ich bekomme das schon hin“ sondern nur die Begriffe „Anziehungskraft“ und „Gleichzeitigkeit“. Dazu fallen mir ohne jede Anstrengung sofort Dinge ein, die mir ein gutes Gefühl vermitteln, um das ich weder kämpfen noch bangen muss.

Diese Strategie habe ich schon lange vor der Prüfung für meine Psychotherapie eingeübt, es war jedoch ein Akt für mich sie auch beim Autofahren anzuwenden. Auch das ein Auti- und ein Trauma-Feature. Für jeden Skill, den ich anwende, brauche ich einen bestimmten Status meines Erregungslevels. In einer Psychotherapiestunde ist mein Erregungslevel und auch meine Ängstlichkeit eine andere als beim Autofahren oder einer Fahrprüfung. Ich musste immer wieder prüfen, wann ich beim Autofahren da angekommen bin, wo es Sinn hat so einen Skill, der sehr viel Frontallappen („höhere Hirnfunktionen“) erfordert, anzuwenden. Ich bin erst in den letzten zwei Fahrstunden da angekommen und habe ihn dann mit in die Routine aufgenommen.

Es hat außerdem geholfen, die Lüftung trotz der niedrigen Außentemperatur auf „kalt“ zu stellen und niedrig laufen zu lassen. Die Idee ist mir erst am Prüfungstag gekommen, nachdem ich in einem Kreisverkehr kurz gedacht hatte, dass mich ein LKW tot fahren würde und ich dann wie Dosenfisch in einer Metallröhre wäre. Metallröhre, Röhre, „die Röhre“ (das MRT, in dem ich mal war), kalt, kalt = überraschend hilfreich damals – könnte es jetzt auch hilfreich sein? Ich probiere mal. – Und ja, auch diesmal war es hilfreich.

Außerdem hilfreich:

  • aufs Klo müssen
  • kalte Füße haben
  • Obstfrühstück mit Vollkornmüsli gehabt haben (schneller Zucker mit langsamem Zucker – von dem Dextro Energy, den mir mein Fahrlehrer in die Hand gedrückt hat, wäre ich nach 20 Minuten gecrasht, die Prüfung ging aber 50 Minuten)
  • mir laut die Verkehrsregeln aufsagen
  • mir selber erzählen, was ich mache und worauf ich achte
  • nicht auf die Uhr schauen (absolutes Verbot für die Beschäftigung mit Tagesplänen oder Abläufen im Auto/ „Autofahren = Präsens“)
  • immer 3 bis 5 km/h langsamer als erlaubt fahren
  • einen Backup-Plan für den Tag und die Zeit danach haben, falls ich nicht bestehe
  • wissen, dass der Partner am Zielparkplatz ist und mich auffängt (aber auch vor tüffeligen Sprüchen des Fahrlehrers abschirmt und mir hilft, mich abzugrenzen, wenn nötig)
  • die App „Drivers Cam“, in der man Videos von Straßenverläufen mit Hinweisen auf Schilder und die jeweiligen Verkehrsregeln anschauen kann
  • das ständige Abfahren der Strecken im Kopf und viel Zeit allein nach den Fahrstunden, um sie zu prozessieren und bewusst nachzuspüren, dass die Anspannung und Überreizung auch wieder aufhört (weh zu tun)

Die Freiheit

Ich habe meine Prüfung „ganz hervorragend“ gemeistert und darf nun durch die Gegend fahren, wie ich lustig bin.
Für mich ist auch das erst einmal überfordernd und ich nehme auch diese nächste Anpassungsphase sehr ernst als Phase des Lernens.

Am Montagmittag war die Prüfung, am Nachmittag fuhr ich das erste Mal allein die längste Strecke, die ich in der nächsten Zeit überhaupt fahren werde, am Abend das erste Mal im Dunkeln mit dem Partner als Beifahrer. Gestern hatte ich das erste Mal die Hunde dabei und fuhr mit ihnen in den Wald. Bei aller Freude und Erleichterung und Schönheit und jabbadabbadoo bin ich jedes Mal eine Weile völlig zerfleddert, weil ich das einfach machen darf und weil ich so viel einfach machen darf.
Das ist für mich alles andere als banal und wirkt auch nicht nur in mein Alltagsbewusstsein hinein.

Jede Freiheit geht mit Verantwortung einher, in die man so schnell wie möglich hineinwachsen muss, um sie gut tragen zu können.
Ich habe nun also meinen Führerschein und wachse noch, was den ganzen Prozess entsprechend nicht bei der Prüfung enden lässt und mir wichtig war auch noch einmal aufzuschreiben.

