Diagnose: Problemverschiebung, Selbstdiagnosen nach Konsum von Internetcontent sind nicht das Problem

„Ich bin Jenni und ich bin ein nicht menschlicher Anteil im System“, kommt es aus dem Smartphone. Ich sitze im Zug und scrolle Insta-Reels soweit der Empfang reicht. Es ist nicht das erste Reel zum Thema DIS und auch nicht das Letzte, das mir in den nächsten 20 Minuten präsentiert wird.

Ich merke, dass es mir schlecht damit geht. Spüre, wie hilflos und ohnmächtig ich mich vor dieser Flut von Videos junger, häufig normschöner Menschen fühle, die so scheinbar selbstbewusst und fröhlich so viel Desinformation, Vorurteile und falsche Vorstellungen von Psyche reproduzieren. Aber dann kommt ein Golden Retriever Welpe, der durch eine Wiese tapst. Auggie, eine Quakerparrot-Dame, die ihren Bacon Pancakes-Tanz macht. Tahism, der mich mit so traurigem Scheiß zum Lachen bringt. Und so vergeht eine halbe Stunde. 30 Sekunden „Ich bin nie einsam – ich bin viele“, 3 Minuten politisches, 2 Minuten AI generierter Inhalt, der nicht als solcher gekennzeichnet ist, 3 Minuten Tiere. Ein Tanzvideo zu 5 Zeichen von Autismus, die ich als autistischer Mensch weder habe noch in den Diagnosekriterien finden würde.
Der Algorithmus gibt alles. Habe ich erst einmal eines dieser Videos ganz angesehen und mir auch die Kommentare darunter durchgelesen, kommen immer neue. Erst von dieser einen Person, dann von allem, was den Hashtag drunter hat. Ob ich will oder nicht. Ob diese Videos absoluter Unsinn, schädigender Müll oder perfekte Meisterwerke nach wer weiß wie viel Arbeit sind oder nicht. Erfüllt meine Interaktion mit der App die Kriterien für Interesse, werde ich damit gestopft, solange ich online bin.
Was ich in Bezug auf Hundewelpen und diskriminierte Personengruppen, die sonst nirgendwo Gehör bekommen, kaum problematisch finde, ist in Bezug auf DIS, aber auch andere Erkrankungen ein echtes Problem.[1]

Gerade ist im „Harvard Review of psychiatry“ ein Artikel mit dem Titel „Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment“[2] erschienen. Ein Artikel, der thematisiert, wie der Konsum von Videos zum Thema DIS (in US-Amerika DID) auf Plattformen wie TikTok und YouTube mit der Selbstdiagnose einer DIS zusammenhängt.
Die Autor*innen schreiben: „An emerging concern, however, is that inaccurate and misleading social media discourse on DID may provide a new impediment to effective diagnosis and treatment via what Chevalier called the “looping effect” of social media on psychiatric diagnosis. In this effect, lay and inaccurate mental health claims on social media ultimately influence professional discourse and practice; the sheer ubiquity of misleading claims about DID on social media may convince mental health consumers and practitioners alike.“ – sinngemäß: Weil es mehr Stuss als fundierte Inhalte gibt, wird auch mehr Stuss geglaubt. Und zwar nicht nur bei bestimmten Personengruppen, sondern von allen. Auch Fachpersonen. Das, dieser von Chevalier so genannte „looping effect“, ist ein massives Problem für Betroffene jeder Störung, die selten ist und/oder eine gewisse Varianz im Erscheinungsbild hat.

Ich möchte in diesem Text jedoch ein bisschen umfassender auf das Thema schauen.
Für mich hat dieser Komplex ein Was, ein Wie, ein Warum und eine persönliche Komponente, weil ich selbst mit zwei der Diagnosen lebe, die aktuell als die Krankheiten besprochen werden, mit der man sich bei Nutzung von Social Media gewissermaßen „sozial ansteckt“. Aber auch, weil ich als Blogger_in und Podcasthost tätig bin.

Das Was – Selbstdiagnose oder (Selbst)Identifikation?

Eine Selbstdiagnose ist das Ergebnis laienhafter Beurteilung von Merkmalen, Symptomen oder Prozessen, mit oder ohne Zuhilfenahme dafür geeigneter oder ungeeigneter Hilfsmittel.
In der Auseinandersetzung mit Social Media als angenommenen Ausgangspunkt für Selbstdiagnosen psychiatrischer Diagnosen stellt sich mir die Frage, ob es nicht zu viel ist, die Annahme einer eigenen Betroffenheit von Medienkonsument_innen als Selbstdiagnose einzuordnen. Wird hier Selbstidentifikation überhöht, um eine Problembeschreibung zu generieren, von der man sich mehr Anerkennung verspricht, wenn sie danach klingt, als würden sich die Kranken zu Doktor_innen erklären?

Was ist was?

Eine Selbstdiagnose kann im professionellen Diagnostikprozess dabei helfen, die eigene Perspektive auf das Erleben bestimmter Symptome, Merkmale und Prozesse zu kommunizieren und mit der Fachperson und ihrer Einschätzung abzugleichen.
Eine Selbstdiagnose ist in keinem Fall gleichzusetzen oder in ihrer Aussagekraft gleichzustellen mit einer professionell zustande gekommenen Diagnose durch eine qualifizierte Fachperson. Dieser Umstand ist jedoch keine Aussage darüber, welche Diagnose die per se richtige im Sinne von „die zutreffende“ ist. Zu jeder Diagnose gehört das Potenzial der Fehldiagnose. Das gilt für Selbstdiagnosen genauso wie für Diagnosen nach professioneller Diagnostik. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehldiagnose höher bei der Selbstdiagnostik, weil Laien nicht die entsprechende Ausbildung und die nötige Anleitung haben. Zudem erfordert jede Diagnostik eine gewisse Objektifizierung der betreffenden Person, die aus sich selbst heraus praktisch unmöglich zu leisten ist. Das Nachdenken und auch das Beobachten der eigenen Person ist immer subjektiv.

Die (Selbst)Identifikation oder auch Selbstzuschreibung passiert bei Menschen meistens vor- oder unbewusst. Also unabsichtlich und intuitiv. Es ist die menschliche Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen und ihrer Gefühle, aber auch in die Haltung von Menschengruppen hineinzuversetzen, die dazu führt, dass sich Zugehörigkeitsgefühle entwickeln oder auch nicht. Die Herausbildung einer eigenen Identität wäre unmöglich ohne die Fähigkeit der Selbstzuschreibung bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten, die dazu beitragen, dass man sich als anderes Subjekt als die Subjekte um sich herum erleben kann.
Selbst(bestimmte) Identifikation dient also sowohl der Grenzziehung zu anderen Menschen („Ich bin nicht du“), aber auch der Definition von Grenzen („Wir sind beide Menschen, die Blumen mögen.“)

Social Media – die Echokammer, in der man im Kreis läuft

Die gesamte Architektur von Social-Media-Plattformen dient der Verschiebung verschiedener Grenzen im Individuum, während künstliche Grenzen durchgesetzt und aufrechterhalten werden. So können Nutzende zwar den Eindruck haben, sie würden etwa bei Instagram und TikTok oder früher auch Twitter und Facebook auf verschiedenste Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe treffen – tatsächlich aber sprechen sie immer in künstlich generierten Kohorten, die sie selbst spiegeln. Dieser Umstand wurde bereits vor Jahren breit diskutiert, als der Begriff der „Filterblase“ dafür gefunden wurde.
Diese digital generierten Filterblasen führen zu kommunikativen Echokammern, in denen der inhaltliche Fokus für Themen und Inhalte immer schärfer verengt wird. Bestimmte Haltungen oder Meinungen oder Perspektiven darauf können dann kaum noch als extrem, desinformiert oder problematisch konfrontiert werden. Es fehlt an Möglichkeiten des Abgleichs und der Korrektur. Gleichzeitig gibt es weiterhin sehr viele Möglichkeiten der Identifikation und Zugehörigkeitsempfindung. Man bekommt zu keinem Zeitpunkt den Anstoß zur neuerlichen Selbstdefinition.

Die digitale Filterblase kann ein Individuum nicht durchdringen. Die Kontrolle darüber, zu welcher Blase ein_e Nutzer_in gehört, übernehmen Code und Maschine, die von Konzernen mit ganz eigenen Interessen bestimmt funktionieren. Lediglich die eigene Echokammer und ihre bestimmende Wirkung kann in Teilen beeinflusst werden. Hierbei spielen die verbrachte Zeit, Umfang, persönliche Beteiligung und ein kontrastreiches Portfolio der verfolgten Accounts eine Rolle.

Im Kontext der problematisierten Selbstdiagnose mit psychischen Krankheiten wird in dem oben erwähnten Text von „Kindern und Jugendlichen“ (children and young people) gesprochen. Einer Personengruppe, bei der sogenannte „Zwischenidentitäten“ die Norm sind, also die Entwicklung der Identität eine bestimmende Rolle im Alltag einnimmt.
Für diese Personengruppe ist social media ein Spiegelkabinett, das sie schneller und eindeutiger zu einem Identitätsgefühl führt als es die analoge Kommunikation und Interaktion je könnte.
Als verstärkender Faktor wird in dem Artikel übrigens die COVID19-Pandemie genannt. Eine Zeit, in der das analoge Leben von vielen Menschen in westlichen und kapitalistisch starken Gesellschaften als unangenehm fremdbestimmt und ungewohnt angstvoll erlebt wurde. Besonders von Kindern und Jugendlichen, deren Schutz und Unterstützung zu spät und wenig passiert ist. Das Smartphone und der endlose Schwall von dem, was sich gut und passend, zugehörig und kongruent anfühlt – das war für eine spezifische Gruppe Kinder und Jugendlicher verfügbarer als die analoge Peergroup und gemeinsame Aktivitäten, die ebenfalls der Identitätsbildung dienlich sind.

