Brich das Schweigen- Mach dich sichtbar (4)

So ein Satz: “Brich das Schweigen.”, bedeutet für mich: “Mach dich sichtbar- mach die Gewalt sichtbar” … “Mach sichtbar, was niemand gesehen hat” … “Mach DU es sichtbar- du warst doch dabei”.

Wir leben in einem System in dem nur verurteilt wird, was sichtbar ist.
Es braucht handfeste Beweise, um Täter ihrer Strafe zuzuführen. Es braucht Sichtbarkeit, um wahrgenommen zu werden. Die Polizei braucht die Opfer, um die Täter sichtbar zu machen. Die Presse braucht das ganze Paket einer Situation, um darüber zu berichten und zum Sprachrohr zu werden. Doch ist nur sichtbar, wofür es Worte gibt.

Am Anfang war das Wort. Oh ja! Worte sind toll.
Sie sind, wenn es um Gewalt geht, wie das erste Kotzen bei einem Magen-Darminfekt; wie ein ausgedrückter Pickel der bereits tagelang schmerzte; wie Weinen, das man schon seit Stunden in seinem Hals drücken spürte.
Sie geben Form, machen sichtbar und ermöglichen sowohl eine Verarbeitung des Geschehens als auch innerhalb unseres Miteinanders eine Bewertung.

Gewalt aber, spricht Teile des menschlichen Gehirns an, die weit weg von dem Teil ist, in dem sich unsere Sprache befindet. Das ist sinnvoll, denn bei Gewalt geht es potenziell immer um eine Gefährdung des eigenen Lebens. Sprache ist jünger als der in uns entwickelte Teil, der unser Überleben sichert.
Ich schrieb es bereits in anderen Artikeln: Das Leben allein besteht in der Fähigkeit zur Entwicklung der Fähigkeit, das Leben weiterzugeben. Es ist ein evolutionärer Kettenbrief, der allein für seine Weitergabe arbeitet.
Unser Sprachzentrum ist so etwas, wie das Ziel am Ende einer verschlammten, mit Geröll bespickten Landstraße- während der Teil, der unser Überleben sichert, eine fünfspurige Hightechsuperautobahn ist. Es gibt keine Sprache- aber hey- was gibt es auch zu sagen, wenn Leib und Leben in Gefahr sind?!
Unserem Gehirn ist es scheiß egal, ob das, was da gerade passiert später noch sichtbar ist. Wer will ihm darum böse sein?

Es können nur jene sein, die das Privileg der Nichtbeteiligung und Unabhängigkeit genießen oder jene, die genau deshalb (chronisch oder latent) im Überlebensmodus stecken und darunter leiden.

Das Wissen um die Vorteile von sozialem Miteinander ist eng mit der Sicherung des eigenen Überlebens in uns Menschen (und auch vielen Tieren) verknüpft. Die Abhängigkeit von unseren Versorgern ist uns Menschen direkt ab dem Zeitpunkt der Geburt mehr oder weniger klar bewusst. Wir werden absolut hilflos geboren und sind erst ab dem Moment der biologischen Fähigkeit zur Weitergabe des Lebens, halbwegs in der Lage eigenständig zu leben. Doch nun ist es so, dass wir in hier, in Deutschland, in einer Umgebung leben, in der das soziale Gefüge dem direkt widerspricht. Hier in unserer Kultur, würde niemand einem Teenager unter 18 Jahren einen eigenen Haushalt ganz ohne Unterstützung und juristische Absicherung überlassen. Unsere Justiz staffelt noch bis ins 27ste Lebensjahr hinein das Maß von Strafen für diverse Taten. Das ist schön- untergräbt aber auch die Autarkie der Menschen. Im Guten, wie im Schlechten.

Es geht um Abhängigkeiten. Auch beim Schweigen.
Wir wurden in unserem früheren Abhängigkeitsverhältnis Schweigegeboten unterworfen.
Schweigegebote sind nicht so schlimm, wie man vielleicht glauben mag. Schlimmer sind die Redeverbote. Das Gleiche? Oh nein.
Gebote sind wie Spielregeln: Willst (Musst) du mitmachen, hältst du dich daran.
Verbote sind Grenzen: Übertrittst du sie, bist du ..? Na was? – Raus! Allein! Ausgeliefert! Schutzlos!
Ergo: potenziell tot.

Wer keinen Schutz außerhalb von (destruktiven) Abhängigkeitsverhältnissen hat, der kann nicht reden. Kann keine Worte finden. Kann nichts sichtbar machen. Kommt nicht in den Genuss der Privilegien, die das Leben mit seiner Fähigkeit dieses weiterzugeben braucht.

Und hier ist es- das Ding, dass das Schweigen nährt: Die Wahl zwischen Leben und Tod.
Welchen Weg wird unser Gehirn wohl nehmen, wenn wir Gewalt erfahren?
Und was passiert, wenn man Zeit seines Lebens immer wieder gezwungen ist, auf der Hightechsuperautobahn zu fahren? Man lernt, dass es sich lohnt und, dass es einfacher ist. Blicke nach links oder rechts sind Ressourcenverschwendung- wen interessiert die Landschaft, die man vom Fenster aus betrachten kann, wenn die rasante Fahrt immer wieder nötig ist, um die eigene Basis sicherzustellen?
Wie beschwerlich erscheint einem dann eine holprige Landstraße, wie fraglich ist das Ziel der Sprache und Sichtbarkeit für andere Menschen- ganz gleich wie dringlich sie es machen.

Es gibt keine Worte ohne Schutz.
Dieser Artikel hier ist ein Steinchen im Plädoyer für mehr Opferschutz.
Wer so privilegiert ist, Worte und damit Sichtbarkeit einzufordern, muss sein Privileg von Sicherheit durch Nichtbeteiligung und Unabhängigkeit teilen!
Alles andere verschiebt die Verantwortlichkeiten rund um Gewalt in den Schoß derer, die nichts- aber auch gar nichts dafür tun können, um dem zu entsprechen.

Wir brauchen Opfersolidarität- und Schutz! Wir brauchen die Annahme der Not und der Mechanismen, die Gewalt in unserer Mitte auslöst! Wir brauchen die Akzeptanz des Schweigens, das tiefe verinnerlichte Verständnis um die Folgen, als etwas, das mit uns allen tun hat! Wir brauchen die Folgen der Gewalt gleichrangig bewertet, wie die Gewalt an sich!

Sonst gibt es keine Worte, die das Schweigen brechen.
Sonst bleibt unsichtbar, was töten kann.

übers Schweigen schweigen

P1010037Will ich über mein Schweigen schweigen?