Pläne

„Je stressiger es im Alltag wird, desto mehr Struktur brauchen wir, um zu funktionieren.“ Das klingt für die meisten Leute total logisch und nachvollziehbar. Klar, wer viel vorhat, ist immer gut beraten sich einen Plan zu machen, um gut zu arbeiten oder Abläufe zu gewährleisten.
Für mich beginnt der Stress in „stressiger Alltag“ schon in dem Moment, in dem ich weiß, dass Dinge passieren werden, die üblicherweise nicht passieren. Und zwar nicht, weil sie passieren, sondern weil das Passieren dieser Dinge alles verändert und damit auch sämtliche Ressourcen und Stützen des Alltags beeinflusst. Was bedeutet, dass ich mich nicht nur um die passierenden Dinge, sondern auch ihre Wirkung auf mich kümmern muss.

Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagespläne sind mir noch nie ein Korsett gewesen, nie ein Angriff auf meine persönliche Freiheit – viel eher sind sie der Grund dafür überhaupt in die Situation zu kommen, mich frei entscheiden zu können. Denn ich kann weder entspannen, noch ruhen, noch Kraft tanken, wenn ich nicht weiß, was in den folgenden Stunden und Tagen noch auf mich zukommt und wie ich was wann wie genau kompensieren kann und darf.
Im günstigsten Fall mag ich die Art der Störungen des üblichen Ablaufs einfach nicht oder bin nur irritiert. Dann finde ich Stabilität und Ruhe in Stimming oder meinen Projekten. Problematisch wird es, wenn ich mit den Ressourcen schon so weit runter bin, dass ich weder von Stimming noch von irgendetwas anderem profitiere. Am schlimmsten ist es, wenn der Ablauf über so lange Zeit gestört oder beeinflusst wird, dass ich überhaupt keinen üblichen Ablauf mehr ausmachen kann.
Das gesamte letzte halbe Jahr war so ein Zeitraum. Wir haben viel gearbeitet, viele emotionale Tiefschläge kompensiert, die unsere Freund_innnenschaften bzw. das, was wir dafür hielten, betrafen. Wir haben Physiotherapie und Fahrschulunterricht in Theorie und Praxis durchgezogen, sind alle zwei Wochen nach Bielefeld zur Therapie und alle zwei Wochen zur Autismustherapie woanders gefahren. Wir haben uns an eine Selbsthilfegruppe für Viele herangewagt, haben einige erste Interviews für unsere Podcast-Reihe aufgenommen und alles das immer mit dem Partner und den Beziehungsalltag im Hinterkopf, die Bedürfnisse der Hunde, die Pflicht, die Kür, die Versprechen bezüglich des Gartens, des Podcasts, unserer Projekte.
In den letzten drei Wochen hatte ich jeden Tag einen anstrengenden Termin, seit Ende Oktober habe ich wieder mit Weglaufimpulsen aus  Flashbacks/Alpträumen/Intrusionen aus dem Schlaf heraus zu kämpfen, was bedeutet, dass nicht einmal die Nachtstunden zuverlässig für Erholung da waren.
Dass ich noch nicht „ausgerastet bin“ (den Meltdown nach außen sichtbar hatte) liegt daran, dass ich eine Verzögerung in der Verarbeitung habe und in der Regel nach innen explodiere, also dissoziiere. Und weil die Dissoziation praktisch mein Betriebssystem ist – mich bisher niemand anders erlebt hat – fällt das nicht als Problem auf.
Manchmal finde ich das auch gut so. Denn mit der Ratlosigkeit, der Frage: „Ja und jetzt?“ umzugehen tut mir nur weh und oft ist es den Streit aus der Enttäuschung heraus, dass dieser Schmerz nicht bemerkt wird, einfach nicht wert.

Viele Menschen denken und planen nicht so weit im Voraus wie wir, weil sie es nicht müssen. Ihr Jetzt ist ein anderes als meins – ist nicht so leicht zu zerstören von morgen, bald oder nachher. Und viele Menschen schieben einfach gern auf, weil sie die Kraft für alles auf einmal aus einem viel tieferen, größeren Fass schöpfen als ich. Um in dem Bild zu bleiben, habe ich genau eine Tasse, aus der ich schöpfen kann und ich bin maximal geizig mit jedem noch so kleinen Tropfen, weil ich es muss. Nicht, weil es so schlimm ist, erschöpft zu sein, sondern weil „eine volle Tasse“ zu haben für mich a) nicht bedeutet, nicht erschöpft zu sein und b) weil auch das Management dieses Budgets, die Erfassung, die Planung, die Kommunikation des Budgets bereits daraus geschöpft wird.
Ich habe nie einen fixen Stand von 100 % und daraus kann ich dann hippy happy Leben gestalten – ich muss bereits 40 % weggeben, um in der Lage zu sein, mein hippy happy Leben erfassen, mich selbst darin fühlen und verstehen zu können. Und das ist, was die meisten Menschen – auch „meine Menschen“ – manchmal einfach vergessen: Die meisten Menschen müssen aus ihrem größeren Kraftfass vielleicht 10 oder 15 % dafür weggeben und das oft nicht einmal bewusst. Und am Ende eines Tages haben sie immer noch 20 bis 30 %, um zu verarbeiten, was sie erlebt haben. [1]