Wie können wir – wie müssen wir über uns sprechen?

DID bzw. DIS, die dissoziative Identitätsstörung, wird an vielen Stellen im Internet, auch hier in meiner Präsenz, selten als Krankheit beschrieben. Bei mir ergibt sich diese Darstellung aus einem soziologischen und psychiatriekritischen Diskurs heraus. Ich differenziere zwischen dem medizinischen Blick auf mich als pathologisierter Körper und dem Blick, den ich selbst aufgrund meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung auf mich habe.

Bei anderen Betroffenen erfolgt die Selbstbeschreibung als „nicht krank“ manchmal aus einer ableistischen Abwehr heraus. Also der Weigerung, sich als krank zu bezeichnen, weil sie Krankheit mit Minderwertigkeit verbinden. Wieder andere verstehen ihren Zustand, genauer gesagt ihre Symptome als naturgegeben (im Sinne von „vom Leben mit Trauma so gewachsen“) und ihren Lebensstil entsprechend absolut individuell und eben nicht pathologisch. Hier gibt es häufig Anknüpfungspunkte an ableistische und opferfeindliche Grundhaltungen, die der Abgrenzung dienen.
Es gibt auch Betroffene, die gar kein Interesse daran haben, sich überhaupt zu erklären oder die fachliche Konstruktion und Diskurse weder durchdringen können (oder wollen) noch Fachbegriffe verwenden, um ihr Selbstempfinden zu beschreiben.

Diese Selbstpositionierungen sind einerseits von vielen Betroffenen überhaupt nicht reflektiert oder als relevant empfunden. Andererseits können sie von jenen, die sie reflektiert haben und als relevant empfunden werden, in 30 bis 60-Sekunden-Videos oder Formaten niemals umfassend kommuniziert werden. Selbst ausgeschrieben in Text oder eingesprochen zu einem Audiobeitrag ist es Betroffenen nicht möglich, diese individuelle Positionierung immer so mitzuvermitteln, dass sie den Ansprüchen moderner Kommunikation in sozialen Netzwerken oder Plattformen wie Blogs und Podcasts gerecht werden.
Je länger, komplexer und umfassender ein Beitrag ist, desto schlechter klickt er sich. Es sind aber die Klickzahlen, die darüber entscheiden, wie viele Menschen welcher Filterblasen damit erreicht werden. Die Reichweite ist für Plattformen wie YouTube und Instagram wiederum die relevante Größe, um finanzielle Interessen zu verfolgen. Interessen, die viele Content Creator_innen und Influencer_innen teilen.

Die (Selbst)Darstellung auf Plattformen als Person mit DIS ist entsprechend erfolgreicher, wenn die DIS als eine persönliche (möglichst gar nicht mal so unsympathische) Eigenschaft kommuniziert wird. Als etwas, dessen Symptomatik relatable, also zur (Selbst)Identifikation einladend ist. Denn nur wenn Zuschauer_innen sich eindeutig verbunden oder auch abwehrend bzw. allgemein emotional reizend nicht verbunden fühlen, schauen sie bis zu Ende, kommentieren und teilen den Beitrag.

der Vibe – die Realität?

Selbstidentifikation ist es daher, was meiner Meinung nach in der Mehrheit der Fälle passiert, wenn eine junge Person nach einigen Videos der Ansicht ist, eine DIS oder Anteile davon zu haben. Es fühlt sich gut für sie an. Richtig. Passend. Zugehörig. Dann kann es doch nicht falsch sein? – Leider ja, leider doch. Und die Konsequenzen daraus, was manche Menschen machen, weil sie denken, sie hätten eine bestimmte Krankheit oder Eigenschaft oder Behinderung oder auch einen bestimmten Status, obwohl das nicht stimmt, ist ein Problem. Vor allem in Bezug auf Medien, die mit Reichweite und entsprechender Verantwortung einhergehen.

Eine Selbstdiagnose denke ich als etwas, das nach der Selbstidentifikation einen Schritt weitergeht und ohne konkreten Leidensdruck unter den spezifischen Aspekten, die als identisch empfunden werden, gar nicht gemacht wird. Denn wenn es sich einfach nur gut anfühlt, dann ist es kein Problem.
Wer also so weit geht, dass sie_r sich in Selbsttests und den Moloch der Diagnostik nach unabsehbar langer Fachpersonensuche begibt, hat wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit Leidensdruck und den Wunsch oder den Bedarf an professionellem Abgleich.
Was das Problem dabei sein soll, wenn belastete Menschen etwas gegen ihre Belastung tun und machen, was ihnen bei einer Selbstdiagnose mit Selbsttests zwangsläufig zusätzlich mitgeteilt wird („Dieser Test ersetzt keinen Arztbesuch. Suchen Sie zur Sicherheit eine professionelle Fachperson und besprechen Ihre Ergebnisse mit ihr_m.“) – das erschließt sich mir in der Sache nicht.

Die Diagnostik dissoziativer Störungen erfordert umfassendes und fundiertes Training. Wer sich nicht damit befasst hat, sollte es als Fachperson auch nicht anbieten. Von diesen Fachpersonen gibt es jedoch nicht viele. Diese Diagnostik gehört nicht zur Standardausbildung.
So werden mehr Patient_innen, die darum bitten, zur Belastung in einer bestehenden Mangellage. Das macht jedoch weniger die verstärkte Nachfrage zum Problem, sondern die weiterhin unzureichende Ausbildung und Verfügbarkeit von Fachpersonen, die in der Lage sind, dieser Nachfrage zu entsprechen, wie es auch die Autor_innen in dem Artikel beschreiben.

Die Problematisierung des Verhaltens junger Menschen auf der Suche nach Entlastung und Klärung, so wie es zuletzt in NZZ[3] passierte, ist meiner Meinung nach eine Verantwortungsverschiebung von Seiten derer, die strukturell besser aufgestellt sind, die Mangelsituation sowohl der Allgemeinbevölkerung als auch den politisch Verantwortlichen sichtbar zu machen. Und zudem auch nur deshalb überhaupt anschlussfähig in der Gesellschaft, weil Krankheit und Behinderung weiterhin nicht als Teil der Norm(alität) akzeptiert und inkludiert wird.

das Wie – Video ist nicht gleich Video

Gleiches gilt für die inhaltliche Beurteilung von Medienprodukten zum Thema. In der Community von Menschen mit verschiedenen Diagnosen im Zusammenhang mit Traumafolgestörungen finden regelmäßig umfangreiche Kritiken über Filme und Bücher statt, die desinformieren oder Vorurteile verbreiten. Es ist für Allys oder auch Unbeteiligte (als Filmemacher_innen, Drehbuchautor_innen, Künstler_innen etc.) leicht in Kontakt zu kommen und es besser zu machen. Leider wollen und können die wenigsten – selbst jene, die mit Betroffenen sprechen – sich wirklich in die Vielfalt dieser Community und die wissenschaftlichen Fakten aller relevanten Aspekte begeben und sich selbstkritisch mit ihrem Projekt auseinandersetzen. So kommt es immer wieder zu Filmen oder Projekten, die gut gemeint und letztlich doch schlecht bis schädigend sind, weil sie doch wieder Klischees oder Desinformationen reproduzieren.

Für Betroffene, die außer einem Handy, etwas Freizeit und dem Willen etwas zu teilen nichts haben hingegen, gibt es in der Regel keine Budgets über Förderungsprogramme oder Ähnliches. Es sind also überwiegend laieninformierte Laienproduktionen, die subjektive Er_Lebensrealitäten inszenieren bzw. kommunizieren und sollten als solche auch verstanden und beurteilt werden.

Dieser Umstand ist das Konzept von YouTube und jüngeren Social-Media-Plattformen.
Die breite Akzeptanz dieser Plattformen entspringt dem großen Selbstidentifikationspotenzial. Aus diesem Potenzial ergeben sich viele Möglichkeiten der kapitalistischen Ausbeutung. Dieser Motivation folgend, gab es in den vergangenen 20 Jahren eine zunehmende Professionalisierung. Es ist ein Beruf geworden, YouTube oder Instagramvideos zu produzieren. Nicht immer sind diese Professionalisierung und die wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Creator_innen zu erkennen. Der unprofessionelle Look eines Videos kann heute durchaus zum Konzept gehören, die inhaltliche Fragwürdigkeit die Key component des gesamten Kanals sein.
Man tut gut daran, sich bei jedem Video zu fragen, wen oder was man am Ende kaufen, glauben oder akzeptieren soll. Diese Selbstbefragung gehört zu den Medienkompetenzen, die zunehmend weniger Menschen anwenden – und in Bezug auf einen Konsum von Medien, die kurz, emotionalisierend, endlos und unvorhersehbar auf die_n Konsumenten einwirken, auch gar nicht umfassend angewendet werden können.

Im Zusammenhang mit der Problematisierung von Selbstdiagnosen psychischer Krankheiten kann in der Folge eigentlich nur eine Forderung zur Lösung gestellt werden: Psychische Krankheit bzw. psychische Gesundheit darf nicht mehr Thema in Laienproduktionen sein. Nur so können schließlich Desinformation und der erwähnte „looping effect“ verhindert werden.

Meiner Meinung nach wäre dies ein Rückschritt und eine Übergriffigkeit in die Rechte erkrankter und/oder behinderter Menschen.
Warum sollte Julia ihre LEBENSVERÄNDERNDE Morgenroutine und Hannes seinen Trainingstag in der selbst gebauten Survivalhütte zeigen dürfen, aber Lana nicht, was ihre x-te Operation am behinderten Körper mit ihrer Seele macht, oder Hannah, welche Themen sie nach 21 Jahren Komplextrauma beschäftigen? Warum darf Julia wirkungslose Kosmetik und Hannes gesponsortes Werkzeug zeigen, ohne das als Werbung zu kennzeichnen, aber Lana nicht, welche Tools ihr in depressiven Episoden helfen? Und wie soll durchgesetzt werden, dass Hannah nur noch fachlich korrekt und makellos rein veröffentlicht, ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung und die allgemeine Pressefreiheit einzuschränken?

