der Nichtschweigeskill

Wir gehen gerade mit einer Situation um, in der eine Person etwas über eine andere Person behauptet und sich das weiterträgt. Gossip, Klatsch, Rufschädigung, Gerüchtestreuung. Sowas in etwa.

Wir haben nicht oft mit solchen Dingen zu tun, denn die meisten Leute, die uns so etwas antragen, tun das in der Regel nur ein Mal. Mit uns macht sowas einfach keinen Spaß, denn wir reden mit möglichst mit allen Leuten gleich, sind froh, wenn wir nicht vor den Einen dieses und vor den Anderen jenes sagen müssen, um mit ihnen Zeit verbringen zu dürfen. Wir haben keine Kraft dafür, denn es kostet uns schon Kraft uns zusammenzuhalten. Mitzukriegen, wer von uns mit wem was wie laufen hat – das können wir im Außen einfach nicht tragen. Vielleicht mal kurz, wenn eine Situation das erfordert, aber selbst dann brauchen wir Leute, denen wir sagen können, dass wir da grad was tragen, damit wir das schaffen.

Jedenfalls.
Diese Situation und das was sie macht, erinnert mich an Schweigegebote.

Schweigegebote haben für uns mit “mitmachen” zu tun. Gebote sind für uns Regeln, denen man zu folgen strebt.
“Sag nichts, dann passiert irgendetwas, wofür sich das lohnt/ passiert was Gutes/Wichtiges/Richtiges”.
Das heißt: man verspricht sich etwas davon oder bekommt etwas versprochen.

Im alltagsgewaltvollen Umgang bedeutet das, dass viele Leute Dinge einfach nicht sagen, weil sie sich etwas davon versprechen. Keinen Stress und akute Harmonie vielleicht. Jemandem nicht zu sagen, dass sie_r krassen Mundgeruch hat ist zum Beispiel so eine Sache. Man redet nicht darüber. Es gibt ein soziales Schweigegebot darüber. Vielleicht ist es auch ein Tabu – wobei mir dazu gerade die Abgrenzung nicht einfällt und ich eigentlich auch gar nicht über Tabus schreiben will.

Anyway.
Interessant finde ich, wenn Gewaltüberlebende/Gewalterfahrene und ihre Verbündeten (und deren Behandler_innen)so etwas miteinander machen. Die Einen über die Anderen, diese über jene und “Ach DIE also NEE!”, bei gleichzeitiger Weitergabe von so etwas wie “Aber pscht, ne?!” oder schlimmer noch: von sich selbst wegtransferierte Verantwortung für die Weitergabe von Gerüchte, Klatsch und Hörensagen über Personen, die nicht im Raum (und bereits damit konkret unterlegen!) sind.

Der Klassiker ist da das Gerücht ohne Urheber_in.
Dem kann man nichts entgegnen, man kann evtl. zugrunde liegende Missverständnisse oder Fehlinformationen nicht aufklären. Als Opfer/Ziel von einem Gerücht ohne Urheber_in ist man maximal ohnmächtig und soll es auch sein. Man soll nur die negativen Auswirkungen zu spüren kriegen und die_r Urheber_in im Schutz der Unsichtbarkeit bleiben können.

Interessant finde ich das, weil es ein Verhalten von Kindern ist, die die Schwächen/”Fehler” anderer zielsicher finden und gegen sie zu verwenden, sobald diese sie verlassen oder kränken oder verletzen oder oder oder. Solche Kinder haben meistens lügen, tarnen, verwässern und verwischen gelernt, um zu überleben. Und das ist ein Skill. Einer, der sehr feine, gut funktionierende Antennen für soziale Geflechte und eine gewisse “akute Skrupellosigkeit” im Miteinander erfordert.
Lügen, zum Beispiel, bedeutet ja nicht nur die Unwahrheit zu sagen oder Dinge vorzugeben, die nicht stimmen – man muss in der Regel schnell sein, erfassen, wie und womit sich das Gegenüber überhaupt täuschen lässt und dann darf man die Lüge das ganze Leben lang nicht vergessen, weil man ja vielleicht immer mit der Person zu tun hat.
Deshalb nenne ich das einen Skill. Menschen so lesen zu können, kann an anderen Stellen sehr hilfreich sein.

In einer Szene, die sich zusammenfindet, weil es Menschen gibt, die andere Menschen von Kleinkindalter an belügen, verwirren, ihre Motivationen verwässern und und und, ist das meiner Ansicht nach so zynisch wie logisch.
Das Eine schließt das Andere nicht aus und trotzdem ist es bitterbitterbitter, weil das bedeutet, dass solche Zusammenschlüsse (noch) nicht als etwas gesehen werden (können), in denen neue Möglichkeiten probiert und gelebt werden können, um bewährte Fähig- und Fertigkeiten umzumünzen in etwas, das die Gewalt nicht weiterträgt.

Wir sprechen sowas immer an. Sind transparent mit dem was uns über andere Leute erzählt wird, vorrangig um uns selbst zu entlasten, denn wie gesagt: wir sind nicht gut in so etwas.
Wir erkennen den sozialen Sinn für uns nicht*, erkennen aber sehr wohl die Gewalt darin und das, was sie machen soll. Gerüchte sollen verunsichern. Niemand soll sich mit einer Person sicher fühlen – bei urheber_innenlosen Gerüchten geht es oft sogar darum sich gar nirgendwo und mit gar niemandem sicher zu fühlen.
Wie das bei Menschen andockt, die sowieso schon jeden Tag mit Angst umgehen und enorm vieles leisten, um sich sicher zu fühlen, ist denke ich klar.