Ich habe nicht die Wahl irgendetwas von meinen Therapien (und dem, was wir darin machen) oder Projekten einfach zu lassen, denn ich benutze vieles davon zum Prozessieren und Verarbeiten sowohl dessen, was mir in der letzten Woche, aber auch vor 30 Jahren passiert ist. Jede Therapie, aber auch das Bloggen und Podcasten sind damit Hilfsmittel, die mir – bei aller Anstrengung, die sie bedeuten – ermöglichen, mich im Bezug zur Welt zu halten und damit ein fundamental wichtiger Teil eines mehr oder weniger festen Plans, der mich in diesem selbstbestimmten, autonomen Leben hält.

So einen Plan zu haben – ja, mir überhaupt erstmal einen zu überlegen, mich zu trauen an die Zukunft zu denken, mir eine auszudenken, zu wünschen, mich auf so viel hätte würde wäre wenn einzulassen, habe ich erst mit der Berufsausbildung geschafft. Das war 2016. Da waren wir gerade 9 Jahre aus organisierten Gewaltkontexten ausgestiegen, die uns sehr genau vorgegeben haben, was wann wie zu denken, zu wollen, zu machen war.
So frei wie heute verliert mein Leben und das, was ich darin tue, sofort an Bezug und damit Sinn und Bedeutung, wenn ich meinen Plan loslassen soll. Und das wird bewusst oder unbewusst öfter mal von mir verlangt oder „vorsichtig vorgeschlagen“, wenn der Eindruck entsteht, ich hätte mich verrannt oder überfordert. Oder – was eigentlich am meisten schmerzt – : Wenn ich selber sage, dass etwas zu schwierig für mich ist.
Der erste Reflex ist dann oft die Idee der Entlastung durch Vermeidung. Das Angebot mir irgendeine Aufgabe abzunehmen, irgendein Wagnis nicht zu begehen und zu erwarten, dass ich das okay finde – vielleicht sogar noch krass dankbar bin und mich einfach super fühle. Das tue ich in der Regel aber nicht, denn die Alternative zur Überforderung ist in meinem Fall immer der Ausschluss. Das nicht mitmachen, nicht dabei sein, ohne Bezug sein. Ein Zustand, den so, in dem Umfang wie ich es erlebe, kaum jemand wirklich innig er_leben möchte, weil Bezug für soziale Wesen wie uns Menschen ein existenzielles Grundbedürfnis ist. [2]

Wie viele andere autistische Menschen bin ich sehr hartnäckig. Was ich mir vornehme, das mache ich früher oder später auch. Ich nehme mir nichts vor, das unrealistisch ist und verfolge meinen Lebensplan jeden Tag, weil ich einen brauche, um mein Amlebensein in Existenz und Sinn auszuhalten und zu gestalten.
Das ist nicht banal. Nicht wegzulachen oder zum Quirk zu erklären.
Es ist bedingungslos zu respektieren und mitzudenken.

Immer.

 

[1] In diesem Text verwende ich das Bild von einem Fass bzw. einer Tasse voll Kraft als Flüssigkeit. Viele andere chronisch kranke, neurodiverse, behinderte Menschen verwenden das Bild von einem bestimmten Budget von Werkzeugen/Besteck, das sie zur Verfügung haben. In der Podcastepisode „Was helfen könnte – die Besteck-Theorien, eine Kommunikationshilfe“ habe ich sie genauer beschrieben.

[2] Angebote wie diese führen viele behinderte Menschen in die sogenannte „Schonraumfalle“, was dazu führt, dass Abhängigkeiten entstehen und also die Freiheit der Menschen eingeschränkt wird. Sowohl die der behinderten Menschen als auch die der Menschen, die ihnen die Schonräume ermöglichen und aufrechterhalten müssen.
Mir ist bei Überforderung am besten zu helfen, wenn man mich dabei unterstützt, den Punkt der Überforderung zu verstehen und mit dem auszustatten (oder mir zu ermöglichen, dass ich lerne), was ich brauche, um sie zu überwinden.
Jede Hilfe, die Helfende überflüssig macht, ist besser als der beste Schonraum.