Da war so ein Moment im Kontakt mit der Therapeutin und fast wäre ich über meine selbst gehaltene Klinge gegangen. Sie fragt in letzter Zeit so oft, ob jemand etwas erzählen will.
Es ist also eine Willensfrage- keine Frage bestehender Privilegien wie Sicherheit, Ruhe, Zutrauen und die Fähigkeit die Echtwerdung des Gesagten sowohl ertragen als auch aushalten zu können.
Ist das so?

Wenn ja- ist das nicht der Moment, in dem ich gepflegt unter der Decke kleben und meine abgefressenen Fingernägel auf den Boden herunterrieseln lassen kann?!

Wenn nein- kommt der Moment dann jemals?

Ich fühle mich ein bisschen entkernt durch diese Nachfrage. Sehe mich wie eine Art Horrorgeschichtenbehältnis. Biologisch abbaubar mit integriertem Verschluss und Abtropfschwämmchen. Selbstreinigend mit Konservierungseigenschaften.

Was habe ich schon zu erzählen?

Vielleicht bin ich das Schweigen selbst.

Fortsetzung folgt

die Nacht

„Weißt du wie sich das grad für mich anfühlt?“, auf eine Antwort warte ich gar nicht erst, „Wie ein „Auf die Plätze fertig los“ mit „Versaus jetzt nicht H.!“ dazu.“.

Sie rollt sich auf die Seite und guckt über den Bettrahmen auf mich herunter. „Es geht nur ums Schlafen. Viel mehr als es nicht passieren zu lassen, kann man dabei nicht falsch machen.“.
Ich will so viel antworten und belasse es dann doch dabei sie anzugucken und NakNak*s feine Ohrhaare zu streicheln.
Ich schaue ihr zu, wie sie einschläft. Wie sie alles richtig macht.
Wie NakNak* ganz richtig gemacht einschläft.
Wie nach und nach das Draußen dunkler wird, weil meine NachbarInnen einschlafen.
Zwei Mal fällt mir auf, dass ich schlafe und erschrecke mich darüber.

Ich muss irgendwann eingeschlafen sein. Oder ich war wach und zu dumm zu merken, wie sich meine Wohnung… mein Gefühl- das gesamte Raum- Zeit- Kontinuum in diesen Schlund verwandelte, in dem ich wie Alice im Wunderland herumstolperte. Auf der Jagd nach dem weißen Kaninchen, das sich Orientierung nennt.

Ich bin schon so weit denken zu können: „nicht echt“, versuche aufzustehen und kann nicht. Meine Käfigbegrenzung ist nicht da. Ich weiß nicht, wo ich mich abstoßen muss. Das verwirrt mich noch mehr, drückt mir aber auf einer Ebene auch das weiße Kaninchen fast in die Arme.

Ich weiß, dass sie das ist, die da auf mich einredet. Ich weiß das. Ich kenne sie.
Und sie macht mir trotzdem so eine scheiß Angst und versinkt zeitgleich in mir.
Vielleicht bin ich gerade die Angst selbst. Kann Angst denken? Was sind die Ansprüche an Angst? Irgendwelche Kernkompetenzen, die über die bloße Existenz hinausgehen, gefordert?

Der Hund drückt sich in mein viel zu großes Menschenkostüm. Ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht oder nicht doch irgendwie einfach nur so abgrundtief vertraut mit meinem Sein ist, dass es schlicht passend ineinandergreift.

Und plötzlich kriecht Kälte durch mich hindurch.
„H.?“, sie guckt mich ganz direkt an und zerrt mich damit richtig in die Gegenwart, wo ich eigentlich gleich schon wieder einen Tod sterben will, weil mir da alles einfach nur peinlich ist. Sie soll weg sein. Ich will hier meine kleine Privathölle bitte nur für mich haben. So jemand Gutes soll nur glitzernd gute Rosenblätter sehen. Nicht sowas wie das, was ich gerade abgebe. Nicht so. Nicht jetzt. Eigentlich nie. Niemand. Nicht einmal ich selbst.

„Du kannst deine Augen aufmachen.“- wieso kommt mir der Satz so absurd vor? Ich hab sie doch auf- ich sehe doch alles was ich nicht sehen will. Meint sie andere Augen als ich habe? Wo sind meine eigentlich?
In diesem ganzen Wirrwarr gibt es nur diese Konstante: die Kälte.
Ich spüre sie und empfinde sie durchgängiger, verlässlicher als mein Denken und Fühlen, das sich, wie eine Mischung aus Falltüren und Landminen, in mir bewegt. Also gehe ich dahin, wo es kalt ist.

Wo es kalt ist, ist es auch hell. Sie hat das Licht angemacht.
Ich bin ganz da und starre zu ihr hoch. Werde vorsichtshalber erst mal starr und halte die Luft an, als ich merke, wie wir da sitzen. Warte darauf, dass sie mir sagt, was ich machen soll. Was sie will, das ich mache. „H.? Atmen nicht vergessen. Du darfst meinen als Referenz nehmen“.
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Oh mein G’tt oh mein G’tt oh mein G’tt
Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass sie den Verstand verloren hat und ich in einer Parallelwirklichkeit gelandet bin. Licht anmachen- in meinem Haus. Mich anfassen- in so einem Zustand. Das hier ist alles nicht echt. Kann ja nicht.
In Wahrheit ist alles anders- ich weiß nicht wie- und das hier ist einfach nicht echt. Ich warte einfach bis es vorbei ist.

„H. es ist okay. Wir haben den… äh ich glaube schon 24. September 2013. Ich schlafe heute hier bei euch und was gerade war, war was Altes. Ich habe N. gebeten das Kind mit zu sich zu nehmen und dich weiter nach vorn zu bringen. Hier-“ sie hält mir das gefrorene Gemüse an den Hals, „halt das mal fest. Es ist echt und hier ist alles in Ordnung. Du kannst einatmen und auch wieder ausatmen.“.

Sie redet und redet. Hat offenbar vergessen, dass ich das mit dem Schlafen falsch gemacht habe.
Ist entsetzt, als ich das Blut in meinem Mund ausspucke.
Besorgt, als ich mich für einen Moment allein in den Raum mit der Toilette einschließe. Will mir meine Scham und so viel mehr abnehmen und kann nicht. Ich überlege kurz, ob ich aus dem Kippfenster krieche und mich einfach runterfallenlasse.
Denke in ihre Richtung, dass sie bitte normal spielen soll. Denke, dass sie mich bitte nicht so vor Augen haben soll, wie gerade.

Denke, dass meine Hölle einfach privat sein muss, weil es doch immer wieder schlimmer für mich ist, wenn es jemand anders direkt sieht.

Ich bitte sie, sich hinzulegen und mich ein bisschen für mich zu lassen. Ich muss meine Angstzeugen ermorden, muss die Schlieren des Scheintodes von mir runterkratzen, muss meine Augäpfel durchspülen. Das geht am Besten unter der Dusche und allein.
Ich sage ihr, sie soll sich hinlegen und ein bisschen zu schlafen versuchen.

