nur die Zeit suchen

Es war in einem Gespräch. Sie sagte, sie habe sich vergewissert, versichert vielleicht. Ich weiß nicht. Ich höre nur mit einem Ohrteilstück zu.
Sie, die Große, die Mutige, Starke redet und ich bin eine Fussel auf ihrer Haut, die jeden Moment von ihr abfallen kann. Da hat sich jemand ermutigt und vergewisssichert. Mutig und doch schlotternd gleichzeitig.

Ich bin zu ängstlich für so etwas. Obwohl der Wille da ist.
Ein paar Versuche machen die anderen. Sie sprechen manchmal für mich. Manchmal wissen sie das nicht einmal. Manchmal bin ich eine Fussel in ihrem Gehirn und aus ihrem Mund, quellen meine Fasergedanken und langfädigen Ängste.

Und manchmal, da ist Versicherungsgewissheit an sich schon genug, um mich zu erschrecken. Dann muss ich so tun, als suchte ich eigentlich etwas anderes als das, was ich eigentlich suche. So gehe ich durch den Wald und tue so, als suchte ich den Herbst. Niemand sollte je auf die Idee kommen, ich klitzekleine Fussel krabbelte über die Beziehung mit anderen Menschen und taste sie mit meinen Faserfadenenden ab.

Nein, nein. Ich laufe durch den Wald und suche den Herbst.

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Nein, ich sehe keine Muster, die mich immer wieder den gleichen kleinen Tod sterben lassen. Mich vor Angst einfach auslöschen lassen. Ich sehe die Adern der Natur, die der Herbst hervortreten lässt.

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„Ich kann allein sein“, denke ich. Ich werde allein gesehen. Das ist doch, was ich immer wollte. „Nein, ich bin nicht Viele. Die anderen vielleicht, aber ich nicht. Ich bin ich allein. Das Viele ist nicht ich.“. Und dann ist dort ein Anblick, der mich tröstet. Ein bisschen versöhnt, vielleicht.

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Niemand soll denken, ich könnte nicht alles gleichzeitig. Niemand sollte je denken, ich würde irgendetwas brauchen, um etwas zu können. Ich bin nicht abhängig von Sichergewissheit.
So wie diese Blumen, die noch immer blühen und viele Insekten ernähren, obwohl der Herbst schon sichtbar, spürbar, nachweislich erprüfbar ist.

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Ich will vor anderen auch einfach so sein. Würden sie spüren, dass ich über das Band zwischen uns krabble, sie würden vielleicht nach mir ausschlagen, wie nach einer der nun verirrt herumsuchenden Bienenköniginnen.
Diese kommen um zu schlafen, den Winter, die kalte Zeit zu überstehen. Nicht um zu bleiben. Nicht, um die Süßigkeiten wegzufressen, Schmerz zu bereiten oder zu stören. Sie kommen um zu überleben. Vielleicht im nächsten Jahr zu funktionieren und zu erschaffen, was gemocht wird. Honig zum Beispiel oder die Bestäubung vieler wunderbarer Blumen und Bäume.

So eine kleine Fussel, wie ich, stört und das weiß ich. Nicht umsonst gibt es Kleiderbürsten und Fusselrollen.
Das Gesprächstückchen mit dem Menschen, der sich versichert hatte… die Starke hatte es von sich gestreift. Keinen Bezug zu sich hergestellt. Ich aber nahm es mir als Grundstoff für eine Mutwolke. Eine Erfahrung aus fremder Welt, wie es sein kann. Wie es ausgehen kann.

In so einer Mutwolke kann ich mich verstecken. Mich tragen lassen vielleicht.

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Auf jeden Fall würde mich niemand sehen.
Niemand würde wissen, ob ich gerade über unser Band krieche, taste, fühle… zu erspüren versuche, was dort sicher ist und was nicht, ob es echt ist oder alles Lüge.

Oder, ob ich nicht doch einfach nur die Zeit wahrzunehmen versuche.
Das Heute erspüren möchte.

abnorme Achsen

Heute morgen rief meine Therapeutin an, um sich zu vergewissern, dass wir ihr die richtige Klinik genannt hatten, in der wir so lange waren und deren Bericht auch als, ich glaube, fast einziger einen umfassenden Abriss der Biographie und Krankengeschichte enthält.

Ich sagte ja und begann meine Unterlagen noch einmal durchzuschauen, ob ich nicht doch auch eine Kopie davon besaß. Ich weiß, ich hatte mal eine. Aber das Ganze ist jetzt 9 Jahre her. Wer weiß, ob nicht doch die erste Einrichtung, die uns gar nicht schnell genug loswerden konnte und nicht wieder zurückwollte, jede Menge unserer Sachen weggeschmissen hatte.
Oder, vielleicht ist er auch in dieser furchtbaren Klinik, in sie uns abschoben, verschwunden. Oder in der Wohngruppe. Oder ich habe ihn der ersten ambulanten Therapeutin gegeben. Oder in der Klinik abgegeben. Oder der Psychiaterin. Oder… vielleicht brütet er in irgendeinem Ordner vor sich hin, wie der Bericht, den ich dann heute wiederfand.

Er enthielt keinen biographischen Abriss, war nicht an eine behandelnde Instanz gerichtet, sondern an ein Amt.
Es ist eine Aufzählung meiner Defizite.
Eine Sichtbarmachung der „abnormen Achsen“.

Ich rief die Therapeutin an und… naja, eigentlich könnte hier jetzt gut stehen, dass ich darum bettelte dieses Ding nicht, wie einen heißen Stein, bei mir tragen zu müssen, bis wir uns morgen sehen. Eventuell vielleicht auch nicht, denn schon wieder wurde das Haus, in dem die Praxis ist, eingerüstet.
Ich sagte, ich fühlte mich angeditscht. Ich hätte eigentlich auch zugeben können, dass mir der Hulk die Faust in den Bauch gehauen hat.

Nicht, weil ich die Klinik furchtbar fand.
Sondern, weil mir heute zum ersten Mal klar wurde, was da eigentlich steht.

Da steht nicht: „Ach keine Bange- in 10 Jahren wird sie mehr schaffen als heute.“
Da steht: „Diese 17 Jährige ist tiefgreifend gestört, kaputt, dysfunktional auf vielen Ebenen, traumatisiert.“.

Ich weiß noch, dass mir damals das Gefühl von Unzulänglichkeit, vielleicht auch Unnormalität – Abgestoßenennormierung sehr nah war. So nah, dass ich oft diese Art kitschig aufdrängender Pseudogedichte schrieb. So etwas wie:
„Wieso ist mein Normal so unnormal für dich?
Wieso ist dein Biest mein Spiegelbild?“
mit Zeilen über mehrere Seiten.
Klar, ich saß permanent in irgendwelchen Kliniken oder Gruppen, wo man sich mehr über mich erschreckte, wenn ich etwas anderes tat, als die Milliardste Runde Phase 10 zu spielen oder eben eine dieser Pseudoblüten der Literatur zu verfassen.

Aber ich konnte nie genau sagen, was es ausgemacht hat.
Vielleicht das Gruppe sein. Das die Gruppe der Bekloppten, der Irren, der Auf-Ver-Abgestoßenen, der Ungebetenen zu sein… obwohl nein, das war normal. Es war ja eine Gruppe- eine Gruppe stellt die Norm. Eine Andere, als die der Menschen, die uns nicht haben wollten. Dies allein aber hatte mir nicht das Gefühl einer Unzulänglichkeit gegeben.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand in mir abnorme Achsen sah. Oder Defizite.
Oder ich wollte es nicht sehen.

Vermutlich wollte ich es nicht sehen. Wer weiß, ob ich die anderthalb Jahre in der Klinik so hätte nutzen können, wie ich es tat, wenn mir die ganze Zeit über klar gewesen wäre, was für ein Objekt der wissenschaftlich- psychologischen Neugier- was für ein Fall, dessen A-Normalität als Reaktion auf eine krankmachende Realität, irgendwie vage doch völlig normal erscheint und doch im letzten Schlenker der Definitionsmacht gänzlich unnormal benannt wird…,  ich vielleicht doch auch darstellte. Neben all der Normalität, die in mir drin ist und dort auch eben zu sehen, hören und spüren war.

Die Therapeutin sagte, es sei okay den Bericht direkt heute bei ihr vorbeizubringen.
Ich war froh, dass ich mich nicht in Erwachsensein üben und das jetzt aushalten musste, dieses schmerzende Zetteldings so bewusst zu haben und zu wissen, dass es da und bei mir ist. Anklagend vom Turm herunterdonnernd auf mich einbrüllend: Du unzulänglich defizitär- abnormes Ding!

Und dann stieg der Wegegänger zwei Stationen früher als sonst aus. Ich weiß nicht was ihn dazu getrieben hat. Ich verstehe ihn ja meistens nicht. Wir liefen fast den gleichen Weg, wie wir ihn mit der Kliniktherapeutin, die diesen schweren Papierklotz in meinem Rucksack geschrieben hatte, gegangen waren, bevor wir hier her zogen.

Ich versuchte mich zu erinnern, ob es damals auch geregnet hatte. Ich weiß nicht einmal mehr, welche Jahreszeit wir da hatten. Winter? Frühling? Ich weiß nicht einmal mehr wirklich, wie sie aussieht. Ich ertappte mich dabei wie ich dachte: „Ach- in 9 Jahren wird sie sicher einen wundervollen Wust weißer Haare bekommen haben und sitzt nun glücklich und zufrieden…“
Ja, es hätte auch ein Gong oder eines dieser Domgeläute sein können, dass mir den Kopf berührte.

9 Jahre. Und ich empfinde so eine Momentaufnahme von damals in Form eines Berichtes, als aktuell schmerzhaft?!
Suche immer noch den ultimativen Beweis für mein nichtreichen, mein nichtgutgenug, mein puttgehtnichtheilezumachen, mein letztes Quäntchen zur Legitimation meiner Selbstentsorgung?
Es hat sich doch soviel verändert, warum kann ich es nicht sein lassen?

Ist dies allein am Ende meine abnorme Achse? Einfach nicht glauben zu können, dass es nichts Abnormes an mir gibt, was meine Selbstzerstörung legitimiert?
Vielleicht ist es damals schon mit aufgelistet gewesen. Vielleicht gibt es dafür auch keine Bezeichnung außer „Selbsthass“. Vielleicht ist es alles der absolute Bullshit. Vielleicht hat sich in 9 Jahren bei mir eigentlich nichts verändert. Die meisten Dinge, die man dem Leben übergibt und von sich stößt, kommen in einer Maskerade wieder zurück. Oder in einer anderen Form. Manchmal kann man sie so versteckt oder in neuer Form leichter annehmen und verändern, als vorher.

