weites Feld

„Stressmagen“ Das Wort poltert in meinem Kopfmund herum, als ich die Praxis meiner Hausärztin verlasse. Ich habe schon wieder eine Magenschleimhautentzündung, der Stress ist schuld. Und das Ibuprofen, obwohl ich es gar nicht mehr täglich und auch schon lange nicht mehr chronisch überdosiert nehme.
Mein Schmerzproblem bleibt. „Das ist ein weites Feld“, sagt meine Hausärztin, „Das ist zu unkonkret“ mein Partner. Das stresst mich, denn es fühlt sich an, als läge dieses weite, unkonkrete Feld zwischen uns. Als müsse ich akzeptieren, dass es ist, wie es ist und nie anders sein wird.

Seit einem halben Jahr habe ich die Webseite einer Schmerzambulanz in den Lesezeichen meines Browsers und genauso lange demotiviere ich mich selbst, mich dort vorzustellen.
Sehr viele Gewaltopfer leben mit chronischen Schmerzen; sehr viele Menschen mit Uterus durchleben die zyklischen hormonellen Veränderungen in ihrem Körper mit Schmerzphänomen; Stress ist ein Gift, dem viel zu viele Menschen jeden Tag über lange Zeit ihres Lebens ausgesetzt werden – m.eine (Er.)Lösung zu finden, wird sich in einem Aufwendigkeitsbereich bewegen, der nicht zu rechtfertigen ist. Ich bin in Traumatherapie, möchte meine Möglichkeiten Kinder zu gebären nicht verlieren und lebe nicht in einer Welt, in der ich irgendetwas ohne Stress machen kann.

Am nächsten Tag ziehe ich meine Bahnen im neuen Schwimmbad. Mein Magen tut weh, meine Oberschenkelknochen, meine Hüften, der untere Rücken tun weh, meine Muskulatur fühlt sich an, als versuche sie, sich von meiner Wirbelsäule abzulösen. Ich kämpfe mich ins High, werde warm und könnte heulen vor Selbstmitleid. Was ist das für eine beschissene Gesamtscheiße. Warum bin ich immer noch so trapped in Schmerz. Warum hört es nicht endlich auf.
Nach einer Stunde ist mir egal, dass mir alles weh tut. Alles ist wattiert, summt, ist lebendig und beweglich. Ich trinke einen Kaffee im Auto und höre dem frühen Vogelzwitschern zu. Mein Tag ist wieder ziemlich voll. Mit schönem, gewollten, mit sehr frei gewählten Projekten und Arbeiten. Lieben Kontakten, spannenden Themen, schaffbaren Aufgaben. Und keine 2 Millimeter dahinter eine grenzenlose Qual, die so diffus ist, so unkonkret, so viel NICHTS.

Jetzt versuchen wir ein anderes Schmerzmittel. Eine am Tag, immer um 10.
Es kommt mir vor, als würde ich eine Lüge schlucken, weil mir klar ist, dass mein Schmerz auch etwas mit Erinnerung zu tun hat. Aber wie genau, weiß ich nicht.
Auch das ist ein weites Feld.

Freeze, Fight, Flight … and then fawn on

Mir ist ein Ende eingefallen. Ob es das Ende eines Males war, keine Ahnung. Sowieso irrelevant, eigentlich. Vielleicht.

Es ist ein Danach und das ist das Besondere. Kein Mittendrin oder Irgendwo, ein direktes Hinterher, dessen Schlimmheit ein diffuses, subtiles Irgendwas ist. Der Blick von oben auf den harten Tüll am Bund der hellen Socken, dessen Muster wie Sonnenstrahlen vom Knöchel abstehen. Die kugelige Plastikdose mit Schraubverschluss, in der dragierte Kaugummifrüchte liegen. Die Erlaubnis, sich welche zu nehmen. Das Danke. Die schwere Hand, die meinen Schädel in sich zerquetschen könnte, aber nur zweimal draufpatscht, wie auf die Flanke eines Hundes. Das Liebsein. Während der Kaugummi im Kopf kracht. Während seine Säure auf offene Stellen trifft. Während sich der Geschmack der Gewalt mit dem Geschmack der Süßigkeit vermischt. Während die Welt in ihren Angeln schwankt. Kein Weinen, kein Ausspucken, kein „Kann ich jetzt gehen?“ Stattdessen dem Täter in die Schuhe helfen, eine Schleife binden und die Jacke holen. Die Tür aufhalten und lächeln. Lächeln, über seine Bemerkungen kichern, den zweiten Kaugummi in den Mund stecken, lächeln, lächeln, lächeln

Fawning ist noch nicht oft Thema als traumareaktives bzw. gewaltreaktives Verhalten. Dieses eine spezielle Liebsein. Das sich kümmern. Nicht mucken, mitmachen. Immer verfügbar sein. Keine Grenzen haben, alles hinnehmen, alles aufnehmen. Alles tragen. Vor allem die Verantwortung, die sonst niemand trägt. Das Mitdenken. Die Hilfs_Bereitschaft, die Hilfe_Anforderungen im Keim erstickt.
Es ist ein Selbst_Schutzverhalten. Es ermöglicht ein Sicherheitsgefühl durch (vermeintlich) überschaubare Selbstwirksamkeit. Vermittelt das Gefühl (wieder) etwas unter zu Kontrolle zu haben oder haben zu können, wenn man nur an alles denkt.
Manche Kinder verbringen die Hälfte ihres Alltages in Misshandlungsfamilien mit dem Beschwichtigen, dem Versorgen, dem Helfen … der Fürsorge ihrer Eltern, damit sie sich nicht oder wenigstens weniger um die eigene Sicherheit sorgen müssen. Während sie selbst nicht (genug) von ihnen versorgt werden.

Wenn man als Mädchen eingeordnet dauernd lächelt, wird man belohnt. Mit Nichtangriff. Was nicht das Gleiche ist wie Nichtübergriff.
Wenn man als Mädchen eingeordnet immer lieb hilft, wird man belohnt. Mit Zugang. Was nicht das Gleiche ist wie Teilhabe.
Fawning ist die Strategie, in die traditionell Mädchen hineinerzogen werden, um sie zu schützen, weil sie ebenso traditionell nicht ermächtigt werden und also ohne jedes eigene Zutun geschützt sind.
Jungen, die immer lieb sind; die immer helfen, die immer da sind; werden in diesem Verhalten oft nicht als schutzsuchend erkannt, weil sie häufig schon nicht als schutzbedürftig erkannt werden. Denn Jungen sind ja keine Mädchen. Jungen, die helfen, sind einfach nett. Manchmal auch viel zu nett für diese Welt.

In meiner Erinnerung von diesem Ende geht es also auch ums Überleben. Und trotzdem beschäftigt mich seitdem das Gefühl des Mitgemachthabens. Weil es so kooperativ wirkt. So ver_bindend.

Ich weiß, dass ich daraus kein Einverständnis ableiten kann. Keine Zustimmung. Und erst recht keinen Willen oder Wunsch.

Aber. Es ist auch nicht die Abwehr, die ich selbst, hier und heute, empfinde.