Abläufe

Ich hätte es lieber geübt. Den Ablauf geplant, im Kopf weitergeübt, mich so sehr in den Plan reingesteigert, dass er unumstößlich von Störungen und Ablenkungen klar und deutlich in mir drin bleibt.
Aber es ist eine Pandemie. Alle sind müde. Alle sind knapp. Ich kann auch anders und für „wie sonst“ fehlen die Kapazitäten von allen.

Und so flattere ich also in die Teststation der Apotheke. Bin zu spät, mit drei von vier Beinen noch in der Therapie und fühle mich so schutzlos, dumm und nutzlos für die in dieser Zeit nötige Effizienz des allgemeinen Krisenmanagements wie lange nicht mehr.
Aber es klappt.
Statt eines Würgereflexes unterdrücke ich einen Beißreflex, statt alles falsch mache ich alles awkward. Ist aber nicht schlimm, vorher war eine Omi da, die war auch nicht Erika Mustermann.

Okay, so geht das also. Diese Testerei, die wir bei uns mit wenig Wartezeit im Dorf 12 Kilometer weiter oder viel Wartezeit neben der Schwimmhalle haben können, während in Bielefeld praktisch überall kleine Rüsselhütten für einen Abstrich stehen.
Ich fühle mich wie in einer Realitätsspalte. Weiß, dass ich mich jetzt auf keinen Fall fragen darf, was echt ist und was nicht, denn sobald diese Frage Gewicht bekommt, ist der Weg zurück in die bedingungslose Akzeptanz des Moments tausend Tränen weit. In einer Stunde fährt mein Zug zurück, ich sollte etwas essen, mich aufwärmen, den größtmöglichen Umweg zum Bahnhof nehmen.

Die abgestrichene Stelle ist wie ein Punkt im Kopf, der versucht ein Zentrum zu werden. Ich schütte Kaffee drauf und drücke ein Brötchen hinterher. Stehe am Gleis, im Wind, denke über die Therapiestunde nach und finde das Beste, das ich machen konnte, ziemlich gut.
Irgendwann bald werde ich aufschreiben, wie das Autismuscoaching die Traumatherapie unterstützt – wie anders das jetzt alles ist, seit dem neuen Anfang im März. Das will ich unbedingt teilen, niemand soll so viele Jahre so leiden wie ich und denken, so geht Traumatherapie nun mal.

Im Zug gehe ich wieder Straßenverläufe durch. Übe Autofahren, überlege mir Strategien, um präsent und konzentriert zu bleiben. Weiß, dass ich mehr nicht tun kann, weiß, dass mein Bestes für 50 Minuten innerstädtische Reizüberflutung vermutlich einfach (noch) nicht reicht. Will aber doch am Montag die Prüfung versuchen. Will bestehen, will keine drei, vier Wochen bei zwei Grad über null und Gegenwind die fünf Kilometer zum Einkaufen radeln müssen.

Ich gehe schwimmen, bis ich nicht mehr kann, dann lasse ich meine Muskeln weichsprudeln und meine Gedanken vom Dröhnen der Düsen übertönen. Der Partner holt mich ab, wir schauen eine Serie, essen Abendbrot, ich gehe ins Bett und merke um Viertel nach drei, dass ich gar nicht wirklich sterbe, sondern nur jemandes Erfahrung erinnere.
Gut, dass ich schon weiß wie der Ablauf da heraus ist.

Autismus, Trauma, Kommunikation #10

Es ist einer der größten Risikofaktoren für autistische Menschen im Kontakt mit anderen Menschen unbeabsichtigt negative Irritation, unangenehme Gefühle oder falsche Annahmen über die Ziele und Intentionen der jeweiligen Gespräche und anderen Interaktionen auszulösen. Da geht es um unterschiedliche Kommunikationsstile, unterschiedliche Fokussierung, um unterschiedliche Interpretationsgewohnheiten und die soziale Position, aus der heraus man spricht bzw. in der man sich wähnt.
Es geht aber auch darum, wie ein Gegenüber mit negativer Irritation und/oder unangenehmen Gefühlen umgeht. Und auch welche Strategien man entwickelt, um sich der Ziele einer anderen Person zu versichern und wie man die eigenen Grenzen oder auch den eigenen Status in einer Beziehung schützt.