Vielleicht ist der Bericht etwas, dass ich genau so brauchte, wie er war. Ich habe ihn in den Briefkasten meiner Therapeutin geschmissen und mich vom Wegegänger tragen lassen. Ich spüre ihn heute, während er damals einfach nur Löcher in meine Stadtbilder fraß. Ich spürte den Regen, die Kälte, die Schwere der Kleidung. Ich bewegte mich in der Stadt, die wir zuerst mit der Kliniktherapeutin zusammen betreten hatten. Alles das beachtete ich bewusster als sonst. Noch aktiver, vielleicht lauernder, als vor dem Moment, in dem ich den Bericht las.

Während einem Moment, in dem der Regen auf das Gesicht platschte, dachte ich: „Hauptsache da sind Achsen. Eigentlich ist es egal, für wen da was normal oder abnormal ist. Es ist fast 10 Jahre her. Für mich ist es normal, wie es ist.“.

mein Auge und der Schmerz ohne Nerven

Sie räumt.
Wieso räumt sie jetzt in der Wohnung herum, wenn sie eigentlich am Telefon sein sollte, um ÄrztInnen anzurufen? Vermutlich räumt sie, gerade weil sie eigentlich etwas Anderes tun sollte.

22326_web_R_K_B_by_Linda Dahrmann_pixelio.deMir tut das Auge so weh. Das linke. Das kaputte. Das Auge, auf dem ich nie besser als verschwommen sehe.
Die Kugel im Kopfloch, die manchmal auch gar keine Bilder hinein lässt. Dann wird sie zum Pfropfen, der den Strom unterbricht.
Das andere brennt und fühlt sich an, wie mit Sand paniert. Jeden Abend wieder.
Es kommt mir vor, als würde das rechte Auge mehr Weg zurück legen. Mehr arbeiten und deshalb schlimmer verdrecken, als das linke.

Sie hat Angst vor Ärzten.
Sie stellen Fragen. Sie sind Fremde. Sie sind Autoritäten, die sie schrumpfen lassen. Manche fassen sie an. Manche, wie ein Augenarzt zum Beispiel, machen sie blind. Oder, wie die Zahnärztin, taub an einer Stelle.

Sie sitzen in Räumen, die komisch riechen. Voll sind und hektisch, obwohl die Abläufe in Zeitlupe zu passieren scheinen. Sie haben Instrumente mit Namen, die selten genannt werden. Geräte, deren Nutzung genauso unbekannt sind, wie das Ziel selbiger.

Und sie alle mögen die Psyche nicht.
Psyche frisst Zeit, verschleiert und verzerrt. Ist das, was am Ende steht, wenn die Symptombeschreibung nicht zusammenpasst.

Sie räumt die Wohnung auf. Sortiert, heftet, archiviert. Spürt den Schmerz im Auge.
Sie sitzt am Schreibtisch und spielt mit einem Zirkel herum. Denkt an Schaschlikspieße mit Glaskörpern darauf. „Wünsche guten Appetit“ denkt sie, während sie die Spitze des Werkzeuges in den Malblock rammt. Direkt in mein Bild vom schmerzenden Auge hinein.

Mein Auge wurde verletzt. Aber es sieht ganz normal aus. Der Schaden ist darinnen.
Wir waren schon mal beim Augenarzt. Der hatte getropft und meinen Kopf in ein Gestell geklemmt, aus dem ich nicht mehr herausgekommen wäre, wenn ich gewollt hätte. Er schaute meine Augen an und sagte, mein gelbgrüner Ring um die Iris herum sei schön. Er sagte, da sei eine Deformierung. Eine Narbe.
Ich dachte an die Nabelschnur von Kükenembryonen. „Vielleicht sieht es so ähnlich aus.“, dachte ich.

Er sagte, man könnte operieren. Das ginge vielleicht. Aber nur vielleicht.
Er sagte, ich müsse dabei wach sein. Mein Augenlid würde fixiert und… Ich konnte ihm nicht mehr zuhören. Jemand unterbrach ihn. Eine Operation käme nicht in Frage.
Er gab uns Tropfen mit, die das Auge besser im Kopf herumflutschen lassen.

Das hatte ganz gut geholfen. Gegen die Schmerzen, die ich jetzt wieder verspüre, helfen sie aber nicht.

„Es ist nur eine Erinnerung.“, schreibt sie auf mein Bild.
„Das Auge kann nicht weh tun. Keine Nerven.“

Es tut trotzdem weh.
Ich glaube, mein Schmerz braucht keine Nerven, um da zu sein.
Vielleicht braucht er nur meine Erinnerung dafür.

Co-Therapeutin Sieglinde

391474_web_R_K_B_by_Heidi Apel_pixelio.deIch nenne es „posttherapeutisches Fieber“.
Nach jeder Sitzung dauert es ein zwei Stunden und der Körper läuft heiß.

Manchmal steigt es nur auf 38° hoch, manchmal kratzt es aber auch scharf an der 40° Marke.
Dann hilft nur liegen, ausruhen, dem Kopf zugucken, wie er zum heißen Pflaster der Gedanken und Gefühle wird. Tee trinken, NakNak* streicheln, Reize runterdimmen.
Oft wird Fieber mit einem Anzeichen für Überlastung gleichgesetzt, als sei der Prozess eine Reaktion, die sich wie ein Knüppel vor den Füßen ausmacht.

Wir nennen es auch „Sieglinde“. Ein sanfter Sieg. Eine Kuschelkämpferin.
Sie kommt, kämpft, siegt und geht wieder.

Was sie bekämpft, weiß ich nicht genau.
Tatsache ist, dass erlebte Traumatisierungen auch auf das Immunsystem einwirken.
Menschen mit Traumafolgestörungen haben, neben vielen anderen Folgebeschwerden durch die körperliche Reaktion auf traumatische Ereignisse, ein erhöhtes Risiko für Infektionskrankheiten und Probleme mit der Zellreparatur. (Literaturempfehlung: „
Das Gedächtnis des Körpers“ von Joachim Bauer)

Früher habe ich mir die Ruhe nicht zugestanden.
„Schwachfug, wegen so nem Gelaber mach ich doch jetzt nicht auf krank!“, dachte ich mir und ging nach dem Therapiestunden zurück in meinen Alltag. Nahm an Lerngruppen und Veranstaltungen teil, räumte in der Wohnung herum oder unternahm übermäßige Ausflüge mit dem Hund.
So provozierte ich öfter mal ein Wechselchaos und brachte mich in echte Überforderungssituationen.

Heute komme ich von der Therapie und will immer noch nicht so schwach sein, wie sich mein Körper anzufühlen beginnt. Also gehe ich mit NakNak* raus oder zum Schwimmen.
Nach manchen Stunden ist das sogar sehr hilfreich.
Etwa, wenn jemand von seinen Erlebnissen gesprochen hat und die Körperempfindungen von damals auch nach der Stunde noch spürbar sind.
NakNak* würde sich schütteln und ausrappeln, indem sie Windhund spielt und über Wiesen flitzt.
Wir machen mit ihr Wettrennen die Berge hinauf oder schütteln uns im Schwimmbad die Anspannung aus den Muskeln.
Wenn wir zurück nach Hause kommen, fällt es mir leichter zu sagen: „Phu- ich bin ganz schön erledigt. Waren ja auch 30 Bahnen/ 8 Kilometer, die ich gerade hinter mich gebracht habe. Erst mal eine Tasse Tee und ins Bett kuscheln.“.

Letzte Woche ging das nicht so schnell. Wir wollten Rosh Hashana mit unseren Gemögten feiern und dann in die Pause gehen. Es war eine schöne Feier und ich spürte Sieglinde nicht besonders.
Am Freitag aber blühte sie richtig auf und war erst heute fertig.

Offenbar hatte sie noch ein paar Viren gefunden, die auch NakNak* als Veranstaltungsort ihrer Party auserwählt hatten. Für uns beide war es aber auch eine große Woche, sodass ich mir nicht ganz sicher bin, ob es wirklich Viren gab.

Unseren Hund in die Hände anderer Menschen zu geben, wenn wir so weit weg sind, löste einiges an Ängsten aus, die sich irgendwo in mehr oder weniger gut verpackten Kisten austobten, neben den Kisten, in denen es sich Unsicherheiten auf die Reise und ihre Vorbereitungen so richtig gemütlich machten.

Wir haben viele Erwachsenensachen gemacht. Viel Freiheit praktiziert und vor sich hin brütende Konflikte angerührt. Obendrauf kam die erste Therapiestunde nach 4 Wochen Urlaub der Therapeutin und der Feiertag.

Die erste Therapiesitzung nach einem Urlaub ist für uns schwierig.
In 4 Wochen gibt es jede Menge Freiraum für die Therapeutin zu erkennen, dass wir ein hoffnungsloser Fall sind. Oder nervig. Oder übermäßig kräftezehrend. Oder eigentlich doch gar kein Mensch, den man sich freiwillig jede Woche in sein Zimmer holt. Es gibt auch Raum für die Erkenntnis, bisher Schrotttherapie gemacht zu haben.
Das sind jedenfalls die Ergebnisse zu denen wir immer kommen, wenn wir 4 Wochen Therapiepause haben.
Neben der fast noch schlimmsten Erkenntnis, sich ernsthaft an einen anderen Menschen gebunden zu haben, die in der ersten Woche, trotz aller Bemühungen ihn im Kopf sterben zu lassen, ihre Wellen auslöst.

Ich hatte eine Veränderung bemerkt im Vergleich zu früheren Therapeutinnen.
Da gab es das natürlich auch. Ängste, dass sie nicht wieder zurück kommen, uns für immer verlassen, nicht mehr haben wollen. Doch damals kippten diese Ängste dann leichter in ein Funktionieren, das eine stumpfe Ausrichtung auf den Alltag zur Folge hatte. Das dauerte eine Woche und schwupp war klar: „Sie kommt nicht wieder- vergiss sie- du hast hier zu tun- alles ist wie vorher.“ Das ging auch mit einem gewissen Schmerz einher. Einer Art Trauer und einem Hadern.
Aber ich habe nie erlebt, dass wir darüber geweint hätten, wie es diesmal passierte.
Das Kippen in den Funktionsmodus funktionierte nicht mehr rund. Plötzlich saßen da Innens, die auf sie gewartet haben. Auf einmal machten Innens Notizen zum Therapieverlauf und Themen, die zu besprechen sind, wenn der Urlaub vorbei ist.
Statt wie sonst in der dritten Woche, gänzlich an einem Punkt angekommen zu sein, an dem die Verbindung nach innen fast gänzlich gekappt ist und das reine Funktionieren abgespult wird, gab es die Erkenntnis, dass wir jemandem einen Platz nah an uns dran gewähren, der uns auch mit nur einem Satz zu Grunde richten kann.