Manchmal merke ich, dass unser Umgang mit solchen Sachen irritiert, Schuldgefühle auslöst oder sogar als Zeichen von Unsolidarität gelesen werden. Und dann fühle ich mich nicht nur sozial unfähig, weil ich wieder denke, dass es da vielleicht doch irgendeinen geheimen Wink gibt, den zu erkennen ich einfach unfähig bin, sondern auch noch mies, weil wir damit umgehen, wie wir damit umgehen: nicht schweigend oder verdeckend.

Wir machen das nicht, weil wir uns für ein moralisches Neutrum halten, wir machen das, weil die beste soziale Interaktion, die wir hinkriegen die dingliche/sachbezogene ist.
Wenn wir klar haben worum es geht, warum wir was wie machen und wollen und was das Ziel sein soll, dann kann es für uns auch mal emotional werden oder um Dinge gehen, die heikel sind. Aber wir brauchen den konkreten Bezug.
Und der konkrete Bezug ist Leuten, die Gerüchte oder Gossip oder auch einfach bloßen Klatsch verbreiten, meistens scheiß egal oder völlig wegdissoziiert. Die meisten Leute, die das machen, haben nicht klar, dass es um sie geht, wenn sie über andere (schlecht) reden.

Wir kennen jemanden, die_r wenn wir sie_ihn treffen, immer schlecht von Leuten redet, mit denen sie_r selbst persönlich überhaupt nichts zu tun hat. Einfach so als normaler Talk, ganz oberflächlich und manchmal auch ganz in dem Ton wie Bunte, Glamour und Bild der Frau titeln.
Wenn die Person mit den Leuten an einem Tisch säße, würde sie ihnen das nie sagen.
Durch unsere Beziehung und eben diesem Hang zum Reden über andere Leute vor anderen Leuten, habe ich Angst jemals irgendwen von den Leuten zu treffen, über die diese Person spricht. Was wenn ich sie mal treffe und dann macht sie diese Sache von der die Person so schlecht geredet hat? Darf ich dann sagen, was ich von wem darüber gehört hab? OF COURSE NOT!

Oder doch?
Wovor ich Angst habe ist, dass die Person von da an auch schlecht über mich redet. Wobei sie das vermutlich sowieso schon tut, ich bis jetzt nur noch nichts davon weiß. Sicher kann ich mir darüber nicht sein.
Gesetzt den Fall ich würde es sagen, wäre die unangenehme Situation da und das Moment, in dem eine oder vielleicht auch wir beide anerkennen müssen, dass es vor allem deshalb unangenehm ist, weil man plötzlich nicht nur mit “Verrat” oder “Gebotsbruch” umgehen muss, sondern auch damit, dass es keine Routine im gewaltfreien Umgang mit solchen Situationen gibt.

Wir sind nicht so gut in sozialer Ausschlussperformance – also: Schweigen als soziales Mittel, Leute dissen oder Leute anziehen, um sie “auf unsere Seite zu bringen”, darin sind wir ziemlich schlecht.
Was wir können sind Reflektionen, Analysen, Auseinandersetzung, Fragen stellen, Klarheit schaffen und daraus Überlegungen anstellen, was helfen könnte.
Very konkret, much dinglich.
Und: ohne Schweigen
Unser ganz eigener Nichtschweigeskill.

Ich persönlich finde das okay so.
Und ich denke, dass das vielleicht auch ein guter Skill ist. Also heute jedenfalls.
Früher war das oft nicht sehr hilfreich. Und auch heute ist es im sozialen Miteinander eher irritierend.
Aber heute bedeutet Irritation keine Lebensgefahr mehr. Wir müssen nicht schweigen und wir müssen die verschiedenen Schweigerituale anderer Menschen nicht mitmachen – auch wenn wir uns deshalb manchmal nicht gut damit fühlen, weil wir nachwievor allzu oft allein damit sind. Obwohl wir uns in Szenen bewegen, die viel von unserem Er_Leben teilen.

Aber wir sind ja nicht die einzige Person auf der Welt, der es manchmal so ergeht, oder?

 

*@mthsblgr hat uns gestern noch geschrieben, dass der soziale Sinn für manche Leute darin liegt, sich über die Abgrenzung zu anderen Menschen mit jemandem zu verbünden bzw. eine Bindung aufzubauen, ohne sich selbst sehr zu öffnen.

Da muss man erstmal drauf kommen. Für uns ergibt das keinen Sinn. Muss es ja aber auch nicht.

all the shades of “Schweigen”

Mit „Schweigen“ und „Opfer“ – „Schweigen“ und „sexueller Missbrauch“ kommen die Klicks. Damit kriegt man die Leute an die Inhalte zum Thema. Hier eine Broschüre mit Hilfeangeboten und Beratungsstellen, da ein bahnbrechend aufrüttelnder Film. Hier ein berührender „Roman“ und da ein „vom Mantel des Schweigens“ befreiter Skandal. „Die Opfer müssen ihr Schweigen brechen!“ – ein stetiger Imperativ, wo und wann auch immer es um Strafverfolgung und ihre Hindernisse geht.
Wie schwierig dieser Strudel ist, habe ich schon oft im Blog von Vielen beschrieben. Habe aufgezeigt, welcher Schuldspruch an die Opfer und zu Opfer gewordenen damit getragen wird. Habe formuliert, wie laut Opfer und zu Opfer gewordene sind, selbst, wenn sie keine Worte für das haben, was ihnen passiert ist.