Als ich wiederkomme tut sie das schon halb. Mit NakNak* im Arm.
Es tut mir so leid, dass sie einander trösten müssen.
Leid, dass ihr Wecker in weniger als 2 Stunden klingelt.
Leid, dass mein Hund sie kurz vor Ablauf dieser 2 Stunden noch aufweckt, weil er Durchfall hat.

Es tut mir leid, dass ich es nicht richtig kann.
Das mit dem Schlafen ohne Zustände.
Das mit dem Leben ohne Traumafolgen.
Das mit dem Sein ohne Angst.

nach-t-wach-e

Ich hatte das Telefon am Ohr und baumelte zwischen den Worten, Tönen und Intensionen der Therapeutin herum, noch während ich das Seil zu halten versuchte.
Es war eigentlich schon so dumm anzurufen. Ich weiß doch, dass es mich klappern und klirren, manchmal scheppern und zerspringen lässt.
Ich lasse los und falle auseinander.
Nicht immer, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit immer genau dann, wenn ich mit Händen und Füßen versuche, genau das zu verhindern.

Ich redete irgendwas, was nicht war, was ich sagen wollte.
Das waren nicht die Worte, die ich mir in der ganzen Nacht, dem Morgen und bis zu dem Anruf am Mittag zwischen Kopf und Mund hatte wachsen lassen.
Mein klitzekleiner Sinnbonsai in einer Untertasse wachsend. Nicht viel Platz wegnehmend. Nur da und leicht zu übergeben.
Und dann quoll mir so ein Wust nesselnden Unkrauts über die Lippen und mit einem Mal schossen dicke Tentakelwurzeln durch mein Gaumensegel direkt ins Gehirn, um alles, was sich dort befindet zu erwürgen und zu einem Leichentheater zu fabrizieren.

Ich mag es nicht sie anzurufen, wenn es mir schlecht geht. Ich bin gestresst, weil ich sie nicht stressen will. Ich will eigentlich nur etwas irgendwo abladen- vielleicht genau dieses wildkrautige Ungetüm in meinem Innen, das ich vor mir selbst mit winzigen Nagelscheren bearbeite und so klein wie möglich halte.
Eigentlich will ich mich nur besser fühlen. Auf wundersame Weise einfach so. Ich will von etwas abgeholt werden, damit ich weiter gehen kann.

Ich machte Geständnisse und zeigte eine Schwäche. Sprach vom Lindenblatt und hoffte doch irgendwie noch, sie wäre vom Drachenblut abgelenkt.
Ich sag ja: dumm.

Sie fragte, ob jemand bei uns schlafen könnte. Meinen Schlaf bewachen könnte.
Ich sagte, dass ich in Zuständen aufwache. Riss meine Angst zu schlafen an, obwohl ich fast zeitgleich das Telefon hätte mitten durch meinem Kopf schlagen können, über meine eigene Dummheit. Wie blöd kann mensch sein?! Ich sagte, ich wolle nicht, dass meine Gemögte mich so sieht. Sagte nicht, was die Gemögte sehen könnte.
Ich sehe es ja selbst nicht, denn: Ich stehe auf und halte die Augen geschlossen, den Atem flach, zittere mich durch die Nacht und warte bis es hell wird. Ich sehe nichts und will, dass andere auch nichts sehen.

Da war die Verantwortungsfrage. Die Frage danach, wer was zu erzählen hat. Die Frage, wer oder was im Innen mich unterstützen kann. Die Fragen, die ich alle nur noch wild strampelnd von mir treten konnte. Die Fragen, die alle nur ein Ziel haben: H. muss weg. H. kann das alles nicht. Wir können auf H. verzichten, weil sie keine sachdienlichen Informationen hat. H. ist nicht für Therapie gemacht. Was treibt H. eigentlich gerade so viel an der Front? Es gibt viel kompetentere FrontgängerInnen bei den Rosenblättern. Weg mit H. Keiner kann sie gebrauchen. H. soll sich eine Anschlussverwendung suchen.

Ich habe nur diese Verantwortung. Ich werde nicht aus dem Fenster springen, damit die Wolke in meinem Kopf vom Flugwind herausgetrieben wird. Ich habe nichts zu erzählen, weil mich das, was ich erzählen könnte, Molekül für Molekül zersetzen lassen würde. Nach Tagen ohne Schlaf, ist auch das dickste Seil nach innen nicht mehr zu spüren.

Also rief ich eine Gemögte zur Hunderunde aus der Pause. Fragte nach einer Nachtwache.
Legte mich hin. Dösdisste die Stunden weg und war hellwach, als sie in meiner Tür stand. Überließ ihr mein frisch bezogenes Bett.

Jetzt soll ich endlich den Laptop ausmachen. Ihn zuklappen, genau wie meine Augen.
Es ist, als würden zwei Zahnreihen aufeinanderkrachen und meinen letzten Halt abbeißen.
schnapp klapp
ab

in die Falle H.

and when the rain begins to fall..

„Wart ihr schon mit NakNak* draußen?“, fragt sie mich durchs Handy.
Irgendwie schaffen es ihre Worte, die Härchen in meinen Ohren zu überspringen und sich in meinem Kopf zu verlaufen, ohne eine Schnur zu spannen.
„Ich komme gerade aus einer denkmerkwürdigen Therapiestunde mit dickem Zeitüberzug- ich bin gerade froh zu wissen, wie alt ich bin.“. Ich stolpere den Weg zur Wohnung entlang und hoffe einfach mal, dass sie die Frage noch mal wiederholt- mehr als das Fragezeichen kam gar nicht bei mir an.

„Wollt ihr alleine sein oder wollen wir mit NakNak* rausgehen? Ich hab die ganze Woche an Schreibtischen gesessen.“. Klingt sie genervt? Meine Sensoren krabbeln durch die Leitung und umklammern jede Silbe, bis wir uns dann doch verabreden.

Wir stapfen auf nassen Trampelpfaden über Wiesen und Felder. Üben mit NakNak* neuen Quatsch ein, was sie mit breitem Grinsen und Sambatänzchen begleitet.

Irgendwo zwischen Herumalbern, Mensch- und Hunderaufen, bunte Blätter bestaunen und Fotos machen, ploppt etwas von der Stunde heute und der von gestern auf und spannt einen seidenen Faden.
Ich muss lachen. Wieder nur so ein Seidenfaden. Damit kann ich keinen Anker an mir befestigen.