Zum Glück hatten wir in der letzten Woche dann so eine Agenda umzusetzen. Keine Zeit sich in der Angst darüber zu verlieren, kein Platz für ein wirres Treiben zwischen Früher und Heute. Das Heute knallte in bunten Farben auf uns ein und riss uns mit.

Und dann stand das Mädchen in der Praxis, das uns in der Woche durch alle Erwachsenenchallenges getragen hatte, während wir im Hintergrund festhielten, was sich möglicherweise an die Beine der Therapeutin geklammert oder sonstige Peinlichkeiten produziert hätte.

Schon im Wartezimmer spürte ich die ersten Schritte von Sieglinde, auf ihrem Rundgang zur Zellenbefreiung.
Vielleicht von Ängsten.
Vielleicht von Vergangenheitsgift.

Ich glaube, Sieglinde kommt nur, um uns frei von allem, was uns schaden oder behindern könnte, der Freiheit und allem Neuem widmen zu können.
Wenn sie weg ist, fühle ich mich stark und bereit neue Erkenntnisse anzunehmen und umzusetzen.
Etwas, das die wahren Knüppel vor den Füßen, nämlich alle Ängste und alle alten Überzeugungen, nie tun.

Ich glaube Sieglinde ist unsere körpereigene Co- Therapeutin.
Auf sie müssen wir uns genauso einlassen, zu einer Verbündeten machen, wie unsere Therapeutin.

von „Sybil“ und antiquierten Zweifeln

Wenn ich solche Tage habe wie vorgestern, wachsen nicht nur Krätzpickel auf meinen Gedanken. Auch die Zweifel an mir und allem was mich umgibt wachsen.

Irgendwann klopfen auch die Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose- an der Idee der strukturellen Dissoziation als Folge schwerer Traumatisierungen- an. Ich spüre die BÄÄÄMs und die MittelBÄÄÄMs mehr, die Wünsche, dass alles ein riesiger Irrtum ist. Meine Geschichte auf irrer Einschätzung eines von Natur auf falsch funktionierenden Gehirns beruht, auf die einige meiner Therapeutinnen hereingefallen sind, weil sie mir geglaubt haben. Glauben mussten, weil sie in ihrer Freizeit nicht Agatha Christie spielen dürfen/ können/ wollen.

Vorgestern habe ich dann doch mal wieder „False Memory“ gegoogelt. Foren angeguckt, in denen Menschen davon berichten fälschlich der (sexuellen) Misshandlung angeklagt worden und einer (feministischen) Großverschwörung zum Opfer gefallen zu sein.
Irgendwann landete ich bei folgendem Video:

Ich habe letztes Jahr die Neuverfilmung von „Sybil“ gesehen und auch hier kommentiert.
Ich habe sogar das Buch „Sybil“ im Bücherregal stehen und gelesen. Damals hatte ich es als historischen Beleg für die Wahrnehmung der Frau* als „psychisch krank“ gelesen. Nicht bzw. nur am Rande, als ein Buch, in dem es um „eine multiple Persönlichkeit“ geht.

Mir war beim Lesen von Anfang an klar, dass die Traumaforschung und vor allem das Verständnis der menschlichen Psyche zur Zeit der Buchveröffentlichung und auch der psychiatrischen Behandlung „Sybils“ damals eine andere war, als heute.

Ich möchte im Folgenden das Video kommentieren. Dabei verwende ich das Wort „Frau“ und meine das soziale Geschlecht, der als biologisch weiblich gelabelten Menschen. Biologisch männliche Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur schließe ich hier vermutlich leider aus, wie es bis heute oft passiert, weil der in Prävalenzstudien erfasste Anteil der biologisch männlich Menschen mit DIS, sehr gering ist (auf einen männlichen Menschen kommen, nach meiner letzten Information, 7 weibliche Menschen mit dieser Diagnose).
Dies bitte ich zu entschuldigen und nicht als Versuch zu sehen, biologisch männliche Menschen mit DIS unsichtbar zu machen. Inoffizielle Zahlen gehen von einem höherem Anteil aus, sind aber nicht in Zahlen belegbar, weil sich männliche Menschen eher weniger oft in Psychotherapie begeben als weibliche- ein Umstand auf den ich später noch zu sprechen komme.

Debbie Nathan ist Journalistin- keine Psychiaterin oder Psychotherapeutin. Moderne Traumaforschung liegt ihr offenbar fern, offensichtlich genauso fern, wie die Reflektion ihrer eigenen Sexismen (was meint ein Bewusstsein über die frauen*verachtenden Wurzeln ihrer Überzeugungen).

Was ihr in den ersten Minuten gut gelingt, ist auf die Dramaturgie des Films und auch des Buchs hinzuweisen. Das ist etwas, das mir selbst auch aufgefallen war. Die „Story Sybil“ ist sehr einfach gestrickt: schlimme Geschichte macht Frau krank, sie erinnert sich erst nicht, dann doch und schwupp ist sie geheilt. So wird verkauft- aber keine Lebensrealität transportiert.

Die Rednerin unterlässt den Schluss zu einen fundamentalen Faktor, der ebenfalls zu Interesse an der „Story“ führt: eigene Identifikation bzw. Betroffenheit. So weißt sie darauf hin, dass der Film von einem Fünftel der amerikanischen Bevölkerung geschaut wurde, als wolle sie von einer Massenimpfung und nicht einem Informations- oder Kontaktbedürfnis mit dem Thema „Weiblichkeit/ Frausein und Gewalt“ sprechen. Einem Thema, dass in den 70 er Jahren „auf dem Tisch“ war- vornehmlich in feministisch orientierten Kreisen bzw. durch selbige (mit-) verursacht, in der breiteren Öffentlichkeit.

Dann kommt sie auf Shirley Mason zu sprechen, die Person, die später zu „Sybil“ wurde.
Sie sagt, sie hätte keine Hinweise darauf gefunden, dass Shirley als Kind die Symptomatik einer DIS hatte.
In Hinblick auf die DIS als funktionell sichernden Mechanismus erscheint das logisch. In meinen Büchern zum Thema „Trauma und Dissoziation“ wird die „Störung“ erst dann zur „Störung“, wenn die Struktur der Dissoziation dysfunktional ist. Das heißt, dass, bis zu dem Zeitpunkt, in dem das lebensstrukturgebundene Dissoziieren als notwendig eingeordnet wird, auch keine Störung durch selbige wahrgenommen werden. Weder von den Menschen selbst, noch von außen.
Da sich dieses Dissoziationsmuster gerade in der frühen Kindheit entwickelt bzw. genutzt wird, gehe ich persönlich also davon aus, dass in Shirleys Fall, sollte sie multipel gewesen sein, ergo auch keine Symptomatik wahrnehmbar gewesen sein kann.

Frau Nathan gibt auch an, dass sie keine Belege dafür gefunden habe, dass die Mutter Shirleys jemals schizophren oder psychotisch gewesen sei. Etwas, dass mich in Anbetracht der (brutalen) psychiatrischen Versorgung und der Stigmatisierung von psychischer Krankheit, gerade bei Frauen, zu der Zeit, ebenfalls nicht groß wundert.
Ebenso spricht auch die religiöse Lebensweise der Familie nicht dafür, dass überhaupt eine Offenheit für die Notwendigkeit einer professionellen Behandlung durch die Medizin vorlag. Sie waren Adventisten. Eine sektuöse Glaubensgemeinschaft, deren Lebensweise auf ein jederzeit eintretendes Armageddon ausgerichtet ist. Wie nah mag da der Schluss: „Nun ja- sie ist verrückt, aber G’tt hat sie so erschaffen und so wird er sie auch mitnehmen- wozu noch zum Arzt und verändern?“ liegen?

Sehr wohl spricht die abgeschlossene Lebensweise und auch die geistige Doktrin, die individuelle Neigungen im Bereich des Schöpferischen unterdrückt und ablehnt, für einen Nährboden von Gewalt an der Psyche an Menschen. Gerade bei Menschen, die so der Kunst zugeneigt sind wie Shirley. Frau Nathan bezeichnet ihre Lage mit „She was a troubled child“ und erhebt sich so über das subjektive Erleben des damaligen Kindes.

Dann kommt sie auf einen umfassenden Themenbereich: Hysterie
Beziehungsweise: die hysterische Frau, die „nur mal ordentlich durchgevögelt werden muss, damit sie wieder klar im Kopf ist“- Na? Welche (feministische) Bloggerin fühlt sich gerade an diverse Kommentare und Hassmails erinnert?
Sie beschreibt in dem Film einigermaßen vollständig, wie die Ideen und auch die psychiatrische Begegnung mit dem Cluster ausgesehen haben. Lässt aber hier einen wichtigen Faktor aus: die Ursachen für das, was früher als Hysterie im Kontext der Psychiatrie und Krankheitsverständnis bezeichnet wurde.

So kommt sie darauf zu sprechen, dass „Hysterikerinnen“ unter Verdacht standen immer wieder zu tun, was (vermeintlich) von ihnen erwartet wurde und von einer erhöhten Empfänglichkeit für Suggestionen gesprochen wurde. Heute würde man von „Anpassung/Unterwerfung vor einer (subjektiv empfundenen) Dominanz sprechen.

Dann beginnt sie eine thematische Schleife und beschreibt die Psychiaterin C. Wilbur (Shirleys Behandlerin) als eine Frau auf der Suche nach dem nächsten großen Ding, das ihr als Frau in einer von Männern dominierten Welt, einen Karriereschub im ersten und einen Egostreichler im Weiteren zusichert.

Das mag sein und kommt bis heute immer wieder vor, denn a) sind Frauen bis heute seltener in Führungspositionen als Männer und haben es schwerer, zum Beispiel in ihrer (Forschungs-) Arbeit, anerkannt zu werden (auch und vor allem, wenn es um Themenbereiche geht, die eine Relevanz für Frauen haben) und b) weil MedizinerInnen und (Psycho-) TherapeutInnen nun einmal Menschen sind. Menschen mit Ego, das ab und an hungrig ist.

[Es regt mich übrigens auf, mit was für einer Attitüde die Sprecherin das Video darbietet, auf dem zwei Mädchen offenbar dabei gefilmt werden, wie sie sich ihrem Arzt unterwerfen. Ganz offensichtlich hat sie kein bis wenig Gespür dafür, dass es sich um eine Form von dokumentierter Gewaltanwendung handelt.]

In Minute 14 erwähnt sie, dass Shirley Mason von Dr. Wilbur ein Buch über Dissoziation empfohlen bekommen habe, was diese als Anleitung zum „Multipel spielen“ benutzt haben soll. Hier legt sie also den Schluss nahe, Shirley habe zu diesem Zeitpunkt bereits die implizierte Anforderung ihrer späteren Behandlerin vorgelegt bekommen, die sie später dann „vorführt“.