Oder ist es letztlich das, worum es geht?

das Warum – Nichtbehinderte gonna nicht behindert

Mir fehlt in diesem oben zitierten wissenschaftlichen Artikel, aber auch in Artikeln, die sich damit befassen, dass immer mehr junge Leute nach einer ADHS- oder Autismus-Diagnostik suchen, die Anerkennung der Lebensrealität behinderter und chronisch kranker Menschen als eine, die praktisch ohne öffentlichen Resonanzraum ist.

In meiner diesjährigen „Neujahrsansprache“ schrieb ich, dass mich die Nichtstofflichkeit des Internets gereizt hat, dieses Weblog anzulegen und regelmäßig zu schreiben. Ich hatte außer meiner Psychotherapie keinen sicheren Raum für meinen authentischen und selbstbestimmten Selbstausdruck und auch nur sehr überschaubare Möglichkeiten der Beteiligung an kritischer Debatte über die Diagnose DIS und ihrer Implikationen. Ich wollte niemanden stören, nicht zu viel sein – aber ich wollte mit eigenen Augen sehen, dass, was ich tue, ist.
Es war ein Leben voller nicht kompensierbarer Barrieren und Ausschluss, das mich ins Internet statt in eine Interessengemeinschaft oder einen Verein gehen ließ, und es ist der Umstand, dass sich daran nur wenig grundsätzlich geändert hat, dass es weiterhin so ist.

Das unbeauftragte und in aller Regel auch unbezahlte Teilen persönlicher Einsichten und Meinungen ist bei mir aus einer Einsamkeit entstanden, die ganz spezifisch für autistische und komplex traumatisierte Menschen ist. Ich weiß nur durch den Austausch mit anderen Blogger_innen und Social Media Content-Creator_innen mit Behinderung, dass es ihnen (primär) auch unabhängig von ihrem Erfolg so geht.

Es sind primär nicht behinderte Menschen, die Social-Media-Plattformen nutzen. Die meisten Content Creator_innen sind nicht behinderte Menschen. Psychische Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Diskriminierung sind neue Themen, die im Zuge von Bemühungen um (für nicht behinderte, weiße, privilegierte Zielgruppen) gefälliges Diversity-Mainstreaming überhaupt Eintritt gefunden haben.
Entsprechend ist bis heute der Anteil von Content marginalisierter Personen mit dem Thema psychischer Krankheit oder Behinderung im Vergleich zum Content der Sparten Lifestyle und Reisen, Gaming und Popkultur, Unterhaltung und Bildung allgemein marginal.
Insofern sind auch die im oben erwähnten Artikel genannten Zahlen über eine „boomende DID Community“ mit etwas Salz und Pfeffer zu genießen. Ein Klick ist kein nachhaltig wirkender Konsum. Ein abgeschlossenes Abo bedeutet nicht automatisch auch eine_n aktive_n Konsument_in des Produktes. Zahlen aus dem US-amerikanischen Kontext sind nicht 1 zu 1 anwendbar auf Deutschland.

Selbst sehr große deutsche Accounts mit dem Thema DIS senden primär an eine in Relation gesehen nur furzgroße Filterblase hinein, die nur durch bestimmte Faktoren erweitert werden kann. Denn DIS haben nicht viele Menschen. Und von diesen wenigen Menschen sind nicht alle auf Social-Media-Plattformen aktiv. Und von denen, die aktiv sind, wollen gar nicht mal alle mit diesem Thema konfrontiert sein. Um also einen Riesenaccount mit dem Thema DIS zu bekommen, müssen Menschen ohne DIS angesprochen werden. Die müssen relaten können. Und das hinzukriegen, ist ein unfassbar hartes Brett. Weil nicht behinderte Leute immer ihre Maßstäbe anlegen an das, was behinderte Menschen erzählen. Als Creator_in, Influencer_in, Blogger_in, Podcaster_in muss man das ertragen/dissoziieren/für sich nutzen können oder wollen. Mit Zufall, intuitiv erstelltem Knallercontent, Talent oder Glück hat das absolut nichts zu tun. Es ist Arbeit. Eine Arbeit, die behinderte Menschen für nicht behinderte Menschen machen, damit andere behinderte Menschen davon profitieren können. Und zwar nicht im Sinne von „hihi haha witziiiich – dark Klapsi/Behindi-Humor“, sondern im Sinne von: „Ich bin nicht allein. Es gibt Worte, Bilder, Möglichkeiten zu benennen, was ich wahrnehme. Ich kann verbunden sein mit dieser Welt.“

die persönliche Komponente – eine „boomende Community“?

Im Internet, speziell auf Social Media, gibt es keine Communitys. Dort gibt es Publikum. Zielgruppen, die erreicht oder nicht erreicht werden.
Menschen, die auf Social Media Geld verdienen (wollen), haben die Begrifflichkeit der Community eingeführt, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Follower_innen, Konsument_innen, Zuschauer_innen haben, zu validieren. Diese Validierung führt zu einer Verharmlosung sowie der Verschleierung dessen, was dort meiner Ansicht nach tatsächlich passiert. Die umfassende Degradierung zum Resonanzkörper.

Die Resonanz: Überwiegend positiv.
Zu meiner schönsten Zeit auf Twitter gehörte Instagram zur positiven Wohlfühlecke des Internets. Katzenfotos, Essen, die schönsten Momente – alles fein. Immer.
Logisch – einkaufen, konsumieren soll sich gut anfühlen. Muss sich gut anfühlen, sonst macht es niemand. Inzwischen ist die Gier der Konzerne so groß wie ihre fehlende Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Heute ist auch Instagram für bestimmte Personengruppen kein rein schöner angenehmer Ort zum Im-Kreis-gehen und schöne Dinge „finden“.

Shitstorms that hit the fan, ohne dass jemand zum Saubermachen kommt

Cybermobbing, deep fakes, Shitstorms, Follower_innen, die Behörden mit ausgedachten Geschichten über Content Creator_innen beschäftigen, bis diese im echten Notfall zögerlich oder falsch reagieren, Rufmord, Stalking, Doxxing – digitale Gewalt hat viele Formen, und sie trifft immer Menschen.
Während die neckische Ute, die allen das Outfit zeigt, mit dem sie den Tag rockt, dahingehend frech augenzwinkernd sagen kann: „Huh, dafür krieg ich bestimmt wieder aufs Dach, aber ich sags trotzdem: Ich liebe Lederschuhe.“ – überlegt sich die hübsche Lifestyle-Influencerin Greta mit dem Stalker, der ihr seit Jahren nachstellt, ohne dass sie etwas dagegen tun kann, wo sie überhaupt drehen kann, ohne zu viel über ihren Aufenthaltsort nachvollziehbar zu machen. Beide bedenken eine ihrer Tätigkeit gewissermaßen inhärente Erfahrung bzw. Gefahr: Abwehr, Dislikes, den Shitstorm, die Möglichkeit einer konkreten Gefahr für Leib und Leben wegen etwas, woran sie nicht gedacht haben oder was sie schlicht auch gar nicht kontrollieren können.

Das an sich ist in unserer Gesellschaft etwas, das ich abstoßend und unserem Miteinander als Menschen unwürdig empfinde. Alle Menschen sollten sich immer sicher miteinander fühlen bei dem, was sie für sich und andere tun. Dass es Orte oder im Fall von Social-Media-Plattformen Kommunikationsräume gibt, die als individuell gefährlich gedacht und einfach hingenommen werden, finde ich inakzeptabel.

In den mehr als 10 Jahren, die ich hier meinen Weblog selbst hoste, selbst verwalte, selbst und inzwischen von Spenden unterstützt bezahle, musste ich mich bereits mit Angriffen befassen, die mich nicht nur verletzt und verunsichert haben, sondern gewissermaßen auch weiter in die Einsamkeit drängten, aus der ich mit meinem Schreiben heraustrete.
Statt mein Schreiben als Arbeit zur Kompensation meiner sozialen Behinderung anzuerkennen, wurde sie zu einem narzisstisch motivierten Akt erklärt, der eine generelle und gewissermaßen skrupellose sowie selbst erniedrigende Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung als nette, kluge oder tragisch gebeutelte, bemitleidenswerte Person beweist.
Statt zu sehen, dass ich mich durch meine Texte mit mir selbst verbinde, mich kennenlerne und als selbstwirksam erlebe, wie ich es sonst nirgendwo im Leben konnte, hieß es, ich würde schreiben, um mich nicht zu spüren und von meinen „wirklichen Problemen“ abzulenken.
Statt nachzufragen oder sonst wie in Erfahrung zu bringen, ob ich mit meiner Arbeit Geld verdiene, wurde und wird einfach angenommen und über mich erzählt, ich würde hier scheffeln und nur behaupten, dass ich in Armut gelebt habe.

All dem liegt die Annahme zu Grunde, dass ich und die Dinge, die ich hier teile, in Wahrheit gar nicht sein können. Ich schreibe nicht wie Annabell, die auf TikTok ihre Anteile wie Soapcharaktere vorstellt und dann einen Föhn in die Kamera hält – ich kann gar nicht viele sein.
Ich beschreibe nicht haarklein – ich deute nicht mal implizit irgendwie an, wie ich in dunklen Kellern von Kuttenmännern willenlos gequält wurde – ich kann gar keine organisierte Gewalt erlebt haben.
Ich kann zwei drei wissenschaftliche Zusammenhänge zu Trauma, Gewalt und Dissoziation in ein paar geraden Sätzen erläutern – ich kann ja gar kein Laie sein, die_r sich aus Gründen seit über 20 Jahren damit befasst.
So wie ich sage und mitteile, wie es ist, kann es in Wahrheit gar nicht sein – weil andere meine Lage anders empfinden als ich, weil sie was anderes machen würden als ich, weil ihre Vorstellungen von Angemessenheit anders sind als meine … what ever.

