mit neuen Kleidern zur Kaiserin verkleiden

Vor einigen Tagen haben wir für 2,50€ ein Paar neue rote Lederschuhe ersteigert, die nur 3 Mal getragen wurden. Solche Ersteigerungserfolge haben wir selten, aber wenn, dann sind es Hauptgewinne. Wie dieses Paar Schuhe, in denen meine Füße gerade stecken und gucken wie zufrieden schnurrende Katzen.

Es sind Schuhe, die im Laden um die 50€ kosten und damit Sabberware für uns bleiben. Gäbe es dieses Internet nicht und Menschen, die Schuhe mehr oder weniger verschenken, weil sie es können.
Wir profitieren sehr vom Verhalten dieser Menschen. Inzwischen sind in unserem Kleiderschrank nur noch die Unterwäsche und die Strumpfhosen selbst gekauft, die meisten Bücher, CDs, Filme, ein Großteil unserer Materialien für Kunst und Krempel sind uns geschenkt, gespendet, abgetreten worden.

Vor ein paar Tagen betrachtete ich uns in einem Schaufenster und dachte, wie krass es ist, dass man uns nicht mehr ansieht, wie arm wir sind. Wer Armut kennt, sieht sie natürlich doch – der zu weite Rock, die nicht mehr so leuchtenden Farben, das unvermeidbare Pilling, der locker ausgeleierte Sitz … wir sehen nicht aus wie aus dem Ei gepellt, aber nach Hartz 4-Style sehen wir seit etwa einem halben Jahr überhaupt nicht mehr aus.

Und fühlen uns auch nicht mehr so.
Es macht etwas, wenn Kleidung wolleweich ist, nicht die klassischen Kik-Schnitte hat und auch nicht so seltsam ausgewaschen ist, wie Kik-Stoffe. Es macht etwas, wenn die Füße im Winter warm und trocken bleiben und jetzt einen Übergangsschuh um sich haben können, statt direkt in die Sommertreter überzugehen. Es macht etwas mit dem Gefühl, wie man sich verbergen kann und wie genau diese Entscheidung zu sehen sein wird.

Es macht für uns absurderweise vor allem die Frage auf, ob wir jetzt noch Kleiderwünsche haben dürfen. Ob es wählerisch ist, wenn wir wählen, was wir von Kleiderspenden annehmen oder im Secondhand-Shop kaufen.
Denn einen Haken hat das seltene Secondhand-Glück dann doch: wir tragen nie, was wir auswählen würden, würden wir ganz und gar frei wählen können – wir tragen immer, was wir wählen können und tragen entsprechend wenig bis nichts im wirklich eigenen Stil.

Das ist nicht schlimm – aber ein Kompromiss, den wir selten benennen, weil wir denken, man hielte uns für anspruchsvoll, undankbar, wählerisch und würde unsere Dankbarkeit darüber überhaupt etwas geschenkt zu bekommen, dann nicht mehr wahrnehmen.

Daneben frage ich mich gerade auch, weshalb ich jetzt schrieb “das ist nicht schlimm”. Weil ein bisschen “schlimm” ist es doch.
Ich fühle mich in manchen Sachen sehr angezogen und merke in manchen Sachen auch, dass ich anziehend(er) auf andere Menschen wirke – habe aber eben doch dabei bewusst, dass ich nicht aussehe, wie ich aussehen würde, wenn ich selbst die Auswahl meiner Kleidung festlegen würde und nicht aus einer Auswahl, die andere Menschen für sich getroffen und dann für mich geöffnet haben, wählte.

Es ist ein bisschen, als würde ich mich in den für mich neuen Sachen zur Kaiserin verkleiden und einen Aspekt einer Lebensqualität erfahren, der mir eigentlich gar nicht wirklich zusteht.

Zum Beispiel haben wir neulich einen Markentrekkingrucksack im Secondhandkaufhaus gekauft, der schon seit 2 Jahren in unserer Ebaysuche war. Immer hatten wir Pech, konnten einfach nie genug bieten oder verpennten die mitten in der Nacht endende Auktion. Jetzt steht dieser supergute Rucksack, getauft auf den Namen “Erik” in unserem Schlafzimmer und macht uns ein völlig neues Erleben von Komfort möglich.
Und wir so:

Und as always, wenn irgendwas Angenehmes, Okayes, Gutes passiert, kommt da gleich wieder Angst hoch.
Angst den Gegenstand kaputt zu machen. Angst, die Option auf diese Erfahrung zu verlieren. Angst, sich an diese Erfahrung zu gewöhnen, und nie wieder die bisher gelebten Alternativen aushalten zu können (oder schlimmer noch: zu wollen). Und ja – es ist Angst und keine Furcht. Es ist genau diese kindliche Angst mit dem, was einem als “Das darfst du haben” zugewiesen wurde, nicht so umzugehen, wie es erwartet wird. Es nicht gut genug zu nutzen. Es nicht gut genug wertzuschätzen. Es nicht gut genug zu umsorgen. Sich selbst als nicht gut genug für diesen Gegenstand zu erweisen.

Vor ein paar Jahren haben wir ganz bewusst befohlen aufzuhören, uns über die Erwartung von Menschen, die uns etwas schenken, Gedanken zu machen. Wenn sie uns nicht sagen, was ihre Erwartungen sind, dann kennen wir sie nicht und erlauben uns eher uns zu trauen, mit Geschenken so umzugehen, wie wir es möchten und brauchen.
Manchmal, wenn wir einen verkleidete-Kaiserin-Moment haben, dann schaffen wir das auch.

In der Regel aber, müssen wir uns erst in den Ängsten und Gedanken tot laufen, weil es dann eben doch noch immer Menschen gibt, die uns dafür verachten, dass wir Geschenke und Unterstützungen jeder Art annehmen und es dann diese Menschen werden, vor denen wir uns schämen, minderwertig fühlen und letztlich wieder arm_selig finden.

Da geht die Frage auf, wer was wann wünschen und wählen darf. Nach welchen Kriterien oder auch: nach wessen Kriterien,  definiert sich, wer sich wann was wünschen darf und wie wertig oder teuer das sein darf?
Wenn wir uns Kleidung kaufen, geht es erst um den Preis und dann um die Eigenschaften, die man sich wünscht (weil man sie braucht), während es für manche Menschen, die auf unsere Situation schauen, diese “Sei dankbar, dass du überhaupt was kriegst”- Haltung gibt, die uns entlang der Situation von Menschen definiert, denen es “schlechter” geht.

Zum vermeintlich Mindesten, das jedem Menschen zustehen sollte, gehört nachwievor nicht, dass alle Menschen selbst und frei wählen können sollten, worin sie sich angucken lassen müssen, womit sie vor anderen Menschen auftreten und vielleicht auch Eindruck hinterlassen wollen/sollen, womit sie sich wärmen, schützen, jeden Tag umgeben sollen.

Zum vermeintlich Mindesten, das jedem Menschen zustehen sollte, gehört so auch die Option auf “als Kaiserin verkleidet sein”, aber nicht, sich selbst zu be_kleiden.

das Gegenteil von “Heilung”?

Das Wort drängt sich auf, wenn man nach Input sucht, wie das Leben nach Gewalterfahrungen jeder Art aussehen könnte.

“Heilung”

Heilen von Schmerz und Verletzung, Heilen von Erschütterung und jedem Ungemach, das je die Seele berührte.
Das Runde kommt ins Eckige und das Kaputte wird geheilt.
Atmen, meditieren, die Reise ins Ich und wenn alles nix hilft, gibts ein Ausmalbuch für Erwachsene zur N3er Packung Antidepressiva.

Vor Kurzem stolperte ich in eine Erweckungs-Eso-Welt-Planeten-Errettungs-Blase und fand das Wort “Heilung” erneut sehr häufig verwendet.
Heilung durch eine tägliche Handvoll Blaubeeren in der Sommerjurte auf spanischen Bergen mitten im Schoße von Mutter Natur und andere Freud wahrscheinlich mit kreiselnden Augen zurücklassende Angebote, begegneten mir dort – und stießen mich in ihren anmaßenden Grundannahmen ab.

Nichts gegen Blaubeeren und Sommerurlaub in Spanien – sicher tut das gut und ist ein tolles persönlich bereicherndes Erlebnis – aber “Heilung”?
Was genau muss kaputt oder krank sein, wenn es durch eine Auszeit mit gesundem* Essen geheilt werden kann?

Wie unvollständig muss man sich fühlen, wenn Orts- und Gewohnheits/Verhaltenswechsel die Erfüllung (Ganzheit = Heilung) bringen kann?
Geht es dort um Schwierigkeiten, die in der inneren Ist-Struktur liegen oder nicht doch eher darum, in einem Kontext zu leben, der diese Unvollständigkeiten nicht zu füllen in der Lage ist?