Ich habe mal durch die Bücher, die ich hier von anderen Menschen mit DIS stehen habe, geblättert und überlegt, ob man sich daraus eine Anleitung zum „multipel spielen“ basteln kann.
Fazit: Kann man durchaus. Einer echten Diagnostik würde dies aber nicht standhalten können, denke ich. Schon gar nicht über längeren Zeitraum.

In der Zeit zu der Dr. Wilbur und Shirley Mason aufeinander trafen, gab es aber noch nicht den gleichen Forschungsstand und entsprechend ausgelegte Diagnostikinstrumente, wie heute.
Es kann also durchaus sein, dass die Auskleidung der Grundproblematik Shirleys in Form von „multipel spielen“ um einer Behandlerin zu gefallen, passiert ist.

Debbie Nathan selbst schmückt den damaligen Behandlungsstandart und Wissensstand der Nachkriegszeit aus, indem sie auf die gerade frisch populär gewordene Psychoanalyse und Drogen als Allheilmittel eingeht.
„Psyche“ war „in“- die Ursache für zum Beispiel „Hysterie“, geschweige denn die wahre Verbindung zu posttraumatisch bedingter Symptomatik (in Form von somatoformer Dissoziation, die damals- wie von der Rednerin selbst noch immer- als „hysterische Lähmung/Blindheit/Taubheit/Anfallsleiden“ bezeichnet wurden), hingegen nicht.

Posttraumatischer Stress von Soldaten nach dem zweiten Weltkrieg, war nicht etwa ein Problem, weil eine ganze Generation von Männern plötzlich pflegebedürftig, seelisch und körperlich verkrüppelt war, sondern, weil sie sich plötzlich „weibisch“/ „weiblich hysterisch“ verhielten!
Das ist bis heute ein Problem auf das männliche Menschen, meiner Meinung nach, zu Recht sagen können, dass auch sie unter Sexismus leiden.
Seelische Zustände, die auf das weibliche Geschlecht limitiert sind, dürfen Männern nicht passieren, weil sie sonst „keine echten Männer“ mehr und ergo genauso schwach/wertlos wie Frauen sind. Weil dies mit einem massiven Verlust von Macht/ Einfluss einher geht, haben sie in ihrer Rolle zu bleiben und nehmen dadurch Schaden. Was aber bis heute nicht dazu geführt hat Weiblichkeit oder mit Weiblichkeit Assoziiertes vielleicht mal weniger zu entwerten.

Dies und auch die Existenz dieses Sexismus in den Köpfen vieler Menschen in psychiatrisch/medizinischen Bereichen, sorgt dafür, dass es Männern weniger leicht fällt, sich in, zum Beispiel, psychotherapeutische Hände zu begeben und dort auch korrekt diagnostiziert zu werden. Die Schwelle zur Hilfe nach traumatischen Erlebnissen ist für männliche Menschen enorm hoch- nicht aber ausschließlich, weil es zu wenig Hilfen gibt, sondern weil diese Hilfe auf der gesellschaftlichen Ebene auf (vornehmlich weibliche) Schwäche/ Irre/ „Krankheit“ limitiert ist.

Die Ursache für Symptome außerhalb der PatientInnen zu suchen, ist erst seit wenigen Jahren „im Kommen“ nachdem sich die Rollenbilder der Männer und Frauen (im Schneckentempo zwar) verändern und zwar vollkommener, als zu der Zeit in der Shirley Mason und Dr. Wilbur miteinander arbeiteten.
In dieser Hinsicht finde ich den Ausflug in die Werbung der damaligen Alltagsdrogen („Mothers little helpers“), den die Sprecherin des Vortrages macht, ganz sinnvoll.

Debbie Nathan beschreibt die (aus heutiger Sicht) katastrophale psychotherapeutische Behandlung von Shirley. Sie bekam Drogen, Elektroshocks und wurde auch hypnotisiert, um ihren Problemen auf den Grund zu gehen. Alles Dinge, die heute in der Form nicht mehr angewendet werden. Was Debbie Nathan interessanterweise in ihrem Vortrag zu erwähnen unterlässt.
Hypnotherapeutische Verfahren gibt es, werden allerdings nicht zur Exploration erlebter Traumata angewendet. Ich habe nicht viel dazu gefunden, doch das, was ich fand, waren Beispiele zur Etablierung von Selbstfürsorge oder Selbststärkung nach traumatischen Erlebnissen.
Psychopharmaka (Drogen) werden ebenfalls noch heute eingesetzt, doch gleichsam nicht um „an ein Trauma heranzukommen“, sondern um den Patienten die Symptome zu erleichtern oder zu nehmen, die sich in der Folge von Traumatisierungen entwickelt haben können. Etwa Depressionen, Angststörungen, Schlafprobleme, Stimmungsschwankungen, allgemeine Unruhe, sexuelle Dysfunktionen.
Elektroschocks sind ebenfalls noch nicht tot, finden in der Behandlung von Traumafolgestörungen hingegen keinen Platz mehr, sondern in der Behandlung von bipolaren Erkrankungen. Der Einsatz dessen wird scharf kritisiert. Zu Recht wie ich finde.

Die Rednerin geht im gesamten Vortrag übrigens nicht auf die genaue Diagnosebeschreibung der DIS ein. So zum Beispiel nicht auf eine der wichtigsten Voraussetzungen, die vorschreibt, dass eine psychophysische Erkrankung (wie zum Beispiel der Tumor im Gehirn) oder der Status nach Drogenkonsum ausgeschlossen sein muss.
Damit verleitet Frau Nathan die Zuhörerschaft zu glauben, dass dieses Vorgehen noch heute so ist und damit jeder Diagnose von DIS zu misstrauen ist.

Dann geht sie auf das Buch bzw. dessen Umstände ein.
Sie unterstreicht, die Fiktionalität, die benutzt wurde, um einen Bestseller zu kreieren, zwar mit der Erwähnung, welche positiven Auswirkungen dies auf die Behandlerin und die Autorin hatte, doch ohne explizit zu erwähnen, was für einen Verlust an Lebensqualität und Verstärkung der Abhängigkeit das Leben nach der Veröffentlichung für die Patientin Shirley Mason entstand.
Diese war durch die Behandlung zwischenzeitlich drogensüchtig und auch emotional abhängig von ihrer Therapeutin geworden und konnte sich offenbar erst mit ihrem Tod befreien, da sie sogar zusammengezogen sind.

Debbie Nathan gibt an, dass sie sich gefragt hat, warum diese Geschichte geglaubt wurde, als sie das Buch las und beginnt davon erzählen, was sich für die Frauen in den 70 er Jahren in Bezug auf ihre Lebensrealität verändert hätte. Sie könnten die Arbeit von Männern machen, Geburtenkontrolle praktizieren, Sex haben wann und mit wem sie wollten…
Sämtliche Abstriche, etwa das, was wir heute als „gläserne Decke zu leitenden Positionen“ bezeichnen und auch die Abwertung keine „richtige Frau“ zu sein in diesem Kontext, oder die Abwertung des Berufsstandes, der in der Folge von Frauen bekleidet wurde; die Abhängigkeit von der Erlaubnis des Mannes zur Geburtenkontrolle und wiederum die Abwertung der Frau durch selbige; genauso wie die verstärkte Etablierung der Frau, die nicht nicht mehr nur „immer Sex bekommen muss (um nicht hysterisch zu sein)“ sondern auch noch immer will (sonst würde sie ja nicht verhüten), was sich wiederum zur verstärkten Legitimierung von sexualisierter Gewalt ihnen gegenüber entwickelte, erwähnt Debbie Nathan mit keinem Wort.

Sie geht auch nicht darauf ein, was es für Betroffene von (sexualisierter) Gewalt mit ähnlicher Symptomatik bedeuten kann, wenn sie von einer Geschichte, die mit einer Heilung- einem Ende ihres Leidens handelt. Wenn da eine Geschichte auftaucht, in der sie sich in Teilen oder Gänze wiederfinden. Was für Hoffnungen entstehen und natürlich auch Kommunikationsbedürfnis plötzlich greifbar zu befriedigen erscheint.

Deshalb nur habe ich zum Beispiel Bücher von anderen Menschen mit DIS im Bücherregal stehen.
Die Botschaft wenigstens damit nicht allein zu sein. Eine (vielleicht im Hinterkopf dämmernde) Ursache aufgezeigt zu bekommen, die auch angenommen und nicht unter den Teppich gekehrt wird. Das Gefühl von Hoffnung auf ein Morgen, ohne diese Belastungen. Das ist unglaublich mächtig und anziehend, wenn man selbst vor sich steht und nichts als wirre, verängstigende Symptome an sich sieht und stets und ständig die Kontrolle über sich selbst verliert.
Sie erwähnt nicht, dass das Glauben an diese Geschichte der gleiche Mechanismus ist, der Menschen zu PsychiaterInnen oder PsychotherapeutInnen gehen lässt.
Da geht es um die Hoffnung auf ein Ende von dieser Qual.

Debbie Nathan führt aus, wie die Diagnose in den Achtzigern zur Modediagnose wurde und welche Blüten diese Massenbehandlung mit Drogen und Hypnose auf der Suche nach dem Trauma trieb.
Unter anderem verortet sie hier die, wie sie es nennt „satanic abuse panic“ in der Entstehung. Sie deklamiert sämtliche Äußerungen der PatientInnen als unter Drogen zusammenfantasiert- wiederum ohne zu erwähnen, wie die Traumatherapie von Menschen ganz allgemein heute aussieht.

Die Journalistin Nathan hängt sich in der Fragerunde am Ende des Vortrag so weit aus dem Fenster, dass es mir persönlich fast eine Freude ist, sie in mittels meines Wissens um die Strukturen, die zum DSM (in Deutschland des ICD) bzw. den Diagnosen darin führen, heraus fallen zu lassen.

So gibt sie an, dass im Diagnosekommitee der DIS, noch immer Menschen sitzen, die früher diese Diagnose „gebastelt“ und nachwievor die gleiche Überzeugung hätten, wie damals. Sie gibt an, keine Ahnung zu haben, wieso die Diagnose noch nicht herausgenommen wurde.
Mit keiner Silbe erwähnt sie die durchaus vorgenommenen Änderungen, den Einfluss der Traumaforschung, die heutigen Behandlungsstandarts und ebenfalls nicht das grundlegende Vorhandensein des Symptomclusters, das mit komplexer Traumatisierung einher geht.
Die Symptome sind ja da- auch wenn die Menschen keine Erinnerungen von sich geben. Dass es bei der Auflistung im DSM aber genau darum handelt- die Aufzeichnung von vorhandenen Mustern, die auch „Kopfsalat“ oder „Schweinebraten“ genannt werden könnten und nicht um eine Darstellung dessen, was „wahr“ im Sinne von Patienten gebundenen Fakten, ist, lässt sie unerwähnt.