Natürlich wird sich überall nach wie vor an allen Ecken und relevanten Stellen auf „das Schweigen der Opfer“ bezogen – und nicht darauf, wer was wo wie wann hören, aufnehmen, begreifen kann, will, muss.
Natürlich wird auch immer noch darüber gesprochen, wie man helfen kann, Wege und Mittel aus den Schweigegeboten, denen Opfer und zu Opfern gewordene unterliegen, zu finden.
Und natürlich steht daneben das Schweigen all derer, die durch diese Bemühungen mit etwas belastet werden, das mit ihnen selbst überhaupt nichts zu tun hat.

Wir berichtigen ‚unsere Menschen‘ nach wie vor, wenn sie uns einfach zu der Gruppe derer zählen, die mit Schweigegeboten zurechtkommen müssen.
Wir wurden nie einem Schweigegebot unterworfen. Wir wurden Redeverboten unterworfen.
Das ist etwas anderes und für uns ist es ein relevanter Schritt gewesen, das zu erkennen und zu begreifen, denn ein Verbot ist etwas anderes als ein Gebot.

Wir erleben die Auseinandersetzung mit Schweigen im Kontext von Gewalt einseitig täter_innen(willen)zentriert und nicht zuletzt, als immer wieder die konkret betroffenen Personen in ihren Handlungsoptionen normierend.
Es ist so selten, dass in einer Fachtagung, einem Kongress, einer breit wirksamen Veranstaltung darüber gesprochen wird, wie sich die Auffassung von Schweigen als Schutz allein und nicht auch als notwendiges gewaltkulturelles Fundament der Gesellschaft, auf das Anzeige- und Strafverfolgungs , so wie das -verurteilungssystem auswirken.

Man spricht so gern von Liese Müller, die schrecklich leidet, weil sie ein unfassbar furchtbares Geheimnis hat, das sie nicht teilen kann. Man beschreibt so gern den Käfig ihres Schweigens und nicht zuletzt natürlich den wahnsinnig inspirierenden Befreiungskampf daraus, was dann auch schnurstracks zu Heilung, Gerechtigkeit und Regenbogen überm Sonnenuntergang führt.

Der soziale Tod von Hilda Stein, ihrer Familie und ihrer Herkunftsfamilie – die Scham, die Not an jedem Wort und jeder Selbstwirksamkeit – das langjährige und dann gescheiterte OEG-Verfahren – die Jahre der Therapie und der Versuche irgendwie auf einen grünen Zweig zu kommen – ohne je in einen Zustand zu kommen, in dem sie mehr sagen konnte als: „Ich wurde von XY misshandelt“ – das fehlt.

Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass es kein „das Schweigen brechen“ ist, wenn man einen Oberbegriff für erfahrene Gewalt benutzt oder einfach eine_n Täter_in benennt (und anzeigt).
Heute wie früher, wissen alle Menschen in der Umgebung, was eine Straftat ist, und was nicht.
Heute wie früher, wissen alle Menschen in der Umgebung, wann genau man was nicht sagen soll.
Und das betrifft nicht nur das Sprechen über Gewalt und Opferschaftserfahrungen.
Das betrifft auch das Sprechen über Krankheiten, seelische Befindlichkeiten, Menstruation und die Beschaffenheit von Kinderwindelinhalten. Zum Beispiel.

Schweigen gebieten nicht nur Gewalttäter_innen. Schweigen gebietet auch und meist sogar noch vor denen, die den Schutz durch Schweigen von ihren Opfern einfordern, unsere Gesellschaft und die (Gewalt-)Kultur, die sie pflegt.

Ich formuliere es radikal und dadurch leicht misszuverstehen, wenn ich schreibe: „Ein Schweigen der Opfer gibt es nicht“ und bleibe dennoch dabei.
Denn es ist wichtig zu verstehen, dass das Verschweigen von Gewalt(ausübungs)- und Opferschaftserfahrungen (also auch: globalen Ohnmachtserfahrungen) nichts ist, was in irgendeiner Form für bestimmte Personengruppen reserviert sein darf.

Die Anerkennung einer eigenen Opferschaft wird dadurch erschwert, dass man sich durch das soziale Reglement, wer wann worüber wo und vor wem etwas zu sagen verpflichtet ist, oder nicht, wer sich wann wo wie und wem gegenüber einer Aussage entziehen darf und wer nicht, eine eigene Position suchen muss.
Es ist nicht immer und ausschließlich der Druck vor der Angst, eine Opferschaftserfahrung könnte nicht geglaubt werden oder die Angst vor einer Strafe durch eine_n Täter_in, die Menschen daran hindert, gemachte Opferschaftserfahrungen zu beworten. Noch allzu oft ist es auch das ganz klare Spüren der Unerwünschtheit dieses Themas oder das Bewusstsein um Ohnmachtserfahrungen als dem Leben in dieser Gesellschaft immanent.
Genauso wie heute nach wie vor der soziale Tod eintreten kann, wenn man sich nonkonform in Bezug auf die Regeln der thematischen Angemessenheit verhält.

Natürlich stehen daneben die Überlegungen: „Okay, wenn wir das nicht wollen – wenn wir dieses Reglement aufbrechen wollen, dann müssen wir darüber reden. Und zwar immer und überall – wir verschonen niemanden. Sich rausziehen und die Augen verschließen, das erlauben wir nicht. Niemand soll sagen dürfen, er kenne niemandem, dem SO ETWAS mal passiert ist.“.