Ich lache immer noch, als es anfängt zu regnen und alberne Kinderinnens ein Wettrennen zum Auto anstrengen.
Keuchend fallen wir auf die Sitze, während NakNak* auf die Rückbank klettert.
„Das war was!“. Sie grinst mich an und schaut auf das hechelnde Wesen, das etwa 5 Kilo Acker- und Wildlosungsgemisch mit seinem Fell verbunden hat. „Du stinkst…“, sie lacht: „nach dreckiger Hund!“.

Kurze Zeit später muss ich das Radio aufdrehen.
„Das!!!“
„Was?“, mit geweiteten Augen starrt sie an den Scheibenwischern vorbei, auf die graunass eingetrübte Landschaft.

„And when the rain begins to fall you’ll ride my rainbow in the sky
and I will catch you if you fall you’ll never have to ask me why
and when the rain begins to fall I’ll be the sunshine in your life
you know that we can have it all and everything will be alright“

Das flutscht einfach aus meinem Hals. Einfach so. Ganz leicht.
Wann habe ich das letzte Mal gesungen? Wir hatten gestern darüber gesprochen in der Therapie. Diese Biographiestunde, vor der wir uns eigentlich ein Jahr erfolgreich zu drücken geschafft hatten. Ich hatte gesagt, dass ich gut singen kann und, dass das auch das Einzige ist, das ich wirklich als von mir gemacht erinnere.

Sie stimmt mit ein, trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad, während mir die Augen auslaufen.
Das ist das „sozial“, das ich aus Versehen gut kann.

Und mit dem ich zufällig genau das schaffe, was das Kinderinnen, das mir seit Tagen in den Rücken tritt, von mir verlangt: Ihm zu versichern, dass ich es auffangen werde, wenn es fällt. Ohne, dass es sich fragen muss, warum ich das tue. Als Licht in seinem dunklen Moment.
Ihm zu vermitteln, dass es nicht mehr schreien muss, um zu bekommen, was es haben muss.
Deutlich zu machen, dass alles wirklich in Ordnung ist.

Der Radiomoderator lässt das Lied ausklingen.
„Taschentücher sind im Handschuhfach- obwohl- eigentlich wärs jetzt auch ne Gelegenheit laufen zu lassen. Bist ja eh schon nass.“. Wir lachen, als sie ins Bullergeddo einbiegt.

Ich glühe bereits seit einer Stunde vor mich hin und bin ganz froh, dass wir jetzt da sind.
Sie macht es uns beiden gemütlich und kocht Lakritztee.

„Für mich ist es auch wichtig aufgefangen zu werden, wenn ich falle.“, denke ich.
„Ohne darum bitten oder mich dessen versichern zu müssen. Ohne im Dunkeln zu bleiben.
Einfach um zu spüren, dass auch für mich alles in Ordnung ist. Und sei es nur, damit ich dies ehrlich zu den Kinderinnens sagen kann, die es hören und spüren müssen.

Egal, ob es nun wirklich regnet oder nicht.“

die Hängematten im Hof

392095_web_R_K_by_Clara Diercks_pixelio.deDraußen im Hof hingen Hängematten.
Wir durften alle 2 Stunden in den Hof. Rauchen. Kontakt zu Rauchenden von der anderen Station haben. 5 Minuten schaukeln und wieder rein.
Auf Station.
Obwohl ich das Wort „auf“ in Bezug auf „Station“ noch nie verstanden habe.
Ich stieg ja nicht auf etwas drauf, sondern ging viel mehr in etwas hinein.

Sam hatte eine Drogenpsychose.
Oder etwas Ähnliches. Er hatte auf jeden Fall was mit Drogen. Dauernd hatte er seinen Tabakbeutel mit Wasser geflutet und dann den Tabak auf der Heizung trocknen lassen.
Das sollte etwas mit der Stärke machen.
Sam hatte dunkle Haut. Sie rieten ihm deshalb zu Rastas, um das Bild vom jamaikanischen Rastahaschischmann zu vervollkommnen. Sam hatte Halluzinationen von Insekten in seinen krausen Haaren.
Ich glaube, er war froh, wenn er seinen Tabak stark genug bekommen hat.

Diana war schizophren. Und ein bisschen verrückt auch.
Sie hatte mich vor den Hängematten gewarnt. Man könne nie wissen. Sie wuselte, wie eine kleine runde Maus durch den langen Gedärmschlauch in dem sich der Wahnsinn tummelte und doch nur den seltsamen Namen „Station“ trug. Diana hinterließ überall Botschaften. In deutsch, englisch und kauderwelschisch. Geheime Informationen offen zu hinterlassen war ihr Trick. Sie sagte: „Wenn man alles offen schreibt, fangen sie nicht an zu suchen.“ Ich finde das sehr schlau. Bei meinen Rasierklingen hatte das auch immer geklappt. Drei Päckchen klauen kaufen und zwei pseudoverstecken. Ein Drittes suchen sie nicht.
Sie das sind die, die Diana kleine Sender in die Tabletten stecken, damit sie immer wissen, was sie denkt. Deshalb denkt sie oft an Einhörner und Schmetterlinge und nur manchmal daran, wie eklig es aussieht, wenn ihre Gedärme aus den Hängematten quellen.

Tschakkliiien hatte geklaut. Und gelogen. Und mit Jungs rumgemacht. Und sie trug keine ordentlichen Mädchensachen. Und sie hatte ihrer Mutter gesagt, ihr Freund sei ein Kinderficker.
Tschakkliiien gabs gleich drei Mal und in verschiedenen Versionen. Modell Mädelhopper, Modell bunte Doc Martens und Modell Freundschaftsarmband mit Goazeichen. Ich hab zugehört und genickt, wenn sie mir mit glänzenden Augen von irgendeiner Band, einem Konzert oder der Geilheit von Drogen erzählt haben. Sachte von links nach rechts in den Hängematten schwingend, hastig und heimlich noch eine zweite und dritte Zigarette rauchend.
Tschakkliiien kam ins Heim. Der Freund ihrer Mutter kam nicht ins Gefängnis. Schließlich hatte sie ja schon mal gelogen und war deswegen sogar in einer Psychiatrie. Der Freund ja nicht.

Lisa war ein Stöckchen. Ein zittrig zartes Stück Hartholzstock. Sie klapperte ihre Runden im Hof und an den Wänden der Station entlang. Manchmal verwischte sie aus Versehen Dianas Botschaften. Dann huschte sie sachte klickernd in ihr Zimmer und lauschte, wie Diana unter lautem Geschrei über den Flur geschleift und in der Sackgasse- der Endstation Ende von Ende- ausgesetzt wurde.
Lisa aß nicht. Vielleicht weil ihre Holzzähnchen vergammeln, wenn sie Fett oder Zuckerlösung abbekommen. Sie ging zum Essen ins Schwesternzimmer und hob ihren Wollpulli hoch. Sie hatte eine Luke im Bauch, die für Essenseingaben geöffnet und geschlossen wurde.
Sie sagten ihr, sie sei eine wunderschöne Frau. Immer wieder sagten sie ihr, wie schön sie sei. Und wie noch viel schöner sie, mit ein paar Kilos mehr, sein könnte.
Als sie mit einem Herzinfarkt vor einer der Hängematten zusammenbrach, fand ich sie nicht schön. Sie war keine schöne 12 jährige. Sie war ein verhungerndes Kind.