Für mich ist die Wahrnehmung negativer Irritation wichtig, um mich zu schützen. Ich weiß, dass es mir nur selten gelingt, andere Menschen von meinen Intensionen und Zielen einer Interaktion zu überzeugen, sind diese erst einmal von ihrer Wahrnehmung von mir überzeugt.
Was für die meisten neurotypischen Menschen ein kleines, eher unbedeutendes Missverständnis ist, das sie in 5 bis 10 Phraselrunden wieder ausgebügelt haben, ist für mich schnell eine Erfahrung von Gaslighting. Eine Manipulationserfahrung. Eine Negierung meines Anteils an einem Kontakt. Und also alles andere als leicht wieder gutzumachen, denn es geht dann ja nicht nur um die Situation selbst, sondern auch um den Kontakt. Es ist schmerzhaft, sich manipuliert oder negiert zu fühlen und sich gleichzeitig darüber aber nicht sicher sein zu können, denn es könnte ja doch einfach nur ein Missverständnis sein. Das ist auf Dauer ein Problem für jede Beziehung, für jeden Kontakt über längere Zeit. Denn auch ich habe ja das Bedürfnis mir einer gemeinsamen Basis sicher sein zu können.
An der Stelle treffen Autismus und Trauma zusammen.

Menschen, die sich als Kinder nicht auf die gemeinsame Basis mit den Menschen um sie herum verlassen konnten, werden das später nie automatisiert einfach tun. Sie werden immer hinterfragen, immer unsicher sein, sich nie auf ihren Instinkt, ihre Intuition, ihr Bauchgefühl verlassen, wie es jemand mit ihnen meint. Was sie leider auch zu Menschen macht, die ihre Partner_innen oder nahe Familienangehörige eher in Situationen bringen, die diese als emotionales Gaslighting empfinden und immer wieder eine Versicherung über die Motive und Ziele von Interaktion zu fordern, die sie gleichzeitig aber gar nicht glauben und wirklich annehmen können.
Denn es ist ja das eine, sich damit zu schützen, dass man sich auf nichts verlässt und an nichts und niemanden bindet – es ist aber ein menschliches Grundbedürfnis, sich sicher und verbunden zu fühlen und man braucht für diese Art der Sicherheit im Kontakt mit anderen Menschen einfach Vertrauen in den Wahrheitsgehalt dessen, was man selber wahrnimmt und andere Menschen vermitteln.
Wenn sich diese Sicherheit über die Dauer eines Kontaktes nicht einstellt, begibt man sich miteinander schnell mal in eine Wiederholung der traumatisierenden Dynamik und damit in Gefilde, in denen man als traumatisierte Person wirklich allein ist, weil ja alles immer durch diese Angst- und Zweifelfilter durchgeht. Da ist es völlig egal, wie oft wer was wie sehr versichert oder beteuert, macht und tut. Man er_lebt tatsächlich unterschiedliche Realitäten und kann sie nur mit Vertrauen, Sicherheitsgefühl und der Fähigkeit zur Selbstberuhigung miteinander verbinden. Das Drama komplex traumatisierter Menschen ist jedoch, dass Menschen Sicherheitsgefühl, Selbstberuhigung und Vertrauen nur sicher gebunden überhaupt erlernen.

Das bedeutet, dass komplex traumatisierte (also als (kleine) Kinder (von den Eltern oder ähnlich nahen Menschen im direkten Umfeld) traumatisierte) Menschen als Erwachsene mit einem Defizit leben, das sie oft nur mit Mut und der Fähigkeit sich in die Gegenwart zu reorientieren kompensieren (lernen) können. Sie müssen wissen, wann sie sich „von ihren (früh_kindlichen Todes-)Ängsten verrückt machen lassen“ und wann es von ihnen kompensierbar ist, sich mal auf ein Sicherheitsgefühl einzulassen – um vielleicht überhaupt mal zu fühlen, wie das ist. Wie ist das, wenn man mal locker lässt? Mal annimmt, etwas ist, wie es zu sein scheint? Wie fühlt es sich an, wenn meine Erwartungen an einen guten Ausgang einer Situation sich auch wirklich erfüllen? Und wie oft werden meine Erwartungen an einen guten Ausgang von Situationen eigentlich erfüllt?
Außerdem müssen sie verstehen und begreifen, dass sie sich langfristig schaden, wenn sie sich vor Verbindung schützen, weil sie gegen ihre Menschlichkeit handeln. Sie behindern sich selbst, sie verletzen sich selbst, sie arbeiten – krass ausgedrückt – an ihrer Vernichtung. So wie das Trauma sie zu vernichten bedroht hat, weil ein (oder auch alle) Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurde.n.