Für uns ist das ein Ansatz, der an der falschen Stelle anfängt. Weil wir wissen, dass jeder Mensch in der Umgebung auf jeden Fall jemanden kennt, dem SO ETWAS mal passiert ist – es aber nicht immer unbedingt auch weiß. Und zwar aus Gründen, die in der Umgebung dieser Menschen und den Möglichkeiten des konkret betroffenen Menschen liegen.

Was nutzt es Ella Kranz, die den örtlichen Kindergarten leitet und schwere Medikamente einnimmt, um trotz massiver PTBS-Symptome weiter arbeiten zu können, wenn Hannah C. Rosenblatt in allen Einzelheiten über ihre ersten 21 Lebensjahre schreibt? Oder Ute Koch jede Sekunde ihrer erlittenen Vergewaltigung durch ein Mikrofon ins Fernsehen spricht?
Ella Kranz braucht das nicht. Niemand braucht das. Niemand, außer vielleicht Hannah C. Rosenblatt, Ute Koch und all die anderen, die irgendwann das Gefühl haben, dass es richtig ist, die Einzelheiten und Details auszusprechen, um sie eben überhaupt einmal ausgesprochen zu haben – weil man es konnte oder wollen konnte oder können wollte oder oder oder
Jedenfalls braucht sie das nicht, um zu erfahren, dass sie nicht allein ist und es Hilfe für sie geben kann, die ihr auch so solidarisch zur Seite steht, dass sie weder ihren Job noch ihre soziale Position verliert. Dafür braucht sie das ausdauernde Engagement von Helfer_innen, strukturelle Sicherheiten und das Zutrauen in sich, durch diese Zeit ihres eigenen Lebens gehen zu können – also eine Umgebung, in der sie schweigen und sprechen kann, aber nicht muss.

Ich möchte Menschen mit meinen Erfahrungen verschonen, um mich zu schonen. Ganz klar.
Ich komme nicht gut mit all diesem reflexhaft abgespulten Zeug zurecht, das Menschen von sich geben, wenn sie nicht wissen, was sie von sich geben sollen, könnten, wollen. Deshalb halte ich meine Opferschaftserfahrungen als Teil von mir, wie meine Hundehaltungserfahrungen, meine Bastelerfahrungen, meine Schreiberfahrungen, meine x anderen Lebenserfahrungen in Kontakte hinein und entbinde Menschen ganz grundsätzlich von einer Reaktion darauf.
Ich erlaube ihnen mit mir zusammen darüber zu schweigen und einfach gemeinsam zu sein in dem Wissen, dass diese Erfahrungen da sind.

Das ist meine Art der sozialen Selbstermächtigung in dieser unserer Gesellschaft, die sowohl mich als Person, die zum Opfer wurde und mein offizielles Verschweigen von Straftaten an mir, als auch all die Abwehr- und Selbstschutzmechanismen in meinen Mitmenschen geformt hat.
Ich bin kein „schweigendes Opfer“, weil mich die Polizei oder irgendein gewaltkultureller Opfermythos so braucht, um mir meinen Schmerz, mein Leiden und nicht zuletzt auch uns als Mensch, der viele ist, zuzugestehen und anzuerkennen.
Ich bin eine Person, die etwas verschweigt, weil sie es kann, nachdem es jahrelang aktiv von ihr zu können gefordert wurde, und zwar von jemanden, der sie ganz global beherrscht hat.

Heute ist es meine Entscheidung zu schweigen. Meine globalen Opferschaftserfahrungen sind vorbei und die Macht der Täter_innen ist auf einer Ebene in meinem Leben, die nicht mehr nur mit mir allein zu tun hat und sich deshalb auch nicht mehr auf mich allein konzentriert.

Mein Schweigen ist losgelöst von Schulddynamiken.
Mein Schweigen ist losgelöst von Errettungs- und Heilungsphantasien.
Mein Schweigen ist losgelöst von meiner früheren Opferschaft.

Mein Schweigen ist, was es ist: Schweigen, aus Gründen, die ich allein bestimme, auch dann oder sogar trotz dem, ich damit Täter_innenwillen oder Interessen von Täter_innen schütze, berücksichtige oder bewahre.
Mein Denken, Fühlen und Leben im heutigen Hier und Jetzt, will ich nicht so täter_innenzentriert passieren lassen.

Für mich ist es wichtig, dass sich um Opfer und zu Opfern gewordene gekümmert wird, weil sie zu Opfern wurden und das etwas mit ihnen macht bzw. gemacht hat. Und nicht, um Täter_innen zu drohen oder sie zu bestrafen oder zu beschämen.
Die Auseinandersetzung mit Straftäter_innen ist in unserer Gesellschaft ganz klar und strukturell geregelt. Wir haben Gesetze, die sie als Täter_innen definieren. Wir haben eine Justiz, die ihre Taten verurteilen und ihre Strafen bemessen soll und wir haben Gefängnisse, die sie genauso aus der Gesellschaft herausreißen, wie es die Gewalt- und Ohnmachtserfahrung ihrer Opfer zuweilen tut.

Für Opfer und zu Opfern gewordene fehlt etwas Vergleichbares.

Eine detaillierte Beschreibung meines früheren Leides wird solche Strukturen nicht entwickeln. Sehr wohl aber könnten sie dazu beitragen zu normieren, wer was erfahren haben muss, um welche Hilfen, wie wo vor wem einfordern zu dürfen.

