15 Jahre nach dem Ausstieg

Der Krieg hat etwas in mir verschoben.
Erst kam die Starre, dann die Bilder, die Albträume, die Schmerzen. Seit Monaten gehören Schmerztabletten zu meinen Mahlzeiten wie eine unverzichtbare Zutat.
Es ist das 15. Jahr nach meinem Ausstieg und ich bin auf eine Art mit Überzeugungen und Ängsten geflutet, wie noch nie zuvor.
Was auch immer sich verschoben hat, es hat rohes Fleisch offengelegt.

Situationen wie diese gehören dazu. Zum Leben und besonders zum Leben nach dem Ausstieg. Zumindest habe ich es so oft bei anderen Vielen mit_erlebt, dass ich es kaum getrennt voneinander denken kann.
Bei mir ist es einfach nicht so gewesen. Vor 5 Jahren nicht und auch nicht in den Jahren davor.

Ich hatte immer nur die BÄÄMS. Die Schreihälse, die mir ihren Hass entgegenbrüllen oder subtil ins Denken injizieren. Die immer wissen, was ich falsch mache, was ich nicht darf und was einfach nicht mein Ernst sein kann. Wegen der Lächerlichkeit.
Die Dunkelbunten sind nur Theorie. Irgendwie bis heute. Obwohl ich merke, was sie da machen. Was sie in mir bewirken und an wem. Jetzt, wo so viel frei liegt, dass es weh tut. Obwohl ich weiß, dass täter_innenloyale und täter_innenidentifizierte Innens nicht das gleiche wie „destruktive Innens“ sind. Jedenfalls nicht in unserem Systemkomplex.

15 Jahre nach dem Ausstieg wollte ich einen super inspirierenden Beitrag schreiben, der Kraft gibt, Hoffnung schöpfen lässt, der andere Betroffene in ihrem Ausgestiegensein bestärkt.
Und jetzt sitze ich hier, muss anerkennen, dass wir weiterhin nicht den inneren Ausstieg geschafft haben und mit Schwierigkeiten kämpfen, die in unserer heutigen Situation doch eigentlich leicht zu bewältigen sein müssten. Wir haben alles, was man dazu braucht -Therapie, sichere Bindung, stabiles Leben, Arbeit, Selbst_Bewusstsein, viele Skills und noch mehr Prozesserfahrung – und trotzdem. Nein, es ist nicht leicht. Es ist kein Zustand aktiven Tuns, sondern einer von Aus_Halten und hoffen, dass die Therapeutin weiß (und mir sagt), was ich jetzt wie tun oder überlegen könnte, um zu verstehen. Oder so.
Vielleicht gibt es nichts zu verstehen. Ich habe keine Ahnung.

Ich bin frustriert darüber, dass ich nur meine Therapeutin habe – und also nur diese anderthalb Stunden alle zwei Wochen – um die Möglichkeit des Versuchs etwas von all dem mitzu.teilen überhaupt anbahnen zu können. So wütend, ungeduldig, manchmal grenzenlos hasserfüllt darüber, dass ich nicht einfach damit rauskomme. Obwohl ich mir doch alles genau dafür vorbereitet habe. Doch alles frei ist. Da ist kein Hindernis, gar nichts. ES bleibt wortlos. DAS DA Emotion ohne Kanal. Meistens das weiße Nichts, das ich als „das Inmitten“ (in mir) kenne. Ein zentrierter Punkt, in dem alles so krass ist, dass es nichts, alles, einfach nur ist.

Neu ist das Gefühl der Enttäuschung.
Vor 20 Jahren hat sich nur meine Ärztin getraut überhaupt anzunehmen, dass ich organisierte Gewalt erfuhr, vor 15 Jahren musste ich den Ausstieg alleine machen, weil niemand verstanden (oder geglaubt) hat und heute gibt es immer noch weder (bedarfsgerechte) Ausstiegshilfen, noch geschützte Räume zur aktiven Auseinandersetzung für Menschen in meiner Situation.
Da haben sich Behandler_innen jahrelang den Mund fusselig geredet, wurden Konferenzen und Fachtagungen gemacht, haben sich Betroffene bei YouTube präsentiert und in Blogs offenbart – da wurden „wir“ vom Staat gehört, der eine fancy Broschüre hat drucken lassen und, was ist davon jetzt hier und heute wirklich nutzbar? Es gibt weiter keine Kliniken, weiter keine Hilfsangebote, die über oberflächliche Beratung und allgemeines Eiei hinausgehen. Ausstieg ist ein individueller Prozess, der direkt und persönlich begleitet werden muss. Lange. Oft. Bedingungslos. Bedarfsgerecht.
Was es jetzt gibt, ist nicht genug und das ist eine bittere Erkenntnis, wenn man wie ich einen großen Zeitraum zu Vergleich hat, in dem bereits so viel mehr als vorher passiert ist.