Als ich anfing mich mit der Behandlung von Traumafolgen auseinanderzusetzen, war genau dies ein Punkt, der mich immer hat spüren lassen, dass meine Probleme und damit auch meine Aussicht auf “Heilung” anders liegen.
Viele Menschen, die Gewalt erfahren haben und in unserer westlichen Gesellschaft mit Rollenerwartungen aufwachsen, die teils sogar nur dann erfüllt werden konnten (und nachwievor besser erfüllt werden können), wenn man eben jene Gewalterfahrungen gemacht hat, leben ganz zwangsläufig einen Alltag, in dem sie sich unvollständig, kaputt, defizitär, minderwertig, schlecht oder krank fühlen.
Wie leicht es ist, dann die Idee der “Heilung” und der Wege dorthin zu vertreten!

Da wird dann gelernt sich abzugrenzen, Nein zu sagen, sich zu erlauben, dass man sich gut fühlt und sich selbst (für sein Können) wertschätzt.
E voila: le “Heilung” to go für nur 25 Kurzzeittherapiestunden und einer Jahreskarte fürs Yogastudio um die Ecke – und wahrscheinlich ganz rein zufällig, genau das, was am Wenigsten etwas an der ursächlich gewaltvollen Kultur des Miteinanders verändert.

“Heilung”, das ist etwas extrem Individuelles. Die Heilung des Einen ist nicht die des Anderen.
Komisch, ne – ist doch der Schaden des Einen häufig doch das Erste, das an dem Schaden des Anderen entlang definiert und bewertet wird und die Optionen zum Heilung versprechenden Weg, dann doch alles andere als so individuell verfügbar, wie sie gebraucht werden.

Wenn ich mich damit auseinandersetze, was genau mein Ziel für mein Leben nach der Gewalt ist, dann denke ich überwiegend, dass für mich die Themen “Ankommen (und das merken und aushalten)”, “Merken, was ich merke, wenn ich angekommen bin (und das merken und aushalten)” und “Okay damit sein, was ich merke, nachdem ich angekommen bin (und das merken und aushalten)”, eine große Rolle spielen.
Ich fühle mich nicht unvollständig und ergo irgendwie auch nicht heilbar.
Mich gibts und ich bin da – doch ich bin nicht dort, wo ich mich in Bezug zu Irgendwas spüren kann.

Ich habe darüber nachgedacht, ob bei mir vielleicht etwas nicht entwickelt ist oder sehr früh kaputt ging, dass mich daran hindern könnte, mich als Ich zu empfinden, wenn ich keine Resonanz auf mich erlebe.
Viele bzw. die meisten Menschen, die ich kenne, finden sich oder Teile von sich in anderen Menschen oder in Dingen, die von Menschen gemacht sind. Ich tue das nicht und habe das nie. Ich weiß, dass ich bin, weil ich bin. Ich weiß, wie ich bin, weil ich bin, wie ich bin.
Mein Gefühl der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit braucht also nicht andere Menschen oder das Ummichherum, sondern meine Wahrnehmung davon, wie ist, was ist, was mir passiert.

Gerade in den frühen Büchern, in denen es um DIS und ihre “Heilung” geht, geht es um Vervollkommnung. Die Spaltung wird als früher nötiges Übel gesehen und ihre Aufhebung zum der Heilung im Heute notwendigen Arbeitsziel erkoren.
Das gespaltene Selbst gilt dort als erfolgreich therapiert, wenn es heil (also vereint/integriert/verschmolzen) ist – wobei sich manche Autor_innen sehr wohl auch noch über seelische Narben und die Frage des “Ende gut alles gut?” Gedanken gemacht haben. Am Ende überwog in der Literatur, die ich gelesen habe, aber doch die Idee eines grundlegenden Selbst, das unberührt von einer Spaltung des Seins (Ist) ist und mittels: Überraschung! Veränderung der äußeren Umgebung sowie Gewohnheits/Verhaltensveränderungen wie Muttererde bereit gemacht werden kann, um alles Abgespaltene (wieder) in sich aufzunehmen.

So eine schöne Idee mit so viel Entsprechung in der Natur, dem Lauf der Dinge, dem Reproduzierbaren im Kleinen, wie im Großen.
Kein einziges Sinnspruchbüchlein würde je gedruckt, ohne diese Vorstellung. Kein einziges Achtsamkeits-Meditations-Eso-Dings könnte sich ohne diese Bilder so erfolgreich vermarkten, wie es passiert.

Inzwischen wird dieses Bild in der Traumabehandlungsliteratur nicht mehr so häufig verwendet.
Man weiß inzwischen mehr über DIS, mehr über die Wege von komplex traumatisierten Menschen nach dem Ende einer Therapie. Mehr und mehr wird sich darauf verlegt einen Gedanken von Akzeptanz und ausbalancierter Integration des Geschehenen als geschehen mit individueller Benotung zu verbreiten.

Was auf mich wirkt wie: “Naja – ihr Leben liegt in Schutt und Asche – hier ein Bauplan und meine Cheerleaderpompoms – Sie kriegen das schon wieder hin.” und die Frage aufwirft, wie relevant die Idee von “Heilung” eigentlich noch ist.
Ist diese Idee eigentlich überhaupt noch haltbar oder ist “Heilung” zu einem Schlagwort geworden, das ein “das wird schon wieder” andeuten will, weil es außer motivierenden DIY-Kopfgeburten nichts zu bieten hat?

Und was ist eigentlich das Gegenteil von “Heilung”?

Meilensteinchen

Die Onlineumfrage zur Erfassung der Erfahrungen und Wünsche komplex traumatisierter Menschen, in Bezug auf Betreuungen in unterschiedlichen Settings wurde geöffnet
Hier geht es zum Informationstext und dem Umfragelink.

Freude über den ersten Film, ganz ohne ungewollte Unschärfen, Über- oder Unterbelichtungen.
Nach gut einem Jahr üben, testen, scheitern, zweifeln… weiter üben.

Sonntag

Am 30. 4. stellen wir unsere fotografische Auseinandersetzung mit Wahrnehmungs_Fragmenten, Differenzierung, Unterbewusstsein und der Perfektion des Ist im Rahmen der “Nachtansichten” aus.

Außerdem produzierten wir die erste Episode “Viele-Sein”, aus der wir selbst etwas über uns verstanden haben.

ein anderes Problem am Märchen vom “funktional (multipel) sein”

Die Paulines schrieben einen Artikel dazu, wie schwierig es für sie ist, in ihrer inneren Zerrissenheit gesehen zu werden, wenn sie funktional wirken bzw. so eingeschätzt werden.

Für  uns gibt es diesen Konflikt in der Form nicht. Vielleicht, weil wir nie als funktional eingeschätzt werden, sondern eher als kompetent, kritisch unnahbar, wenig empfindlich. Kurz: “Total kaputt  – aber irgendwie läufts halt.”. Wie genau wir eingeschätzt werden, wissen wir aber nicht. Wir bekommen solche Rückmeldungen nicht – oder, wenn doch, dann so, dass wir sie nicht als solche wahrnehmen.  Vielleicht doch auch ein Segen, so ein Kommunikationsmurksi zu sein – wer weiß.

Anyway – das Thema “Mimimi immer bin ich so funktional – wie schlecht es mir geht, sieht niemand” taucht immer wieder mal auf und ich habe darauf immer wieder den gleichen Reaktionspfad: “Dann sag den Leuten, dass es dir schlecht geht und sei so funktional, wie du eben bist”.
Funktionalität ist für viele Viele ein Produkt ihrer Dissoziationsleistungen und nur selten ein Produkt dessen, was sie leisten, weil sie es leisten können. Manche sagen “trotz dem, wie es ihnen geht”, während wir von uns immer wieder sagen würden “weil es uns so geht, wie es uns geht”.

Wir werden produktiver, je schlechter es uns geht, weil wir uns strikter reglementieren, je schlechter es uns geht. Menschen, die nah an uns dran sind, merken das auch. Wir reden dann mehr von Tagesplänen, Essensplänen, Strukturen im Alltag und daran, wie viel Zeit wir für die soziale Interaktion mit ihnen freimachen.
Unsere Funktionalität erstreckt sich dann völlig auf den Selbsterhalt und den Erhalt der bestehenden Projekte, Vorhaben und Sozialkontakte.

Wenn es uns gut geht, dissoziieren wir häufiger die Anstrengung des Selbsterhalts und anderer Dinge und stecken mehr Kraft in den Ausbau und die Weiterentwicklung bestimmter Dinge. Eine Falle dabei: manchmal dissoziieren wir dabei auch, dass es so etwas wie ein “uns allen im Innen geht es super gut” noch gar nicht für uns gibt und provozieren damit am Ende schnell einen Bumerang, der uns in die Kniekehlen fliegt.