Autismus, Trauma, Kommunikation #9

Gestern war #AutisticPrideDay und vorgestern hatten wir eine Therapiesitzung.
In mir hallte nach, dass die Therapeutin sagte, sie hätte sich ganz fest vorgenommen immer mitzudenken, dass wir eine autistische Jugendliche waren. Damit im Hinterkopf schrieb ich gestern in einem (hier von Schreibfehlern bereinigten) Thread (Link zum Thread) bei Twitter:

„Kurz nach der Autismus-Diagnose haben wir verstanden, dass unsere Wahrnehmung von sensorischen Eindrücken immer wieder zu Traumatisierungen geführt hat, die niemand sah, verstand, nachvollziehen konnte und die bis heute kaum besprechbar sind – außer mit anderen Autist_innen.
Wie es ist, immer Angst haben zu müssen, dass man von einem Geräusch zerfetzt, von einem Geruch praktisch bewusstlos geschlagen, von Farben blind geblendet wird, weil man nie weiß, wann wie wo es passiert und wie schlimm auf dieser Skala von „Hm ok“ bis „sich dem Tod nah fühlen“ es wird, das verstehen ansonsten nur noch Leute, die chronisch krank oder chronisch misshandelt wurden wirklich richtig, als die Belastung, die Verwundung, die es darstellt.
Gestern – 6 Jahre nach der Autismus-Diagnose und 19 Jahre nach der DIS-Diagnose – habe ich begriffen, dass ich ein autistisches Kind war, das Gewalt erlebt hat, UND eine Umwelt, die – egal wie lieb und traumasensibel! – nicht nicht traumatisierend hat sein können.“

Ich erinnerte mich an die Krise im Herbst/Winter 2015, die von dieser Erkenntnis ausgelöst worden war. Von der Ent_Täuschung, dessen was unserem Ausstieg und auch einem Großteil der Therapie- und Lebensmotivation zugrunde lag: Die Idee, es gäbe einen Ort des Grauens außerhalb von uns, den wir nur verlassen müssten, um ein lebenswertes, unbelastetes Leben führen zu können.

Die Idee, wir müssten im Grunde nur unser Verhalten ändern – unsere Kommunikation verbessern, unsere Therapie besser machen – um unsere Traumatisierungen abzuarbeiten, die uns dann weder weiter belasten noch uns je wieder passieren.
Die Idee, unsere Belastung wäre etwas, das uns mal passiert ist, aber heute nicht mehr.

Obendrauf kam damals noch ein Gefühl des ungesehen und betrogen worden seins. Von Therapeut_innen, die uns oft und auch erfolgreich (und in ihrem Kontext auch richtig) vermittelt haben, dass wir keine Schuld haben. Dass aus uns heraus nichts kommt, was die Belastung, die Traumatisierung „gemacht hat“, sondern aus dem Verhalten der Täter_innen und manchmal auch einfach ungünstige Zufälle.

Ich dachte damals über Suizid nach, weil ich die Traumawahrheiten bestätigt gefühlt habe, die mir gegenüber oft als blanker Unsinn abgetan wurden, selbst wenn man sich uns achtsam, traumasensibel und fürsorglich gewidmet hat: „Es hört nie auf.“ und „Die Menschen, die Welt und mein eigenes am Leben sein, sind mir feindlich gesonnen.“

Ich habe mich damals nicht bereit gefühlt für einen Kampf um mich, der beinhaltet, nicht nur gegen altes und dissoziiertes vorzugehen, sondern irgendwie auch gegen mich selbst, obwohl mir zu dem Zeitpunkt schon völlig klar war, dass das überhaupt nicht geht. Sensorische Probleme sind keine Innens mit gegensätzlicher Meinung oder eine unwillkürliche Fight-Flight-Freeze-Reaktion – sie sind das Ergebnis von neurodiverser Verkabelung. An sich sind sie nicht einmal Probleme, sondern schlicht, das was in diesem Körper, mit diesem Gehirn, in dieser Lebensumgebung nun einmal so ist. Die Probleme entstehen, wenn die Umwelt nicht dazu passt. Und die meisten Dinge, die für mich zu Problemen führen sind einfach nicht zu ändern. Die muss ich über mich ergehen lassen, auch dann, wenn ich mich dabei psychisch komplett auflöse, weil mich der Schmerz zerreißt oder die Überreizung zerfetzt.

Heute merke ich, dass es uns guttut zu hören, dass unser Umfeld das mitdenkt. Auch wenn es sie vielleicht manchmal nervt, sie nicht alles gleich auch empfinden und vielleicht manchmal auch heimlich denken, dass wir uns manchmal nur anstellen oder übertreiben. Eine Komponente, die ein Trauma zu einem Trauma macht – und ein Trauma zu einem Komplextrauma werden lassen kann – fällt damit weg: Dass man allein damit ist und bleibt. Dass man keinen Landeplatz für Trost hat. Für bedingungslose Unterstützung im Umgang damit.

Diese Funktion hat damals der Begleitermensch übernommen. Dann nach und nach unsere Gemögten und der Partner.

Jetzt auch unsere Therapeutin.
Das macht nichts gut oder weg. Aber okay genug, um weiter für und um die Verbindung mit ihnen, der Welt und dem eigenen am Leben sein zu kämpfen und es sich so angenehm wie möglich zu gestalten.

Und was, wenn..?

Ganz oder gar nicht, das ist etwas, was uns häufig als problematische Haltung eingeordnet wird. Oft, weil man denkt, wir würden traumalogisch urteilen, manchmal weil man selbst mehr als zwei Optionen zu sehen glaubt und uns diese Alternativen vorschlagen möchte.

Ja, wir sind ein rigider Mensch. Sehr scharf, sehr klar, sehr starr in unseren Entscheidungen. Einmal etwas angenommen, wird es schwierig etwas davon wieder aufzulösen. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Wir sind konsequenter als viele andere Menschen und hartnäckiger. Damit sind wir aber auch nerviger und verursachen mehr Umstände als viele andere Menschen.
Wenn wir wissen, was wir wollen, dann tun wir alles, was nötig ist, um es zu erreichen. Auch, wenn wir eigentlich nicht mehr können. Auch, wenn es vielleicht für alle anderen Menschen als zum Scheitern verurteilt erscheint. Wir ziehen durch, weil wir uns durchzuziehen vorgenommen haben.

Wir haben uns vorgenommen zu leben, also sind wir ausgestiegen, haben angefangen zu essen, zu trinken, uns zu versorgen. Obwohl es weh getan hat, obwohl es schlimm war und manchmal noch heute ist. Wir ziehen das durch mit allen Konsequenzen. Das war eine Entscheidung und damit in unserem Empfinden keine Wahl mehr. Wir hätten wählen können, ob wir uns entscheiden oder nicht, aber einmal entschieden ist ent_schieden, also vereint auf die eine Linie.

Fehlannahmen sind für uns schwierig, aber lösbar. Wir treffen unsere Entscheidungen in der Regel basierend auf Fakten und Erfahrungswerten. Stimmen die Fakten nicht oder sind unvollständig, fällt es leicht, die darauf beruhenden Entscheidungen zu widerrufen und zu neuen Einsichten zu gelangen.
Was aber bei Dingen, die eine Folge unserer Entscheidungen sind und selbst eine Entscheidung abverlangen?

Wir können bei unserer Entscheidung für das Leben bleiben, sind aber dennoch mit den Entscheidungen über unsere Lebensqualität konfrontiert. Ist unsere Lebensqualität nicht gut, müssen wir unsere Entscheidung für das Leben neu überdenken, was wir nicht mehr wollen. Wir wollen nicht mehr infrage stellen, ob wir leben wollen, können, dürfen, sollten. Und doch müssen wir auch diesen Strang immer mitdenken. Denn entweder wir denken vollständig über Dinge nach oder nicht. Wie tragisch wäre ein halb durchdachter Suizid, wie grauenhaft ein halb erfülltes Leben?