Ich kann als Sender_in nie ganz beeinflussen, was bei wem wie ankommt.
Der Clash zwischen anderen Menschen und mir ist meinem Leben und meinem Selbstausdruck so sehr eingewoben – es hat keinen Sinn für mich, diese anderen Menschen zum Maßstab in dieser Sache zu machen. Das Stereotyp über Menschen mit DIS ist da draußen. Die Ideen über Blogger_innen, Podcaster_innen, Content Creators und Influencer_innen auch. Es gibt keine Möglichkeit, keinen Grad von Professionalisierung und was weiß ich, damit sie als so unzutreffend begriffen werden, wie sie sind. Vor allem, wenn es Menschen gibt, die gar nicht mal so sehr darunter leiden, sondern sogar davon profitieren können. Und wollen.

Ohne Community keine Community

Gäbe es tatsächlich Communitys auf Social Media, würden diese Leute bereits keine desinformierenden Accounts mehr betreiben. Wären Traumafolgestörungen weniger kontrovers diskutiert und das Leben mit Behinderung oder chronischer Krankheit insgesamt weniger individualisiert, würde unter einem so unsäglich umfassend desinformierenden Video, wie ich es zur Einleitung zitierte, nicht nur Ermutigung, Beifall, Zuspruch und Danksagungen stehen, sondern auch mal die Frage, ob die Person mal nach den Latten an ihrem Zaun gucken kann. Was ihr eigentlich einfällt, Profit aus dem Leiden anderer zu generieren. Ob sie sich nicht schämt, so schädigende Vorurteile zu reproduzieren und anderen zu schaden. Wie sie gedenkt, den Schaden an der Community zu reparieren. Da stünden Literaturhinweise. Fakten. Wäre nicht nur wohlfühliges Mitgefühl, damit diese arme gequälte Seele auch mal was Schönes im Leben spürt. Da wäre Verantwortung Thema und Debattenkern.

Tatsächlich kenne ich nur wenige medienschaffende Betroffene, die sich dazu wirklich umfassend Gedanken gemacht haben und auch regelmäßig dazu anhalten, ihren Content kritischer Prüfung auszusetzen. Diese so oft beschworene Soli unter Betroffenen im Internet, die gibt es nicht.
Es gibt Zugehörigkeitsgefühl, Interesse und aufrichtige Anteilnahme. Aber gegenseitige Anteilgabe, Fürsorge, Verantwortungsübergabe, real konkreten Austausch zur Frage des gegenseitigen Miteinanders gibt es nicht. Das sind aber Kernaspekte vom Leben in einer Community.
Kommen, wenn eine_r weint. Putzen, wenn eine_r nicht kann. Ein Projekt für alle zusammen machen, sich gegenseitig einen Garten oder eine andere versorgende, nährende, gut tuende Grundlage anlegen. Sich gegenseitig vor anderen verteidigen. Übereinander wohlwollend sprechen. Sich gegenseitig auf Fehler hinweisen. Sich gegenseitig Wachstum oder Veränderung zumuten. Sich dabei ganz konkret helfen oder unterstützen. Antworten, wenn man angesprochen wird. Das ist Community.

Anderen zuhören, damit es sich gut oder aushaltbar anfühlt, am Leben zu sein, ist kein gemeinschaftliches Verhalten. Das ist Konsum. Das ist sozial parasitär. Komplett egal, ob man sich als Viele erlebt oder nicht, ob man behindert ist oder nicht. Es hat absolut nichts mit dem Konzept von „Community“ zu tun. Dieses Verhalten wird aber von Social-Media-Plattformen gebraucht und gefördert.

Und weiter?

Selbstdiagnosen und Mehraufwand für professionelle Diagnostiker_innen sind nicht das Problem, um das man sich in Bezug auf alle Risiken und Nebenwirkungen von geschlossenen Kommunikationssystemen wie Social-Media-Plattformen kümmern muss.
Die Profis werden es schon schaffen, sich nicht mit unnötigen Diagnostiken kaputtzuarbeiten. Niemandes Leid muss als belastend markiert werden, um die bestehende Unterversorgung zu verändern.

Aber werden wir als psychisch kranke, behinderte, ausgegrenzte Menschen es schaffen, mit- und füreinander da zu sein, wie wir uns das wünschen? Wie wir das brauchen? Wenn es uns in letzter Konsequenz dann doch wichtiger ist, von „den Richtigen“ geliked zu werden?
Wenn es doch so viel leichter ist, den unangenehmen Stuss wegzuwischen?

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Quellen

[1] Briana L. Snyder, Stacey Marie Boyer, Jennifer E. Caplan, M. Shae Nester, Bethany Brand,
It’s not just a movie: Perceived impact of misportrayals of dissociative identity disorder in the media on self and treatment,
European Journal of Trauma & Dissociation, Volume 8, Issue 3, 2024, 100429, ISSN 2468-7499, https://doi.org/10.1016/j.ejtd.2024.100429.
(https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2468749924000528)

[2] Salter, Michael PhD; Brand, Bethany L. PhD; Robinson, Matt PhD; Loewenstein, Rich MD; Silberg, Joyanna PhD; Korzekwa, Marilyn MD. Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment. Harvard Review of Psychiatry 33(1):p 41-48, 1/2 2025. | DOI: 10.1097/HRP.0000000000000416 (https://journals.lww.com/hrpjournal/fulltext/2025/01000/self_diagnosed_cases_of_dissociative_identity.4.aspx)

[3] Interview mit Psychologe Holger Richter, NZZ, 06.02.2025 (https://www.nzz.ch/feuilleton/psychisch-krank-wokeness-und-der-anstieg-an-diagnosen-wie-adhs-ld.1869384)

der Moment, der noch nie war

R. ist mein Stein im Schuh.
Wenn sie darüber redet, wie das für sie war, dass sie niemand verstanden hat, dann spüre ich das wie ein besonders heftiges Stechen ihrer Härte. Peripher, aber deutlich.
Die Verschlossenheit, die sie in Bezug auf DIE ALLE hat und hält, war und ist bis heute manchmal noch ein echtes Hindernis in Hilfe- und Unterstützungskontexten.
Sie würde es nie sagen, mir jedoch ist es total klar: Das frühere Unverständnis der Menschen über ihre Gefährdung hätte ihr das Leben kosten können. Uns. Mir.
Was man ihr, uns, mir in Medien, Schule, Sportverein beigebracht hat: „Sag was, wenn jemandem oder dir etwas Schlimmes passiert.“, das hat sie gemacht. Sie hat gesagt, dass anderen etwas passiert. Und weder sie noch die Menschen haben gemerkt, verstanden, gewusst, dass sie diese anderen war. Niemand hat geholfen.

So ein folgenschweres Missverständnis ist nicht nur „ein harter Schlag“ oder etwas, was das Ego ein bisschen anklatscht, wer ist schon gern unverstanden dies das. Solche Erfahrungen lösen nicht nur Enttäuschung aus. Sie führen auch dazu, dass man sich auf sich allein zurückzieht. Annimmt, die Menschen würden wollen, dass man gefährdet ist. Glaubt, die Gefährdung, die (angenommene) Lebensgefahr sei von allen (also von der ganzen Welt) gewollt. Die Todesangst gewünscht.
Ich reagiere auf solche Annahmen mit Depression, Angst, Suizidalität. R. mit Wut, Härte und authentisch kompromissloser Konsequenz. Nicht einen Filter hält sie noch hoch, wenn sie merkt, dass sie, dass wir, dass ich nicht verstanden, gehalten, getragen werde.

Innere wie R. sind es, die ich bei Vorhaben wie der Operation, aber auch der Traumatherapie möglichst weit raushalte. Noch weiter als aus anderen Interaktionen mit anderen Menschen.
Zum Einen, weil ihre Wut in der Regel zu Problemen führt, die meine kommunikativen Fähig- und Fertigkeiten weit überschreiten. Was sich unter anderem daraus ergibt, dass ich dieses Gefühl nicht mir, sondern ihr zugehörig empfinde und erst nach bewusster Reflexionszeit und manchmal auch erst nach einer Besprechung mit meiner Therapeutin den Anlass überhaupt erkenne und verstehe.