Unser Problem ist selten zu äußern, dass es uns nicht gut geht, wir in uns unklar sind und uns nicht stimmig mit dem Außen erleben – schwieriger ist für uns die Anerkennung unserer Art der Funktionalität. Für viele Menschen ist es keine Funktionalität sich selbst nicht umzubringen, weil eine akute Verzweiflungswelle nach der anderen von innen nach vorne rollt und man für eine Weile denkt, das würde nie wieder aufhören.  Genauso wenig, wie es zu Funktionalität gezählt wird, sich selbst auszuhalten.
Als funktional gilt man häufig für Dinge, die das Außen als innerhalb einer Funktionalität erkennbar markiert.
“Aha – die Person arbeitet und ist damit erfolgreich = die Person ist funktional”
”Aha – die Person ist in einer geschlossenen Einrichtung, weil sie sich selbst zerstört = die Person ist nicht funktional”

Neuer Kontext an der Stelle, der sich für uns aufgetan hat: “Aha – die Person hockt nicht schaukelnd in einer Ecke und zählt auf den Boden gefallene Streichhölzer mit einem Blick = hochfunktional autistisch = also eigentlich gar nicht autistisch = also eigentlich wie ich = dann kann ich ja das Gleiche von ihr abverlangen, wie ich von mir abverlangt erlebe”
im Vergleich zu: “Aha – die Person macht keine creepy Sachen wie in Kindersprache lispelnd in der U-Bahn zu sitzen oder durch einen anderen spektakulären Persönlichkeits/Innenwechsel auffällig zu wirken = sich hochfunktional dissoziierend/multipel = also eigentlich gar nicht unter Dissoziation leidend/nicht multipel = dann ist ja keine Rücksichtnahme/Mitbedenken, dieser Problematik erforderlich”

Der Punkt ist: häufig ist “funktional” zu sein als “problemfrei” zu sein internalisiert. Als “allen äußeren Ansprüchen gerecht werden zu können”.
Die Idee der Funktionalität bewegt sich folglich häufig auch reichlich nah an einem Punkt, an dem man sich aufgefordert fühlen kann, sich selbst völlig aufgeben zu müssen, um eine Entsprechungschance zu haben.

Deshalb pochen wir immer wieder darauf, dass Menschen mit uns sprechen, wenn wir gemeinsame Projekte starten oder sonst wie miteinander zu tun haben.
Wenn sie uns nicht sagen, was sie gerade können und was nicht – wenn sie uns verschweigen, was sie von uns erwarten, weil sie es von sich selbst auch erwarten – wenn sie ihre internalisierten Vorstellungen von Funktionalität auf eine Stufe mit Selbstaufgabe und maximaler Dissoziation eigener innerer Dynamiken und Konflikte stellen, dann werden wir zwangsläufig zu einem Instrument ihrer Selbstaufgabe und manchmal auch ihrer Reinszenierung von erlittener Gewalt.

Wir haben in den letzten Tagen erst wieder erfahren, wie soziotoxisch solche nicht barrierefrei kommunizierten Ideen von Fremdwahrnehmung und als notwendig eingeschätzte Funktionalitätsperformance wirken und wie wichtig es ist, sowas an sich zu reflektieren und darüber in Kontakt zu gehen.
Während wir denken, dass es wichtig ist, seine sozialen Kontakte auch dafür zu nutzen, sowas auch zu üben, um sie gut und regelmäßig weiter entwickeln zu lassen, merken wir, dass gerade Menschen, deren äußere Performance einer durch andere Instanzen definierten Funktionalität hochgradig existenziell eingestuft wird, einen Scheiß auf unseren Kontakt geben.
Anders formuliert: sie hängen die Funktionalität, die der Arbeitgeber, die Peergroup, die für diverse Dinge substanziell wichtig ist, höher als das, was wir ihnen bieten können. Ihr wisst schon – so Kleinigkeiten wie den Blick auf das Selbst, das vor eben diesem Arbeitsgeber und dieser Peergroup keinen Platz haben kann und die Anerkennung des täglichen Kampfs um Selbsterhalt und all das.

Wir glauben nicht, dass das absichtlich passiert. Soviel Gedankenfokus sind wir diesen Menschen nicht wert. Aber es passiert und wir merken, dass es häufig damit zu tun hat, dass es zu schön ist, um wahr zu sein. Um geglaubt und angenommen zu werden.
Wie kann das denn sein, dass jemand keine Vorwürfe macht, sondern wirklich nur sagen will, was gesagt wird? Geht ja gar nicht – MUSS eine Falle sein. MUSS eine Lüge sein. MUSS naiv und dumm sein. DARF also abgewertet und weggeschmissen werden (weil: übt man ja fleißig in der Therapie – Abgrenzung!11!!1)

Inzwischen versuchen wir, unsere Kontakte zu nach außen als funktional bezeichneten Menschen zu reduzieren bzw. auf genau dieser Ebene zu belassen: der Funktionalität, an der sie sich zumindest zweitweise gern festhalten, um sich darin zu bestärken, dass sie nicht wertlos, faul, dumm, krank, behindert und kaputt sind (,wie all jene, von denen sie sich so sehr abgrenzen müssen, vor lauter Angst, das könnte auf sie abfärben).

Und daneben versuchen wir mit unserem Selbstlob offen zu sein. Versuchen sichtbar zu machen, welche Leistungen für uns Leistungen sind und welches Funktionieren für uns Funktionalität ist.
Wir versuchen nicht nur zu sagen: “Ich bestimme selbst” – wir bestimmen und bewerten unser Wirken auch wirklich selbst.
Wie gesagt – vielleicht kriegen wir Fremdbeurteilungen einfach nicht mit, weil wir so schlecht darin sind, sowas aus dem Verhalten und unachtsamer (oder ausbleibender) Kommunikation anderer Menschen zu dekodieren und erfahren deshalb nicht die gleichen Verunsicherungsfaktoren, wie andere Menschen. Trotzdem ist ja von außen sichtbar, dass es grundsätzlich möglich ist das zu tun, ohne, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt.

Nachwievor denke ich: Wenn man möchte, dass Dinge gesehen werden, dann muss man sie sichtbar machen. Und zwar so, dass andere Personen sie auch sehen können.

Ob das dann dazu führt, dass die Reaktion eintritt, die man sich wünscht oder für sich braucht, ist dann die nächste Frage. Auch darauf kann man sich nicht verlassen. Aber wenn man vor lauter Angst, es könnte eine falsche oder schwierig auszuhaltende Reaktion kommen, gleich die Sichtbarmachung des Problems oder einer Gesamtkonstitution ausbleiben lässt, dann ist das Problem nicht, dass Funktionalität als so viel toller gilt, sondern, dass nur die Funktionalität sichtbar gemacht wird.

der Club

Ich gründe einen Club. Einen arschlochistischen istisch-sei-Club, in dem man sich nur dazu trifft, um sich für das, was man aus der eigenen Filterblase an destruktiver Kritik einstecken muss, zu bemitleiden, zu beselfcaren und trösten. Um danach weiter an dieser scheiß anstrengenden Sache aktivisten zu können.  Oder eben auch nicht.
Oder eben auch anders.

In meiner Filterblase wird viel kritisiert und ich schätze sie dafür. Ich habe sie mir mühsam gesucht und versuche mich darin irgendwie so zu bewegen, dass ich niemanden absichtlich verletze oder wissentlich ausschließe.
Dass ich dabei scheitern kann, merke ich in der Regel erst, wenn es zu spät ist. Dann kann man nichts mehr retten oder kitten – geschweige denn besser machen, denn so heiß wie der Schmerz ist, so heiß muss das Bad sein, mit dem der Kontakt zu mir in den Rinnstein geschüttet wird.

Ich habe eine aktivistische bis heimlich kritisch denkende Blase. Alle bemühen sich auf ihre Art die Welt zu verändern und setzen sich mit ihr auseinander.
Die einen so, die anderen so.
Meistens bin ich irgendwo dazwischen und versuche eine semipermeable Membran für diese Strömungen zu sein. Alles und jedem zuhören, der meine Grenzen wahrt – stehen lassen, was wichtig ist, gehen lassen, was unwichtig geworden ist.

Ich bin keine Feministin und mir wird immer wichtiger, das zu unterstreichen. Ich bin keine Inklusionsaktivistin und es auch das zu benennen ist mir inzwischen wichtig. Ich bin systemkritisch – aber keine Systemkritikerin. Ich bin solidarisch mit Unterdrückten und Not_Leidenden und versuchte meine Privilegien bewusst für die Umsetzung eines Miteinanders im Sinne der Menschenrechte einzusetzen. Das passt gut zu Feminismus, zu Inklusionsaktivismus und anderen kritischen Bewegungen.

Doch überwiegend bin ich müde.
Obwohl ich selbst nicht auf Rosen gebettet bin, erlaube ich mir schon viel zu lange nicht mehr, mich aus dem dauernden Strom von Kritik, Gemecker und Gemotze, unverständlichen Anspielungen und zynischem Gepöbel rauszuziehen und offen zu sagen, dass ich das hier und da durchaus brauche, zu hören, dass ich nicht als Teil der notwendigerweise zu kritisierenden Lebensumgebungen wahrgenommen werde.

Sowas ist peinlich. Sollte man nicht brauchen. Sollte man “der Sache” auch mal unterordnen können.
Aber, was genau ist denn “die Sache”?