Unsere Neurologin regte mich, in Bezug auf unser Therapie~ding~, dazu an, auch daran zu denken, dass die von uns gewollte Traumaverarbeitung als Therapieziel vielleicht nicht erreichbar ist. Ein Gedanke, den wir von Beginn der Therapie an vermeiden, um so wenig Raum wie möglich dafür entstehen zu lassen, dass das, was wir da tun sinnlos, falsch, zum Nachteil von anderen belasteten Menschen und der Therapeutin sein könnte. Wir wissen, dass, sobald wir dem Raum geben, der Fall in Altes sofort folgt. Traumawahrheiten wie „Du kannst nichts dagegen tun“, „Es wird nie aufhören“, „Was hast du gedacht – hast du gedacht, du könntest irgendwas bestimmen/kontrollieren.“ und Ähnliches senken unsere Therapiearbeitsmoral, lassen uns Kraft verlieren und am Ende auch Lebensqualität. Es wird schwierig nach innen zu motivieren und unmöglich innere Bünde aufrechtzuerhalten, die komplett auf Hoffnung und Vertrauen in die Möglichkeit der Zielwerdung beruhen.

Seit wir mit der DIS diagnostiziert sind, haben wir als Therapieziel, das Erfahrene zu verarbeiten. Seit 18 Jahren trägt uns diese Entscheidung und seitdem nehmen wir es als Auftrag an uns als Patient_in an. Wir müssen wollen, wir müssen therapiearbeitsfähig sein, wir müssen unsere Vermeidungsstrategien erkennen und auflösen, denn das ist unser Ziel. Traumaverarbeitung, um klarzukommen, um ein insgesamt befriedigendes, erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Weil in den letzten Jahren vor allem die Vorarbeiten für dieses Ziel im Vordergrund standen, war nie Thema, ob es überhaupt wirklich erreichbar ist. Was wenn nicht? Was machen wir dann? Sind wir bereit unser Leben lang, mit unverarbeitetem Trauma zu leben? Mit Flashbacks, mit Alpträumen, mit dissoziativen Brüchen, mit biografischer Amnesie, mit all dem psychosomatischen Kladderadatsch? Als wir uns für das Leben entschieden haben, haben wir uns nicht für so ein Leben entschieden, sondern für eines, das wir uns gut gestaltet haben würden. Eins ohne Trauma als alles bestimmende Größe.

Ich bin nicht bereit für so ein Leben. Für irgendeine funktionale Vermeidungsstrategie. Für dunkle Geheimnisse oder unberührbare Themenzonen haben wir nicht Kraft, nicht dauerhaft, nicht den Rest unseres Lebens.
Ja, „der Rest unseres Lebens“ ist wieder eine sehr absolute Aussage. Ja, wer weiß, was in 10 Jahren ist blablabla – aber die 10 Jahre müssen erstmal gelebt werden. Irgendwie muss man ja aushalten, zu leben ohne Aussicht auf eine Veränderung oder natürliche Auflösung der Schwierigkeiten. Ich bin nicht bereit, mich durch 10 scheiß Jahre zu quälen, nur weil danach eventuell vielleicht irgendetwas passiert, das alles anders macht als jetzt.
Wir sind Mitte 30, wir haben noch so viel mehr Zeit für ein geiles Leben mit ordentlich aufgeräumter Traumascheiße auf dem Dachboden, wie um alles in der Welt könnte ich mich damit ok kriegen, das nicht zu erreichen? Und wozu? Und für wen?

Ich würde damit sagen: „Ja, gut, gibt halt keine oder nicht die richtigen Therapieformen oder -mittel, dass ich das hinkriege“ und die Hände in den Schoß legen, weil ich halt kein_e Therapieform- und mittel-Ausdenker_in bin, sondern irgendwelche Leute, die bei ihren Formungen nicht an autistische traumatisierte Menschen denken.
Und wie zum Henker soll mich das kaltlassen. Warum um alles in der Welt soll ich das ok finden und mich halt damit abfinden, dass es ist wie es ist, kann man nix machen, muss man halt leiden.
DAS IST DOCH DER GLEICHE SCHEIß WIE FRÜHER UND OB ICH DAFÜR 18 JAHRE PSYCHOTHERAPIE GEMACHT HAB WILL ICH WISSEN

Atmung

Nein, es ist keine Option. Kann es nicht sein.
Wir haben uns für etwas anderes entschieden und vielleicht schützt uns, unsere Rigidität an dieser Stelle vor etwas, das uns das Leben kurz erleichtert, weil es uns einen Kampf abnimmt, aber auf lange Sicht nicht dazu beiträgt überhaupt für sich einzutreten, sich um sich zu kümmern und also an der eigenen Lebensqualität mitzuwirken.

traumabasierte „Entscheidungen“ erkennen und was helfen könnte

Es gibt traumareaktives Verhalten, das man selbst als Entscheidung wahrnimmt.
Man glaubt, man würde sehr rational bewerten, würde das einzig Mögliche Richtige tun; in eine Zukunft handeln, die besser wäre als ~alles~ jetzt. Und dann bleibt man bei Menschen, die eine_n nicht gut behandeln, verlässt von jetzt auf gleich eine Arbeitsstelle, Freund_innen, die Stadt, das eigene Leben. Oder man geht invasiver vor als nötig, wendet körperliche, seelische, psychische, ökonomische, strukturelle Gewalt an und lügt, um die eigene Ohnmacht, Angst, „Schwäche“ so weit von sich zu weisen bis man sie nicht mehr fühlt.

Dieses Verhalten dient der Stress- und Emotionsregulation. Alle Menschen kennen dieses Verhalten von sich, nicht alle haben dazu auch eine komplexe Traumafolgestörung, die es ihnen erschwert, es auch als solches zu erkennen und zu verändern.
Traumareaktive/traumabasierte Entscheidungen werden oft gefällt, um unaushaltbare Gefühle zu beenden vermeiden. Emotionale Betäubung zu  unterbrechen, bedrängende Ohnmachtsgefühle, Verwirrung, Unsicherheit, die an Todesangst erinnert, zu stoppen verdrängen. Häufig werden auch Probleme, die sich durch das Fehlen eigener Werte und Meinungen oder der Angst, diese zu vertreten, ergeben, mit  solchen Entscheidungen gelöst aufgeschoben.
Nicht jede traumabasierte Entscheidung ist deshalb irrational oder falsch – aber sie ist nicht wirklich selbstbestimmt, nicht so frei, wie nicht traumatisierte Menschen entscheiden können und in der Regel dient sie der Kompensation von Problemen – nicht der Lösung.

Traumabasierte Entscheidungen bestätigen so gut wie immer auch Traumawahrheiten. Also die Wahrheiten, Einsichten, Ideen, die man brauchte, um der erlittenen Traumatisierung Sinn und Kontext zu bieten. „Mir wurde XY angetan, weil ich … bin.“, „Alle [Berufsbezeichnung/Geschlecht/äußerliche Eigenschaft/sonstige Zugehörigkeit des_der Täter_in] sind abstoßende Arschlöcher“, „X ist tödlich/Y ist lebensgefährlich“, „Ich habs nicht anders verdient, weil ich …“
Traumawahrheiten sind keine Lügen. Sie sind nur nicht so umfassend, belastbar richtig, wie man sie wahrnimmt – und so manche Traumawahrheit ist als Legitimationsgrund für Gewaltausübung sehr tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Etwa: „Leute, die X tun, sind selber schuld, wenn dann Y [etwas Schlimmes, Traumatisierendes] passiert.“

Woran erkennt man eine Traumawahrheit?
Sie dreht sich immer (irgendwann in der Argumentationskette) um Leben und Tod, um 100 % richtig/wahr und 100 % falsch/gelogen, um Top oder Flop. Es gibt kein Dazwischen, kein „Moment mal kurz…“, keine Optionen für Gleichzeitigkeit. Sie sorgt dafür, dass man an sich selbst einen anderen Maßstab anlegt als an andere Menschen.
Und was viele Traumawahrheiten noch auszeichnet, ist der Zirkelschluss. Also eine logische Kette, die immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückfindet und sich damit selbst bestätigt. Das ist die Eigenschaft, die viele Traumareinszenierungen anstößt und auch diesen Erfahrungen wiederum Kontext und Logik gibt.