Immer, wenn mein Mut zum Sicherheitsgefühl (empfinden/annehmen) belohnt wurde, habe ich viel gelernt. Natürlich erst einmal, wie es sich anfühlt sich sicher zu sein und zu bleiben, aber auch, dass es durchaus klargeht. Dass ich richtig einschätzen kann, wann mein Mut zur Empfindung mich nicht gefährdet hat. Was ich gebraucht habe, um diesen Mut aufzubringen. Was geholfen hat und was nicht. Dass ich als erwachsener Mensch mit Ängsten umgehe, die früher ein wichtiger Marker für meine Gefährdung waren, aber heute ein Marker für eine andere Art von Gefährdung, weil ich meine Grundbedürfnisse spüre, ernst nehme und mir, soweit es geht, bedingungslos erfüllen kann, weil ich dafür niemanden mehr zwingend brauche.

Missverständnisse mit anderen Menschen haben früher mein Leben bedroht, und zwar ganz direkt.
Beleidigungen, Phrasen oder Redewendungen wörtlich zu nehmen, Trickfragen nicht erkennen können, den Anteil eines Gespräches, in dem jemand die eigene Überlegenheit und Macht über mich kommuniziert, übergehen, sich in Situationen sicher zu fühlen, weil bereits erlebte Misshandlungsszenarien in Details verändert wurden, die als Erkennungsmerkmal funktionierten … das sind Situationen gewesen, in denen mein autistisch sein zu negativer Irritation führte, den Täter_innen aber auch extrem erleichtert hat, die Gewalt an mir zu legitimieren oder meine Ausbeutung nicht als solche wahrzunehmen.

Heute sind es nicht mehr die großen körperlich bedrohlichen Szenarien, die mir Probleme bereiten, sondern die kleineren sozialen. Denn die bringen mich an emotionale Verletzbarkeiten und Traumata. Und die sind für mich bis heute schwer zu reorientieren, weil sie nie aufgehört haben. Ich kann es schaffen, sie von den Personen zu lösen. Kann mich daran erinnern, dass ich mehrheitlich von neurotypischen Menschen umgeben bin, die einfach immer alles als auf sie persönlich bezogen einordnen, die von mir gesagt bekommen müssen, was ich fühle und möchte (obwohl sie sich seltener die Mühe machen, sich mir zu übersetzen) und dass ich vieles einfach anders wahrnehme.
Das macht aber die Verletzung nicht weg. Und auch nicht das Gefühl, das sich einstellt, wenn das Grundbedürfnis nach sozialer Verbundenheit einfach nicht erfüllt werden kann, weil sich niemand in der direkten sozialen Umgebung ähnlich wie ich ver_bindet.
Aber es ist richtiger als der traumalogische Schluss, dass ich nichts dagegen tun kann. Dass ich deshalb komisch bin oder falsch und ja kein Wunder ist, dass mich niemand mag. Dass ich meine Einsamkeit irgendwie nicht anders verdient hätte und mich in ihr einrichten muss, obwohl ich das gar nicht will. Oder, dass meine Gefühle von Verletzung zu äußern falsch ist, nur weil andere Menschen unverletzt aus dem herausgehen, was sie als Missverständnis interpretieren.

Je mehr ich mich mit diesen Dingen auseinandersetze, desto bewusster wird mir, dass ich weiter sehr viel mehr Mut und vielleicht auch Opfer aufbringen muss, um ein alle Grundbedürfnisse erfülltes Leben zu führen. Das macht mich manchmal traurig, weil das sehr anstrengend ist und häufig auch mit Unverständnis des Umfelds einhergeht. Andererseits macht es mich auch froh und dankbar, weil es mich daran erinnert, dass die Alleinverantwortlichkeit für die Erfüllung meiner Grundbedürfnisse heute kein zu hoher Anspruch mehr an mich ist, wie damals als Kind und Jugendliche_r.

Und, weil ich das Leben heute als etwas fühlen kann, das eben nicht um (die Verhinderung von) Schmerz und Not kreist, sondern um Grundbedürfnisse, die sind, weil sie sind, weil das Leben ist und ist und ist.

Masking

Das Thema „Masking“ begegnet uns bereits länger immer wieder. Insta-Kacheln mit Listen, wie Masking aussieht, was es bedeutet, Tweet-Ketten darüber, was das ist und welche Funktion es hat, das scrolle ich inzwischen einfach weiter, denn ich weiß schon Bescheid. Ja ja, das Versteckspiel unter den Anderen, das Anpassen und Verunauffälligen in einer Welt, in der unerwünscht ist, was anders ist lalila I did that dance with my DIS, my Traumascheiß, my Me, my Life, my Everything

Es ist kein Thema mehr für mich, weil ich das Sackgassengefühl nicht mehr aushalten kann.
Weil ich merke, dass es im Internet Reichweite generiert, man sich mit solchen Aufklärungsposts auch selbst gut generieren kann, aber im analogen Leben außerhalb der Bubble niemand davon redet, darüber nachdenkt, es einfach immer wieder verschlämmt wird vom Wogen des Mainstreams. Alle Leute maskieren. Alle haben deshalb Probleme. Bumms.