Zum Anderen, weil R. einfach bis heute nicht richtig orientiert ist. Sie kann im Heute agieren, kann den ganzen „Wissen Sie welches Jahr wir haben“-Reigen vortanzen, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen. Aber für sie geht es nach wie vor bei jedem Kontakt, der irgendwie und sei es noch so abstrakt darum geht, dass ihr, uns, mir jemand in irgendeiner Form hilft oder etwas unternimmt, was sie, wir, ich nicht alleine kann, um Leben und Tod.
Wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung oder irgendeinem anderen mich betreffenden Ding beauftragten Menschen irgendetwas nicht können, nicht schaffen, nicht wollen – egal ob intentional oder natürlich bedingt – beginnt ein inneres Wiederleben von Traumatisierungen. Davon merke ich, Hannah, bis heute nichts. Ich merke nur R., die es wiederum als flutend und massiv überfordernd erlebt und reagiert. Ihre Reaktion, also die innere Schutzreaktion, macht mir wiederum Angst, weil ein Wechsel zu ihr für mich Kontrollverlust und relativ spezifische zwischenmenschliche Konsequenzen bedeutet.
R. geht im Zweifel nämlich auch einfach aus dem Kontakt und bringt absolut keine Motivation dafür auf, die Kraft zur angepassten Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen aufzubringen. Wer sich im Kontakt mit ihr nicht darum bemüht und kümmert, sie in ihrem authentischen Ausdruck zu verstehen, bekommt von ihr auch kein Bemühen. Sie behält diese Energie für sich, um selbstständig handlungsfähig zu bleiben.
Traumalogisch absolut sinnvoll. Alltagskommunikations-logisch ebenfalls absolut sinnvoll. Sozial und in Bezug auf jede Option der Kontaktgestaltung hingegen eine absolute Katastrophe.
Jedenfalls für mich. Denn R. markiert diese Kontakte den Energieaufwand nicht wert, den die reparierende oder wieder-verbindende Kommunikation für mich bedeutet, die_r in so einem Fall alle Kraft einfach aufbringt, egal, ob ich sie wirklich habe oder nicht. Bis das nicht „wieder gut“ ist, kann ich nichts anderes machen, als daran zu denken, Gespräche in meinem Kopf durchzuanalysieren, Aussprachen im Kopf üben, um auf jede Möglichkeit des Gesprächsverlaufs vorbereitet zu sein und mich auf Alternativen bzw. andere Lösungen zu konzentrieren. Das ist in der Regel die Phase, in der ich dann missverstanden werde, weil die allgemeine erste Annahme ist, ich sei durch mein Trauma so beziehungsunsicher, dass ich Konflikte nicht ertragen kann. Tatsächlich aber kann ich die Emotionalisierung von Konflikten kaum ertragen, weil sie eine oft überaus kräftezehrende Übersetzungshürde für mich darstellt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber das überhaupt weiß, versteht, berücksichtigt oder, wenn es bekannt ist, nicht als Waffe gegen mich einsetzt.

Mal ganz davon abgesehen ist es mir peinlich, wenn R. übernimmt und meinen Körper steuert. R. erlebt sich als 13 Jahre alt und allein gegen die ganze Welt am eigenen Weiterleben überhaupt interessiert. Das ist einfach kein guter Zustand, wenn man inzwischen überwiegend mit Menschen zu tun hat, die es verletzen würde, würde man ihnen Desinteresse an unserer Lebendigkeit unterstellen. So wie es R.s Grundannahme über DIE ALLE ist.

Es ist R., die sich ohne jeden Skrupel hinstellt und sagt, dass es Helferversagen gibt. Wie es wirkt. Dass es mit.schuldig macht. Dass es Teil des Unrechts ist, das Opfern von zwischenmenschlicher Gewalt passiert. R. ist die einzige Seite von mir, die Entschuldigungen von Erzieher_innen, früheren Psychotherapeut_innen und auch Betreuer_innen goutieren würde. Die Einzige, die sich nicht mal dafür schämt zu sagen, dass sie das gerne hätte.
Sie kann das, weil sie sich sehr weit entfernt von diesen Menschen erlebt. Ihre Wut und ihre harte Verschlossenheit schützen sie davor, jemals wieder irgendetwas von DEN ALLEN zu brauchen.

Sie schützen sie aber nicht davor, etwas zu bekommen, wenn sie, wir, ich es brauche.
Die Situation im Krankenhaus, die Operationsvorbereitung und die Pflege danach, war so ein Moment des Bekommens. Einer der Ersten, die ich so je wahrgenommen habe.

Man ist auf allen Ebenen auf mich zugekommen. Nicht ein Schritt in dem ganzen Voruntersuchungsprozess, der Aufnahme und Vorbereitung war gehetzt oder ungeduldig mit mir. Man hat für alles immer wieder meinen Konsens abgewartet. Immer jede alternative Möglichkeit erklärt und über alle Ressourcen aufgeklärt. Alles, was ging, ging auch wirklich. Sobald ich unsicher wurde, wurde ich versichert – ohne dass ich meine Verunsicherung erklären oder entschuldigen musste.
Es war nicht im Fokus, was mich verunsichert hat, sondern dass ich weiß, worüber ich mir sicher sein kann.
Das an sich war bereits außerordentlich wohltuend für mich. Es hat verhindert, dass ich in den traumalogischen Schluss rutsche, die Kontrolle über Unkontrollierbares behalten zu müssen. Diejenigen, die in der Verantwortung für mich waren, haben sie auch übernommen und meinen Konsens darüber immer wieder abgefragt. Ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, ob dieser Weg zum Eingriff oder der Eingriff selbst passiert oder nicht.

Offenbar habe ich beim Aufwachen immer wieder gesagt, ich hätte Angst, dass ein Täter da wäre oder käme. Daran habe ich keine Erinnerung.
Aber ich erinnere, dass eine Stationsschwester mir dann im Patient_innenzimmer gesagt hat, dass sie aufpassen würden, dass niemand käme. Dass ich bei ihnen sicher sei.
Der kleine R.-Stein in meinem, naja, meiner Krankenhaus-Laufsocke, war deutlich spürbar, aber nicht relevant für mich. Ich war noch eine ganze Weile nicht richtig wach und dissoziierte abwechselnd mit Schlafsequenzen.

Und dann gab es den Moment, in dem mein Mann egomäßig leicht angedötscht am Bettrand saß und erzählte, wie er beim Betreten der Station erst einmal klar und unmissverständlich gefragt wurde, ob er auch wirklich mein Mann sei.
Das war dann der Moment, in dem der kleine Stein zu einem kleinen Lehmklumpen wurde.

die Operation

„Was mir passiert ist – sieht man das innen?“
Das fragte ein Innen, das sich für mich wie eine feste Wattenebelwand anfühlt und immer wieder in den Spalt zwischen der Welt und mir geriet.
Keines der Gespräche mit Ärztinnen, Schwestern und Pfleger_innen, die ich für diesen Tag geübt hatte, enthielt diese Frage. Zu keinem Zeitpunkt wollte ich, dass DAS überhaupt irgendwie Thema wird.

Mir war Abstand wichtig. Sachlichkeit, Objektivität. Mein Fokus lag darauf, meine behinderungsbedingten Bedarfe als etwas zu kommunizieren, was unbeachtet zu Problemen und unerwarteten Entwicklungen führen kann. Ich wollte den reibungslosen Ablauf ermöglichen, der für alle wichtig und gut ist.
Voruntersuchung, Narkose, Operation, Aufwachen. Für mich waren das Checkpoints, an denen ich so unauffällig wie möglich ein- und auschecken wollte. Soweit das mit der Unauffälligkeit eben geht, wenn Gehörschutz, schweres Tier und „Bitte nicht unerwartet anfassen“ zu den Bedarfen gehört.

Ich schäme mich für meine Bedarfe. Bewege mich ständig in Sorge und Angst darüber, die Grenzen des Systems zu berühren, die jeder Klinik inne sind.
In dieser Klinik wurde mir die Angst an vielen Stellen genommen. War nie nötig, dass ich meine Grenzen rechtfertigend erklären musste. Nur nennen musste ich sie. Das fiel mir zunehmend leichter, je öfter ich in Kontakt mit den Behandler_innen und ihrem Team war, denn sie kamen auf mich zu.
In meiner Akte stand bereits nach dem ersten Beratungsgespräch „PTBS Z. n. sex. Missbrauch“, ohne dass ich das genau so aussprechen musste. Es hat gereicht, einen früheren Befund nach einer Gewalterfahrung zu teilen und zu sagen, dass das nicht die einzige Erfahrung war.
Bei jeder Untersuchung fragte die Gynäkologin danach, ob ich bereit bin und beschrieb, was sie tat und wozu. Meine Aufgabe war nicht, einfach alles passieren zu lassen, sondern darauf zu achten, wie es mir geht, damit ich rechtzeitig sagen kann, wenn ich eine Pause brauche oder etwas weh tut. Mir hilft es generell, wenn mein Auftrag an mich als Patient_in ist, meine Selbstwahrnehmung und die Kommunikation dessen zu gewährleisten.

Trotzdem habe ich so lange wie möglich nichts von der DIS und dem Autismus gesagt. Ich wollte keine Bilder entstehen lassen, die mich zu einem Subjekt machen. In einem System wie einer Klinik ist man als Patient_in immer ein Objekt der Behandlung. Jede Subjektivierung führt zu verschobenen Grenzen und praktisch jede verschobene Grenze birgt Verletzungsrisiken für beide Seiten.
Daher mein Anspruch an Objektivität. Mein ständiger Bezug auf Lösungen für Probleme, die ich durch meine Bedarfe entstehend annehme.

Dass ich eine Operation brauchen würde, kam überraschend. Es gab keine andere Behandlungsmethode, um meinen Kinderwunsch zu erfüllen. Und so wurde aus Terminen dann und wann zur Blutabnahme und Ultraschalluntersuchungen eine gynäkologische Operation, die direkt auch der weitergehenden Diagnostik diente.

Es ging mir schlecht und zunehmend schlechter in der Zeit vor dem Termin.
Kurz vor diesem Thema war ich in der Therapie sehr konkret befasst mit meinen Erfahrungen. Hatte über Tage hinweg mit massiven emotionalen Flashbacks und Überforderungsgefühlen zu tun, selbst als sich mir keine Bildfragmente des Erlebten mehr aufdrängten.
Und dann das.
Eine geplante Auslieferung. Eine gezielte Ohnmacht. Ein vorhersehbarer Fokus auf meine Genitalien. Absehbare Schmerzen. Bekannte Risiken für Flashbacks, dissoziative Krampfanfälle und Wechsel in möglicherweise desorientierte Selbstzustände. In einem Rahmen, in dem ich mit meinem Inneren nicht relevant bin für das, was da passieren soll.