Was kann man tun, wenn man merkt, dass man sich in einer Situation befindet, die zu traumabasierter Entscheidung führen könnte?
Was mir gut hilft ist, zu prüfen, wie erwachsen meine Gefühle und Einschätzungen zu einer Situation gerade sind und wie erwachsen ich mich fühle in Bezug auf das Entscheiden selbst.
Für mich ist ein Marker für „Ich fühle mich erwachsen“, dass ich mich traue, in Betracht zu ziehen, gar keine Entscheidung zu treffen und mir Zeit dafür zu erbitten oder sie mir zuzugestehen. Ich weiß, dass mein erwachsen sein, mein überlegt und rational sein, im vorderen Teil meines Gehirns steckt und dass dort tendenziell Sendepause ist, wenn ich Zeitdruck habe. Also sorge ich für so viel Zeit, wie ich aushalten und vor anderen auch verantworten kann. Das kann ein Zeitraum von 5 Minuten sein, es können aber auch Wochen und Monate sein. Je länger ich mir, uns, Zeit für eine Entscheidung gebe, desto breiter wird das Spektrum dessen, was die Entscheidung für mich, für uns, bedeutet. Aus einer 1 oder 0-Entscheidung wird so eine 1 oder 2 oder 3 oder 4 oder auch gar nix-Entscheidung und dies wiederum erfordert auch mehr Überlegung (Erwachsenheit) von mir und festigt mich in der Situation.
Denn was das Kindliche, Jugendliche, Traumatisierte in mir sehr gut kann, sind 1 oder 0-Entscheidungen. Also die klassische Traumamechanik. Alles, was schnell gehen muss, um das Überleben zu sichern. Die Dinge, mit denen ich heute konfrontiert bin, sind aber Entscheidungen des Lebens. Gestaltungsfragen, wenn man so will. Wenn ich uns mehr Zeit gebe, können sie diesen Unterschied manchmal miterleben, was hilft, wenn es darum geht noch mehr zwischen früher und heute zu unterscheiden.

Was mir auch hilft ist, ist zu prüfen, ob ich Angst vor den Konsequenzen meiner Entscheidungen habe.
Das ist ziemlich tricky, weil oft auch extrem konfrontativ, aber manchmal muss man da durch, weil es nur so weitergeht. Eine Situation kann zum Beispiel sein, dass man sich überlegt eine Beziehungsperson zu verlassen, weil man nicht (mehr) zufrieden ist mit der Beziehung. Dann kann es sein, dass man vor allem kindliche Panik vor dem Beziehungsabbruch spürt – aber auch die erwachsene Überforderung (die Todesängste triggert) vor einem Leben ohne irgendeine Beziehungsperson im Leben.
Und dann hilft es vielleicht zu gucken: Habe ich wirklich keine andere Beziehungsperson in meinem Leben? Wofür genau brauche ich eigentlich eine Beziehungsperson in meinem Leben? Sterbe ich, wenn da keine_r ist oder ist es nicht vielleicht eher so, dass ich aus mir heraus keine Selbstfürsorge oder -versorgung oder Lebensziele und -sinn aufrechterhalten kann/will/werde, weil noch nie alleine gemacht? Das sind schmerzende Fragen und vielleicht geht man mit Antworten aus dem Prozess, die niemand wissen darf, weil es so peinlich ist – aber was sich daraus ergibt, hilft eine reflektierte, informierte Entscheidung zu treffen.

In Bezug auf die kindliche Panik, die man in so einer Situation vielleicht fühlt, nur eine Sache: Man hilft Kindern nicht, wenn man ihnen gibt, was sie wollen, weil sie Todesangst haben – man hilft ihnen, wenn man ihnen die Todesangst nimmt, indem man für Sicherheit sorgt. Und man ist nicht in einer sicheren Situation, wenn sie Todesangst auslöst.

Überforderungsgefühle von erwachsenen Menschen werden selten benannt. Meistens, weil sie mit Schwäche und Unfähigkeit verbunden werden und deshalb auch mit Minderwertigkeit. Überforderung ist aber nichts weiter als ein Marker dafür, dass etwas fehlt. Vielleicht braucht es Fähigkeiten, vielleicht Werkzeug, vielleicht Unterstützung, vielleicht eine Änderung der Aufgabe – alles Dinge, die übrigens in Bezug auf schwierige Erfahrungen den Unterschied zwischen Trauma und „belastendes Lebensereignis“ ausmachen. Überforderung ist das Stück vor Trauma, das zu spüren im Alltag für mich enorm an Wichtigkeit gewonnen hat. Reguliere ich meine Überforderung, reguliere ich das traumatisierende Potenzial von neuen Erfahrungen, neuen Aufgaben, plötzlich eintretenden Sondersituationen.
Auch hier ist es natürlich wichtig wieder zu gucken, was ich wirklich selbst regulieren kann, aber in Bezug auf wichtige, große Entscheidungen, die ich für mich selbst treffe, ist es einfach wichtig, dass ich mir klarmache, dass ich mit Überforderung etwas machen kann und ihr nicht so hilflos ausgeliefert bin wie in früheren traumatisierenden Situationen.

Was möglicherweise noch helfen könnte, ist eine Liste zu haben, auf die man sich in Bezug auf das eigene Leben geeinigt hat. Oder eine Liste mit Dingen, die einem_einer einfallen, wenn man sich fragt, was man im Leben möchte, was man vom Leben möchte oder woraus das eigene Leben bestehen soll. Wichtig dabei: Nicht als „Irgendwann mal in der Zukunft, möchte ich…“ gedacht oder formuliert, sondern ganz konkret, jetzt und hier.
Bei uns steht drauf, dass wir leben wollen, dass dieses Leben nicht mehr wehtun soll und dass wir uns so in unserem Leben auskennen (können) wollen, dass wir darüber erzählen können. Das sind Punkte, die wir uns erarbeitet haben und die wir als Messlatte für alles herannehmen.
Das heißt nicht, dass wir jeden Schmerz vermeiden und auch nicht, dass wir uns zum Beispiel gegen das Schweigen über unser Leben entschieden haben, aber es bedeutet, dass wir uns zum Beispiel auf jeden Fall von Menschen trennen, die uns (wiederholt) verletzen oder unseren Schmerz am Leben nicht ernst nehmen oder erleichtern helfen und auch, dass wir so lange weiter Traumatherapie machen, bis wir uns für uns genug und sicher im eigenen Leben auskennen (und uns das auch nicht gegenseitig erschweren oder verunmöglichen) bzw. so lange wir es aushalten, daran zu arbeiten.