Beginnt “die Sache” denn nicht auch da, wo man einander die Köpfe einschlägt, weil man mit den Mitteln, die man jeweils hat, “nur” das schafft, was man eben schafft, so wie man es schafft?
Beginnt “die Sache” nicht auch da, wo ich merke, wie ich anfangen müsste meine Barrieren und Schwierigkeiten wie ein Erklärungsschutzschild hochzuhalten um mich hinter meinem behindert, arm und aus der Welt gefallen sein zu verstecken, in der Hoffnung, dann hört der Erwartungs- und Optimierungsdruck auf oder wird erträglicher?

Es gibt Stimmen in meiner Filterblase, die ich dafür schätze, was sie mit der Welt teilen – und vor denen ich gleichzeitig unheimlich viel Angst habe, jemals negativ sichtbar zu werden.
Es gibt Verstrickungen und Historien in den Leben der Menschen, die teils in meinem sozialen Kreis umherschwirren, in die ich von anderen mit hineingedacht werde, obwohl ich weder direkt noch indirekt jemals irgendwas damit zu tun hatte. Auch etwas, das mich an manchen Tagen und zu manchen Debatten tagelang auf Zehenspitzen durch soziale Netzwerke schleichen lässt.

Gehört das zu “der Sache”?
Wenn ja, dann brauche ich den Club noch einmal mehr, denn sowas frisst mich wirklich kaputt. Solche Geschichten fordern mir so viel Kraft ab, wie ich das von anderen Menschen bisher noch nicht so gehört habe und eine Weile dachte ich sogar, dass Teresa Bücker diesen Aspekt bei ihrem Talk zum “feminist burnout” meinte.

Viele Aktivist-innen äußern Müdigkeit. Beklagen das Beklagen und entwickeln alle ihre Strategien nicht auszubrennen oder wenigstens den Verbrennungsschmerz in sich zu ersticken. Ich bin nicht die erste und werde nicht die letzte Person sein, die ihre “Nie genug – Nie richtig – Nie perfekt aware/un-*istisch – Nie gelobt” – Gefühle in Teilen auch durch die Community entstanden verortet (und dafür natürlich wieder eins reingewürgt kriegt, weil – siehe oben).
Für mich ist da die Frage, welche Umgangsoptionen ich für mich finde. Und mir fiel ein Club ein, in dem ich auch ein zuweilen *istisches Arschloch sein darf, ohne, dass ich in allem, wofür ich mich einsetze und stark mache, in Frage gestellt werde.
Nicht weil ich ein Arschlochtumdefizit habe – einfach nur, weil ich für eine Weile von dem Druck erlöst sein will, auf gar keinen Fall, unter keinen je eintretenden Umständen, niemals je auch mal aus Versehen auch ein Arschloch sein zu dürfen.

Ich will auch Fehler machen dürfen. Ich will mich tausend Mal irren und die Chance auf eine tausendundeinste Denkmöglichkeit haben.
Nicht auf Kosten anderer Menschen – niemand muss meine Entwicklung und Fehler aushalten – schon gar nicht, wenn sie schaden! – Aber sie sollten Platz haben dürfen. Sie sollten _auch_ da sein dürfen, ohne mich zur persona non grata auf ever und ever zu machen.

Ich bin davon überzeugt, dass “die Sache” nie gelingt, wenn kein Platz dafür ist.

all the shades of “Schweigen”

Mit „Schweigen“ und „Opfer“ – „Schweigen“ und „sexueller Missbrauch“ kommen die Klicks. Damit kriegt man die Leute an die Inhalte zum Thema. Hier eine Broschüre mit Hilfeangeboten und Beratungsstellen, da ein bahnbrechend aufrüttelnder Film. Hier ein berührender „Roman“ und da ein „vom Mantel des Schweigens“ befreiter Skandal. „Die Opfer müssen ihr Schweigen brechen!“ – ein stetiger Imperativ, wo und wann auch immer es um Strafverfolgung und ihre Hindernisse geht.
Wie schwierig dieser Strudel ist, habe ich schon oft im Blog von Vielen beschrieben. Habe aufgezeigt, welcher Schuldspruch an die Opfer und zu Opfer gewordenen damit getragen wird. Habe formuliert, wie laut Opfer und zu Opfer gewordene sind, selbst, wenn sie keine Worte für das haben, was ihnen passiert ist.

Natürlich wird sich überall nach wie vor an allen Ecken und relevanten Stellen auf „das Schweigen der Opfer“ bezogen – und nicht darauf, wer was wo wie wann hören, aufnehmen, begreifen kann, will, muss.
Natürlich wird auch immer noch darüber gesprochen, wie man helfen kann, Wege und Mittel aus den Schweigegeboten, denen Opfer und zu Opfern gewordene unterliegen, zu finden.
Und natürlich steht daneben das Schweigen all derer, die durch diese Bemühungen mit etwas belastet werden, das mit ihnen selbst überhaupt nichts zu tun hat.

Wir berichtigen ‚unsere Menschen‘ nach wie vor, wenn sie uns einfach zu der Gruppe derer zählen, die mit Schweigegeboten zurechtkommen müssen.
Wir wurden nie einem Schweigegebot unterworfen. Wir wurden Redeverboten unterworfen.
Das ist etwas anderes und für uns ist es ein relevanter Schritt gewesen, das zu erkennen und zu begreifen, denn ein Verbot ist etwas anderes als ein Gebot.

Wir erleben die Auseinandersetzung mit Schweigen im Kontext von Gewalt einseitig täter_innen(willen)zentriert und nicht zuletzt, als immer wieder die konkret betroffenen Personen in ihren Handlungsoptionen normierend.
Es ist so selten, dass in einer Fachtagung, einem Kongress, einer breit wirksamen Veranstaltung darüber gesprochen wird, wie sich die Auffassung von Schweigen als Schutz allein und nicht auch als notwendiges gewaltkulturelles Fundament der Gesellschaft, auf das Anzeige- und Strafverfolgungs , so wie das -verurteilungssystem auswirken.

Man spricht so gern von Liese Müller, die schrecklich leidet, weil sie ein unfassbar furchtbares Geheimnis hat, das sie nicht teilen kann. Man beschreibt so gern den Käfig ihres Schweigens und nicht zuletzt natürlich den wahnsinnig inspirierenden Befreiungskampf daraus, was dann auch schnurstracks zu Heilung, Gerechtigkeit und Regenbogen überm Sonnenuntergang führt.

Der soziale Tod von Hilda Stein, ihrer Familie und ihrer Herkunftsfamilie – die Scham, die Not an jedem Wort und jeder Selbstwirksamkeit – das langjährige und dann gescheiterte OEG-Verfahren – die Jahre der Therapie und der Versuche irgendwie auf einen grünen Zweig zu kommen – ohne je in einen Zustand zu kommen, in dem sie mehr sagen konnte als: „Ich wurde von XY misshandelt“ – das fehlt.

Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass es kein „das Schweigen brechen“ ist, wenn man einen Oberbegriff für erfahrene Gewalt benutzt oder einfach eine_n Täter_in benennt (und anzeigt).
Heute wie früher, wissen alle Menschen in der Umgebung, was eine Straftat ist, und was nicht.
Heute wie früher, wissen alle Menschen in der Umgebung, wann genau man was nicht sagen soll.
Und das betrifft nicht nur das Sprechen über Gewalt und Opferschaftserfahrungen.
Das betrifft auch das Sprechen über Krankheiten, seelische Befindlichkeiten, Menstruation und die Beschaffenheit von Kinderwindelinhalten. Zum Beispiel.

Schweigen gebieten nicht nur Gewalttäter_innen. Schweigen gebietet auch und meist sogar noch vor denen, die den Schutz durch Schweigen von ihren Opfern einfordern, unsere Gesellschaft und die (Gewalt-)Kultur, die sie pflegt.

Ich formuliere es radikal und dadurch leicht misszuverstehen, wenn ich schreibe: „Ein Schweigen der Opfer gibt es nicht“ und bleibe dennoch dabei.
Denn es ist wichtig zu verstehen, dass das Verschweigen von Gewalt(ausübungs)- und Opferschaftserfahrungen (also auch: globalen Ohnmachtserfahrungen) nichts ist, was in irgendeiner Form für bestimmte Personengruppen reserviert sein darf.

Die Anerkennung einer eigenen Opferschaft wird dadurch erschwert, dass man sich durch das soziale Reglement, wer wann worüber wo und vor wem etwas zu sagen verpflichtet ist, oder nicht, wer sich wann wo wie und wem gegenüber einer Aussage entziehen darf und wer nicht, eine eigene Position suchen muss.
Es ist nicht immer und ausschließlich der Druck vor der Angst, eine Opferschaftserfahrung könnte nicht geglaubt werden oder die Angst vor einer Strafe durch eine_n Täter_in, die Menschen daran hindert, gemachte Opferschaftserfahrungen zu beworten. Noch allzu oft ist es auch das ganz klare Spüren der Unerwünschtheit dieses Themas oder das Bewusstsein um Ohnmachtserfahrungen als dem Leben in dieser Gesellschaft immanent.
Genauso wie heute nach wie vor der soziale Tod eintreten kann, wenn man sich nonkonform in Bezug auf die Regeln der thematischen Angemessenheit verhält.