Im Verlauf macht sie für mich sogar noch einen Salto aus dem Fenster, in dem sie die Aussage einer Feministin als Sprungbrett benutzt und „dem Feminismus“ die „Schuld“ an der Entstehung der Diagnose gibt.
Wenn ich sowas höre, habe ich immer so ein Bild im Kopf von einem wabbligen grünen Flubber, das ein F auf der Brust hat, und von Tür zu Tür geht und fühle mich an die Inquisition erinnert: „Die Hexe kam und hat mir den Kopf verwirrt- deshalb schlachtete ich mein einziges Hausschwein und ernährte meine Familie! Brennen soll sie und als Entschädigung will ich ihre 20 Hausschweine!“.

Sie postuliert einen Schaden durch die Diagnose an der Gesamtgesellschaft, der de facto zu keinem Zeitpunkt eingetreten ist. Immer wieder impliziert sie einen (sekundären) Krankheitsgewinn durch die Diagnose und die damit einhergehende Aufmerksamkeit.
Sie sagt, ihr wäre aufgefallen, dass PatientInnen zur „Prinzessin“ würden, sobald die Diagnose der DIS erhalten hätten. Nach bis zu 7 Jahren in denen diese Menschen von Arzt zu Arzt und von Klinik zu Klinik gewandert seien, sei dieses Gefühl doch wunderbar.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Nein.
Es stimmt, dass man mit anderen Diagnosen tatsächlich wie Müll behandelt wird. Meine eigene Behandlung unter der Diagnose „Schizophrenie“ und „Psychose“, war die Hölle. Aber nicht nur, weil mir gesagt wurde, ich würde für immer krank sein, oder weil die Medikamente zum Teil einfach nur furchtbare Wirkungen hatten, sondern, weil sie auf keiner Ebene heilsam wirkte!
Ich hätte das alles auf mich genommen, wenn es mir die Symptome genommen hätte. Würde auch heute liebend gern mit einer Diagnose herumlaufen, die mit Medikamenten eingestellt werden könnte. Nichts lieber als das- ehrlich! Warum wohl sonst, hätte ich mir solche Inhalte, wie diesen Film reingezogen, wenn nicht auf der Suche nach tragenden Gegenargumenten für meine Diagnose und alles, was sie impliziert?

Ich wäre lieber die Durchgeknallte die Medis schluckt, als ein Opfer von Gewalt.
Es gibt keinen- absolut keinen echten Gewinn durch das Labeling als Opfer. Schon gar nicht als Frau.

Ich war 16/17 als die Diagnose zum ersten Mal gestellt wurde und die Aufmerksamkeit, die ich damals bekam, fand ich furchtbar. Das war so eine Mischung aus Versuchskaninchen und Neuland. Sowohl für meine damalige Therapeutin als auch das Pflegeteam und die Klinik.
Ich musste mich nach 2 Jahren Kraut und Rübendiagnostik, ständige Lebensumbrüche und Entwurzelung ganz auf das verlassen, was mir meine Therapeutin sagte und hatte keine Möglichkeiten das mit irgendetwas abzugleichen, da ich geschlossen in einer Klinik untergebracht war und kein soziales Netz außerhalb hatte, das sich ernsthaft und global für mich interessierte.

Ich wollte einfach nur normal sein. Nicht zugeben, dass ich Amnesien hatte, fühlte mich immer wieder tief ertappt, wenn irgendeine Wahrnehmung, die ich zu verstecken versuchte benannt wurde. Versuchte immer wieder mich anzupassen und scheiterte mit Pauken und Trompeten, weil immer wieder etwas aufgedeckt wurde. Ich hatte vor wohlwollender Begegnung meiner Person genauso viel Angst, wie nicht wohlwollender. Kein toller Zustand, wie sich das Frau Nathan vorstellt.

Und mal von mir abgesehen- ich will gar nicht so genau wissen, was für Kämpfe meine damalige Therapeutin führen musste. Denn was in der Gesamtgesellschaft definitiv verankert ist, ist das Bild, das Debbie Nathan von Dr. Wilbur gezeichnet hat. Das Bild der gefrusteten machtgierigen Frau, die über Grenzen geht, um in einen exotischen Fall zu brillieren und anerkannt zu werden.
Das kommt mir noch viel schlimmer vor, als meine Schwierigkeiten zu der Zeit.
Da ist jemand der jemandem helfen will und ihm begegnet, vor einem Haufen Frage- und Ausrufezeichen steht, eine eventuell passende Diagnose findet und dann links und rechts abgewatscht wird, weil sie überhaupt in Betracht gezogen wird.

Obendrauf kommt noch das Mamiding, dass gerade weiblichen psychotherapeutisch arbeitenden Menschen ebenfalls immer wieder unterstellt wird. So wie es auch die Rednerin tut, in dem sie Dr. Wilbur unterstellt eine Mutter für Shirley sein zu wollen, weil ihre eigene eine vermeintlich brutale Person war.
Dass dies eine Sichtweise aus dem frühen 19 Jahrhundert ist, führt sie selbst aus- reflektiert dies aber nicht an sich selbst.
Es gibt solche TherapeutInnen, die diese Übertragung haben. Klar, auch das eine Erfahrung, die ich mehrmals gemacht habe (und genauso furchtbar fand, wie offene Missachtung). Doch heute wird eine eigene Psychotherapie von PsychotherapeutInnen verlangt, genauso wie regelmäßige Supervision der Menschen als Standard für gute Psychotherapiearbeit gilt, in der solche Übertragungen geklärt und wenn möglich aufgelöst werden. (Etwas, dass ich allen Menschen, die sich egal aus welchem Grund zu einer Psychotherapie entscheiden, nur raten kann: Fragen, ob regelmäßig Supervision in Anspruch genommen wird- ist das nicht der Fall: Haken hinter und jemand anderen suchen. Es gibt wenig, das giftiger ist, als unreflektierte oder stetig zur Reflektion aufgeforderte TherapeutInnen).

Abschließend ein paar Gedanken zu dem Vortrag.
Debbie Nathan hielt ihn im Jahre 2012. 20 Jahre nach dem Tod von Dr. Wilbur und 14 Jahre nach dem Tod von Shirley Mason und 24 Jahre nach dem Tod von Flora Schreiber. Schon ziemlich clever, drei toten (weiblichen) Menschen eine Verschwörung der Massen zu unterstellen. Widerrede oder Aufklärung ist nicht zu befürchten.
Noch einmal: der Vortrag war im Jahre 2012, einer Zeit in der die Begriffe „hysterische Lähmung/Blindheit/Taubheit“ abgelöst sind von den korrekteren Begriffen der Konversionsstörung oder auch somatoformen Dissoziation. Die „Hysterie“ als solche ist heute noch als „histrionische Persönlichkeitsstörung“ zu finden, die sich laut der Wikipedia auf „auffälliges“ bzw. „wirkungsorientiertes Verhalten“ bezieht- nicht auf psychophysische Statusveränderung oder Traumafolgen assoziierte Störungen.

Ich persönlich denke, dass das Buch „Sybil“, die Story, die ausgeschmückt wurde, um finanziellen und fachlich bezogene Positivreputation zu generieren, nicht als Dokumentation einer DIS und ihrer Behandlung herhalten kann. Damals wie heute kann sie das nicht.

Wofür sie aber nutzbar sein kann ist, darzustellen, wie moderne Psychotherapie und Traumatherapie im Speziellen heute nicht mehr praktiziert wird und praktiziert werden darf.
Gleichsam bietet alles, was mit dem Buch, dem Film, den Menschen Dr. Wilbur, Shirley Mason und auch Flora Schreiber heute, wie damals zu tun hat, ein Beispiel für die Geschichte der Frauen in der Gesellschaft und der Herrschaftsverhältnisse, die bis heute fundamental sind, als auch für die Geschichte der Psychiatrie bzw. der psychotherapeutischen Medizin.

Ich bin ehrlich gesagt immer wieder enttäuscht, wenn ich mich auf die Suche nach neuem aktuellen Zweifelfutter an der Diagnose begebe und dann nichts weiter als Perpetuierung von Frauenverachtung finde. Das Wiederholen von inzwischen mehrfach und streng wissenschaftlich widerlegten Aussagen vorfinde und dies immer wieder mit den gleichen Beispielen „bewiesen“ wird.

Offensichtlich hat sich die Traumaforschung aller Kritik gestellt und sich weiterentwickelt. Die (antifeministische) Liga der „False Memory“- Bewegung und der ZweiflerInnen an der Wahrheit von Gewalterlebnissen anderer Menschen im engsten sozialen Umfeld hingegen seit Mitte der 80 er Jahre nicht.

Schade.
Wird mir nicht mal die Selbstablehnung befriedigend und rund erleichtert, sondern nur auf dem ewigen Makel herumgeritten, eine Frau zu sein.
Same procedere as in every times. Sorry- aber das kann ich inzwischen alleine.

Und wie es männlichen Menschen mit DIS geht, wenn sie damit konfrontiert sind… die haben so gar keine Chance sich in dieser ZweiflerInnenkritik wiederzufinden, denn immer wird von Frauen als Opfern von Frauen und Männern als Menschen die eine DIS nur vorspielen, um Straftaten nicht verantworten zu müssen, gesprochen.
Immer wieder werden sie in die Rolle der im Kern krass hart brutalen Menschen gedrückt, die weder Schmerz noch Reue kennen.

Trauma ist ein Arschloch, das sich im Gegensatz zu unseren Herrschaftsverhältnissen, keinen Deut um das Geschlecht der Menschen kümmert, über die es hereinbricht. Wohl aber bricht am liebsten über jene, die in Machtverhältnissen weiter unten stehen, als andere herein.
Das Diskriminierungslotto, in dem Gewalt verlost wird, erwählt mit Vorliebe die auf irgendeiner Achse Unterdrückten. Und das sind mit Studien belegbar bis heute vornehmlich Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Arme, und als einer Rasse angehörig gelabelte Menschen.
Und jede Gewalt gebiert in irgendeiner Form ein Trauma, das mehr oder weniger schwerwiegende und gesellschaftlich schädigende Auswirkungen hat.

Wenn man also von einer gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkung von „Sybil“ sprechen will, so sollte man anfangen über Gewalt und seine Dynamik zu sprechen und aufhören sich hinter antiquierter Frauenverachtung zu verstecken, die selbige negiert.

Hirnhass, Krätzepickel und Frühstück

„Ich muss Termine absagen und hab am Mittwoch einen verpasst. Und jetzt übe ich mich in Hirnhass.“. Ich sitze am Fenster und gucke jemand anderem zu, wie er meine Lunge verpestet, während wir telefonieren.