Was noch helfen könnte, ist sich mit jemandem zu beraten, die_r nicht von der Entscheidung betroffen ist. Am besten mit jemand, die_r Traumalogik kennt, versteht, enttarnen kann. Es nutzt überhaupt nichts, wenn mir in einer Situation, in der in mir nur noch traumalogisches Denken passiert und meine Entscheidung eigentlich eine Reaktion ist, eine andere Person mir ihr (untraumatisiertes) Bauchgefühl zur Situation mitteilt. Ja, das kann auch mal passen, aber das hilft mir nicht, von der Reaktion zur informierten, erwachsenen Entscheidung zu kommen.
Ich brauche dann jemanden, die_r mich fragt, was ich fühle, was ich denke, welchen Druck ich spüre und mir anträgt zu prüfen, ob und wenn ja in welchen Aspekten, diese Gefühle wirklich heutig und der Situation angemessen sind. Jemand, die_r emotionale Distanz zu meinem Problem einhält und mir so zeigt, dass das überhaupt möglich ist.

Und, wenn eine andere Person involviert ist, kann es helfen, mit dieser Person über diese Entscheidung zu sprechen.
Manchmal entstehen Dynamiken zwischen Leuten, in denen man sich gegenseitig in Reiz-Reaktions-Dynamiken bringt, die nur mit Konfrontation zu stoppen sind. Und damit meine ich nicht „stoppen, wie einen Zug“, sondern, wie in „innehalten und mal aussprechen, was man gerade denkt und möchte oder will oder eben nicht mehr möchte“. Manchmal merkt man dann, dass man eigentlich die ganze Zeit (traumabasiert) reagiert und gar nicht wirklich macht, was man eigentlich möchte.

Das ist alles nicht einfach, aber machbar. Es ist möglich im üblichen Alltag Entscheidungen zu treffen und Dinge zu verändern. Indem man Entscheidungen trifft, die sich auf die realen konkreten HierHeuteJetzt-Umstände und Fakten beziehen, trifft man eine Entscheidung, die der Heilung oder, anders formuliert, Weiterentwicklung nach dem Trauma, mehr Raum gibt und so direkt dazu beiträgt.

die Besteck-Theorien

Dieser Text ist als Audiopodcast der Selbsthilfereihe „Was helfen könnte“ auf vielesein.de erschienen.

Einige be.hinderte Menschen in der Community verwenden die Redewendung: „Ich habe keine Löffel für Tätigkeit XY“ oder „Mir fehlen heute die Löffel dafür“. Damit beziehen sie sich auf die „Spoon-Theory“ von Christine Miserandino, in der Löffel als eine Art Energie-Einheit betrachtet werden. Ein Löffel gleich eine Tätigkeit oder vielleicht auch zwei Tätigkeiten oder zwei Löffel für eine Tätigkeit. Manche teilen noch ein in kleine und große Löffel, doch halten wir an dieser Stelle fest: Es geht um die individuellen Energieressourcen, mit denen man morgens aufwacht und die zur Verfügung stehen, um den Tag zu schaffen.

Viele chronisch erkrankte Menschen leben mit Fatigue, also einer Erschöpfung, die bei vielen von ihnen auch nicht durch mehr Schlaf oder einen längeren Urlaub aufhört. Ihr Leben erfordert also kontinuierliches Energiemanagement und die ständige Prüfung, wie viele Spoons, also wie viele Energie-Einheiten in etwa noch verfügbar sind.

Ich habe kurz nach unserer Autismusdiagnose von dieser Theorie erfahren und hielt sie erst für ein praktisches Tool, um meine Ressourcen greifbarer zu machen. Doch zwei Dinge erwiesen sich für mich als problematisch. Erstens: Die meisten Menschen kennen weder diese Theorie noch Erschöpfungszustände, wie ich sie oft erlebe.
Erschöpfung ist auch nicht gleich Erschöpfung. Die chronische Fatigue von zum Beispiel Menschen mit MECFS ist eine andere als meine, die sich durch die Verschränkungen von Autismus und chronischer Traumafolgestörung ergeben. Und erst recht andere als die von Menschen, die Vollzeit lohnarbeiten, um sowohl davor als auch danach noch unbezahlt hauszuarbeiten.

Das zweite Problem war und ist für mich, dass ich durch meine, tja erschwerte? wenig ausgeprägte? von mir nicht eindeutig genug interpretierbare? Tiefenwahrnehmung des Körpers im Grunde kein Konzept darüber habe, wie viel oder wenig ich mich körperlich belasten kann oder sollte. Für die allgemeine Bestimmung meiner Erschöpfung bin ich auf für andere Menschen extreme Signale angewiesen: Motorische Ausfälle (unsicherer oder versteifter Gang, Dinge fallen mir aus der Hand, ich kann keine Schleifen mehr binden oder Knöpfe zu machen), dissoziative Krampfanfälle, Unfähigkeit Gehörtes zu verstehen und zu verarbeiten, extreme Wahrnehmung von Geräuschen, Ausfall des Sichtfeldes, das Gefühl, dass es entlang meiner Knochen summt, das Gefühl meine Haut würde brennen. Sowas.
Das Problem dabei ist, dass es extreme Signale sind, die auf extreme Erschöpfung und extreme Stresslevel deuten. Sie dienen also nur dazu mir zu sagen: „Du bist erschöpft. Du bist gestresst.“ aber nicht, wie viel Energie da mal war oder wie viel noch da ist. Und sie sagen mir auch nichts über meine psychische oder geistige Erschöpfung oder ihren Anteil an der von mir als körperlich interpretierten Erschöpfung.

Ich merke durchaus auch, wann ich einen guten Tag habe und wann nicht, doch auch das leite ich über das Level des Schmerzes ab, mit dem ich morgens aufwache und dem Level der Schmerzhaftigkeit der Morgentoilette. Eigentlich sollte ich morgens (bzw. generell) aber nie Schmerzen haben, sondern mich neutral mit Tendenz fühlen. Jedenfalls ist das meine Vorstellung davon, was man braucht oder zumindest als Erfahrungswissen über eigene Befindlichkeiten haben sollte, um die eigenen Energiereserven einschätzen zu können.

Also, die Spoons waren es nicht.

Dann habe ich von der „Fork-Theory“ gehört und da kamen wir der Sache schon näher.
Die Fork-Theory hat sich der Ehemann von Jenrose ausgedacht. Im Englischen gibt es die Phrase: „Stick a fork in me, I’m done“ mit der man ausdrückt, dass man mit etwas fertig ist. Nun kann man sich vorstellen, wie oft man den Stich einer Gabel ertragen kann und was es bedeutet, wenn der Stich von einer Heugabel, einer Fonduegabel oder einem Kunststoffgöffel kommt.

Dass mir die Welt und das Leben darin weh tut, ist etwas, das ich sage und empfinde, seit ich denken kann.
Nicht, weil es immer ultra schlimm ist und mein Leben nur aus Elend und Not besteht, sondern weil es so ist. Egal wie entspannt ich bin, egal wie schön alles ist, unter allem liegt immer eine diffuse Decke von Schmerz, die nicht zu lokalisieren und auch nicht näher zu beschreiben ist. Und alles was zusätzlich auf mich zukommt – und sei es, dass ich morgens aufwache und das Licht eines fantastischen Tages, der nur auf mich wartet um mich mit Nektar und Vogelgesang zu liebkosen, wahrnehme – trägt etwas zu diesem Schmerzteppich bei.

Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob ich wirklich jeden Reiz, jeden Stressor in mich stechende Gabeln übersetzen möchte. Denn nicht jeder für mich aversive Reiz ist auch für andere Menschen als möglicherweise aversiv glaubhaft oder wenigstens nachvollziehbar. Und nicht alles, was mir weh tut, ist für mich ausschließlich unangenehm. Sex und Sport zum Beispiel. Oder die Hunde streicheln. Oder die ballerscharfe Knoblauchcreme mit krachenden Chips essen.
Im Kontext der Vermittlung meiner Belastung hingegen ist diese Übersetzung nützlich, weil sich jede_r schon einmal mit einer Gabel gestochen hat und/oder auch gestochen wurde. Es ist damit vielleicht nicht immer passend in Bezug auf ganz konkrete Eindrücke und Wahrnehmungen, aber auf eine allgemeine Beschreibung der Lage. Zum Beispiel so: „Ich habe gerade 6 Gabeln in mir, ich kann nicht noch mit ins Kino.“ oder „Der Arbeitstag bedeutete heute 4 Gabelstiche und eine ist noch drin, lass mich die erst rausnehmen/die Stelle versorgen, dann können wir einkaufen gehen.“

Das vermittelte Bild ist vielleicht total krass für viele, die das Schmerzerleben von Stressoren nicht teilen, aber ich merke viel Kongruenz.
Außerdem ist es so vielleicht auch leichter für Außenstehende zu verstehen, warum man in manchen Momenten sehr große Schwierigkeiten hat, auf Kraftquellen oder Energiereserven zuzugreifen. Wenn man weiß, dass jemand gerade eine Heugabel im Oberschenkel hat oder hatte, dann würde man von der Person nicht erwarten, joggen zu gehen oder sich am Sonnenschein zu erfreuen. Heilung und Regeneration braucht individuell viel Zeit und dieses Konzept ist manchmal leichter über ein Bild der körperlichen Verletzung zu kommunizieren, weil diese Erfahrung universeller ist, als die von Stress- und Reizverarbeitung. Das ist auch traurig, aber das ist nun einmal gerade der Stand in unserer ableistischen Gesellschaft.

2019 hat Terry Masson der Spoon-Theory noch die „Knife-Theory“ hinzugefügt.
Das Messer im Besteckkasten wird hier als das letzte verfügbare Mittel betrachtet.
Es ist hocheffizient, aber enorm energieaufwendig zu nutzen. Mit einem Messer ist praktisch alles zu schaffen – vor allem durch entweder (unumkehrbare) Zerstörung oder (hihi) einschneidende Veränderungen.

Auf so ein metaphorisches Messer zurückgreifen zu müssen, weil man wirklich am Ende ist, bedeutet nach außen hin für viele behinderte Menschen eine verlängerte oder auch überhaupt erst möglich gemachte Phase der Funktionalität, auf Kosten der Möglichkeiten für längerfristige Funktionalität.

Als Beispiel kann ich hier unsere Zeit der Ausbildung anführen, als wir noch nicht überwiegend zu Hause gearbeitet haben.
Am Montag hatte ich genug Energie, um gut zur Schule zu kommen und bis 10 halb 11 einigermaßen mitkommen zu können. Das waren anderthalb bis 2 Unterrichtblöcke und eine Pause mit Raumwechsel. Dann bin ich auf den letzten Energieschlucken nach Hause gekommen und musste ausruhen bis abends, um noch ein bisschen nachzuarbeiten und zu bloggen, zu schreiben, mit Freund_innen zu sprechen oder zu kochen. Am Dienstag habe ich dann vielleicht genauso lange durchgehalten, konnte dann abends aber nur noch zwischen kochen oder bloggen entscheiden. Mittwoch hatte ich dann schon in der Straßenbahn Sorge, ob ich die erste Stunde überhaupt schaffe und hatte Geld für ein Taxi nach Hause dabei. Ab mittags lag ich mit Chips und Brause im Bett – ohne irgendwas anderes als mich berieseln zu lassen, zu können. Donnerstag hab ich mich dafür fertig gemacht und gedacht, ich reiße mich gut zusammen, während ich mich, metaphorisch gesprochen, mit den letzten verfügbaren Messern zerschnetzelt habe. Ich habe kaum noch etwas mitgekriegt, geschweige denn prozessiert, was in der Schule passiert ist und wie ich jeweils immer wieder nach Hause kam, ob ich NakNak* wirklich richtig gut versorgt habe, was, wann wie viel ich gegessen und getrunken habe, ob ich meine Medis genommen habe, ob ich Termine wahrnahm, ob mich irgendjemand um irgendwas gebeten hat – blank. Keine Ahnung. Freitags das gleiche von vorn. Nur mit Schmerzen, die durch nichts irgendwie zu erleichtern waren. Und in der Regel ebenfalls kompletter Amnesie für den Tag, oft genug auch noch für das ganze Wochenende danach.
Das erste Ausbildungsjahr hat mich wirklich so extrem überfordert, dass die Spaltung zum schulfunktionalen Alltagssystem, aus der Schulzeit in Kindheit und Jugend, endlich richtig Sinn ergab. Hier also die Verschränkung mit der DIS: Es geht um toxischen Stress, der nicht reguliert werden kann und das Gefühl von Lebensbedrohung auslöst, der nicht ausgewichen werden kann. Und, um den Bogen zum Besteckkasten zurückzuschlagen, auch mit unterschiedlichen Anpassungsstrategien begegnet wird.

Ich, Hannah, ehemals „die Rosenblätter“, bin definitiv eine Gabelstich-Reaktion mit stabiler Löffelstrategie.
Mein Energiemanagement ist effizient, wenn es darum geht, soziale Kommunikation zu schaffen und deshalb eher ineffizient in Bezug auf meine Arbeit oder Hobbys. Das Energiemanagement des Schulsystems basiert komplett auf der Messerstrategie. Es ist kaum etwas für soziale Bindung da oder für die Verarbeitung im Sinne einer „Ver-Ich-lichung“ dessen, was um sie herum passiert. Im Grunde hacken sie sich mit einer Machete durch den Reizdschungel und sind ansonsten unverbunden mit dem, was das eigentlich bedeutet.
Für uns relevant zu wissen, weil wir über dieses Konzept besser überlegen können, wie wir Kontakt etablieren und neue Strategien ermöglichen können. Außerdem ist es relevant, weil wir so nicht mit falschen Vorstellungen an sie herantreten. Wir müssen annehmen, dass sie so etwas, auf den ersten Blick vielleicht erst einmal ineffizientes, wie einen Löffel nicht etablieren können, weil ein ganz anderes Prozessempfinden vorliegt, aber auch ganz andere Erwartungen an die eigene Selbstwirksamkeit. Außerdem dürfen wir nicht voraussetzen, dass sie selbst spüren, was ihr Energieverbrauch für uns bedeutet.

Ähnliche Auseinandersetzungsprozesse wünsche ich mir auch im Außen. Nicht nur bei mir, bei uns, sondern auch für alle anderen Menschen, die immer oder auch nur zeitweise sehr darauf angewiesen sind, dass man ihre Belastung, ihre Erschöpfung gut genug nachvollziehen kann, um ihnen nicht ständig und immer mehr abzuverlangen, als sie eigentlich wirklich gut, ohne selbst schaden zu nehmen, können und schaffen.

May the Besteck-Theory become your new tool!

die Banalität der Ursache

Jede Lawine beginnt mit einer Schneeflocke und egal, wie krass die Auswirkungen der Schneemassen im Tal sind, so ist es doch immer diese eine Flocke, mit der alles begann. Wann immer schwierige Dinge geschehen, ist man versucht ihren Anfängen eine besondere Bedeutung zuzuschreiben. Wir kennen das aus der Berichterstattung über Gewalt, aber auch über Naturkatastrophen oder Unfälle. Womit es begann, ist wichtig und in der ersten Zeit der Überforderung, der akuten Not vielleicht sogar das wichtigste von allem.
Es sei denn, man kennt es.