Pätrik und Kevin hatten ADHS. Und viel Langeweile.
Wenn sie keine Langeweile hatten, hatten sie Spaß. Mit Fußball. Kicker. Fangen. Kloppen. Irgendwas mit Actionhelden. Wenn sich keiner um sie kümmerte, hatten sie ADHS.
Ich glaube, sie waren eine Impfung für die Irren. Die Antikörper des Wahnsinns. Eine Dosis krankgeredeter Alltagsschmerz. Sie rüpelten, nervten, witzelten, verärgerten, forderten, ermunterten, johlten und klatschten. Mit Volldampf. Aus allen Poren. Immer.
Warum ständig an ihnen gezogen wurde, habe ich nicht verstanden. Manchmal mussten sie „Dipi“ schlucken. Sie waren die Einzigen, deren Medis nach Süßkram rochen und deren Eltern dauernd angerufen haben.

Ab 19 Uhr war Telefonzeit.
Und freie Rauchzeit. Niemand suchte mich bis 20.30 Uhr. Außer vielleicht Diana, die kontrollieren musste, ob ich nicht gerade von Pferdedärmen erdrückt würde. Man kann ja nie wissen.

Ich guckte in den Himmel und stieß mich immer am Fenster ab. Rauchte bis mir schlecht war. Einmal hatte ich 12 Stück in einer dreiviertel Stunde geschafft. Dann hatte mich Sam gestört, weil er trockenen Tabak zum Rauchen brauchte und ich konnte nicht mehr unterscheiden, ob mir vom Schaukeln oder dem Rauchen schwindelig war.

Für die Irren ist es Telefon- und Wartezeit, für ihre Wärter ein täglicher Parcourlauf mit Hindernissen:
Sam heult, weil der heilige Tabaksaft die Heizung runterläuft und das Telefon zur Abnahme und Weiterreichung klingelt, während Diana mit jedem Ton des Geräts einen spitzen Qiekser von sich gibt, worüber Kevin und Pätrik lautstarkes Gebrülllachen schütten, was eine der Tschakkliiiens zu bändigen versucht.

Ich lag in der Hängematte und schaute ihnen manchmal zu. Inhalierte den Rauch und pustete ihn auf die faustgroße Deoverbrennung auf meinem Unterarm. „Auf Fettgewebe“, dachte ich. Ich dachte immer, es sei Fettgewebe. Meistens war es aber einfach nur die Hautschicht unter dem ledrigen Teil.
Manchmal überlegte ich, was Diana wohl zu so einem Anblick sagen würde. Aber sie war schon so oft im Wartehäuschen der Endstation. Ich wollte nicht, dass sie anfängt zu überlegen, was für Poster sie sich dort aufhängen könnte, um es wenigstens etwas gemütlicher zu haben.

Meine Lieblingshängematte war zwischen zwei Dachpfeilern gespannt. Diese waren rundherum mit Platten gepflastert. Zwischen diese Platten passte genau eine halbe Wilkinson. Schützend eingewickelt, in das Papier der Hülle. Die andere Hälfte passte perfekt in den Hohlsaum der Hängematte.

Das Telefon klingelte nie für mich zwischen 19 und 20 Uhr 30.
Aber ich klingelte zwischen 23 und 1 Uhr nachts nach der Nachtschwester.
Meistens, weil mein Fettgewebe nicht aufhörte zu bluten.

nur die Zeit suchen

Es war in einem Gespräch. Sie sagte, sie habe sich vergewissert, versichert vielleicht. Ich weiß nicht. Ich höre nur mit einem Ohrteilstück zu.
Sie, die Große, die Mutige, Starke redet und ich bin eine Fussel auf ihrer Haut, die jeden Moment von ihr abfallen kann. Da hat sich jemand ermutigt und vergewisssichert. Mutig und doch schlotternd gleichzeitig.

Ich bin zu ängstlich für so etwas. Obwohl der Wille da ist.
Ein paar Versuche machen die anderen. Sie sprechen manchmal für mich. Manchmal wissen sie das nicht einmal. Manchmal bin ich eine Fussel in ihrem Gehirn und aus ihrem Mund, quellen meine Fasergedanken und langfädigen Ängste.

Und manchmal, da ist Versicherungsgewissheit an sich schon genug, um mich zu erschrecken. Dann muss ich so tun, als suchte ich eigentlich etwas anderes als das, was ich eigentlich suche. So gehe ich durch den Wald und tue so, als suchte ich den Herbst. Niemand sollte je auf die Idee kommen, ich klitzekleine Fussel krabbelte über die Beziehung mit anderen Menschen und taste sie mit meinen Faserfadenenden ab.

Nein, nein. Ich laufe durch den Wald und suche den Herbst.

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Nein, ich sehe keine Muster, die mich immer wieder den gleichen kleinen Tod sterben lassen. Mich vor Angst einfach auslöschen lassen. Ich sehe die Adern der Natur, die der Herbst hervortreten lässt.

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„Ich kann allein sein“, denke ich. Ich werde allein gesehen. Das ist doch, was ich immer wollte. „Nein, ich bin nicht Viele. Die anderen vielleicht, aber ich nicht. Ich bin ich allein. Das Viele ist nicht ich.“. Und dann ist dort ein Anblick, der mich tröstet. Ein bisschen versöhnt, vielleicht.

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Niemand soll denken, ich könnte nicht alles gleichzeitig. Niemand sollte je denken, ich würde irgendetwas brauchen, um etwas zu können. Ich bin nicht abhängig von Sichergewissheit.
So wie diese Blumen, die noch immer blühen und viele Insekten ernähren, obwohl der Herbst schon sichtbar, spürbar, nachweislich erprüfbar ist.

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Ich will vor anderen auch einfach so sein. Würden sie spüren, dass ich über das Band zwischen uns krabble, sie würden vielleicht nach mir ausschlagen, wie nach einer der nun verirrt herumsuchenden Bienenköniginnen.
Diese kommen um zu schlafen, den Winter, die kalte Zeit zu überstehen. Nicht um zu bleiben. Nicht, um die Süßigkeiten wegzufressen, Schmerz zu bereiten oder zu stören. Sie kommen um zu überleben. Vielleicht im nächsten Jahr zu funktionieren und zu erschaffen, was gemocht wird. Honig zum Beispiel oder die Bestäubung vieler wunderbarer Blumen und Bäume.