„Warum musst du die Termine absagen? Ist was passiert am Mittwoch?“.
Ich bin unschlüssig. Was ist passiert? Ist das wichtig? Bin ich wütend auf mich und mein Kopfinneres, weil ich die Termine absagen muss, oder, weil ich nicht verhindern konnte, dass passierte, was halt war?

Ich erzähle vom verpassten Jobcentertermin, dem Fehlen bei einer Feier, zu der wir eingeladen wurden, und der Absage zur verabredeten Dokumentenübergabe. Will nicht zugeben, dass ich mich matschbrösligwund und eklig fühle und ganz eigentlich nur in meine Höhle zurück will, um die Welt auszuschließen.

Sie sagt, es sei okay, solche Termine abzusagen. „Und wegen dem Jobcenter braucht du, glaub ich, auch keine Angst haben. Ihr wärt nicht da, wenn ihr nie Panikattacken aus heiterem Himmel hättet.“.

161621_web_R_K_B_by_Joujou_pixelio.deIch weiß das alles. Weiß es und könnte trotzdem ausrastplatzschreien. Wieso hab ich mich nie im Griff, wieso hört mein Kopf nicht einfach auf mit diesem Mist, wieso sind 14 Jahre um und ich eigentlich nur in einer aufgehübschten Version dessen, was ich damals schon für Schwierigkeiten hatte?!

„K.? Bist du noch dran oder schluckst du grad deinen Hirnselbsthass runter?“.
-„Hirnhass… mee.“, ich atme durch und verbinde die Pfützen, die der Regen auf meiner Fensterbank hinterlassen hat. „Ich will, eine andere Normalität leben.“.

Sie holt ihre Sozialcheerleaderpompons raus und fängt an damit herumzuwedeln. Irgendwo innen spüre ich eine Dankbarkeit darüber, während mir Krätzepickel auf den Gedanken wachsen.
Ich hatte mich auf alle Termine gefreut. War neugierig, was sich beim Jobcenter für uns ergeben könnte. Immerhin stand in dem Brief, dass wir uns über meine „berufliche Zukunft“ unterhalten wollten. Als gäbe es sie, als hätte ich eine Chance darauf. Eine echte. So wie beim Lotto.
Ich hatte mich auf die Einweihungsfeier gefreut, mich auf interessante Gespräche und neue Kontakte eingestellt. Ich hatte mich auch darauf gefreut, die Dokumente zu übergeben, weil wir die Hundewelpen auch gleich noch besuchen hätten können.

Und nur mein scheiß Gehirn stellt mir ein Bein und lässt mich kopfüber in die 90 er plumpsen, von denen ich weder wissen noch fühlen will und ewig nichts von mir abgekratzt bekomme.
„Ich will nicht „irgendwann“. Ich will jetzt!“. Krätzepickel geplatzt. Scheiße.
– „Ich weiß, aber „Jetzt“ ist grad anders. Ich sag ja auch nicht, dass du dich damit abfinden musst, aber mit Aufstampfen und bockigem „Ich will aber“, gehts auch nicht- merkst du doch.“.
„Hrrr… mee.“. Widerrede kommt mir sinnlos vor und mehr als das, was ich schon gesagt habe, fällt mir auch nicht ein. Vorsichtig rette ich eine Fruchtfliege vor dem Ertrinken auf meiner Fensterbank. Ich habe einen Kloß im Hals und stelle eine Ähnlichkeit zwischen mir und meinen Krätzepickeln fest.

„Weißt du was? Ich komme jetzt vorbei und wir frühstücken, ja?“.
– „Ich bin grad ein wandelnder Krätzepickel.“.
Sie lacht. „Aha. Und? Ich sitze trotzdem gerade hungrig in meinem Bett und will euch besuchen, um zu frühstücken.“.
Ich weiß, dass ihr egal ist, dass es hier aussieht, wie unterm Eumel, der sich unter Hempels Sofa gesammelt hat. Dass es ihr egal ist, wenn wir immer noch im Schlafpanzer und mit Medusenhaarrestfrisur die Tür aufmachen und auch, dass ich unter ihren Händen zerfasern könnte.
-„Ich will nicht, dass dein Samstag mit Rosenblätterrettung anfängt.“.
„Weiß ich. Aber eigentlich hat er das doch schon längst. Pass auf“, ich höre, wie sie aufsteht und ihr Bett macht, „Du schreibst jetzt die Absagen und fängst mit deiner hektischen Putzerei an und wenn ich da bin, gucken wir zusammen, ob du sie abschickst oder nicht. Okay?“.
– „Okay.“.

Ich putze hektisch, tippe schnell und denke, dass das alles scheiße ist, als ich die Wohnungstür aufmache. „Weißt du, früher hätte man sich eine Pestmaske oder sowas aufgesetzt, bevor man Seuchenherde besucht.“. Sie grinst mich an. „Du verseuchst nur dein Inneres. Ich hab meine eigenen Seuchen.“.
„Und offenbar keine Angst vor Konversionsmutationen.“.
Sie lacht.

„Komm, soll ich dir mal die Haare kämmen? Das sieht nicht aus, als wenn du das schnell alleine schaffst.“. Sie mag unsere Haare. Eigentlich will sie sie nur kämmen, weil sie das schön findet und nicht, weil sie denkt, ich könnte dieses Gewusel auf meinem Kopf nicht allein bändigen.
– „Von mir aus…“. Ich drücke ihr die Haarbrüste in die Hand und setze mich auf den Küchenstuhl vor dem gedeckten Tisch. „Aber erwarte nicht, dass ich zu schnurren anfange.“.
„Quatschkopf“, sie grinst und beginnt mit den Spitzen.

Irgendwann fühlt es sich an, als würde sie mir den Kopf streicheln.
Später sitze ich vor einem Haufen nasser Taschentücher, von denen ein ekelhafter Kopfgestank ausgeht.

Sie schickt die Emails, die noch offen auf dem Laptopbildschirm sind, ab und fragt, obs jetzt geht.
„Ich fühl mich noch ekliger als vorher. Scheiße und jetzt auch noch schwach.“.
– „Diesen Krätzepickel kriegt man auch nie weg, oder?“.
„Ich hab keine Ahnung. Vielleicht ist es auch einfach wahr und ich bin nur zu stolz das anzunehmen.“.

Sie holt ein Brötchen aus der Tüte und legt es mir auf den Teller. „Nimm erst mal das hier an. Mit vollem Magen zerfleischt es sich besser.“.
Jemand spießt das Gebäck mit dem Messer an der Seite auf und fuchtelt damit vor ihrer Nase herum. „Wieso bist du eigentlich immer hier, wenns jemand scheiße geht? Findste das geil oder was?“.
Sie schiebt die verkorkte Messerspitze von sich.
„Nein.“.
Sie lässt die Antwort einfach in uns reinfallen und die Abwehrhaltung, wie eine Brausetablette auflösen.

Wir essen eine Weile schweigend. Draußen nieselt es noch immer und NakNak*s Sabber tropft in langen Fäden auf das Laminat.

„Du hast nicht versagt, K.“.

vom Essen und Reden

Rein oder raus
oder liegen lassen?

Reinstopfen oder rauskotzen.
Schweigen oder sprechen.
Oder es lassen wie es ist?

Die Erfahrungen mit „es liegen lassen“ gleichen den Erfahrungen beim Backen der Challah zum Shabbat.
Den Hefeteig stehen zu lassen ist wichtig- genauso wichtig ist es aber, die Schüssel nicht zu vergessen. Sonst gibt es am Ende mehr Luft als Brot.

Und dann steht da wieder die Frage: rein oder raus? Egal, ob sie gut geworden ist oder nicht.
Essen oder raus aus sich halten?
Essen und wieder rausbringen?
Nicht essen und alles stehen lassen? Vor dem Tisch stehen, in die Kerzen gucken und sich fragen: „Was mache ich hier eigentlich?“

Vielleicht ist es ein Muster der Essstörung, das mir auffällt.
Vielleicht habe ich etwas zu lange liegen gelassen und jetzt mehr Luft als Masse im Kopf.

Mir fällt nicht ein, was ich hätte rauslassen können oder in mich hineingefressen habe.
Nur, dass die Gedanken wieder da sind, die ich als so vertrauten Nebenschauplatz erkenne.

Der und der Knochen- den sieht man kaum noch.
Dieses und jenes Lebensmittel hat diese und jene Eigenschaften.
Ich muss…

Ich kenne Essbrechphasen sehr genau. Wenn ich mich ausgekotzt habe, dann auf der körperlichen, wie seelischen Ebene. Ich dachte nicht: „Raus mit dem Essen“ sondern: „Raus damit- es soll weg weg weg“.
Raus mit diesem sperrig klebrig brockigen DAS DA. Umhüllt von Nahrung und nicht näher erkennbar.

Manchmal entpuppte es sich als Gefühl. Oder als Erinnerung.
Immer als ein Klumpen Ungesagtes.

419944_web_R_by_Günter Havlena_pixelio.deWenn ich nichts aß; nichts in mich einbrachte, so brachte ich in der Regel auch andere Dinge nicht in mich ein. Vor allem keine Selbsterkenntnis. Selbst- Bewusstsein hing wie die Waggons an einer Holzlok, gekoppelt an ausschließlich die Gefühle von Hunger und dem Schwinden auf allen Ebenen.
Das ist ein Ein-Weg-Zug. Eingleisig. Mit Hochgeschwindigkeit.
Keine Zeit Worte aneinanderzureihen- kein Platz, um irgendetwas Sagenswertes zu äußern.

Wenn ich mich vollstopfte, nahmen sich die Lebensmittel wie eine Dämmschicht aus. Eine Isolierung um einen Vulkan vor dem Ausbruch. Irgendwann weiß man nicht mehr, was da genau eigentlich ausbrechen könnte. Aber, dass es unbedingt nötig ist zu dämmen, erschien immer wieder in grell blinkender Leuchtschrift.
Vielleicht hatte man irgendwann etwas runtergeschluckt statt es auszusprechspucken, das dann verweste, zu einem Gift wurde, das durch die ersten Dämmschichten zu neutralisieren versucht wurde und dann bloß immer weiter in Schach gehalten werden wollte.

Vielleicht ist die Lautsprache deshalb immer wieder so eine blöde Klippe.
In meinem Mund ist ja auch dauernd irgendwas los. Ein rein- oder rausrasender, mal voll mal gar nicht beladener D-Zug, der Schäden anrichtet und ganz eigentlich von vornherein einem Konstruktionsfehler der Gleisverläufe unterworfen ist.
Vermutlich gibt es deshalb auch immer so ein Verkehrschaos zwischen Gedanken und Worten, Sprachen, Dialekten, Heute und Früher. Anscheinend ist der Bahnhof an dieser Stelle mein persönliches Mainz: alle krank und der Rest im Urlaub am Dissosee.