Meiner Ansicht nach, muss man davon wegkommen, sich mit dem „Schweigen der Opfer (und zu Opfern gewordenen)“ auseinanderzusetzen und sich endlich mehr damit beschäftigen, wie man hört, was Opfer und zu Opfern gewordene sagen und wie man dann damit umgeht als Gesellschaft.
„Wir Opfer und zu Opfern gewordene™“ schweigen nämlich alle unterschiedlich und die Anerkennung dessen bleibt aus.

Genauso wie weiterhin darauf verzichtet wird, sich mit dem Schweigen der Täter_innen auseinanderzusetzen.
Ein einziges Mal will ich in einer Missbrauch-Trauma-Gewaltpräventionsverstaltung sitzen und hören, dass die Täter_innen ihr Schweigen brechen sollen und man sich etwas überlegt hat, wie man das wohl möglich machen könnte.

Es ist Zeit, sich dem Schweigen zu widmen, anstatt sein Ende einzufordern.

mein Schweigen und die Therapie

helldunkelmischNachdem ich in der letzten Woche so mit einem Schweigen rang, so sehr um meine Lautsprache kämpfen musste, saß ich in der Therapiestunde und versuchte das Schweigen weiter in Worte zu wickeln. So fest wie es ging, um es an einem Ende der Therapeutin in die Arme zu legen.

Hatte sie doch gesagt, sie könne etwas aus-halten.
Wollte ich doch nur, dass sie etwas mit mir hält, was mich drückt.

Mir fiel auf, wie viele Schichten Worte ich über die Jahre bereits darum gewickelt habe.
Und wie sie anfing eine Schicht nach der anderen abzutasten- lose Fäden ohne Sicherung herunter hängen zu lassen und das Bündel immer wieder zurückzuschieben, wenn der leere Kern erste Schatten voraus warf.
Immer dann wenn ich denke: „Jetzt ist es gut verpackt und liegt auch noch woanders- jetzt kann ich- jetzt darf ich das Verschwiegene bündeln und aus seinem Nest in meinem Bauch- und Rippenfell herausklauben.“, dann liegt mein Schweigen wieder unverpackt- unversichert- ungebunden auf meinem Schoß und versucht sich wie ein Korsett um meine Mitte zu legen.

Seine Fänge wandern meinen Hals hinauf und drücken zu. Stopfen mir Mund und Nase zu, bringen mich dazu durch die Augen atmen zu wollen. Mein Schweigen ist ein nebulösschwarzschreiendes Biest, das mir die Ohren rauschen macht und mir das Denken vernebelt.

Am Ende war ich dankbar um die Wut der verletzten Ungeholfenen hinter mir.
Ließ mich und meinen Mund sagen, dass es doch nicht die Hilfe der Psychologie- der Psychotherapie- sein kann, für alles ein Wort zu haben.
Sie begann einen Satz mit „Doch….“

und das Schweigen tötete mich für einen Moment.

Jetzt sind viele Stunden vergangen und ich halte es, wie auf eine Spindel gespießt, in der Hand und wickle erneut Worte darum herum.

Ein anderes Innen soll herausfinden, was gesagt werden darf.
Ich fange an zu zweifeln, ob je eines meiner gewickelten Worte gehört wurde.
Frage mich wieder, ob ich selbst das Schweigen bin.

Bin ich für sie?
Sichtbar?
Hörbar?
Warum sagt sie mir nicht, was sie hört, damit ich höre, ob sie mein Schweigebündel gehört hat und mit mir hält?

Ich fühle mich alleingelassen mit meinem Schweigen.
Und jetzt auch noch hilfe-los, weil ich beim „Therapie machen“ versage, obwohl ich mich an die Regeln halte.

Die Ungeholfenen brüllen und haben Recht.
Helfer sollen helfen. Sie sollen nicht lügen, dass man Hilfe bekommt, wenn es keine Hilfe ist. Hilfe ist nicht allein Erkenntnis. Sprache ist hilfreich- aber keine Hilfe.

Ich schweige- trotz funktionierender Sprache.

Und nun weiß ich endgültig nicht mehr, was ich dort in der Therapie soll.
Weiß nicht einmal mehr in welche Richtung ich überlegen soll, wenn sie immer wieder sagt, wir sollen uns überlegen, was wir bei ihr wollen.
Waren die Antworten darauf falsch oder hat sie sie nicht gehört?

Brich das Schweigen- Mach dich sichtbar (4)

So ein Satz: “Brich das Schweigen.”, bedeutet für mich: “Mach dich sichtbar- mach die Gewalt sichtbar” … “Mach sichtbar, was niemand gesehen hat” … “Mach DU es sichtbar- du warst doch dabei”.

Wir leben in einem System in dem nur verurteilt wird, was sichtbar ist.
Es braucht handfeste Beweise, um Täter ihrer Strafe zuzuführen. Es braucht Sichtbarkeit, um wahrgenommen zu werden. Die Polizei braucht die Opfer, um die Täter sichtbar zu machen. Die Presse braucht das ganze Paket einer Situation, um darüber zu berichten und zum Sprachrohr zu werden. Doch ist nur sichtbar, wofür es Worte gibt.

Am Anfang war das Wort. Oh ja! Worte sind toll.
Sie sind, wenn es um Gewalt geht, wie das erste Kotzen bei einem Magen-Darminfekt; wie ein ausgedrückter Pickel der bereits tagelang schmerzte; wie Weinen, das man schon seit Stunden in seinem Hals drücken spürte.
Sie geben Form, machen sichtbar und ermöglichen sowohl eine Verarbeitung des Geschehens als auch innerhalb unseres Miteinanders eine Bewertung.