Ich kann gut damit leben. Ich bin stolz auf alles, was ich wegmaskiert bekomme. Wenn ich  mich im Griff habe und eine_r von vielen bin. Wenn ich keinen Stress kriege, weil es mich gibt, denn darauf bricht es sich ja immer wieder runter.
Vielleicht ist das ein Fehlschluss. Eingebrannt in einer Kindheit, in der man weder erwartet, noch erhofft, noch erwünscht war, sondern an_genommen wie etwas, zu dem man einfach irgendwie kommt. Wie Einkaufswagenchips. Oder Kugelschreiber mit Werbung drauf.
Aber nein. Ich weiß schon, dass es bei negativen Reaktionen auf mein im Allgemeinen gut wegmaskiertes Geheimnis, meine verborgenen Makel, meine unterdrückte Lästigkeit gar nicht um mich geht. Nichts Persönliches ist und praktisch nie so brutal böse, so schmerzhaft zerstörerisch gemeint ist, wie es in mir wirkt. Ich weiß aber auch, dass alle, die nicht mein Leben hatten, 24/7 Zeter und Mordio schreien würden, würden sie erfahren, was ich erfahre, spüren, was ich spüre. Sie wären empört, persönlich beleidigt, gedemütigt, gekränkt, würden Rache und Vergeltung planen. Oder maskieren und die Luft anhalten bis jemand Nahes kommt, fragt, was los ist und sich in eine Tränenlache verwandeln.

Viele Menschen kennen die Geschichte von den Vielen, die Viele sind, weil ihnen die Maske zur zweiten Haut, zum zweiten, dritten, vierten Ich geworden ist. Viele autistische Menschen haben das gleiche Problem. Vielleicht nicht so, dass sie eine DIS entwickeln, aber schon so, dass sie eine Identitätskonfusion erleben. Nicht mehr sicher wissen, wie sie denn eigentlich sind, wenn sie einfach nur so sind. Nicht angepasst, nicht irgendwas unterdrückend, nicht irgendwas von sich an sich reißend, bis es tief ins Innere gedrängt ist, damit es niemand sieht.
Und auch so, dass sie, genau wie ich als Viele, kaum Erfahrung mit diesem unmaskierten, freien, einfach so passierenden Ich haben. Und folglich natürlich kaum Selbst_Sicherheit, wenig Kompetenz und Erfahrungswissen mit sich selbst haben. Was eine Überforderung sein kann, mindestens aber eine Herausforderung, die Kraft zur Bewältigung erfordert. Vor allem, wenn das überwiegend heimlich, allein_verantwortlich und ohne jede Ermutigung, Unterstützung, Versicherung von außen passieren muss.

Im alltäglichen Allgemeinleben ist mein behindertes Erleben eine Privatsache. Sie ist intim. Ich bin empfindlich und streng mit den Menschen, mit denen ich Aspekte davon teile. Ich erwarte von ihnen, dass ihnen das klar ist. Erwarte eine bestimmte Sprache, ein bestimmtes Mindset. Sonst kann ich sie nicht als meine Vertrauten, meine Nahen, meine Gemögten an mich heranlassen. Sie müssen begreifen, dass sie meine Bubble sind. Mein safer space. Meine Version vom Leben unter den Anderen, neben dem es zu keinem Zeitpunkt, in keinem Aspekt irgendetwas Leichtes, Einfaches, Ungefährliches, Unproblematisches gibt.

Ich kann nichts, wirklich nichts, einfach machen wie sie. Außer existieren. Und wäre dies eine allgemein positiv anerkannte Daseinsform hätte ich sie bereits als die meine angenommen.

Mein maskiertes Leben ist gut. Ich kann viele Dinge er_schaffen, kann viele Kontakte haben, kann viele Fähig- und Fertigkeiten aus_entwickeln, die mir das Leben erleichtern und bereichern. Einzig nicht gegönnt bleibt mir, dass ich vergesse, dass es nicht echt ist. Nicht einfach so, nicht natürlich. Immer wieder gibt es Situationen, in denen ich daran erinnert werde und jedes Mal ist es mir der Untergang einer Welt. Ja, einer Traumwelt, aber einer die alle anderen um mich herum mit mir teilen. Einer, in der ich etwas lebe, was sich alle Menschen wünschen.