Natürlich stehen daneben die Überlegungen: „Okay, wenn wir das nicht wollen – wenn wir dieses Reglement aufbrechen wollen, dann müssen wir darüber reden. Und zwar immer und überall – wir verschonen niemanden. Sich rausziehen und die Augen verschließen, das erlauben wir nicht. Niemand soll sagen dürfen, er kenne niemandem, dem SO ETWAS mal passiert ist.“.

Für uns ist das ein Ansatz, der an der falschen Stelle anfängt. Weil wir wissen, dass jeder Mensch in der Umgebung auf jeden Fall jemanden kennt, dem SO ETWAS mal passiert ist – es aber nicht immer unbedingt auch weiß. Und zwar aus Gründen, die in der Umgebung dieser Menschen und den Möglichkeiten des konkret betroffenen Menschen liegen.

Was nutzt es Ella Kranz, die den örtlichen Kindergarten leitet und schwere Medikamente einnimmt, um trotz massiver PTBS-Symptome weiter arbeiten zu können, wenn Hannah C. Rosenblatt in allen Einzelheiten über ihre ersten 21 Lebensjahre schreibt? Oder Ute Koch jede Sekunde ihrer erlittenen Vergewaltigung durch ein Mikrofon ins Fernsehen spricht?
Ella Kranz braucht das nicht. Niemand braucht das. Niemand, außer vielleicht Hannah C. Rosenblatt, Ute Koch und all die anderen, die irgendwann das Gefühl haben, dass es richtig ist, die Einzelheiten und Details auszusprechen, um sie eben überhaupt einmal ausgesprochen zu haben – weil man es konnte oder wollen konnte oder können wollte oder oder oder
Jedenfalls braucht sie das nicht, um zu erfahren, dass sie nicht allein ist und es Hilfe für sie geben kann, die ihr auch so solidarisch zur Seite steht, dass sie weder ihren Job noch ihre soziale Position verliert. Dafür braucht sie das ausdauernde Engagement von Helfer_innen, strukturelle Sicherheiten und das Zutrauen in sich, durch diese Zeit ihres eigenen Lebens gehen zu können – also eine Umgebung, in der sie schweigen und sprechen kann, aber nicht muss.

Ich möchte Menschen mit meinen Erfahrungen verschonen, um mich zu schonen. Ganz klar.
Ich komme nicht gut mit all diesem reflexhaft abgespulten Zeug zurecht, das Menschen von sich geben, wenn sie nicht wissen, was sie von sich geben sollen, könnten, wollen. Deshalb halte ich meine Opferschaftserfahrungen als Teil von mir, wie meine Hundehaltungserfahrungen, meine Bastelerfahrungen, meine Schreiberfahrungen, meine x anderen Lebenserfahrungen in Kontakte hinein und entbinde Menschen ganz grundsätzlich von einer Reaktion darauf.
Ich erlaube ihnen mit mir zusammen darüber zu schweigen und einfach gemeinsam zu sein in dem Wissen, dass diese Erfahrungen da sind.

Das ist meine Art der sozialen Selbstermächtigung in dieser unserer Gesellschaft, die sowohl mich als Person, die zum Opfer wurde und mein offizielles Verschweigen von Straftaten an mir, als auch all die Abwehr- und Selbstschutzmechanismen in meinen Mitmenschen geformt hat.
Ich bin kein „schweigendes Opfer“, weil mich die Polizei oder irgendein gewaltkultureller Opfermythos so braucht, um mir meinen Schmerz, mein Leiden und nicht zuletzt auch uns als Mensch, der viele ist, zuzugestehen und anzuerkennen.
Ich bin eine Person, die etwas verschweigt, weil sie es kann, nachdem es jahrelang aktiv von ihr zu können gefordert wurde, und zwar von jemanden, der sie ganz global beherrscht hat.

Heute ist es meine Entscheidung zu schweigen. Meine globalen Opferschaftserfahrungen sind vorbei und die Macht der Täter_innen ist auf einer Ebene in meinem Leben, die nicht mehr nur mit mir allein zu tun hat und sich deshalb auch nicht mehr auf mich allein konzentriert.

Mein Schweigen ist losgelöst von Schulddynamiken.
Mein Schweigen ist losgelöst von Errettungs- und Heilungsphantasien.
Mein Schweigen ist losgelöst von meiner früheren Opferschaft.

Mein Schweigen ist, was es ist: Schweigen, aus Gründen, die ich allein bestimme, auch dann oder sogar trotz dem, ich damit Täter_innenwillen oder Interessen von Täter_innen schütze, berücksichtige oder bewahre.
Mein Denken, Fühlen und Leben im heutigen Hier und Jetzt, will ich nicht so täter_innenzentriert passieren lassen.

Für mich ist es wichtig, dass sich um Opfer und zu Opfern gewordene gekümmert wird, weil sie zu Opfern wurden und das etwas mit ihnen macht bzw. gemacht hat. Und nicht, um Täter_innen zu drohen oder sie zu bestrafen oder zu beschämen.
Die Auseinandersetzung mit Straftäter_innen ist in unserer Gesellschaft ganz klar und strukturell geregelt. Wir haben Gesetze, die sie als Täter_innen definieren. Wir haben eine Justiz, die ihre Taten verurteilen und ihre Strafen bemessen soll und wir haben Gefängnisse, die sie genauso aus der Gesellschaft herausreißen, wie es die Gewalt- und Ohnmachtserfahrung ihrer Opfer zuweilen tut.

Für Opfer und zu Opfern gewordene fehlt etwas Vergleichbares.

Eine detaillierte Beschreibung meines früheren Leides wird solche Strukturen nicht entwickeln. Sehr wohl aber könnten sie dazu beitragen zu normieren, wer was erfahren haben muss, um welche Hilfen, wie wo vor wem einfordern zu dürfen.

Meiner Ansicht nach, muss man davon wegkommen, sich mit dem „Schweigen der Opfer (und zu Opfern gewordenen)“ auseinanderzusetzen und sich endlich mehr damit beschäftigen, wie man hört, was Opfer und zu Opfern gewordene sagen und wie man dann damit umgeht als Gesellschaft.
„Wir Opfer und zu Opfern gewordene™“ schweigen nämlich alle unterschiedlich und die Anerkennung dessen bleibt aus.

Genauso wie weiterhin darauf verzichtet wird, sich mit dem Schweigen der Täter_innen auseinanderzusetzen.
Ein einziges Mal will ich in einer Missbrauch-Trauma-Gewaltpräventionsverstaltung sitzen und hören, dass die Täter_innen ihr Schweigen brechen sollen und man sich etwas überlegt hat, wie man das wohl möglich machen könnte.

Es ist Zeit, sich dem Schweigen zu widmen, anstatt sein Ende einzufordern.

Weltautismustag #1

In verschiedenen Städten gibt es heute Veranstaltungen, bei denen über Autismus aufgeklärt wird und Austauschmöglichkeiten bestehen.
Wer nicht hingeht, sind wir.

Wir sind nach inzwischen 10 Monaten mit der nachwievor neuen Diagnose eher überfordert und darum herum gewirrt, als klar, selbst-sicher und orientiert.
Ich weiß nicht, ob ich über uns sagen kannwill “Ich bin Autist_in” – weiß nicht, ob ich das, was die Diagnose benennt, als Teil von Identität betrachten kannwill.
Denn, well, was meint das denn in Bezug auf uns?
Unsere andere Diagnose heißt “dissoziative Identitätsstruktur” und jeder strukturelle Huckel auf der Identitätsplattform ist ein Innen, ein Teil des ES oder DAS DA, eine Energie, eine Seele.
Autismus ist mehr Strickmuster – Identitätseigenschaft vielleicht. Oder Seinseigenschaft. Vielleicht auch Wahrnehmungs-DNA.
Der Autismus macht vielleicht auch, wer oder was wir sind – ist aber nicht, wer oder was wir sind.

Wir sind noch immer mit dem Bitternis beschäftigt, wie so wahnsinnig viele kompetente Pädagog_innen, Psycholog_innen, Psychiater_innen und Mediziner_innen übersehen konnten, dass bei uns ein Autismus vorliegt.
Es ist dem Bitternis ähnlich, wie so viele Menschen die Gewalt in unserem Leben übersehen konnten.

In vielen anderen Szenarien, etwa, wenn wir ein absolut unauffälliges, weil gut angepasstes Menschenwesen gewesen wären, das viele Freunde hatte, ein geradliniges Leben in die 30er geführt hätten – okay okay dann: okay.
Aber nicht mit dem Wort- und Wissensschatz, den wir schon als Vorschulkind hatten. Nicht mit den Intelligenztestergebnissen. Nicht mit einem Geschwist, bei dem ein Autismus bereits diagnostiziert wurde. Nicht mit über x Berichten von x Psycholog_innen und x Klinikaufenthalten noch vor Erreichen der Volljährigkeit. Nicht bei den sozialen Problemen und dieser Art der Einsamkeit als einzig durchgängige Konstante. Nicht nach all den diagnostischen Stunts, die an uns vollführt wurden.