Und nun?
Ich weiß nicht mal wo der Dissosee liegt- gibts da überhaupt Telefon?
Ich könnte natürlich auch den D-Zug auf ein Abstellgleis stellen. Stünde aber trotzdem noch vor dem alten Problem: rein oder raus- oder abgestellt lassen, und Verwesung oder Luft statt Masse in Kauf nehmen.

Manchmal hilft es wenn ich weine. Aber das braucht ein bestimmtes Weinen.
Nicht so diese Rotzwasservariante, bei der man eher Gefahr läuft zu ersticken und eigentlich nur aufhört, weil man noch müder ist als vorher.
Ich brauche dann mehr so die Laufenlassvariante, bei der sich der Heulrotz in bequemer Ausschnaubposition sammelt und mit einem abschließenden Befreiungströten in ein Taschentuch befördert werden kann, um dann mit Schwung in den Müll gepfeffert zu werden.
So wie eine Art Hurrikan, der alle Bahnhöfe zum Neuaufbau zwingt.

Blöd nur, dass ich gerade nicht weinen kann, weil ich nicht wüsste wieso.

der Fragebogen

Wir hatten heute den Anamnesebogen einer Klinik im Briefkasten.
Nachdem ich meine „Mimimi“ piepsende Chuzpe unterm Tisch hervor geholt habe, schaue ich ihn mir genauer an.

Solche Fragebogen sind für uns manchmal wie eine Art Minenfeld. Kam mir die Frage der Sekretärin der Klinik nach meinem Alter schon vor wie eine Trickfrage, so sind solche Bögen eine Mischung aus Spiegelkabinett mit doppeltem Boden und Jokergesichtern, die aus dem Nichts auftauchen.

Mit dem Personalausweis und Schriftstücken als Balancestab in der Hand, lassen sich noch Namen, Adressen, Telefonnummern; die Frage nach Geburtsort und Nationalität leicht meistern. Manches kann ich auch auswendig aufsagen, wie ein Gedicht von jemand anderem.

Aber dann:
Familienstand- unverheiratet… oder? Bin ich gerade in einer Beziehung? Was meint „Beziehung“? Kontakt mit Mög/ Sex/ sonstigen Additiven oder „Ich liebe dich so ever and ever und wir werden nie auseinander gehen?“ Gilt auch die Bezeichnung „in die Welt rausgespuckt und an anderen Menschen festgeklebt“?

Ha! Immerhin kann ich einen Schulabschluss richtig angeben. Ätschibätsch in einen einen doppelten Spiegel.

Beruf.
Wie lautet ihre genaue Berufsbezeichnung?
Versagerin, Sitzwärmerin und Statistik-positiv-Beeinflusserin beim Jobcenter, Sozialrotzbeton im Pflaster der kapitalistischen Leistungsgesellschaft die unser Leben antreibt…? Hm. Nee, das geht nicht. So jemandem helfen die da bestimmt nicht.

Wie lautet ihre genaue Berufsbezeichnung? Tätigkeitsbezeichnung
Bloggerin, „Frau, die dir baut, was du dir wünschst“, inoffizielle Beraterin
Na? Ich find das gut. Wäre das ein Bewerbungsschreiben und ich Chefin, würd ich Talent zur Schönfärberei sehen und so jemanden in meine Werbeabteilung setzen.
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Wie ist ihre derzeitige berufliche Situation?
Sehr geil- da gibts ein Kreuzchen für „unbekannt/ unklar“- zack! Hin da.

Ne- so gut in Schwung und dann kommt doch die Jokerfratze aus dem Boden geschossen und fragt:
Welche zukünftigen Berufspläne haben Sie?
Autsch. Nach dem ganzen Bewerbungsmarathon, den Einblicken in die Förderungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt (eins bis drei) für Menschen mit (seelischen) Behinderungen, haben wir das irgendwie mehr oder weniger abgehakt. Uns erscheint es immer wieder wie eine Möhre die uns Eseln vor die Nase gehalten wird, damit wir nicht sehen, durch was für eine ekelhafte Scheiße wir gerade laufen.
Antwort: utopische
– um dann wieder zu denken, dass wir sicher keine Hilfe da kriegen, wenn wir das so stehen lassen. Also wird ein kleiner Text zusammengefrickelt, der deutlich macht, dass es schon noch realistische Wünsche gibt, die aber eben noch Zeit brauchen.

Es wird persönlicher.
Sind sie schwanger? -Himmel- ich hoffe nicht?! Ja? Nein? Ja? Nein? Hat irgendjemand gerade eine Sexbeziehung und ich weiß nichts davon?
Wie ist ihr Appetit? -existent- Haken hinter. Das weiß ich ganz sicher. Phu.
Probleme in der frühkindlichen Entwicklung – bitte fragen sie ihre Familie. Autsch. Würde gerne hinschreiben, dass ich meine frühkindliche Entwicklung nicht mitgekriegt hab und glaube, dass es meiner Familie genauso geht. Gilt aber nicht. Schreibe auf was ich irgendwann mal mitbekommen hab.

Dann 37 mögliche Beschwerden zum Ankreuzen.
Ich hab das alles und eigentlich aber nichts davon. Ich frage mich, ob sich die MacherInnen des Fragebogens darüber im Klaren sind, dass für manche ihrer Klienten der Begriff des „Leidens“ eine Definitionsfrage ist. Offenbar nicht.
Jetzt kommen noch Drogen, Süchte, selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche.

Erst kurz vor knapp kommt eine schöne Frage:
Welche positiven Fähigkeiten haben Ihnen in der Vergangenheit geholfen, emotionale Belastungen zu meistern?
Hach. Das ist schön. Ich fands immer total cool, wenn sich irgendwann in einer Klinikzeit oder so gezeigt hat, dass irgendein Innen irgendwas kann. Ob richtig gut oder einfach nur so mittelgut oder irgendwas halt gerne macht, ist mir da egal. Ich hab lange gedacht, dass ich die bin, die alles können muss, weil ich von den Anderen immer nur mitgekriegt hab, was sie nicht können oder wovor sie Angst haben oder was sie blöd finden. Dann war ich nämlich da. Wenn ich weiß, dass die Anderen etwas Anderes können (vielleicht ja sogar, was ich nicht kann) dann ist es irgendwie leichter. Jedenfalls fand ichs dann leichter auszuhalten, dass die überhaupt da sind.

Zum Schluss Erwartungen an die Behandlung.
Würde gerne: „Rettet mich einfach“ hinschreiben. Sowas wird aber meistens nicht so gerne gelesen. Oder gehört. „Repariert mich halt“. Hm. Geht auch nicht.
Ich finde die Frage blöd und will sie nicht beantworten. Ich müsste lügen und das ist kacke.
Vielleicht ist es keine echte Lüge, wenn ich schreibe, dass wir was klar kriegen müssen, weil wir sonst richtig zusammenbrechen, aber es ist auch nicht, was ich denke.
Solche Fragen wollen immer hören, dass man ein lieber Patient sein will und alles für den Behandlungserfolg tun wird. Das Ding ist aber, dass wir uns dahin wenden, weil wir schon alles tun bzw. getan haben, was wir konnten, das aber halt nicht reicht.
Das Feld ist noch frei. Vielleicht fällt mir noch was Knackiges ein wie: „Ich erwarte, dass mir da jemand gegenüber sitzt der mir nicht sagt, dass ich was ändern soll, aber verschweigt was.“ oder „Ich erwarte, dass ich da rausgehe und ohne Theater essen, trinken,schlafen, laufen… halt einfach besser leben kann.“ Vielleicht krieg ich da noch die Rettung untergeschoben, ohne, dass es klingt als würd ich mich da abgeben wollen.

Vielleicht bau ich mir in diesem Fragebogen auch einfach ein Nest und lass das ein anderes Innen beantworten.
Meine Chuzpe winselt immernoch und ich merke, dass mich der Satz schon wieder total runterzieht in sein fieses schwarzes Loch. Vielleicht ist das mit der Klinik so eine dieser wundergut-fantastischlimm Kisten. Ich bin nicht gut darin sowas auszuhalten.

von Bücherwissen und Seelenhingabe

Ich glaube, ich war 11 oder 12 und mein Bibliotheksausweis erschien mir wie alles, was ich je gebraucht hatte. Meine Lizenz zum Lügenmorden, mein Schlüssel zu Türen, die mir ständig verschlossen schienen. Meine Karte durchs Land hinter den Spiegeln.

In der Bücherei gab es noch Lochkarten mit Nummern, die man um Himmels Willen nicht verlieren durfte, und die zusammen mit dem Buch und dem Ausweis abfotografiert wurde.
Ich mochte die Karten. Sie rochen nach „alt“ und die Löcher kribbelten so wunderbar unter meinen Fingerspitzen, wenn ich langsam darüber hinweg strich. Diese Karten waren mir die Katze, die ich während des Lesens streichelte.

Ich las zum Zeitvertreib, zur Sättigung, zur Beruhigung. Es ging um den Akt des In-sich-geschlossen-Seins.
Es gab diese Zeit in der wir die Wohnung für ziemlich genau 2 Stunden und 20 Minuten für uns allein hatten. 10 Minuten Hausaufgaben, 30 Minuten Sailor Moon im Fernsehen und der Rest der Zeit verwob sich zu meinem Lesenest in der Höhle unter meinem Schreibtisch.
Gegenüber von unserem Wohnhaus gab es eine Kaufhalle. Eine Tafel Schokolade kostete 29 Pfennig. Meistens bezahlte ich nicht, sondern schob die Tafeln einfach in meinen Ärmel und ging wieder. Erwischt wurde ich nie- Angst davor, erwischt zu werden, hatte ich aber auch nie.

Heute morgen dachte ich, dass ich mir mal wieder so ein Nest bauen könnte.
Ich habe es immer so genossen bäuchlings auf dem Bett zu liegen, links die Schokolade oder anderer Süßkram, rechts die Lochkartenkatze und in der Mitte der Schlüssel zur Welt.
So kam es mir wirklich vor. Die Buchstaben, die Reihe für Reihe in meinen Kopf hineinwanderten und sich dort zur etwas zusammentaten, das viele Fragezeichen unter sich begrub.

Ich merke, dass ich nicht nur die Ruhe, die Geschlossenheit wünsche. Sondern auch dieses Gefühl der Sicherheit, weil ein weiteres Fragezeichen weg ist. Dieses Gefühl, das ich früher auf meinem roten Fahrrad immer hatte, wenn ich zur Bibliothek fuhr. Der Wind vorn vorn, die Schweißtropfen im Haaransatz und das Gefühl auf dem Weg zum Wissen zu sein. Wissen und Handeln.