Gewöhnung ist nicht das gleiche wie Abstumpfung. Gewöhnung ist Kenntnis. Ist Orientierung. Gewöhnung bedeutet Erfahrungswissen und deshalb Sicherheit, Klarheit, Eindeutigkeit. Kurze Wege. Effizientes Handeln. Den Blick weg von der Ursache hin zur Wirkung und dem Umgang damit.

Die Ursache schwieriger Erfahrungen als banal zu bezeichnen, wurde mir in den letzten Jahren oft als Zeichen einer emotionalen Kälte ausgelegt. Als Traumafolge, als Dissoziation meiner Gefühle, als Vermeidung der Wahrnehmung innerer Abgründe.
Tatsächlich weiß ich im  Moment nicht genau, was ich empfinde. Das ist in Ordnung. Es ist im Moment nicht relevant, ich brauche diese Information nicht. Weder für mich, noch braucht sie mein Umfeld, um mit mir zurechtzukommen.

Relevant ist, dass ich nicht vergesse, dass die Ursache dessen, was passiert ist, banal ist.
Es hat nichts mit ihr zu tun, es hat nichts mit mir zu tun. Es hat vielleicht mit dem Jetzt zu tun, vielleicht mit dem Gestern vor 5 Jahren. Es ist nichts Besonderes. Es ist banal.
Nicht egal. Nicht irrelevant. Nicht ohne Aus.Wirkung.en. Aber banal.
Und deshalb nicht zu vereinzeln, nicht auf einen einzigen kleinen Punkt von der Größe einer Schneeflocke zu bringen.

Das ist das Dilemma der komplex traumatisierten Menschen.
Es ist immer banal, aber nie ist es möglich eine Komplexitätsreduktion vorzunehmen. Es ist einfach nie der eine Schlag zu viel, der eine Kommentar ganz besonders oder das eine Moment der Ohnmacht, was die Verletzung insgesamt ausmacht. Die Dinge passieren und sie können tausend Mal in all der Normalität, in der man an sie gewöhnt ist, passieren, aber man kann das tausendundeinste Mal nicht zu dem erklären, was das Trauma auslöst.

Als Person von der alle wissen, dass sie von Bindungsabbrüchen und speziell von therapeutischen Beziehungsthemen traumatisiert wurde, stehe ich gerade mit Menschen in Kontakt, die alle nach der Ursache suchen und sich bei mir dafür entschuldigen, dass sie ~das alles~ nicht verstehen oder nachvollziehen können.
Ich bin dran gewöhnt. Ich kenne ihre Versuche es zu verstehen, die „Schneeflockensuche“ sozusagen und weiß auch: Da ist nichts weiter zu finden als das, was man schon jetzt sieht – ein ganz banaler Lauf der Dinge zu meinem Ungunsten.
Ich bin es so gewohnt, dass ich nicht einmal näher erkläre, was ich mit „Lauf der Dinge“ meine, weil ich weiß, dass es sich im Kopf vieler Menschen zusammengesetzt wird mit: „Eins kam zum Anderen“ und auch diese Erfahrung des Missverstehens durch den Versuch mich zu verstehen, werde ich diesmal nicht machen. Es ist ineffizient. Nicht relevant für mich und nur deshalb möglicherweise relevant für andere, weil diese die Irrelevanz für mich nicht anerkennen können oder wollen.

Was jetzt für mich wichtig ist, ist dieses Geschehen nicht zur Ursache anderer Dinge werden zu lassen.

internationaler Kindertag

Heute ist internationaler Kindertag.
Ich habe darüber nachgedacht, wie man Kinder sieht. Und, wie man sich selbst als Kind sieht.

In dem außerordentlich guten Film „The Tale“ wird deutlich, welche Erzählung die erwachsene Person, die von ihrem Reitlehrer sexualisiert misshandelt wurde, von sich selbst in dieser ihrer Kindheit hatte.
Sie beginnt die Geschichte von sich als „reife junge Frau“, die gewollt (begehrt?) war und kann erst durch ein Foto von sich in dem Alter erkennen, wie jung sie noch war. Wie kind_lich.

Ich habe dieses Bild von mir nicht. Ich war nie jünger als 16 und nie anders als so beladen mit Alleinverantwortung, Pflichten und Anforderungen an „angemessenes Verhalten“, wie ich das heute bin. Kind waren und sind immer die anderen. Es gibt aus meinen Lebensjahren 16 bis 18 nur die Porträts, die man in meine Klapsakten gelegt hat, damit die Polizei mich finden kann, wenn ich „abgängig“ sein sollte. Da bin ich blass und habe rötliches Haar. Ich sehe weder so aus, wie ich mich gefühlt habe, noch jugendlich, geschweige denn kindlich.
Meine Kindlichkeit damals, kann ich heute am ehesten noch aus meiner Un_Reife ableiten. Aus der Unerfahrenheit im Leben nach der Gewalt in der Herkunftsfamilie. Es war ein neues Leben. Ich war dieses neue Leben.

Vor einiger Zeit haben wir uns mit der Therapeutin zusammen Fotos aus unserer Einsmensch-Kindheit angeschaut. Die Therapeutin sagte, man könne schon in den Babyfotos sehen, dass wir das sind. Für mich ist das ein unaushaltbarer Gedanke. Dieses Baby soll ich geworden sein, ich soll dieses Baby gewesen sein. Nein, nein, das kann nicht sein – das würde ja bedeuten, dass ich irgendwann mal global abhängig war und sich gefälligst mal richtig anzustrengen ein völliges Quatschkonzept ist, vor dem man logischerweise überfordert zusammenbrechen muss. Dass ich mal weder sprechen, noch laufen, noch kauen konnte, noch für Dinge verantwortlich war, weil man mir keine Macht über Dinge zusprach. Das würde ja bedeuten, dass es mal eine Zeit in meinem Leben gab, in dem ich nicht an allem (selber) schuld war, nicht krank, durchgeknallt und der Gesellschaft tendenziell eher unzumutbar.

Ich glaube, dass man immer das eigene Kind ist und alle Menschen immer die Kinder ihrer Zeit bleiben, was ihren Blick auf andere Kinder beeinflusst. Dass ich mich selbst als Jugendliche geboren erlebe, bedeutet, dass ich eine Offenheit für Kinder habe, die ihnen viel Raum lässt, sie selbst zu sein. Ich sehe nicht mich in ihnen, sondern sie. Und dafür brauche ich keine spezielle Spezialhaltung und pädagogisches Fachwissen oder irgendeinen esoterischen Dreh, nach dem sich meine Seele für ihre Seele öffnet und trallalala. Es ist mir einfach eigen und macht es mir sehr leicht, respektvoll und achtsam mit Kindern zu sein.
Und das, obwohl ich so eine bekloppte Irre bin. So eine gefährliche „psychisch kranke“ Person. So jemand, „bei der_m man ja nie sicher sein kann“. So jemand, „wo man ganz genau gucken muss“.