Ich war aber relevant für die Menschen dort. Das hat mich überrascht. Und jetzt, wo alles vorbei ist, freut es mich auch.
Es war ein ambulanter Eingriff. Ich war die erste Patient_in.
Mein Mann und ich fuhren in den Anfang vom Sonnenaufgang und hörten Musik, die das Fahren einem Videospiel ähnlich machte. Eine Schwester trennte uns freundlich und leitete mich in das Patientenzimmer.
Alles war ruhig. Das Licht noch gedimmt, die Mitpatientin lieb und grenzbewusst. Ich konnte mich in Ruhe umziehen und merken, wann ich meinen Gehörschutz brauchte. Geholfen hat auch der Bent, über den ich hier bereits geschrieben habe. Ich konnte ihn auf dem Oberkörper behalten, bis ich nicht mehr bei Bewusstsein war. Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn noch mit den Schwestern in der Anästhesie hätte sprechen können. Die fanden ihn klasse. Einer Schwester gefiel auch mein Gehörschutz. Alle waren mir liebevoll zugewandt und ließen mir Raum zu verstehen, was gerade mit mir passierte.

Ich hatte Angst als das Narkosemittel einsetzte. Und ich hatte offenbar extrem viel Angst als die Wirkung nachließ. Später erfuhr ich, dass ich einen Flashback ausagiert habe und einen Krampfanfall hatte. Von einer Ärztin für Gynäkologie und Psychosomatik, die einige Stunden später zu mir geschickt wurde.
Die Ärztin war offenbar selbst krank. Das war eine heftige Erfahrung, die ich allerdings nicht allein machen musste. Mein Mann war dabei. Wir haben unseren Eindruck an die vertretende Ärztin und eine Pflegerin weitergegeben und schreiben auch nochmal eine Nachfrage mit informierendem Charakter an die Klinik. Sicher ist sicher.

Ich habe das Narkosemedikament nicht schnell und gut abgebaut. Statt nach 4 bis 6 Stunden konnte ich erst 11 Stunden später nach Hause gehen.
Immer wieder wechselten sich Dissoziation und Sedierung ab. Ich musste mich oft übergeben. Erst spät kamen wir auf die Idee, um ein Medikament gegen Übelkeit zu bitten.
Irgendwo dazwischen kam die Ärztin, die mich in der Kinderwunschklinik untersucht und nun operiert hatte, zu mir, um mir zu sagen, wie es gelaufen ist.
Ich hörte, dass alles gut gegangen sei und auch die Diagnostik keine weiteren Probleme aufzeigte. Und merkte, wie das Innere sich mit dem Druck des Gedankens „Jetzt oder nie“ vorschob, um diese Frage zu stellen.

„Nein. Man sieht wirklich gar nichts davon. Es ist alles soweit gut.“
Heute merke ich erst, wie unfassbar wichtig es war, das zu erfahren.

Viele-Sein – Episode 95 – mit Felice Meer über Wut

Wut

Wut, die starke Primäremotion. Das Gefühl, das Grenzen aufzeigt und verteidigen lässt. Die Kraftquelle zur Selbstverteidigung.
In dieser Episode teilen Felice und Hannah, welche Erfahrungen sie in Therapie und Alltagsleben mit dieser Emotion gemacht haben.

CN: In dieser Episode werden Gewalt- und Bedrohungserfahrungen teils konkret, teils in Andeutung geschildert. [ca. Minute 26 bis 28 und 34 bis 37]

Kapitel:

00:00:00 Intromusik
00:00:09 Begrüßung, Einleitung
00:09:15 Wut und Trauma
00:14:00 Wut statt Angst – die Drachin in Felice
00:33:12 Angst vor Wut – Hannahs Psychiatriegewalt-Erfahrung
00:41:17 Wut und Grenzen
00:54:00 Wut und Kontrollverlust
01:07:32 Wut und die politische Lage
01:18:22 Ausleitung und Verabschiedung

Transkript

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Fundstücke #90

Vor einigen Tagen habe ich erfahren, dass ich eine angeborene Fehlbildung am Fuß habe. Sie ist nicht schlimm, stört nicht im Alltag, wird mir jedoch das Alter unangenehm machen, wenn ich mich nicht kümmere.
Also kümmere ich mich.
Ich lasse mich anfassen. Vermessen. Spreche mit Fachpersonen. Lerne. Übernehme die Verantwortung für meine Zukunft und meine Gesundheit.
Als erwachsener Mensch muss ich das und kann es glücklicherweise auch.
Alles ist in Ordnung. Ich kann das, ich mach das.
Aber.

Ich erinnere mich auch an den Moment, etwa 4 Jahre nach meinem Weggang von der Herkunftsfamilie, in dem jemandem aufgefallen war, dass ich nicht gut sehen kann. Wie wir zusammen beim Optiker waren und der sagte, dass ich schleunigst zum Augenarzt sollte. Von dem Augenarzt lernte ich, dass so eine Ohrfeige, wenn sie passend landet, nicht nur für das Trommelfell verheerende Folgen haben kann. Aber ich noch Glück hatte. Und eine starke Hornhautverkrümmung auf dem anderen Auge.

Und ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mir irgendwann völlig random erzählte, ich hätte jahrelang logopädische Therapie gehabt. Ich konnte nur eine Erinnerung daran ranholen. Nämlich die, in der die Logopädin sagte, ich hätte eine Kongolippe, weil ich immer den Mund offen habe. Heute weiß ich, dass meine gebrochene Nase nie gerichtet wurde und, wer weiß warum, einfach nie richtig im Sinne von anatomisch korrekt geschluckt habe und auch nie die richtige Zungenruhestellung hatte.
Alles Sachen, die mich heute nicht beeinträchtigen. Die kein Ding sind.
Jedenfalls nicht mehr, seit sie mal ein Ding für mich waren.

Aber immer wurde ich davon überrascht zu erfahren, dass ich sie überhaupt hatte. Und bestimmte Dinge deshalb einfach ein mit Schmerzen verbundener Akt oder eine Unmöglichkeit sind.
Laufsport zum Beispiel. Jede Schuhart außer Barfußschuhe und Gymnastikschläppchen. Bestimmte Lebensmittel oder Gerichte.

Ich bin froh, dass ich nicht mehr mit meiner Familie lebe. Aber in Bezug auf diese Dinge macht es mich traurig, sie nicht einmal fragen zu können. Gerade diese Art der Fehlbildung wird bei Erwachsenen als sehr selten beschrieben. Babys, Kleinkinder und Schulkinder können behandelt werden, sodass sich diese Fehlstellung verwächst.
Ich möchte nicht glauben, dass meine Eltern sich nicht darum gekümmert haben. Die Logopädie-Behandlung und auch die Zahnspange, die ich lange trug, sprechen für mich gegen die Annahme, dass sie sich nicht gekümmert hätten.

Der traurige Gedanke für mich ist, dass sie sich vielleicht darum gekümmert haben – aber nicht um mich. Vielleicht ist das üblicherweise auch nicht wichtig. Aber vielleicht doch? Vielleicht muss man den eigenen Kindern doch mal erklären, wozu irgendwas gemacht wird? Vielleicht hängt an dem, wie Familie in ihrem Erinnern als Gruppe funktioniert, noch viel mehr als nur die Chance, ein umfassendes Bild von der eigenen Persönlichkeit zu bekommen?

Neulich stellte ich mir vor, wie meine gekränkten Eltern damals nach meinem Weggang in der Küche saßen und dachten: „Sie wird schon noch sehen, was sie davon hat“, wissend, dass ich ohne Brille und orthopädische Einlagen sowie einer Informationslücke über meine mechanischen Probleme im Kopfbereich, auf eine Zukunft zuging, die so scheiße wäre, wie sie es mir in dem Moment nur wünschen konnten.

Und dann fragte ich mich, was sie sehen würden, würden sie wissen, dass ich heute so ein gutes, stabiles, an vielen Stellen viel heileres Leben führe als sie das damals in meinem Alter hatten. Ob meine stets von mir beschämte Mutter stolz auf mich wäre, hätte sie von mir erfahren, wie ich das Reden mit der Schuhmacherin hingekriegt habe.
Und ob mein ständig von mir enttäuschter Vater mich anspornen würde, immer weiter dranzubleiben, bei dem, was ich mir mit dem Handball vorgenommen habe, weil es eben kein Quatschquark, sondern einfach ein ganz übliches angemessenes Wunschziel von mir ist. Und ich schon so viel hingekriegt habe.

Dann merkte ich, dass es meine Therapeutin, meine Freundin K. und mein Mann sind, die das machen. Und dann merkte ich, dass mich das nicht froh gemacht hat, sondern unfassbar traurig. Obwohl ich auch dankbar bin. Und es gar nicht anders haben will. Und es eh – hallo, was ist das für ein großes Glück?!
Aber es sind nicht meine Eltern.

die DIS-Diagnose – ein Kurzabriss geschrieben für Menschen, die sie gerade bekommen haben

Neulich hat mich jemand gefragt, wie das bei mir war, als ich die DIS-Diagnose bekommen habe.
Für die Person war es schlimm. Für mich auch.

Ich war nicht erwachsen. Ich war 16 Jahre alt.
Das war meine 7. Diagnose in der 5. Psychiatrie in 3 Jahren.
Ich glaubte nicht mehr daran, dass mir irgendjemand mit irgendetwas helfen könnte. Ich war allein. Hatte keine Familie, kein Zuhause mehr. Ich war lange nicht mehr in der Schule. Machte Suizidversuche, ohne zu wissen warum. Zeit und Raum waren für mich kaum noch Bezugsgröße.
Man hätte mir jede andere Diagnose geben können, aber gepasst hat keine. Die der DIS erklärte meinen Zustand am besten.

Geholfen hat mir die Diagnose nicht. Sie hat mich besonders gemacht und die Gewalt der totalen Institution an mir legitimiert. Und sie hat Tür und Tor für Erzählungen über mich geöffnet, denen ich nichts entgegensetzen konnte.
Sie hat mich grundlegend aus Hilfeangeboten ausgeschlossen. Sie hat mich von Helfer_innen abhängig gemacht, die die Regeln gedehnt und die Strukturen ihres Arbeitsplatzes aufgebrochen haben.