So eine kleine Fussel, wie ich, stört und das weiß ich. Nicht umsonst gibt es Kleiderbürsten und Fusselrollen.
Das Gesprächstückchen mit dem Menschen, der sich versichert hatte… die Starke hatte es von sich gestreift. Keinen Bezug zu sich hergestellt. Ich aber nahm es mir als Grundstoff für eine Mutwolke. Eine Erfahrung aus fremder Welt, wie es sein kann. Wie es ausgehen kann.

In so einer Mutwolke kann ich mich verstecken. Mich tragen lassen vielleicht.

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Auf jeden Fall würde mich niemand sehen.
Niemand würde wissen, ob ich gerade über unser Band krieche, taste, fühle… zu erspüren versuche, was dort sicher ist und was nicht, ob es echt ist oder alles Lüge.

Oder, ob ich nicht doch einfach nur die Zeit wahrzunehmen versuche.
Das Heute erspüren möchte.

abnorme Achsen

Heute morgen rief meine Therapeutin an, um sich zu vergewissern, dass wir ihr die richtige Klinik genannt hatten, in der wir so lange waren und deren Bericht auch als, ich glaube, fast einziger einen umfassenden Abriss der Biographie und Krankengeschichte enthält.

Ich sagte ja und begann meine Unterlagen noch einmal durchzuschauen, ob ich nicht doch auch eine Kopie davon besaß. Ich weiß, ich hatte mal eine. Aber das Ganze ist jetzt 9 Jahre her. Wer weiß, ob nicht doch die erste Einrichtung, die uns gar nicht schnell genug loswerden konnte und nicht wieder zurückwollte, jede Menge unserer Sachen weggeschmissen hatte.
Oder, vielleicht ist er auch in dieser furchtbaren Klinik, in sie uns abschoben, verschwunden. Oder in der Wohngruppe. Oder ich habe ihn der ersten ambulanten Therapeutin gegeben. Oder in der Klinik abgegeben. Oder der Psychiaterin. Oder… vielleicht brütet er in irgendeinem Ordner vor sich hin, wie der Bericht, den ich dann heute wiederfand.

Er enthielt keinen biographischen Abriss, war nicht an eine behandelnde Instanz gerichtet, sondern an ein Amt.
Es ist eine Aufzählung meiner Defizite.
Eine Sichtbarmachung der „abnormen Achsen“.

Ich rief die Therapeutin an und… naja, eigentlich könnte hier jetzt gut stehen, dass ich darum bettelte dieses Ding nicht, wie einen heißen Stein, bei mir tragen zu müssen, bis wir uns morgen sehen. Eventuell vielleicht auch nicht, denn schon wieder wurde das Haus, in dem die Praxis ist, eingerüstet.
Ich sagte, ich fühlte mich angeditscht. Ich hätte eigentlich auch zugeben können, dass mir der Hulk die Faust in den Bauch gehauen hat.

Nicht, weil ich die Klinik furchtbar fand.
Sondern, weil mir heute zum ersten Mal klar wurde, was da eigentlich steht.

Da steht nicht: „Ach keine Bange- in 10 Jahren wird sie mehr schaffen als heute.“
Da steht: „Diese 17 Jährige ist tiefgreifend gestört, kaputt, dysfunktional auf vielen Ebenen, traumatisiert.“.

Ich weiß noch, dass mir damals das Gefühl von Unzulänglichkeit, vielleicht auch Unnormalität – Abgestoßenennormierung sehr nah war. So nah, dass ich oft diese Art kitschig aufdrängender Pseudogedichte schrieb. So etwas wie:
„Wieso ist mein Normal so unnormal für dich?
Wieso ist dein Biest mein Spiegelbild?“
mit Zeilen über mehrere Seiten.
Klar, ich saß permanent in irgendwelchen Kliniken oder Gruppen, wo man sich mehr über mich erschreckte, wenn ich etwas anderes tat, als die Milliardste Runde Phase 10 zu spielen oder eben eine dieser Pseudoblüten der Literatur zu verfassen.

Aber ich konnte nie genau sagen, was es ausgemacht hat.
Vielleicht das Gruppe sein. Das die Gruppe der Bekloppten, der Irren, der Auf-Ver-Abgestoßenen, der Ungebetenen zu sein… obwohl nein, das war normal. Es war ja eine Gruppe- eine Gruppe stellt die Norm. Eine Andere, als die der Menschen, die uns nicht haben wollten. Dies allein aber hatte mir nicht das Gefühl einer Unzulänglichkeit gegeben.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand in mir abnorme Achsen sah. Oder Defizite.
Oder ich wollte es nicht sehen.

Vermutlich wollte ich es nicht sehen. Wer weiß, ob ich die anderthalb Jahre in der Klinik so hätte nutzen können, wie ich es tat, wenn mir die ganze Zeit über klar gewesen wäre, was für ein Objekt der wissenschaftlich- psychologischen Neugier- was für ein Fall, dessen A-Normalität als Reaktion auf eine krankmachende Realität, irgendwie vage doch völlig normal erscheint und doch im letzten Schlenker der Definitionsmacht gänzlich unnormal benannt wird…,  ich vielleicht doch auch darstellte. Neben all der Normalität, die in mir drin ist und dort auch eben zu sehen, hören und spüren war.

Die Therapeutin sagte, es sei okay den Bericht direkt heute bei ihr vorbeizubringen.
Ich war froh, dass ich mich nicht in Erwachsensein üben und das jetzt aushalten musste, dieses schmerzende Zetteldings so bewusst zu haben und zu wissen, dass es da und bei mir ist. Anklagend vom Turm herunterdonnernd auf mich einbrüllend: Du unzulänglich defizitär- abnormes Ding!

Und dann stieg der Wegegänger zwei Stationen früher als sonst aus. Ich weiß nicht was ihn dazu getrieben hat. Ich verstehe ihn ja meistens nicht. Wir liefen fast den gleichen Weg, wie wir ihn mit der Kliniktherapeutin, die diesen schweren Papierklotz in meinem Rucksack geschrieben hatte, gegangen waren, bevor wir hier her zogen.

Ich versuchte mich zu erinnern, ob es damals auch geregnet hatte. Ich weiß nicht einmal mehr, welche Jahreszeit wir da hatten. Winter? Frühling? Ich weiß nicht einmal mehr wirklich, wie sie aussieht. Ich ertappte mich dabei wie ich dachte: „Ach- in 9 Jahren wird sie sicher einen wundervollen Wust weißer Haare bekommen haben und sitzt nun glücklich und zufrieden…“
Ja, es hätte auch ein Gong oder eines dieser Domgeläute sein können, dass mir den Kopf berührte.