Gewalt aber, spricht Teile des menschlichen Gehirns an, die weit weg von dem Teil ist, in dem sich unsere Sprache befindet. Das ist sinnvoll, denn bei Gewalt geht es potenziell immer um eine Gefährdung des eigenen Lebens. Sprache ist jünger als der in uns entwickelte Teil, der unser Überleben sichert.
Ich schrieb es bereits in anderen Artikeln: Das Leben allein besteht in der Fähigkeit zur Entwicklung der Fähigkeit, das Leben weiterzugeben. Es ist ein evolutionärer Kettenbrief, der allein für seine Weitergabe arbeitet.
Unser Sprachzentrum ist so etwas, wie das Ziel am Ende einer verschlammten, mit Geröll bespickten Landstraße- während der Teil, der unser Überleben sichert, eine fünfspurige Hightechsuperautobahn ist. Es gibt keine Sprache- aber hey- was gibt es auch zu sagen, wenn Leib und Leben in Gefahr sind?!
Unserem Gehirn ist es scheiß egal, ob das, was da gerade passiert später noch sichtbar ist. Wer will ihm darum böse sein?

Es können nur jene sein, die das Privileg der Nichtbeteiligung und Unabhängigkeit genießen oder jene, die genau deshalb (chronisch oder latent) im Überlebensmodus stecken und darunter leiden.

Das Wissen um die Vorteile von sozialem Miteinander ist eng mit der Sicherung des eigenen Überlebens in uns Menschen (und auch vielen Tieren) verknüpft. Die Abhängigkeit von unseren Versorgern ist uns Menschen direkt ab dem Zeitpunkt der Geburt mehr oder weniger klar bewusst. Wir werden absolut hilflos geboren und sind erst ab dem Moment der biologischen Fähigkeit zur Weitergabe des Lebens, halbwegs in der Lage eigenständig zu leben. Doch nun ist es so, dass wir in hier, in Deutschland, in einer Umgebung leben, in der das soziale Gefüge dem direkt widerspricht. Hier in unserer Kultur, würde niemand einem Teenager unter 18 Jahren einen eigenen Haushalt ganz ohne Unterstützung und juristische Absicherung überlassen. Unsere Justiz staffelt noch bis ins 27ste Lebensjahr hinein das Maß von Strafen für diverse Taten. Das ist schön- untergräbt aber auch die Autarkie der Menschen. Im Guten, wie im Schlechten.

Es geht um Abhängigkeiten. Auch beim Schweigen.
Wir wurden in unserem früheren Abhängigkeitsverhältnis Schweigegeboten unterworfen.
Schweigegebote sind nicht so schlimm, wie man vielleicht glauben mag. Schlimmer sind die Redeverbote. Das Gleiche? Oh nein.
Gebote sind wie Spielregeln: Willst (Musst) du mitmachen, hältst du dich daran.
Verbote sind Grenzen: Übertrittst du sie, bist du ..? Na was? – Raus! Allein! Ausgeliefert! Schutzlos!
Ergo: potenziell tot.

Wer keinen Schutz außerhalb von (destruktiven) Abhängigkeitsverhältnissen hat, der kann nicht reden. Kann keine Worte finden. Kann nichts sichtbar machen. Kommt nicht in den Genuss der Privilegien, die das Leben mit seiner Fähigkeit dieses weiterzugeben braucht.

Und hier ist es- das Ding, dass das Schweigen nährt: Die Wahl zwischen Leben und Tod.
Welchen Weg wird unser Gehirn wohl nehmen, wenn wir Gewalt erfahren?
Und was passiert, wenn man Zeit seines Lebens immer wieder gezwungen ist, auf der Hightechsuperautobahn zu fahren? Man lernt, dass es sich lohnt und, dass es einfacher ist. Blicke nach links oder rechts sind Ressourcenverschwendung- wen interessiert die Landschaft, die man vom Fenster aus betrachten kann, wenn die rasante Fahrt immer wieder nötig ist, um die eigene Basis sicherzustellen?
Wie beschwerlich erscheint einem dann eine holprige Landstraße, wie fraglich ist das Ziel der Sprache und Sichtbarkeit für andere Menschen- ganz gleich wie dringlich sie es machen.

Es gibt keine Worte ohne Schutz.
Dieser Artikel hier ist ein Steinchen im Plädoyer für mehr Opferschutz.
Wer so privilegiert ist, Worte und damit Sichtbarkeit einzufordern, muss sein Privileg von Sicherheit durch Nichtbeteiligung und Unabhängigkeit teilen!
Alles andere verschiebt die Verantwortlichkeiten rund um Gewalt in den Schoß derer, die nichts- aber auch gar nichts dafür tun können, um dem zu entsprechen.

Wir brauchen Opfersolidarität- und Schutz! Wir brauchen die Annahme der Not und der Mechanismen, die Gewalt in unserer Mitte auslöst! Wir brauchen die Akzeptanz des Schweigens, das tiefe verinnerlichte Verständnis um die Folgen, als etwas, das mit uns allen tun hat! Wir brauchen die Folgen der Gewalt gleichrangig bewertet, wie die Gewalt an sich!

Sonst gibt es keine Worte, die das Schweigen brechen.
Sonst bleibt unsichtbar, was töten kann.

übers Schweigen schweigen

P1010037Will ich über mein Schweigen schweigen?

Da war so ein Moment im Kontakt mit der Therapeutin und fast wäre ich über meine selbst gehaltene Klinge gegangen. Sie fragt in letzter Zeit so oft, ob jemand etwas erzählen will.
Es ist also eine Willensfrage- keine Frage bestehender Privilegien wie Sicherheit, Ruhe, Zutrauen und die Fähigkeit die Echtwerdung des Gesagten sowohl ertragen als auch aushalten zu können.
Ist das so?