Zwischendurch bin ich froh darum, überwiegend die Bitterkeit zu fühlen und nicht den unfassbar weiten Abgrund aus Trauer und Verzweiflung, der darunter aufklafft. Die Bitterkeit schützt mich davor, von all diesen kleinen Erinnerungsfragmenten an eine Kindheit voller mehr oder weniger großer Miss- und Unverständnisse mit mehr oder weniger furchtbaren Konsequenzen, überflutet zu werden.
Sie schützt mich vor dem Gedanken: “Es hat sich nichts verändert.” und dem logischen Schluss “Es ist nicht vorbei” (—> alles was die Traumatherapie der letzten 13-14 Jahre sagt, ist falsch)

Seit der Diagnose erweitert sich unser Blick auf die Probleme von uns als Einsmensch. Erweitert sich das Bewusstsein darum, dass wir tatsächlich eine behinderte Person sind, obwohl unser Umfeld immer wieder auf unsere Fähig-und Fertigkeiten pocht, als würde ihr Vorhandensein einen Schutz davor bieten.

Eine Angewohnheit übrigens, die auch andere autistische Menschen haben und fleißig in Austausch und Diskurse jeder Art streuen. So endete dann auch unser Versuch, sich in einem Forum für Menschen mit Asperger-Syndrom auszutauschen. Leidvergleiche und Rechtfertigung vor anderen Menschen über die eigenen Empfindungen und Schwierigkeiten – das ist nichts, was uns hilft, die Diagnose als Wort für unsere Probleme anzunehmen, geschweige denn mit den Problemen umzugehen.

Überhaupt tue ich mich schwer mit der autistischen Netzblase.
Viele machen sich derzeit stark gegen eine “Therapie” mit dem Kürzel “ABA” und manche hetzen deshalb gegen kritisieren im Zuge dessen gerade den größten deutschen Förderer von Projekten für Menschen mit Behinderungen, die “Aktion Mensch”.
Daneben teilen einige ihre Erfahrungen und manche versuchen Autismus inkludierend Tipps und Tricks zur Selbst_Hilfe zu sammeln.
Die meisten konzentrieren sich nicht auf autistische Menschen als eigenständige Individuen, sondern als Teil einer Gruppe, die für die Argumentation hergenommen wird. Häufig geht es darum, nichtautistischen Menschen etwas über autistische Menschen zu erzählen und das “Aufklärung” zu nennen.
Selbstvertretung, um der Selbstvertretung für alle willen, erlebe ich als selten.

Ich kann an keiner Stelle des Diskurses partizipieren und rede mir ein, es auch gar nicht zu wollen, damit es nicht so schmerzlich ist.
Denn, was ich merke ist, dass diese Menschen keine Amnesien für sich und ihren Alltag haben. Manche dissoziieren auch – doch nicht in dem Umfang wie wir. Sie können sich und ihr Leben halbwegs zusammenhalten, während meines einfach durch mein Denken und Wahr.nehmen hindurchnebelt und halbseidene Fäden an verschiedenen Eckpunkten hängenbleiben.

Ich habe außerdem kein Interesse daran, ein_e Aufklärer_in zu sein – ich würde lieber Erklärer_in sein. Wenn überhaupt. Irgendwann. Vielleicht.

Derzeit fühle ich mich schuldig, wenn ich Fach.Bücher von bestimmten Menschen lese, weil diese auch ABA unterstützen oder zumindest nicht offen dagegen angehen. Ich fühle mich schuldig, wenn ich mich glücklich über unsere Hochbegabung schätze und merke, wie groß ihr Anteil an unseren Kompensationsfähigkeiten ist. Ich fühle mich unsolidarisch und schlecht, wenn ich Stereotypen und Vorurteile über autistische Menschen in meinem eigenen Kopf nicht jeden Tag und immer, sondern nur hier und da aktiv dekonstruiere. Ich schäme mich dafür, wann immer ich denke: “Ja, du bist eine special autistische Snowflake – ich kommentiere das jetzt hier mal nicht weiter”.

“Die autistische Community im Netz”™ ist mein persönliches Mich-schlecht-fühl-Erziehungs-ABA.
Ich habe noch keinen Platz für mich gefunden und denke, dass sich das vielleicht auch nicht ändert.

Zum Weltautismustag wünsche ich mir Eltern in die Zukunft, die sich trauen dürfen, ihre autistischen Kinder und das Leben mit ihnen, so zu nehmen, wie es kommt. Ich wünsche mir autistische Eltern, die mit ihren autistischen Kindern so leben dürfen, wie es für sie als Familie okay zu leben ist. Ich wünsche mir autistische Helfer_innen und Therapierende, die offen mit ihrem Sein umgehen dürfen. Ich wünsche mir die Möglichkeit die Diagnostik des Autismus von Psychopathologie zu emanzipieren und als üblichen Standard in die Kindesentwicklungsdokumentation zu integrieren. Ich wünsche mir die Installation von Hilfe-und Unterstützungsangeboten für autistische Menschen jeden Alters und jeden Fähig-und Fertigkeitenlevels.
Ich wünsche mir, dass Menschen klar wird, dass sie gewaltvoll agieren, wenn sie normative Ansprüche, in welcher Form auch immer, als zwangsläufig oder unabdingbar zu erfüllen, vertreten.

Als Letztes:  Es macht mich ungeheuer traurig anerkennen zu müssen, das bestimmte Dinge für uns vielleicht immer schwierig sein werden.
Ich möchte lernen mich vor dem Trost anderer Menschen vor diesem Umstand zu schützen. Ich möchte, dass es mich nicht mehr umwirft, wann immer Menschen versuchen mir zu sagen, wie sehr man sich an die unterschiedlichsten Herausforderungen gewöhnen kann, um sich und mich zu ermutigen oder zu trösten.

Fundstücke #19

Das anstrengende Haus ist das neue Zuhause der Praxis. Weil die Praxis einmal zwei Mal umgezogen ist, musste ich noch einmal ganz von vorn anfangen mit meinem Überlegen, was ich für Erwartungen, Ideen zu und Wünsche an die Therapie habe.
Weil die Praxis in ein anstrengendes Haus gezogen ist und vor dem Umzug in einem Haus mit einem Krachmalstrom wohnte und vor dem Umzug in einem Haus mit Krachschallverstärkerdurchgang, habe ich die Therapeutin vor 2 Wochen und drei Tagen zum ersten Mal gesehen.

Das anstrengende Haus ist fast nie gleich. Deshalb ist es anstrengend. Vor zwei Wochen hatte es keine Tür. Es hatte einen Verschluss. Eine Art Deckel für den Flur mit einem Schlüsselloch und einer Linie hellblauer Pfeile, die nach rechts deuteten. Obwohl dort nur der Rand des Flurverschlusses war.
Als wir fertig waren durcheinander zu sein und den Flurverschluss als solchen verstanden hatten, schrieb jemand eine Nachricht an die Therapeutin und ich bewachte die Stelle, an der einmal eine Tür war, die manchmal von einem Kunststoffkreis und manchmal von einem Holzkeil und überwiegend nie daran gehindert wurde holzmetallscheppernd in ihren Rahmen zu knallen.
Andere vergewisserten sich, dass wir vor der richtigen Tür standen. Obwohl der Briefkasten noch der Gleiche war. Aber er hing an einer anderen Stelle. Ich kann schon verstehen, dass sie dachten, wir stünden vor dem falschen Haus.

Ich erinnerte mich an die Werkmenschen, die immer irgendwo im Haus sind und Krach und manchmal auch richtige Arbeit machen. Ich bewachte den Verschluss und spannte meinen Blick auf das Stück, wo man den Flur sähe, wenn jemand herauskäme. Sollte überhaupt jemand jemals aus dem Haus herauskommen. Man kann ja nicht hinein, wenn es keine Klinke gibt, weil nur ein Verschluss ist, wo einst eine Tür war. Mit einer Klinke, wie Türen sie haben. Und Verschlüsse nicht.

Die anderen redeten so viel durcheinander, dass es rauschte und der Körper zu zittern begann.
Da öffnete sich der Verschluss von innen und entließ einen Menschen nach draußen. Hinter ihm flatterte dünne Plastikfolie über Fliesen an der Wand. Die dünne Plastikfolie, die seit ein paar Monaten in immer neuen Knittermusterwellen über Fliesen an der Wand flattert.
Ich stieß mich vom Boden ab und sprang auf den Menschen zu, der mir auswich und so den Zugang zum Flur freimachte.

Ich war drin.
Ohne Scheppern, das sich mir in den Rücken bohrt und mich unter Bohr-Säge-Kirchenglocken-Krankenwagen-Schepper-Klirr-Knackgeräuschen im Flur ausbluten lässt, bis das Summbrummen der Praxistür mich endgültig zerreißt. Und weder ich noch das, was ich zu Erwarten überlegt begonnen habe, in die Praxis hineinkommen können.