9 Jahre. Und ich empfinde so eine Momentaufnahme von damals in Form eines Berichtes, als aktuell schmerzhaft?!
Suche immer noch den ultimativen Beweis für mein nichtreichen, mein nichtgutgenug, mein puttgehtnichtheilezumachen, mein letztes Quäntchen zur Legitimation meiner Selbstentsorgung?
Es hat sich doch soviel verändert, warum kann ich es nicht sein lassen?

Ist dies allein am Ende meine abnorme Achse? Einfach nicht glauben zu können, dass es nichts Abnormes an mir gibt, was meine Selbstzerstörung legitimiert?
Vielleicht ist es damals schon mit aufgelistet gewesen. Vielleicht gibt es dafür auch keine Bezeichnung außer „Selbsthass“. Vielleicht ist es alles der absolute Bullshit. Vielleicht hat sich in 9 Jahren bei mir eigentlich nichts verändert. Die meisten Dinge, die man dem Leben übergibt und von sich stößt, kommen in einer Maskerade wieder zurück. Oder in einer anderen Form. Manchmal kann man sie so versteckt oder in neuer Form leichter annehmen und verändern, als vorher.

Vielleicht ist der Bericht etwas, dass ich genau so brauchte, wie er war. Ich habe ihn in den Briefkasten meiner Therapeutin geschmissen und mich vom Wegegänger tragen lassen. Ich spüre ihn heute, während er damals einfach nur Löcher in meine Stadtbilder fraß. Ich spürte den Regen, die Kälte, die Schwere der Kleidung. Ich bewegte mich in der Stadt, die wir zuerst mit der Kliniktherapeutin zusammen betreten hatten. Alles das beachtete ich bewusster als sonst. Noch aktiver, vielleicht lauernder, als vor dem Moment, in dem ich den Bericht las.

Während einem Moment, in dem der Regen auf das Gesicht platschte, dachte ich: „Hauptsache da sind Achsen. Eigentlich ist es egal, für wen da was normal oder abnormal ist. Es ist fast 10 Jahre her. Für mich ist es normal, wie es ist.“.

mein Auge und der Schmerz ohne Nerven

Sie räumt.
Wieso räumt sie jetzt in der Wohnung herum, wenn sie eigentlich am Telefon sein sollte, um ÄrztInnen anzurufen? Vermutlich räumt sie, gerade weil sie eigentlich etwas Anderes tun sollte.

22326_web_R_K_B_by_Linda Dahrmann_pixelio.deMir tut das Auge so weh. Das linke. Das kaputte. Das Auge, auf dem ich nie besser als verschwommen sehe.
Die Kugel im Kopfloch, die manchmal auch gar keine Bilder hinein lässt. Dann wird sie zum Pfropfen, der den Strom unterbricht.
Das andere brennt und fühlt sich an, wie mit Sand paniert. Jeden Abend wieder.
Es kommt mir vor, als würde das rechte Auge mehr Weg zurück legen. Mehr arbeiten und deshalb schlimmer verdrecken, als das linke.

Sie hat Angst vor Ärzten.
Sie stellen Fragen. Sie sind Fremde. Sie sind Autoritäten, die sie schrumpfen lassen. Manche fassen sie an. Manche, wie ein Augenarzt zum Beispiel, machen sie blind. Oder, wie die Zahnärztin, taub an einer Stelle.

Sie sitzen in Räumen, die komisch riechen. Voll sind und hektisch, obwohl die Abläufe in Zeitlupe zu passieren scheinen. Sie haben Instrumente mit Namen, die selten genannt werden. Geräte, deren Nutzung genauso unbekannt sind, wie das Ziel selbiger.

Und sie alle mögen die Psyche nicht.
Psyche frisst Zeit, verschleiert und verzerrt. Ist das, was am Ende steht, wenn die Symptombeschreibung nicht zusammenpasst.

Sie räumt die Wohnung auf. Sortiert, heftet, archiviert. Spürt den Schmerz im Auge.
Sie sitzt am Schreibtisch und spielt mit einem Zirkel herum. Denkt an Schaschlikspieße mit Glaskörpern darauf. „Wünsche guten Appetit“ denkt sie, während sie die Spitze des Werkzeuges in den Malblock rammt. Direkt in mein Bild vom schmerzenden Auge hinein.

Mein Auge wurde verletzt. Aber es sieht ganz normal aus. Der Schaden ist darinnen.
Wir waren schon mal beim Augenarzt. Der hatte getropft und meinen Kopf in ein Gestell geklemmt, aus dem ich nicht mehr herausgekommen wäre, wenn ich gewollt hätte. Er schaute meine Augen an und sagte, mein gelbgrüner Ring um die Iris herum sei schön. Er sagte, da sei eine Deformierung. Eine Narbe.
Ich dachte an die Nabelschnur von Kükenembryonen. „Vielleicht sieht es so ähnlich aus.“, dachte ich.

Er sagte, man könnte operieren. Das ginge vielleicht. Aber nur vielleicht.
Er sagte, ich müsse dabei wach sein. Mein Augenlid würde fixiert und… Ich konnte ihm nicht mehr zuhören. Jemand unterbrach ihn. Eine Operation käme nicht in Frage.
Er gab uns Tropfen mit, die das Auge besser im Kopf herumflutschen lassen.

Das hatte ganz gut geholfen. Gegen die Schmerzen, die ich jetzt wieder verspüre, helfen sie aber nicht.

„Es ist nur eine Erinnerung.“, schreibt sie auf mein Bild.
„Das Auge kann nicht weh tun. Keine Nerven.“

Es tut trotzdem weh.
Ich glaube, mein Schmerz braucht keine Nerven, um da zu sein.
Vielleicht braucht er nur meine Erinnerung dafür.

Co-Therapeutin Sieglinde

391474_web_R_K_B_by_Heidi Apel_pixelio.deIch nenne es „posttherapeutisches Fieber“.
Nach jeder Sitzung dauert es ein zwei Stunden und der Körper läuft heiß.

Manchmal steigt es nur auf 38° hoch, manchmal kratzt es aber auch scharf an der 40° Marke.
Dann hilft nur liegen, ausruhen, dem Kopf zugucken, wie er zum heißen Pflaster der Gedanken und Gefühle wird. Tee trinken, NakNak* streicheln, Reize runterdimmen.
Oft wird Fieber mit einem Anzeichen für Überlastung gleichgesetzt, als sei der Prozess eine Reaktion, die sich wie ein Knüppel vor den Füßen ausmacht.

Wir nennen es auch „Sieglinde“. Ein sanfter Sieg. Eine Kuschelkämpferin.
Sie kommt, kämpft, siegt und geht wieder.