Wenn ja- ist das nicht der Moment, in dem ich gepflegt unter der Decke kleben und meine abgefressenen Fingernägel auf den Boden herunterrieseln lassen kann?!

Wenn nein- kommt der Moment dann jemals?

Ich fühle mich ein bisschen entkernt durch diese Nachfrage. Sehe mich wie eine Art Horrorgeschichtenbehältnis. Biologisch abbaubar mit integriertem Verschluss und Abtropfschwämmchen. Selbstreinigend mit Konservierungseigenschaften.

Was habe ich schon zu erzählen?

Vielleicht bin ich das Schweigen selbst.

Fortsetzung folgt

Das Schweigen und die Sichtbarkeit

„Das Wichtigste ist, das Schweigen zu brechen“.

Es ist der Titel eines Vortrages von Michaela Huber über organisierte Ausbeutung, rituelle Gewalt und dissoziative Störungen, den sie im März bei der Tagung gehalten hat. Der Titel schwirrt mir immer noch im Kopf herum, weil er so…

Es ist einer dieser Sätze, die man als Opfer, Zeuge oder auch Täter so und in vielen anderen Verpackungen immer wieder hört, wenn es um Gewalt geht. Einer von den Sätzen, bei denen es in meinem Kopf gleichzeitig „WAHR!“ und „FALSCH“ brüllt, noch während sich eine sachliche Sprecherin zur Lage der inneren Nationen räuspert und über biologische, soziale und politische Sachverhalte referiert. Die das Schweigen darlegt, anprangert und auch rechtfertigt.

Es gibt viele Arten des Schweigens.
Das Schweigen der Zeugen zum Beispiel.
Vor Kurzem wurde die Bloggerin „
Ragekamila“ von 5 anderen Menschen angegriffen. Es gingen viele Menschen an ihr vorbei, doch ihr begegnete Schweigen und Ignoranz. Sogar die Polizei verschwieg ihre Solidarität mit ihr als Opfer und vermittelte ihr stattdessen, selbst schuld an dem Angriff zu sein, weil sie einen kurzen Rock trug.
Unterm Strich: Rape Culture
und Schweigen.
Ich weiß nicht, was Menschen, die Zeugen von so einem Angriff werden, dazu bewegt zu schweigen. Hatten sie Angst, selbst auch angegriffen zu werden? Dachten sie: „Ach, sie wehrt sich ja schon- sie wird das auch allein packen“? Schätzten sie die Situation anders ein? Wir und vor allem aber „Ragekamila“ werden es nie wissen, denn ihr Schweigen hat sie unsichtbar gemacht.

Dann das Schweigen der Täter.
Wenn mein Vater mich verprügelt hat, dann sagte er ziemlich genau den gleichen Satz immer wieder vor dem ersten und nach dem letzten Hieb. Wie ein Startschuss in ein Nirwana aus Schmerzen und Schweigen. Ich denke, er wird während der Tat dissoziiert haben und selbst nicht in der Lage gewesen sein, mehr zu äußern. Wenn es tatsächlich so war, erklärt sich mir auch sein Schweigen im Anschluss. Vielleicht ist es für ihn nie passiert- was sagt man über etwas, das nie passiert ist?

Oder das Schweigen mit Worten.
Wenn meine Mutter mich misshandelt hat, sprach sie die ganze Zeit- ohne etwas zu sagen. Auch sie schwieg über ihre Gefühle und Gedanken. Ihre eigene Position in dieser Situation. Was auch immer sie angetrieben hat- es war eine Spirale, die sie selbst in ihrem Sein unsichtbar gemacht hat.

Und dann das Schweigen des Opfer.
Ich war das Opfer der Misshandlung durch meine Eltern. Beide waren während der Tat unsichtbar. Der eine geistig- der andere seelisch. Sichtbar waren, und sind bis heute, allein die Folgen ihrer Handlungen.
Selbst ich bin nicht immer da gewesen. Wurde der Schmerz, die Demütigung zu groß, habe ich mich verschwinden lassen, war gar nicht da- hab das alles wie Nebelschwaden an mir vorbei, durch mich hindurch ziehen lassen, hab mich unsichtbar gemacht.

So ein Satz: „Brich das Schweigen.“, bedeutet für mich: „Mach dich sichtbar- mach die Gewalt sichtbar“ … „Mach sichtbar, was niemand gesehen hat“ … „Mach DU es sichtbar- du warst doch dabei“.
Ich war es aber nie ganz.

Wir leben in einem System in dem nur verurteilt wird, was sichtbar ist.222295_web_R_K_by_Sonja Gräber_pixelio.de
Es
braucht handfeste Beweise, um Täter ihrer Strafe zuzuführen. Es braucht Sichtbarkeit, um wahrgenommen zu werden. Die Polizei braucht die Opfer, um die Täter sichtbar zu machen. Die Presse braucht das ganze Paket einer Situation, um darüber zu berichten und zum Sprachrohr zu werden. Doch ist nur sichtbar, wofür es Worte gibt.

Am Anfang war das Wort. Oh ja! Worte sind toll.
Sie sind, wenn es um Gewalt geht, wie das erste Kotzen bei einem Magen-Darminfekt; wie ein ausgedrückter Pickel der bereits tagelang schmerzte; wie Weinen, dass man schon seit Stunden in seinem Hals drücken spürte.
Sie geben Form, machen sichtbar und ermöglichen sowohl eine Verarbeitung des Geschehens als auch innerhalb unseres Miteinanders eine Bewertung.