Diesmal war ich drin. In einem stillen Flur. Und drin in der Praxis. Und da.
Und wusste nicht, was ich tun könnte. Jemand sagte, sie sei “die Therapeutin” und ich schaute und dachte und ertrank in ihren AntWorten, auf die Nachricht der anderen.
Erstickte an der Fremdheit des Moments. Verbrannte mich an dem Gedanken, dass ich nur Ideen anderer über das Optionenmonstrum “Psychotherapie” habe und nicht weiß, welche die ist, die mit “Ich habe mir die Erwartung überlegt…” beginnt. Ich verschwand in einer Optionenlücke und deckte mich mit dem Geräusch eines Kreisels auf Holz zu. Verlor die Zeit, den Raum, die anderen.

Letzte Woche schepperte der Hausflurverschluss in seinen Rahmen zurück und zerfetzte mich das Summbrummen der Praxistür hinter der die Therapeutin auf den Rest des Mich zu kam und Worte auf meine Asche schüttete. Ich hatte einen Atemzug und verbrachte ihn mit der Überlegung zu der Erwartung eines Jemand wie mich in dieser Praxis. Und zur Therapie.

das Warten auf Post und das Ende des Fotokurses

Inzwischen schaue ich drei Mal am Tag in den Briefkasten.
Weil ich einen Brief erwarte, in dem steht, wann wir in der Klinik anfangen können. Und weil ich einen großen braunen Umschlag mit drei Obelix-Briefmarken erwarte, in dem steht, ob wir den Ausbildungsplatz bekommen. Oder nicht.

Zwischendurch bemerke ich, dass ich nicht darauf warte, weil es so gute Möglichkeiten sind. Oder, weil wir uns schon so lange bemühen einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder, weil wir schon viel zu lange versuchen unser Selbst_Hilfenmanagment ambulant bis allein zu stemmen.
Sondern, weil es dem Fotokurs und dem damit einhergehenden wöchentlichen Tief ein Ende absehbar machen würde.

Würde morgen der Klinikbrief kommen, wäre klar, dass wir schauen müssen, die Dunkelkammer zu nutzen, wann es für uns am besten passt und schaffbar ist – sehr wahrscheinlich wäre dies dann nicht der Donnerstagabend, sondern ein Dienstagvormittag. Oder so. Höchstwahrscheinlich würden wir auf jeden Fall mittelelegant und halbseiden ehrlich begründen können, weshalb wir Donnerstags nachmittags bis abends nicht mehr in der Gruppe dabei sein können.

Würde morgen der Ausbildungsplatzbrief kommen wüssten wir: “Diese eine letzte Ausstellung noch und dann Tschüss.”. Weil wir danach in unseren MenschenReizexilmonat gingen um Kraft zu tanken, uns zu sortieren und nur für das Sein zu sein versuchen. Bevor sich alles verändert und wir vielleicht vergessen, wie das ist.
Auf jeden Fall wüssten wir: es gibt eine neue Quelle für Wissen und wir können noch einmal neu mit Menschen anfangen – diesmal anders. Anders offen, anders darauf bestehend, dass zugehört und begriffen wird, anders begleitet, anders wissend, welches System von uns dort auftaucht und ganz eigene Probleme wahrnimmt.

In Bezug auf die Kunstschule haben wir das nicht gemacht. Und jetzt – ein Jahr nach dem Anfang dort – fällt uns das alles vor die Füße und wandelt sich in eine Belastung, die wir tragen müssen.
Und natürlich denke ich heute: “Das war absehbar.”
Es war vor allem von uns schon ganz ganz ganz zu Anfang beim Informationsgespräch und anschauen der Räumlichkeiten von uns abgesehen und befürchtet. Aber niemand in der Schule hat uns angehört und wenn dann auf die Art wie man sie kennt: „Schlagwort –> ah ja weiß ich – brauchst gar nicht weiter reden.“

Wir wollten aber weiter reden. Wir haben weiterreden müssen, denn was wir zu sagen hatten und begreifbar machen wollten, hatte nichts damit zu tun, dass diese Personen etwas tun sollten – hätten sie begriffen, hätten sie von ganz allein etwas getan – egal, ob und was wir wollten.
Niemand mit Aufsichtspflicht und Verantwortung für Schüler_innen sagt einer solchen mit Krampfanfällen, sie soll sich einfach in die Abstellkammer begeben, wenn sie einen ruhigen, geschützten Raum braucht. Niemand – außer der Leiter des Fachbereichs “Kunst” an dieser Schule, der von dem was ich ihm sagte offensichtlich nur “Raum” (“kein Unterrichtsraum”) gehört hatte, als ich ihm mitzuteilen versuchte, wie man gemeinsam mit dem Risikofaktor “Krampfanfall” umgehen kann.

Im Fotokurs lief es ähnlich – nur auf einer inhaltlichen Ebene.
Es gibt Dinge in dieser Fotografieecke, die verstehen wir nicht – und zwar nicht, weil wir nicht verstehen, welche Unterschiede es jeweils in den Arbeitsergebnissen gibt, sondern weil die unterschiedlichen Aufladungen dessen nicht verständlich für uns sind.
In unserem Kurs gibt es viele Schüler_innen, die sich unheimlich angezogen fühlen von Fotos mit Menschen drin oder Dingen, die Menschen darstellen sollen und dann entsteht für sie ganz offensichtlich für eine Geschichte und Gefühle und Gedanken und Symbole und was weiß ich – mega starke Aussagen jedenfalls, die ich nicht sehe. Entsprechend der Mengenlogik geht es im Kurs entsprechend oft genau darum. Menschen. Menschensachen. Gesellschaft. Gesellschaftskritik und was darf Kunst an welcher Stelle.

Wir reden viel und schauen unserem Lehrer zu, wie er nebenbei irgendwas irgendwie in Lightroom macht, ohne, dass der Kontext oder seine Intension uns das zu zeigen klar wird. Er sagt “Ich will euch das mal zeigen” und dann macht er irgendwas. Und wir schauen und sehen, was er zeigt. Punkt.
Wir werden dabei unruhig. Das System der anderen zerbröckelt, weil sie keinen Anhaltspunkt finden. Nicht wissen, was ihr Auftrag ist – sehr wohl aber wissen, dass es den Lehrer traurig, wütend, frustriert macht, wenn man als Schüler_in irgendwelchen Quatsch macht, der nicht weiterbringt (auch wenn man meistens nicht einmal weiß, wohin oder zu was genau irgendwas von den Schülersachen führen soll).
Für uns ist das zu dem Moment geworden, in dem wir merken, dass wir Rosenblätter ja in der Schule sind. Innersystemische Alltagsfeuerwehr seit inzwischen vielen Jahren und bewusst um einige Kommunikationsquirks, die es immer wieder zu lösen gilt – meist in Abwesenheit allen Wissens darum, wie das gehen kann.

Unsere Kommunikationsquirks machen uns zu einem anstrengenden Gegenüber und wir wissen das. Man kann uns nicht einfach sagen, dass wir ne blöde Kuh sind, wenn man uns beleidigen will, weil wir uns viel mehr an der Unterstellung eine Kuh zu sein und dem Ding, dass Menschen Tiere irgendwie immer für Negativbezeichnungen benutzen, aufhalten, als an einer Verletzung daran so bezeichnet zu werden.
Schlimmer noch – wenn man sich mit uns streitet oder allgemein: auseinandersetzt, dann wollen wir das auch noch immer verstehen und teilen unsere Analysen der Situation und ihrer Faktoren mit.

Man kann sich mit uns nur konstruktiv streiten oder für konsequente Ablehnung entscheiden – muss diese dann aber auch als von uns zur Begründung zeranalsysiert ertragen.
Schlimm, ne? Ja – vor allem für uns. Weil die meisten Menschen nicht so streiten, kennen sie das nicht. Die meisten Menschen wollen einander im Konflikt verletzen, damit ihre komischen Schuld und Entschuldzeremonien danach noch einen Sinn und Berechtigung haben – auch dann, wenn sie nicht verstanden werden.
Ja – großes Outing – wir haben den Sinn von Entschuldigungen mit all ihren Facetten bis heute irgendwie nicht verstanden. Entsprechend inflationär gehen wir mit Entschuldigungsfloskeln um und schütten sie einfach in jede eventuelle Fehlerlücke hinein. Wie Beton, der die sozial konstruierte Situation stabil machen hilft.

Doch zurück zum Fotokurs.
Unser Lehrer bedenkt für uns ganz offensichtlich permanent Dinge und Gegebenheiten, die uns schleierhaft sind und verlangt von uns Schüler_innen, dass wir ihm folgen. Aber natürlich immer eigene Dinge denken und machen. Da wir in aller Regel nicht wissen, was er denkt oder meint, wenn er irgendetwas verlangt, wissen wir natürlich erst recht nicht, wann genau wir eigentlich etwas anderes (eigenes) denken und meinen als er.
Und um das Ganze noch ein bisschen schwieriger zu machen, macht er sich auch nicht transparent, sondern definiert sich selbst entlang dessen, was wir einbringen – durch Kritik, Missachtung oder Ergänzungen, die meistens keine sofort erkennbare Verbindung haben.