Und das ist mein Problem mit Masking. Dass ich es will und nicht hinkriege. Dass ich wirklich nichts dagegen habe und mir kaum eine Anstrengung zu viel dafür ist, aber immer wieder mit Kometengeschwindigkeit auf den Boden der Tatsachen knalle. Wegen Dingen, die so banal sind wie Einkaufswagenchips, Kugelschreiber mit Werbung drauf, ein TÜV-Prüfer, der mich nicht zur Prüfung zulassen will, weil ich behindert bin.

Fundstücke #78

„Kalte Wärme“ will ich es nennen, tatsächlich ist mir aber nur warm unter meinem morgenkalten von Radfahrschweiß feuchtem Körperspeck, den ich eingeschlossen im Bahnhofsklo trocken tupfe und dann in frische, zivile Kleidung stecke.
Wir sind zum Bahnhof geradelt, das sind 18 Kilometer. Es war neblig, feucht, kühl, wundervoll. Dort angekommen sahen wir die Zugausfälle und hörten außer den Durchsagen: nichts. Ok, das stimmt nicht, aber es tat nicht weh und so hört sich das Restnichts eines Bahnhofs ohne ständige An-, Ab- und Durchfahrt für mich an. Schmerzlos.

Ich twittere das und registriere dann den Gedanken, dass das vielleicht zu intim war. Danach, dass diese Einschätzung einer alten Perspektive entspringt, die nie genauso zu meinem Alltag gehörte. Ich werde nicht ständig beobachtet und beurteilt. Niemand teilt mir zu, wo ich anfange, ob und wenn ja bis wohin meine Intimsphäre reicht und wenn ich etwas von mir mit.teile, dann ist das prinzipiell in Ordnung, denn ich bin keine Ressource, die jemandem gehört.
Später frage ich mich, ob es an meinem PMDS liegt, dass mir so scheiß egal ist, wer diesen Gedanken hatte und wieso. Ob ich gerade brutal vermeide und zarte Versuche von Kinderinnens und – Jugendlichen, sich ein Bild vom Heute, meinem Heute, zu machen zerschmettere – oder daran, dass diesem Gedanken, auch diesem fremdvertrauten Kindergefühl der ständigen Beobachtung, Kontrolle, Überwachung, eine Angst zugrunde liegt, auf die ich einfach keinen Bock habe. Like: Wirklich keinen Bock, keinen Nerv, keine Zeit, weil mein Heute tausend andere, viel nützlicher mit Angst befühlbare Dinge enthält.
Und ja, weil ich meine Angst nutzbar haben will. Es ist meine Angst, mein Schmerz, meine Gefühle, meine Gedanken, alles meins und ich kann mir aussuchen, was ich damit anfangen will. Manchmal nur theoretisch, fein, aber meistens auch praktisch.

Ich hatte immer Angst vor meiner Angst, weil sie der Grund für viele Kontrollthemen in meinem Leben ist. Entweder ich musste kontrolliert werden, weil ich Angst hatte oder weil ich „allen“ Angst gemacht habe. Mich als Behältnis, als Quelle der Angst zu kontrollieren war der Umgang, der irgendwie immer möglich war, die Nutzbarkeit meiner Angst eine Idee, die ich erst umsetzen konnte, als ich begriff, dass ich dieses hin und her aus Angst für mein ganzes Leben hielt, statt einen Teil davon. Einen nutzbaren Teil. Einen von mir für mich nutzbaren Teil. 

Ja, da wäre ich nie hingekommen, hätte ich mich meinen Kinderinnens und Jugendlichen immer so gewidmet, wie ich das jetzt mache. Abwehrend, abwertend, ungeduldig, vermeidend. Aber ich frage mich auch, warum ich mich ihnen widmen soll, wenn sie sich auch mir widmen könnten. Besonders, wenn sie schon wissen, dass sie Kinder in einem Erwachsenenleben sind. Dass 2021 ist. Dass heute ein anderes Heute ist. Denn durch dieses Wissen treffen sie eine Entscheidung, wenn sie in ihrem früheren Erleben bleiben. Jedenfalls theoretisch. Dass das viel mit Gewohnheit, Unbewusstsein und einem unfassbar großen Lernprozess zu tun hat, weiß ich auch. Aber.
Wer sich mir in den Kopf und in die Gefühle hängen kann, um mein Überleben zu retten, obwohl es nicht mal im Ansatz gefährdet ist, kann sich mein Leben auch angucken und checken, dass alles anders ist.

So wie S., der sich im Zug neben mich setzt und so etwas wie Gedanken wie ein Echolot an mich richtet, um zu prüfen, ob immer noch alles ist, wie beim letzten Mal: Alles ok.