Dass es mich enttäuscht, ist neu. Vielleicht, weil ich heute überhaupt erwarte. Vielleicht, weil ich nicht durchschauen kann, warum sich da einfach nicht mehr, nichts Konkreteres tut. Warum ist diese Gesellschaft einfach so grundsätzlich ok damit, dass Menschen leiden?
Sind wir selber schuld? Ist es die Idee von Sichtbarkeit, die sich als irrig entpuppt? Sagen was ist und drauf verlassen, dass es niemand so belassen will – scheinbar wollen es genug Leute doch so belassen. Was bedeutet das in Bezug auf den Stellenwert meines Leidens? Vielleicht leide ich gar nicht.

15 Jahre danach wollte ich weiter sein. Klarer.
Aber nein. Nichts ist klar. Ich bin nur weiter.
Wo, das muss ich noch mehr verstehen.


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6 thoughts on “15 Jahre nach dem Ausstieg

  1. Wir haben den Post geliked, obwohl es inhaltlich sowas von nicht zum Liken ist. Wir sind irgendwie an einem ähnlichen Punkt. Unser äußerer Ausstieg hat vor fast 20 Jahren begonnen, wann er denn wirklich beendet war, lässt sich schwer eingrenzen. Mit dem inneren sind wir auch noch immer beschäftigt. Und so langsam glaube ich, dass letzteres mit Sicherheit unter anderem daran liegt, dass wir trotz all dem oben genannten immer noch ständig kämpfen müssen. Um Therapiezeit, um Geglaubtwerden, um adäquate medizinische Unterstützung.Und auch daran, dass wir den Innenpersonen, die nur mit den rituellen und gewaltvollen Ideologien aufgewachsen sind, nicht wirklich glaubhaft versichern können, dass „die Gesellschaft“ auf anderen Werten basiert. „Die Gesellschaft“ handelt jedenfalls nicht so, als sei sie daran interessiert, Gewalt zu minimieren und die Verletzlicheren zu schützen. Und dass wir dabei hier auch noch von einer vergleichsweise freien und demokratischen Gesellschaft sprechen, und innerhalb dieser sogar noch aus einer trotz allem irgendwie privilegierten Position, das macht die Sache ja auch nicht gerade weniger deprimierend. Ich finde es schwierig bis unmöglich, Klarheit zu entwickeln in einer Umgebung, die sich in Bezug auf das Thema (organisierte und/oder rituelle) Gewalt schwammig und indifferent verhält. Und wir wünschen euch mehr Verständnis und Klarheit in Bezug dazu, wo ihr selbst da gerade steht! Viele Grüße, some_of_many

    1. Bei uns ist das Problem, dass die früheren Inhalte den „von der Gesellschaft vertretenen“ (im wörtlichen Sinn) fast identisch sind – aber nicht in der Bedeutung.
      Wir für uns haben das im Alltag irgendwie schon aufgelöst und eine Verortung in der Gegenkultur gefunden. Also auch Werte entwickelt und eine gewisse Praxis sie zu vertreten.
      Aber „die Dunkelbunten“ halten das für nicht real. Wir sind nicht echt, unser Leben nicht, die Gesellschaft, alle unseren anderen Bezugsrahmen.
      Und Echtheit ist so ein fieses Ding. Fast wie Wahrheit. Wir haben uns inzwischen so eingefunden, dass wir nicht mehr ständig darum kreisen müssen und ok damit sein können viele Dinge gleichzeitig real und wahr anzunehmen.
      Und dann zwingen die uns irgendwie wieder damit anzufangen (ohne, dass wir wüssten wie, wozu, auf welches Ziel hin) 🤪🙄🙈😩

  2. Puh, vielviel Kraft wünsche ich. Das klingt super hart. Ich hoffe so sehr, dass es bald wieder leichter wird für euch.
    (Obwohl, wie viel Kraft soll man eigentlich haben?? Vielviel mehr wünsche ich, euch und allen, dass sich da was ändert)

  3. Hey, ihr schreibt, dass ihr vielleicht nicht leidet. Was versteht ihr unter „leiden“? Alles Liebe zu Euch ✌️

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