Was sie bekämpft, weiß ich nicht genau.
Tatsache ist, dass erlebte Traumatisierungen auch auf das Immunsystem einwirken.
Menschen mit Traumafolgestörungen haben, neben vielen anderen Folgebeschwerden durch die körperliche Reaktion auf traumatische Ereignisse, ein erhöhtes Risiko für Infektionskrankheiten und Probleme mit der Zellreparatur. (Literaturempfehlung: „
Das Gedächtnis des Körpers“ von Joachim Bauer)

Früher habe ich mir die Ruhe nicht zugestanden.
„Schwachfug, wegen so nem Gelaber mach ich doch jetzt nicht auf krank!“, dachte ich mir und ging nach dem Therapiestunden zurück in meinen Alltag. Nahm an Lerngruppen und Veranstaltungen teil, räumte in der Wohnung herum oder unternahm übermäßige Ausflüge mit dem Hund.
So provozierte ich öfter mal ein Wechselchaos und brachte mich in echte Überforderungssituationen.

Heute komme ich von der Therapie und will immer noch nicht so schwach sein, wie sich mein Körper anzufühlen beginnt. Also gehe ich mit NakNak* raus oder zum Schwimmen.
Nach manchen Stunden ist das sogar sehr hilfreich.
Etwa, wenn jemand von seinen Erlebnissen gesprochen hat und die Körperempfindungen von damals auch nach der Stunde noch spürbar sind.
NakNak* würde sich schütteln und ausrappeln, indem sie Windhund spielt und über Wiesen flitzt.
Wir machen mit ihr Wettrennen die Berge hinauf oder schütteln uns im Schwimmbad die Anspannung aus den Muskeln.
Wenn wir zurück nach Hause kommen, fällt es mir leichter zu sagen: „Phu- ich bin ganz schön erledigt. Waren ja auch 30 Bahnen/ 8 Kilometer, die ich gerade hinter mich gebracht habe. Erst mal eine Tasse Tee und ins Bett kuscheln.“.

Letzte Woche ging das nicht so schnell. Wir wollten Rosh Hashana mit unseren Gemögten feiern und dann in die Pause gehen. Es war eine schöne Feier und ich spürte Sieglinde nicht besonders.
Am Freitag aber blühte sie richtig auf und war erst heute fertig.

Offenbar hatte sie noch ein paar Viren gefunden, die auch NakNak* als Veranstaltungsort ihrer Party auserwählt hatten. Für uns beide war es aber auch eine große Woche, sodass ich mir nicht ganz sicher bin, ob es wirklich Viren gab.

Unseren Hund in die Hände anderer Menschen zu geben, wenn wir so weit weg sind, löste einiges an Ängsten aus, die sich irgendwo in mehr oder weniger gut verpackten Kisten austobten, neben den Kisten, in denen es sich Unsicherheiten auf die Reise und ihre Vorbereitungen so richtig gemütlich machten.

Wir haben viele Erwachsenensachen gemacht. Viel Freiheit praktiziert und vor sich hin brütende Konflikte angerührt. Obendrauf kam die erste Therapiestunde nach 4 Wochen Urlaub der Therapeutin und der Feiertag.

Die erste Therapiesitzung nach einem Urlaub ist für uns schwierig.
In 4 Wochen gibt es jede Menge Freiraum für die Therapeutin zu erkennen, dass wir ein hoffnungsloser Fall sind. Oder nervig. Oder übermäßig kräftezehrend. Oder eigentlich doch gar kein Mensch, den man sich freiwillig jede Woche in sein Zimmer holt. Es gibt auch Raum für die Erkenntnis, bisher Schrotttherapie gemacht zu haben.
Das sind jedenfalls die Ergebnisse zu denen wir immer kommen, wenn wir 4 Wochen Therapiepause haben.
Neben der fast noch schlimmsten Erkenntnis, sich ernsthaft an einen anderen Menschen gebunden zu haben, die in der ersten Woche, trotz aller Bemühungen ihn im Kopf sterben zu lassen, ihre Wellen auslöst.

Ich hatte eine Veränderung bemerkt im Vergleich zu früheren Therapeutinnen.
Da gab es das natürlich auch. Ängste, dass sie nicht wieder zurück kommen, uns für immer verlassen, nicht mehr haben wollen. Doch damals kippten diese Ängste dann leichter in ein Funktionieren, das eine stumpfe Ausrichtung auf den Alltag zur Folge hatte. Das dauerte eine Woche und schwupp war klar: „Sie kommt nicht wieder- vergiss sie- du hast hier zu tun- alles ist wie vorher.“ Das ging auch mit einem gewissen Schmerz einher. Einer Art Trauer und einem Hadern.
Aber ich habe nie erlebt, dass wir darüber geweint hätten, wie es diesmal passierte.
Das Kippen in den Funktionsmodus funktionierte nicht mehr rund. Plötzlich saßen da Innens, die auf sie gewartet haben. Auf einmal machten Innens Notizen zum Therapieverlauf und Themen, die zu besprechen sind, wenn der Urlaub vorbei ist.
Statt wie sonst in der dritten Woche, gänzlich an einem Punkt angekommen zu sein, an dem die Verbindung nach innen fast gänzlich gekappt ist und das reine Funktionieren abgespult wird, gab es die Erkenntnis, dass wir jemandem einen Platz nah an uns dran gewähren, der uns auch mit nur einem Satz zu Grunde richten kann.

Zum Glück hatten wir in der letzten Woche dann so eine Agenda umzusetzen. Keine Zeit sich in der Angst darüber zu verlieren, kein Platz für ein wirres Treiben zwischen Früher und Heute. Das Heute knallte in bunten Farben auf uns ein und riss uns mit.

Und dann stand das Mädchen in der Praxis, das uns in der Woche durch alle Erwachsenenchallenges getragen hatte, während wir im Hintergrund festhielten, was sich möglicherweise an die Beine der Therapeutin geklammert oder sonstige Peinlichkeiten produziert hätte.

Schon im Wartezimmer spürte ich die ersten Schritte von Sieglinde, auf ihrem Rundgang zur Zellenbefreiung.
Vielleicht von Ängsten.
Vielleicht von Vergangenheitsgift.

Ich glaube, Sieglinde kommt nur, um uns frei von allem, was uns schaden oder behindern könnte, der Freiheit und allem Neuem widmen zu können.
Wenn sie weg ist, fühle ich mich stark und bereit neue Erkenntnisse anzunehmen und umzusetzen.
Etwas, das die wahren Knüppel vor den Füßen, nämlich alle Ängste und alle alten Überzeugungen, nie tun.

Ich glaube Sieglinde ist unsere körpereigene Co- Therapeutin.
Auf sie müssen wir uns genauso einlassen, zu einer Verbündeten machen, wie unsere Therapeutin.