Ah Mist – in die Falle getappt – nicht „obwohl“.
Weil.

hier ist ein guter Ort

Ich gehe aus der Stunde und hab sie dabei.
Ich hatte am Ende gezogen. Wollte nicht gehen. Nicht so. Nicht jetzt. Nicht so. Hatte geredet, über Belanglosigkeiten, um daneben weiter in Anwesenheit der Therapeutin nach einem Ort zu suchen, an dem sie bleiben können. Einfach, damit ich sie nicht mitnehmen muss. Nicht jetzt, nicht so.
Ich bin noch nicht bereit, habe keinen Plan, keine Idee, keine Genehmigung von Innen für meine Reflexe. Nein, deine Vermeidungssuppe ess ich nicht, sagt R. und versperrt mir den Lösungsweg.

Ich habe keine Angst. Rede mir gut zu. Gehe auf S. Zehenspitzen durch den Abend.
Ihr Gestank drängt meine Suche an. Ich merke, wie nicht bereit ich bin. Wie ich kotzen will und nicht kann, wie ich weinen will und nicht kann, wie ich in die Praxis zurück will und nicht kann. Wie ich mehr Sicherheit, mehr Unterstützung möchte und nicht bekommen kann. Wie ich auf mich allein gestellt bin und mit jedem Moment, das Gewicht auf mir mehr wird.

Und dann, wie es wieder leicht wird. Wie ich aus der „Hannah-K. lässt sich ein“-Hülle rausschlüpfe und in die „Hannah-K. kriegt das schon hin“-Hülle reingehe. Wie ich den Impuls, mich gnadenlos zu überessen umschiffe, wie ich meine Mails checke, den nächsten Tag plane, den Sprachkurs mache, ein Video gucke, mich umdrehe und in die Leere meines Ich denke, bis ich einschlafe.

Am Morgen danach, das Gefühl des Versagens. Es geht mir gut, ihnen geht es schlecht, wir haben keinen Ort für sie, wir haben sie nur benannt. Innens und ihre Geschichten hochzuspülen und dann nichts mit ihnen zu machen, war noch nie hilfreich. Entweder wir, ich, versuchen sie zu fühlen und mit uns zu verbinden oder wir lassen sie im Schwan verschwinden. Für immer. Integration oder Dissoziation.
Zwischenschritte sind extrem schwer für uns. Die Woche zwischen den Stunden ist zu lang, wenn wir sie nicht irgendwo unterbringen bzw. mehr Abstand zwischen uns herstellen.
In der Zeit werde ich überschwemmt von Erinnerungen, mit denen ich allein bleiben muss. Manchmal, weil sie auszusprechen oder in irgendeiner anderen Form nach Außen zu bringen, das sichere Therapiesetting erfordert, manchmal, weil es Dinge sind, die nichts mit der Gewalt zu tun haben, sondern mit dem Lebenszeitraum, in dem es michuns noch nicht gab. Und ich nicht weiß, was es auslöst, wenn ich über diese Dinge spreche. Innerlich wie äußerlich. Falsche Nachfragen sind genauso gefährlich für mich, wie die falsche spontane Idee oder Frage oder darauf folgende Erinnerung.
Gefährlich, weil ich nie sicher vorhersagen kann, wann es mich raushaut. Aus meinem eigenen Er_Leben. Wann kann ich nicht mehr kompensieren. Wann greifen meine Strategien nicht mehr. Das weiß ich erst, wenn es zu spät ist. Ich bin nicht triggerfrei. Ich kann nur besser alltagsdissoziieren als andere von uns. Das macht mich nicht belastbarer als sie.

Ich schreibe der Therapeutin eine E-Mail mit einer Idee, noch während ich mit R. verhandle und dann auch sie wieder ganz deutlich spüre. Erneut gegen Brechreiz anatme, mich häuten, weg- in weißes Nichts – laufen will, denke: „Das ist mir zu viel so allein.“ und NakNak* auf meinem Schoß seufzt, während sie den Kopf auf die Tischplatte legt. Es ist mir zu viel, dass das Leben einfach so weitergeht und ich sie, die Anderen, bei mir habe.

Mit dem Klick auf den Sendebutton ist das alles wieder weg. Sie, R., die Erinnerungen.
Es ist Alltag. „Hannah-K.-kommt-klar“-Hülle. Ich kaufe Brötchen zum Frühstück und denke „Wenn ich das jetzt nicht aufschreibe, dann ist es für immer weg. Ich kann wählen, was mir wegfällt. Wer mir wegfällt. Welche Spuren ich mir lege, um in einer Woche wieder da zu sein, wo ich jetzt bin. Ich kann meine Hülle wählen. Zufall ist nicht zuverlässig.

Hier ist ein guter Ort für die „Hannah-K.-setzt-sich-mit-den-Anderen-auseinander“-Hülle.“

Oberflächenpsychoscheiß

Es ist weit nach Mitternacht. Ich kann nicht einschlafen. Hab schon geweint, mastubiert, getrunken, in 5 einhalb Stunden klingelt der Wecker zum anstrengensten Tag der Woche.
Bei Twitter retweetet @NetKlar Katrin Weßling und fragt: „Was tut ihr alles trotz Angst-/Angststörung?“. Und ich antworte „weiterleben“ und „Und: Tweets wie diesen stehen lassen“.

In der Küche piept die Spülmaschine. Das Geschirr ist fertig gebacken. Meine Kopfhaut juckt. Noch 5 Stunden bis zum Startschuss. Ich denke, dass mich dieser Oberflächenpsychoscheiß bei Twitter nervt. Bei Twitter und in den Blogs. Bei Instagram, bei YouTube. Symptom-Theater. Nichts weiter. Was machst du trotz deiner Angst? Die 5 peinlichsten Dinge, die mich meine Essstörung hat machen lassen. 10 Dinge, die mir bei der Selbstfindung geholfen haben. Der ultimative Tipp gegen Depressionen und Sucht. Meine Flashbacks sind so schlimm, aber ich bin ein starkes Opfer – meine Top 10 Skills.

Ich denke darüber nach, was ich alles trotz meiner Angst mache und denke, dass ich morgen zur Therapie gehe und etwas sage, das ich letztes Mal nicht gesagt habe. Obwohl ich weiß, dass ich das jedes Mal denke und dann doch nicht tue. Noch nie getan habe. Ich sage nie irgendwas.

Ich habe Angst und lebe weiter. Ganz absichtlich. Und niemandem kann ich begreiflich machen, was das bedeutet, weil es über Überwindung, Mut, Kraft oder Ambitionen und Ziele hinausgeht. Meine Ängste sind nicht meine Ängste allein. Sie sind auch meine Identität. Mein Ichwieichbin. Sie zu übergehen, ist mein ganz alltäglicher Selbsthass. Meine ganz alltägliche Gewaltanwendung mir selbst gegenüber. Das selbstverletzende Verhalten, das ich nie thematisieren kann, ohne eine Ohnmacht zu erzeugen, die unaushaltbar für die Menschen um mich herum ist.

Ich habe Angst und schreibe das hier auf. Hier. Und nicht in einer privaten Heimlichschublade, die ich bewachen und verteidigen müsste, damit sie privatheimlich bleibt. Weil es geht. Weil es eine Spur ist. Weil es zeigt, dass es mich gibt.

Noch 4 Stunden und 45 Minuten.
Was ich alles trotz der Angst mache. Das ist die falsche Frage, wenn man nichts ohne Angst macht.
Es ist eine Frage nach Funktionalität. Es ist Oberflächenpsychoscheiß. Warum hab ich drauf geantwortet.

4 Stunden 38 Minuten.
Damits jemand be.merkt. Irgendjemand.
Vielleicht schreibt irgendwann irgendjemand ja mal einen Instapost darüber. Hashtag mentalhealth staystrong keeponfighting