Daneben will man in der Schule ja alles offen halten – bloß keinen Druck – keinen Stress – keine Vorgaben – alles soll fließen und alles soll möglich sein. Das Problem dabei: wenn alles möglich sein soll, dann muss es auch die Bereitschaft geben für alles offen zu sein – auch für die Möglichkeit, dass es Menschen überfordert so arbeiten zu sollen und für die Möglichkeit, dass man einander nicht erfassen kann, weil man nicht weiß, was verlässlich ist, weil es eben nicht “fließt”, sondern “steht”.

Wir fotografieren Natur. Muster. Details. Die Perfektion des Ist.
Unser Schluss nach einem Jahr Kunstschule ist: das ist keine ver_wert_bare Sache, weil es niemand versteht.
Wir reden nicht über natürliche Perfektion und die Frage in welcher Beziehung diese zu Ästhetik und Kunst steht – wir reden darüber, wie man “Gesellschaftskritik” in einem Foto rüber bringen kann, damit das auch jeder (sigh!) versteht.
Die Frage, warum man Bilder wie versteht oder eben auch nicht versteht, bleibt völlig außen vor und macht es für uns unmöglich in irgendeiner Form in Kontakt mit unserem Lehrer oder unseren Mitschüler_innen zu kommen.

Letzten Donnerstag wurde mir klar, dass wir – sollten wir noch länger so in dem Kurs bleiben oder an dieser Schule allgemein – komplett im Labor verschwinden würden und damit zu genau der Einzelgängerin mit ausgefallenem Arbeiten werden, die wir nie werden wollten. Gerade auch nach der Autismusdiagnose und all den Klischees, die wir selbst verinnerlicht haben und nicht entsprechen wollen.

Und während wir damit kämpfen, die Menschen in unserem Fotokurs nicht zu verstehen und damit nicht verstanden zu werden und darüber ausgeschlossen zu sein von allem, was der Kurs zu Stande bringen will, ist das vom Lehrer gewählte Thema zur Ausstellung: “Inklusion”.
Eine Serie mit Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren im Stockfotografie-Style.
Während wir im letzten halben Jahr lernten unsere analoge Kamera zu bedienen, Bilder nicht mehr unbeabsichtigt über- oder unterzubelichten, die Filme selbst zu entwickeln und abzuziehen. Wir haben gelernt wie wir Motive konstruieren und mittels Blendeneinstellung beeinflussen können.
Neben einem Fotokurs her, der uns mehr und mehr verwirrt, traurig und isoliert zurückließ und sich nicht mit analoger (Natur)Fotografie befasste.

Die Ausstellung ist Ende April.
Unserer Lehrer bekommt Druck vom Leiter endlich Ansagen zu machen, wie viele Bilder vom Kurs stammen werden.
Und jetzt trägt er den Druck weiter und tut so, als hätten wir nie irgendwas gemacht. Er missachtet, dass er uns im letzten halben Jahr missachtet hat. Und wundert sich darüber, dass wir auf seine Inklusionsideen und die Idee ausgerechnet Katastrophenselfies “auf die Spitze zu treiben und Gesellschaftskritik zu machen” reagieren, wie wir reagieren: mit Verweigerung

Der Kurs ist von ca. 20-25 Schüler_innen auf 3-5 geschrumpft.
Wir waren immer da. Haben zugehört, uns verletzen lassen, uns in die Dunkelkammer zurückgezogen und gearbeitet. Wir waren da, als die neue Diagnose uns zerschossen hat und wir waren da, nachdem wir uns wegen einer suizidalen Krise in die Psychiatrie haben einweisen lassen.

Von dem lichten Moment in der Woche, in der wir uns der Welt widmen ist der Kurs zu etwas geworden, wofür wir bezahlen. Mit Geld, mit Zeit, mit Kraft, mit Haut.
Wir gehen nach Hause und weinen uns die Verwirrung, die Anstrengung und den Frust raus. Analysieren, zweifeln, suchen DEN EINEN Fehler in der Kommunikation und werden nicht fündig. Und erst als wir durch ein Gespräch mit dem Begleitermenschen merken, wie nachvollziehbar das alles ist, kommen wir für uns an die Frage, ob es sich überhaupt lohnt noch einmal zu versuchen in ein klärendes Gespräch mit dem Lehrer zu gehen.

Würde die Post kommen, wäre die Frage für uns beantwortet.
Für einen Monat könnten wir das halten die komische Hannah zu sein, die komische Fotos macht, die keiner versteht und irgendwie zu gar nichts passen, was alle anderen machen. Für einen Monat könnten wir das halten die anstrengende Hannah zu sein, die den Kurs mit ihren Nachfragen nervig anstrengend tiefgründig und politisch macht. Für einen Monat könnten wir uns auf ein Ziel fokussieren und allen Schmerz drum rum ausblenden.

Ein anderes Fotokurs-Kunstkursangebot in der Stadt können wir uns nicht leisten. Werden wir an der Berufsschule nicht genommen, werden wir uns verbessern müssen. Dann müssten wir mehr Zeit in der Kunstschule verbringen. Und dann müssten wir darauf bestehen angehört und verstanden zu werden. Dann kämen wir um ein mehr oder weniger konfrontatives Gespräch, das auch Forderungen enthält, nicht herum.

Außer, wir lassen es einfach ganz und machen alleine weiter.
Was eine traurige Bilanz nach einem Jahr regelmäßigen Offlinekontakts mit Menschen und ihrer Welt wäre.

und die Sonne scheint

Während hinter ihr ein langer Vortrag über eine aufregende Situation, die planvolles Handeln erschwert, doch nötig macht, vom Schlauberg herunterkullert wie geronnene Milch, scannt sie den Bildschirm und verfolgt das Bild der Podcasttonspur. Es ist eine Episode in Flieder mit einem sachte schwingenden Faden in Orange.
“Ich muss was tun, wenn wir hier durch sind.”, legt sie langsam und bedächtig neben die Hand an der Laptopmaus, “Ich glaub, sonst überreize ich.”.
Mit einem letzten Klick werden die Spuren zusammengelegt und gespeichert.

“Ich will was Schnelles und Wuchtiges.”, kräht es dicht neben ihrem Denken in den gemeinsamen Äther. “Ich will… ACHTERBAHN FAAAAAAAHN”.
“Is klar. Wer kennt sie nicht – die Achterbahn in der Nachbarschaft?”, lächelt sie und pickt dem Kerlchen neben sich auf die Stirn. “Such dir was anderes, Kleiner.”.

Sie entfaltet den Körper und schaut in das aprilhafte Wetter hinaus.
Unter der Haut summt es und das linke Augenlid zuckt unangenehm.

“Hör auf zu kratzen.”. Von hinten greift eine Hand in ihr gedankenverlorenes Pulen an einem neuen Pickel.

Am Türrahmen steht jemand mit dem linken Fuß auf dem rechten und zählt  auf: “Jacke, Schal, Mütze, Stulpen, Schuhe, Keksbeutel für NakNak*, Mittagessenbüchse, Handy, Portemonnaie”. Sie setzt Haken an jedes Stück und beobachtet das Jemand heimlich aus den Augenwinkeln.
“Guck weg.”, antwortet es mit einem Stachel in der Stimme.

“Äh kennst du das da wo so ne Rutsche is mit som Karuselldings und so?.”
“Kennst du deutsche Sprache?”
“Kennst du die Geschichte von dem Innen, das sich nicht bemüht hat ein bisschen offener und rücksichtsvoller zu sein?”, fragt es in ihren Hinterkopf hinein und kruschelt dem Kleinen durch die Haare. “Ist nicht so gut ausgegangen, weißt du?”.
Sie gehen spitzmäulig lächelnd auseinander.

“Ich weiß wo das ist, aber das ist ganz schön weit. Bis wir da sind haben wir vielleicht keine Kraft mehr für den Rückweg und den Abend.”. Sie schaut in die Runde und fummelt nervös am Jackenreißverschluss herum. Als niemand antwortet, beugt sie sich zu dem Jungen herunter und sagt: “Aber ich kenne noch einen Spielplatz mit Reifenschaukel. Das ist nicht schnell und wuchtig, aber wenn man die Augen zumacht ist es ein klitzebisschen wie Achterbahn.”, sie kneift die Augen zusammen. “Also jedenfalls wird mir da immer ein bisschen schwummerig.”.

Die Grummelsie grummelt und zappelt an der Tür herum. “Okay okay dann los jetzt.”.

Sie gehen schaukeln und sich schwummerig machen. Laufen 30 Kilometer zu Fuß. Weg.
Vorm Denken. Angst haben. Sorgen machen. Erinnern. Aufgeregt sein.

Und die Sonne scheint.