In den ersten Jahren nach meiner Diagnose gab es mehr Romane und fiktionale Filme über die DIS als wissenschaftlich fundierte Fachbücher und theoretische Forschung. Ich habe mich und meine Er_Lebensrealität nicht abgebildet empfunden, bis ich 30 Jahre alt war.
Das Versprechen von Verbundenheit durch gleiche Diagnosen hat sich für mich nie erfüllt. Weder in Mailinglisten noch Foren noch Blogs noch Social Media noch Selbsthilfegruppen heute.

Ich habe mit der Diagnose nie mehr gewonnen als Ausschluss.
Ausschluss als Realität, Ausschluss als soziokulturelle Praxis, Ausschluss als Konzept.
Ausschluss als etwas, das ich in meine Lebenszeit integrieren muss, wenn ich leben – wenn ich Teil dessen sein will, was Hier und Jetzt ist.

Die Person schrieb, sie fühle sich wie in einem Horrorfilm.
Sie führte das nicht aus, für mich brauchte sie das aber auch nicht. Es kann ja nur entweder um den gesellschaftlich legitimierten und orchestrierten Horror des Stigmas psychischer Erkrankung oder den Horror der Aussicht auf ein ganzes Leben damit gehen. Es kann einem ja niemand sagen, ob man davon jemals heilt. Ob man überhaupt jemals ein normaler Mensch wird.

Ich habe in den ersten Jahren mit der Diagnose keinen Trost darüber gefunden.
Heute bin ich an der Stelle taub. Es ist, wie es ist.
Ich bin ein autistischer Mensch, der Pech mit der Familie hatte. Dass ich eine DIS entwickelt habe, war vom gleichen Zufall wie der in dieser Familie und später in den Psychiatrien und Hilfeeinrichtungen zu überleben. Es hätte auch alles anders kommen können und ich hätte auch damit irgendwie klarkommen müssen. Man muss immer irgendwie klarkommen.

Mein Intellekt hilft mir. Das hat er auch in den Jahren, nach denen ich die Diagnostik auf eigenen Wunsch habe erneut machen lassen. Als erwachsene Person.
Ich habe gelesen. Mich nicht nur auf die Diagnose konzentriert, sondern auf alles, was mit dem Thema Psychotrauma und Gewalt zu tun hat. Dabei habe ich mich sowohl mit der Psychologie als Wissenschaft als auch der Soziologie und ihren Theorien darüber befasst, wie Menschen zu Erklärungen kommen und welche Dynamiken sich stets und ständig wiederholen. Mir hat geholfen nicht nur zu verstehen, dass ich nicht der einzige Mensch mit DIS nach komplexer Traumatisierung bin, sondern vor allem, dass die Menschen in meiner Umgebung (also die Gesellschaft, in der ich lebe) nur ein gewisses Mü im Leben davon entfernt sind, es auch zu sein.

Ich habe nicht mehr zugelassen, dass sich Helfer_innen auf meine DIS konzentrieren. Ich habe Gewalt als normal und ihre Folgen als gesellschaftlich dissoziiert angenommen. Meinen Ausschluss als Teil eines Ganzen begriffen.
Ich habe mich für das Leben entschieden, wie es ist und dann gemerkt, dass ich nicht weiß, wie es ist. Das herauszufinden ist mein Forschungsthema bis heute.

Meine DIS-Diagnose ist dafür unwichtig. Ich bin wichtig.
Es ist mein Leben.

Hannahs Neujahrsansprache

Ich begann zu bloggen, weil mir die Idee gefiel, in einem nicht-stofflichen Raum zu sprechen und einen Ausdruck für das zu finden, was ich erlebte. Etwas zu erschaffen, das nicht physisch berührbar sein würde und dennoch zweifellos da.
Mich erfreut bis heute wie meine Worte hier zu etwas werden, das andere erreichen und berühren kann, ohne dass ich als Person bekannt oder körperlich anwesend bin. Wie es kommt, dass manche Menschen schon seit vielen Jahren mitlesen und so zu einer ebenfalls nicht körperlich anwesenden, doch zweifellos wirkenden Kraft geworden sind.

Ich wollte hier mal aufklären.
Was ist eine DIS und was bedeutet es damit zu leben?
Das hat mir aber keinen Spaß gemacht, denn schon bald wurde mir klar, dass Aufklärung eine Grundhaltung anderen Menschen gegenüber voraussetzt, die ich nicht habe.
Ich glaube nicht daran, dass Menschen nur genug wissen müssen, um weiterzukommen, Fehler zu meiden oder sich selbst zu verbessern in Gebaren, Normen und Werten.
Ich glaube daran, dass Menschen sind, wie sie sind, weil sie sein können, wie sie sind. Ich glaube also eher an Umstände. Natur. Reiz, Reaktion. Ursache und Wirkung. Freiheit und ihre Grenzen.
Wissen ist darin ein Werkzeug von vielen. Etwas, das zum Selbstausdruck und zur Erweiterung des Eigenen genutzt werden kann, aber nicht die Voraussetzung dafür ist.

Relevant erscheint mir entsprechend bis heute, dass ich hier nicht erzähle, welches Diagnosekriterium sich an welchen Aspekten meines Alltages oder meines Selbst- und Umwelterlebens erfüllt, sondern wie ich mich fühle. Was ich denke. Was mir wichtig ist. Wie ich bestimmte Erfahrungen in mir erfasse und einordne.
Mich stets und ständig entlang der Diagnose zu definieren bedeutet für mich auch die Objektifizierung der Diagnostik an mir weiterzuführen. Ganz so, als sei die psychiatrisch medizinische Ordnung etwas, das alleinig und allumfassend Relevanz für mein konkretes Existieren als Subjekt hätte. Was sie nicht hat.
Ich wäre auch dann noch, wer und wie ich bin, gäbe es diese Diagnose nicht.
Ich hätte auch dann Worte und Empfindungen, Meinung und Urteile zu dem, was ich erlebe.

Mein Blog ist nun seit etwa 14 Jahren online.
Es ist mein Tagebuch, mein Knotenpunkt für innere Kommunikation. Mein Podest zum Teilen meiner Erlebnisse, Ideen und Meinungen. Ein Ort, an dem andere Menschen in Kontakt mit mir treten können.
Und eine Projektionsfläche.

Ich werde von vielen Vielen, Behandler_innen und Verbündeten hier wahrgenommen. Viele von ihnen haben ein Bild von meinen Motiven und meiner Person, die nicht zutreffen.
In den letzten Jahren kam es immer wieder vor, dass ich damit konfrontiert wurde und darüber nachdenken musste, wie ich mich dazu verhalte. Schreibe ich öffentlich darüber? Teile ich meine Gedanken und Gefühle dazu? Was macht es aus, wenn ich über bestimmte Dinge so schreibe, wie ich sie empfinde? Wem könnte ich schaden, wem nützen? Wie groß ist überhaupt mein Einfluss hier? Wie groß meine Verantwortung als eins der Urgesteine in der Multi-Blogbubble? Für und gegen wen spreche ich hier?

Ich habe mich dazu entschieden, das, was ich hier mache, als Selbstvertretung zu etablieren. Hier stehe ich allein. Du darfst mitlesen, mitdenken, mitfühlen – aber meine Stimme gehört mir. Klingt stark, nicht? Abgegrenzt. Klar. Sicher.
Das klingt so gar nicht nach einer Vermeidungshaltung, oder? So überhaupt nicht, als wäre das nicht auch eine Entscheidung aus Angst vor dem Konflikt – gerade, weil ich allein hier stehe. Gerade, weil sich selbst als Viele zu erleben, eine Psychodiagnose, eine Behinderung und chronische Erkrankung zu haben, zu ganz spezifischen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führt. Auch und gerade innerhalb der eigenen Peergroup. Wer nichts hat, guckt den Gleichen ganz besonders auf den Teller. Das hat fast nie mit Missgunst oder persönlicher Abneigung zu tun. Aber mit den Umständen, der Gesellschaft, dem Umfeld, in dem es zur gemeinsamen Gleichheit kommen konnte.
Und gegen die kann ich hier kaum mehr tun, als meine Sicht darauf zu teilen und die An.teil.nahme anderer Menschen zu ermöglichen.

Mein Anliegen der Selbstvertretung hat mich in den letzten Jahren auch zuverlässig darüber hinweggetröstet, dass ich mich schon lange nicht mehr als Teil der Selbsthilfe- und Aktivismus-Bubble fühle. Obwohl ich inzwischen Teil einer analogen Selbsthilfegruppe bin und mit „Vielesein“ eine Plattform aufgebaut habe, die auch den politischen Austausch und persönliche Verbindung ermöglicht.
Ich muss anerkennen, dass die Debatten zu Gewalt, ihren Folgen und der Prävention inzwischen massiv fragmentiert und unterkomplex in den sozialen Medien, exklusiv in Vereinsstrukturen oder teils presse-ethisch fragwürdig in TV- und Rundfunkformaten stattfinden.
Und komme nicht umhin zu beachten, dass sich kritisch dazu zu äußern nicht deshalb schwierig und für manche sogar unmöglich ist, weil es mit einer konkreten Gefahr einhergeht, sondern weil sich niemand mehr auf öffentliche Fürsprache, Solidarität und ganz konkreten Schulterschluss verlassen kann. Und will.

Und soll.
Denn wie schon vor 14 Jahren gibt es auch heute noch Einzelpersonen und Gruppen, die Interesse daran haben, dass über Gewalt und ihre Folgen in einer Weise gesprochen und gewertet wird, die davon betroffene Menschen pathologisiert, Gewalt als alltägliches Geschehen negiert und Taten in einem Normensystem ohne Bezug zu ihren Folgen für die gesamte Gesellschaft bewertet.
Musste ich mich früher damit befassen, was die False Memory Foundation warum will, sind es heute Vertreter_innen der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und Journalist_innen, deren Antrieb zur Berichterstattung offensichtlich nicht die objektive Aufarbeitung von Sachinformation ist.