Da gibt es so eine Krimireihe von einem Jungdetektiv, der zum Nachdenken kalte Milch und eine bestimmte Sorte Kaugummi braucht. So ähnlich ging es mir: mein Bett, meine Sachen, ein Buch und alles wird sich richten. Das Buch würde mir sagen, worauf ich meine Lupe richten müsste, aufgrund welcher Fakten womit gerechnet werden müsse.

Heute bin ich 27 Jahre alt.
Die Bücherei ist mir entzaubert als Hort des Wissens. Vielleicht liegt es am Wunsch nach Bestätigung, der erst erfüllt sein muss, bis ich mich wieder öffnen kann. Es ist eben auch- neben allem Anderen, was bei uns so passiert- so eine Phase mit Mitte Zwanzig. Die erste Midlifecrisis, die kaum einer wirklich ernst nimmt, weil es eine Mischung aus Postpubertärem: „Ich weiß schon alles.“ und Jungerwachsenem: „Ich weiß verdammt nochmal nicht, was mir noch fehlt, um zu wissen, was ich will…“ ist.539925_web_R_K_B_by_johnnyb_pixelio.de

Ich weiß grundsätzlich, was mit mir und uns los ist.
Es ist nicht die Zeit wahllos abzustoßen. Nicht die Zeit sich nicht zu verletzen. Nicht die Zeit einem Schmerz den Raum zu lassen, den er braucht und stetig pochend einfordert. Es ist nicht die Zeit, einsam zu sein. Es ist aber auch nicht die Zeit nicht einsam zu sein. Es ist nicht die Zeit, in der Schokolade links und Lochkarte rechts, der Garant für das Gefühl, in sich selbst sicher zu sein, weil es eine Ahnung von einem Plan der eventuell vielleicht klappen könnte, vermittelt. Es ist nicht die Zeit, in der wir uns verändern müssen, sondern uns auf den Prozess selbst einlassen müssen.

Es ist die Zeit, die begann, als die Lochkarten verschwanden und durch ein Scannersystem ersetzt wurden.
Es ist die Zeit, in der wir uns klar machen müssen, was wir können, was wir haben, was wir wie jederzeit noch beeinflussen können, obwohl plötzlich fehlt, was immer da war.

Es ist die Zeit, in der wir uns hingeben müssen, obwohl wir alle wissen, dass es noch nie schlau war, dies zu tun.

eine multiple Persönlichkeit ansprechen…

…geht eigentlich ganz einfach: Mund aufmachen und lossprechen.

Ich schrieb bereits, dass die Begrifflichkeit „multiple Persönlichkeit“ für uns schief ist und wir die Bezeichnung: „Mensch mit dissoziativer Identitätsstruktur“ sinniger empfinden. Beim Thema „Ansprache“ und vielen Kleinigkeiten drumherum, bemerke ich die Folgen des schiefen Begriffs auch wieder.

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„Uh- viele Persönlichkeiten- Singular oder Plural?“, fragen sich manche Menschen, obwohl sie es eigentlich mit einem (Singular) Menschen zu tun haben, der in sich eine subjektiv wahrgenommene Gruppe (Pluralität) trägt.
Wir biegen uns inzwischen jede Ansprache hin, wie wir sie aufnehmen.
Sprechen von „wir“, wenn wir uns als Einsmensch meinen, von grundlegenden Entscheidungen oder Umständen, die uns alle betreffen, sprechen. Sagen aber „ich“, wenn nur einer von uns über etwas spricht, das er allein so wahrnimmt und denkt- was etwas sein kann, was andere Innens entweder nicht einmal wissen oder auch ganz anders empfinden und denken.

In manchen Kontakten oder Situationen, erleben wir es als übergriffig immer im Plural angesprochen zu werden.
„Ihr macht ja dies und das, so gut…“, „Ihr seid ja so und so…“; „Ihr könntet doch dies und das…“, „Macht ihr mal dieses und jenes für mich?“.
Immer wurden wir so als Einsmensch angesprochen, obwohl das, worum es ging nur von Einzelnen gemacht wird, bzw. ein Bild nach außen durch die Art Einzelner von uns entstand.

Da taucht zum Beispiel im Kontakt mit HelferInnen jemand auf, der kompetent ist und emotional belastbar. Das ist so jemand, der locker viele Hebel in Bewegung setzen kann und als gute Fürsprecherin auftreten kann. Doch dann sagt die Helferin: „Ruft ihr mal gerade da und da für den Klienten an und…?“.
Nein, können wir nicht- kann nur dieses Innen, das da gerade vor ihr sitzt. In der Frage: „Ruft ihr..?“, ist für uns impliziert, dass wir als Einsmensch das könnten. Was aber so, zumindest für unser Empfinden, nicht wahr ist.

Natürlich kann der Körper das- aber nur mit der richtigen Füllung und die ist eben nur dann passend, wenn wir uns in dem Kontakt selbst befinden. Sind wir wieder zu Hause, ist ein anderes Innen da und dieses kann es eben nicht- macht sich aber fertig, weil es serviert bekommt, dies doch aber können zu müssen, weil im Notizbuch steht: „Ruft mal da und da an“ oder, weil es vielleicht von irgendwo im Innen mitbekommen hat, dass es den Anspruch an uns alle gibt, dies zu tun, bzw. das Denken, dass wir es alle könnten- „sonst hätte derjenige ja doch nicht uns alle angesprochen…“ und dann kommt der zerstörerische Entsprechungswunsch. Das Gefühl bei dem Menschen „unten durch zu sein“ (mit allen Konsequenzen, die man früher immer erfuhr), wenn man dem nicht entspricht.

Wir fahren ganz gut damit vornehmlich im Singular angesprochen zu werden- in der Therapie mit dem Anstoß mal zu gucken, wer sich davon noch angesprochen fühlt.
Oder in so einer Situation, wie mit der Bitte um einen Anruf in Fürsprecherinnenposition: „Kannst du oder jemand bei euch, da und da anrufen?“.

Den Plural haben wir ganz gerne bitte nur für uns. Es ist unser Empfinden- ein rein subjektives Erleben, Viele zu sein im Innen. Das Außen kann gern von „den Rosenblättern“ sprechen, wenn es etwas meint, was uns als Einsmensch betrifft, aber Fähigkeiten und Zuschreibungen betreffen einfach immer nur Einzelne von uns bzw. liegen nur Einzelnen von uns inne.

Es gab auch einmal die Frage, ob sich jemand im Innen dann ungesehen fühlt, wenn man immer nur den, der vorn ist anspricht. „Ich will doch zeigen, dass sie alle okay sind und willkommen.“.
Ach wie löblich… und unvoreingenommen- aber ist das wirklich wahr? Sind auch jene willkommen, die dich hassen, beschimpfen, dir Angst machen oder mit ihrem Leid komplett überfordern? Sind auch jene willkommen, die dir weh tun wollen? Auch jene, die gnadenlos auf deinen wunden Punkten herumspringen, wie auf einem Trampolin? Oder möchtest du sie nur wissen lassen, dass du ansprechbar bist, solange sie sich an bestimmte Regeln halten? Sie wissen lassen, dass du weißt, dass sie auch da sind und in vielen Punkten nicht mit dir d’accord sind?

Das ist ein Unterschied.
Es gibt Momente, in denen Innens vorn sind, um eine Funktionalität im Alltag aufrecht zu erhalten. Nur sie anzusprechen, kann in jedem Fall dazu führen, dass sich Innens ungesehen fühlen, denen es sehr schlecht geht- unabhängig davon, ob es sich um die Therapeutin oder eine Gemögte im Außen handelt, die so agiert.
Es ist aber nicht besonders schwer, beiden Seiten das Gefühl zu geben, sie werden wahrgenommen. (Obwohl- naja, ich empfinde es zumindest nicht als besonders schwer- kann aber sein, dass das mein „Multi-Plus“ ist.)

Anstatt ausschließlich über Alltagsdinge zu sprechen, kann man genauso auch immer wieder etwas einflechten, das unterstreicht, dass es im Hintergrund schwierig sein kann. Zum Beispiel indem man sagt, dass man sich vorstellen könnte, dass es gerade für andere im Innen schwierig sein könnte. Oder einfach direkt fragt: „Boa, du rührst ja gerade in ganz schön vielen Töpfen- rühren die anderen auch mit?/ Hast du noch Zeit etwas für die anderen Innens zu tun- haben sie noch Platz oder ist es gerade zu viel für sie?“.

Man merkt, denke ich, an den Beispielen schon, dass so eine Kommunikation viel Nähe erfordert.
So kann man nur mit Menschen sprechen, die a) ein Wissen über die DIS haben und b) einfach nah dran sind und mehrere Innens direkt „kennengelernt“ haben.
Jemand ganz weit außen, wird solche Gespräche schlicht nie mit jemandem führen der Viele ist- und wenn er es versucht, wird er unter Umständen übergriffig.

Wenn wir Emails auf den Blog bekommen passiert uns das zum Beispiel ganz gerne mal.
Dann spricht uns jemand in einer Reaktion auf einen persönlichen Blogartikel durchgehend im Plural an- übersieht aber, dass der Artikel in der Einzahl geschrieben wurde. Dass es also einem Einzelnen von uns vielleicht nicht gut geht. Das heißt aber nicht, dass es das gleiche Innen ist, dass auch die Emails beantwortet bzw. , dass es uns allen so geht.

Und um das Ganze noch ein bisschen zu verkniffeln Folgendes:
Auf welche Art man gerne angesprochen werden möchte, ist bei jedem Menschen mit DIS anders.
Ich habe auch schon Menschen mit DIS getroffen, die den reinen Plural als gut für sich empfinden, weil dann mehr Innens „zuhören“. Und auch einen Menschen mit DIS, dem der Plural so viel Angst gemacht hat, dass es immer wieder einen Wechsel zu jemandem gab, der die DIS negierte.
Und- als Sahnehäubchen der Kniffelei noch obendrauf: Der Wunsch verändert sich vielleicht auch mit der Zeit!

Als Laufzettel kann ich also nur mitgeben: Mund aufmachen und losreden. Fragen, wie es stimmig ist und Platz für Veränderungen lassen. Achtsam sein und die Grenze zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung im Blick behalten. Sich vielleicht zwei Mal fragen, was man jetzt genau ausdrücken möchte. Wen genau man anspricht und in Bezug worauf.

Wir halten es inzwischen so, dass wir uns unbeabsichtigte Übergriffigkeit durch Pluralnutzung bei fernen Kontakten von selbst zurecht wurschteln, wie es passt. Sie kennen uns nicht und dann passiert es eben. Wir müssten sie näher an uns heran lassen, damit die Ansprache gut klappt. Müssten mehr von uns zeigen und erklären. Doch, ob wir das wollen oder nicht, entscheiden wir allein für uns.

Ich hoffe, dass dieser Artikel vielleicht ein bisschen Klarheit in das “ „Du“ oder „Ihr“?“- Dilemma bringt.
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