Gewalt aber, spricht Teile des menschlichen Gehirns an, die weit weg von dem Teil ist, in dem sich unsere Sprache befindet. Das ist sinnvoll, denn bei Gewalt geht es potenziell immer um eine Gefährdung des eigenen Lebens. Sprache ist jünger als der in uns entwickelte Teil, der unser Überleben sichert.
Ich schrieb es bereits in anderen Artikeln: Das Leben allein besteht in der Fähigkeit zur Entwicklung der Fähigkeit, das Leben weiterzugeben. Es ist ein evolutionärer Kettenbrief, der allein für seine Weitergabe arbeitet.
Unser Sprachzentrum ist so etwas, wie das Ziel am Ende einer verschlammten, mit Geröll bespickten Landstraße- während der Teil, der unser Überleben sichert, eine fünfspurige Hightechsuperautobahn ist. Es gibt keine Sprache- aber hey- was gibt es auch zu sagen, wenn Leib und Leben in Gefahr sind?!
Unserem Gehirn ist es scheiß egal, ob das, was da gerade passiert später noch sichtbar ist. Wer will ihm darum böse sein?

Es können nur jene sein, die das Privileg der Nichtbeteiligung und Unabhängigkeit genießen oder jene, die genau deshalb (chronisch oder latent) im Überlebensmodus stecken und darunter leiden.

Das Wissen um die Vorteile von sozialem Miteinander ist eng mit der Sicherung des eigenen Überlebens in uns Menschen (und auch vielen Tieren) verknüpft. Die Abhängigkeit von unseren Versorgern ist uns Menschen direkt ab dem Zeitpunkt der Geburt mehr oder weniger klar bewusst. Wir werden absolut hilflos geboren und sind erst ab dem Moment der biologischen Fähigkeit zur Weitergabe des Lebens, halbwegs in der Lage eigenständig zu leben. Doch nun ist es so, dass wir in hier, in Deutschland, in einer Umgebung leben, in der das soziale Gefüge dem direkt widerspricht. Hier in unserer Kultur, würde niemand einem Teenager unter 18 Jahren einen eigenen Haushalt ganz ohne Unterstützung und Absicherung überlassen. Unsere Justiz staffelt noch bis ins 27ste Lebensjahr hinein das Maß von Strafen für diverse Taten. Das ist schön- untergräbt aber auch die Autarkie der Menschen. Im Guten, wie im Schlechten.

Es geht um Abhängigkeiten. Auch beim Schweigen.
Wir wurden in unserem früheren Abhängigkeitsverhältnis Schweigegeboten unterworfen.
Schweigegebote sind nicht so schlimm, wie man vielleicht glauben mag. Schlimmer sind die Redeverbote. Das Gleiche? Oh nein.
Gebote sind wie Spielregeln: Willst (Musst) du mitmachen, hältst du dich daran.
Verbote sind Grenzen: Übertrittst du sie, bist du ..? Na was? – Raus! Allein! Ausgeliefert! Schutzlos!
Ergo: potenziell tot.

Wer keinen Schutz außerhalb von (destruktiven) Abhängigkeitsverhältnissen hat, der kann nicht reden. Kann keine Worte finden. Kann nichts sichtbar machen. Kommt nicht in den Genuss der Privilegien, die das Leben mit seiner Fähigkeit dieses weiterzugeben braucht.

Und hier ist es- das Ding, dass das Schweigen nährt: Die Wahl zwischen Leben und Tod.
Welchen Weg wird unser Gehirn wohl nehmen, wenn wir Gewalt erfahren?
Und was passiert, wenn man Zeit seines Lebens immer wieder gezwungen ist, auf der Hightechsuperautobahn zu fahren? Man lernt, dass es sich lohnt und, dass es einfacher ist. Blicke nach links oder rechts sind Ressourcenverschwendung- wen interessiert die Landschaft, die man vom Fenster aus betrachten kann, wenn die rasante Fahrt immer wieder nötig ist, um die eigene Basis sicherzustellen?
Wie beschwerlich erscheint einem dann eine holprige Landstraße, wie fraglich ist das Ziel der Sprache und Sichtbarkeit für andere Menschen- ganz gleich wie dringlich sie es machen.

Es gibt keine Worte ohne Schutz.
Dieser Artikel hier, sowie auch der Artikel der Paulines, in dem sie über Zweifel, Fallstricke und Glaubhaftigkeit sprechen  ist ein Steinchen im Plädoyer für mehr Opferschutz.
Wer so privilegiert ist, Worte und damit Sichtbarkeit einzufordern, muss sein Privileg von Sicherheit durch Nichtbeteiligung und Unabhängigkeit teilen!
Alles andere verschiebt die Verantwortlichkeiten rund um Gewalt in den Schoß derer, die nichts- aber auch gar nichts dafür tun können, um dem zu entsprechen.

Wir brauchen Opfersolidarität- und Schutz! Wir brauchen die Annahme der Not und der Mechanismen, die Gewalt in unserer Mitte auslöst! Wir brauchen die Akzeptanz des Schweigens, das tiefe verinnerlichte Verständnis um die Folgen, als etwas, das mit uns allen tun hat! Wir brauchen die Folgen der Gewalt gleichrangig bewertet, wie die Gewalt an sich!

Sonst gibt es keine Worte, die das Schweigen brechen.
Sonst bleibt unsichtbar, was töten kann.