In den letzten Jahren sind einige Publikationen veröffentlicht worden, in denen wiederholt behauptet wird, die DIS-Diagnose sei eine Art wissenschaftlicher Kunstfehler. Therapeut_innen würden ihren Patient_innen einreden, dass sie Gewalterfahrungen gemacht haben, um sie so lange wie möglich in psychotherapeutischer Behandlung zu behalten. Und diesen Umstand missbrauchen, um die Wissenschaft zu unterwandern und eine politische Agenda voranzutreiben.
Die politische Agenda: Opfern von Gewalt glauben, solidarisch mit ihnen sein, ihnen helfen, wenn sie das möchten.
Für mich klingt das nicht nach einer Agenda, der man sich mit unbedingtem Willen zum Abbruch widmen muss, während der Faschismus nicht mal mehr anklopft, sondern unbehelligt im Bundestag ein und aus geht.
Für mich klingt das nach etwas, das unsere Gesellschaft braucht, um Gewalt zu verstehen. Um ihre Folgen zu begreifen und in einen Prozess zu kommen, in dem Fragen danach gestellt werden, wie wir miteinander leben wollen. Wie wir ganz praktisch und verbindlich füreinander da sein können, wollen und sollen.

Ich gehe davon aus, dass man Falschbehandlung und missbräuchliches Verhalten von Psychotherapeut_innen und politisch motivierten Akteur_innen besser in einer Gesellschaft aufdecken und verhindern kann, die einander vertraut, glaubt und stützt.
Meiner Meinung nach braucht es für gegenseitiges Vertrauen, Glauben und Stützen auch das öffentliche Sichtbarmachen der eigenen Haltung, Meinung und Solidarität. Sich hinter einem Mandat oder dem Status, der mit einer bestimmten Profession einhergeht, zu verstecken, ist ein Privileg, das die, die am meisten unter Diskriminierung und Gewalt leiden, nicht haben.
Höfliches, professionelles, unpolitisches, taktisches Schweigen ist im Angesicht von Angriffen auf die gesamte Gesellschaft und ihr Miteinander nicht klug, karriereförderlich oder überlebenswichtig. Es ist Schweigen. Eine Stille, eine Lücke. Ein Nichts, wo etwas sein muss, wenn man in jeder Lebenslage gut versorgt und gesichert mit den Mitmenschen leben möchte.

Ich möchte leben. Deshalb bin ich hier und dafür schreibe ich hier.
Primär für mich, doch ob ich will oder nicht, immer auch für andere. Für andere Viele, für andere autistische und komplex traumatisierte Menschen.
In der nächsten Zeit werde ich, wie immer allein und alleinverantwortlich, einige Texte veröffentlichen, die kritisch sind. Es wird um Publikationen gehen, die von Journalist_innen sind und um Publikationen, die von Menschen sind, die sich als Aufklärer_innen gerieren.

Zur besseren Einordnung hier eine Vorstellung meiner Person, die ich so nirgendwo im Blog stehen habe:

Ich schreibe unter dem Pseudonym Hannah C. Rosenblatt.
Der Name gefällt mir und er kam zu mir in einer Zeit, in der ich mich damit befasste, zum Judentum zu konvertieren. Ich habe letztlich keinen Gijur durchlaufen, weil ich meine nicht binäre Geschlechtsidentität und pansexuelle Präferenz in vielen jüdischen Kontexten nicht offen leben könnte. Ich bin nicht jüdisch geboren und ich lebe seit vielen Jahren auch nicht mehr nach jüdischen Gesetzen.
Ich bin eine weiße Person und betrachte die Privilegierung, die damit einhergeht, als etwas, das mich zu spezifischer Aufmerksamkeit, bestimmten Verhaltensweisen und einem kritischen Bildungsauftrag in Bezug auf die Leben nicht-weißer Menschen sowie kolonialer Verbrechen und rassistisch motivierter Gewalt verpflichtet.

Aktuell bin ich 38 Jahre alt.
Die DIS-Diagnose erhielt ich nach 7 anderen Diagnosen im Verlauf einer über anderthalb Jahre lang andauernden Behandlung in einer qua Struktur geschlossenen Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich war 16 Jahre alt und hatte zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Suizidversuche überlebt.
Diese Diagnose wurde in den folgenden Jahren mit umfassender Diagnostik und auf meinen eigenen Wunsch hin auf ihre Richtigkeit geprüft und in der Folge bestätigt.
Weitere Diagnosen sind Ängste und Depressionen gemischt und eine inzwischen chronische Essstörung. 2015 wurde außerdem die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (im Sinne eines Asperger-Syndroms) gestellt.

Seit ich in traumatherapeutischer Behandlung bin, steht im Raum, ob ich Rituelle Gewalt erlebt habe. Stand heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass dem nicht so ist.
Die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, fanden in meiner Herkunftsfamilie, meinem allgemeinen Lebensumfeld, in Psychiatrien, den Büros von Psychotherapeut_innen und einem organisierten Kontext sexueller Ausbeutung statt.
Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema Ritueller Gewalt hat mich dafür sensibilisiert, sowohl theoretisch als auch praktisch konkret damit umzugehen. Das bedeutet, dass ich Quellen für jede Aussage einfordere, echte Fälle recherchiere und mich politisch dafür interessiere, weshalb ideologisch motivierte Taten (zu denen für mich neben religiösen auch rassistische und politisch rechte Motive gehören) nicht in einer eigenen Kategorie erfasst und in der Kriminalstatistik geführt werden.

Der Umstand, dass ich bereits als Jugendliche mit der DIS-Diagnose umgehen musste, hat erheblich dazu beigetragen, dass ich die Besonderisierung (das Othering) von Menschen mit dieser Diagnose ablehne. Sei es, ob die Betroffenen das selbst machen oder es ihnen aufgezwungen wird. Für mich sind Menschen mit DIS keine besonders starken Überlebenden. Keine kuriosen Sonderfälle. Meiner Meinung nach brauchen die wenigsten Menschen mit DIS eine spezielle psychotherapeutische Behandlung, Betreuung oder zwischenmenschliche Fürsorge. Meiner Erfahrung nach führt eine solche Besonderisierung in den meisten Fällen zu Gewalt an diesen Menschen, die besonders durch die knappen Ressourcen im Hilfesystem häufig legitimiert wird und entsprechend verdeckt bleibt.
Im kleinen Rahmen biete ich pädagogischen Teams, die sich in so einer Dynamik erkennen, meine Perspektive als Betroffene und Hilfestellung zur Auflösung an.

Ich bin hier als Autorin tätig. Außerdem habe ich zwei Bücher veröffentlicht. „Aufgeschrieben“ und „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“. Unter meiner Verantwortung läuft seit 2015 der Podcast „Viele-Sein, ein Podcast zum Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur“.

Ich habe 16 Jahre in Armut gelebt.
Keine meiner Veröffentlichungen führt zu finanziellem Gewinn. Jede meiner Arbeiten ist in Teilen durch Spenden unterstützt, doch überwiegend von mir selbst finanziert.
Dank eines entschlossenen Schulleiters, einer angemessenen Begleitung und einer motivierten Lehrer_innenschaft habe ich eine Berufsausbildung machen können. Derzeit arbeite ich dank des Teilhabegesetzes in einem geförderten Arbeitsverhältnis in der IT-Branche.
Die Vorträge, Lesungen und Workshops, die ich in meiner Freizeit anbiete, werden überwiegend von anderen Betroffenen und ihren Unterstützer_innen besucht. Mir ist eine sachliche, faktenorientierte Auseinandersetzung mit den Themen Trauma, Gewalt und Behinderung wichtig, wenn es um Fragen der Hilfestellung und Aufarbeitung geht.

Mir liegt nichts daran, andere Menschen bloßzustellen oder ihren Ruf zu beschädigen.
Ich bin solidarisch mit Betroffenen und Überlebenden jeder Form von Gewalt, weil ich Gewalt für ein Problem halte. Dieses Problembewusstsein erwarte ich von allen Menschen gleich.

Im letzten Jahr habe ich mich dazu entschlossen, mein Konfliktvermeidungsverhalten zu beenden. Ich habe erkannt, dass es mir nur bedingt nutzt und anderen, denen es schlechter geht als mir, sogar schadet. Meine Hoffnung ist, dass auch andere Menschen den Mut finden, einen solchen Beschluss zu fassen und ihr Schweigen zu bestimmten kritischen Punkten beenden.

mit Kraft, ohne Zucken

„Eigentlich geht der aber noch“, denkt eine sachte Wolke über meine Schulter hinweg. Er, der dunkelblaue Wäscheoktopus aus Kunststoff, den mir meine Eltern bei unserem letzten Kontakt geschenkt haben. Das ist 14, vielleicht sogar 15? Jahre her. Ich drücke ihn tiefer in den Gelben Sack.

Im Badezimmer hängt nun eine neue kleine Wäschespinne am Kippfenster. Aus Edelstahl. Geschenkt vom Freund, Partner, Ehemann.
Der uns vorhin mit Quatschmachen über ein Christkind, das er gerade beim Einbruch in unser Wohnzimmer beobachtet hätte, kurz vor den Lachkrampf gebracht hat. Und gleich, das weiß ich aber noch nicht, unser Lieblingsspiel mit uns spielen wird, bevor wir sein Lieblingsessen zu Weihnachten kredenzt bekommen.
Ich denke an die Bettwäsche, die mir meine Tante zum 18. Geburtstag in die Wohngruppe geschickt hat. Dunkelblau, mit einfachem Sonne, Mond und Sterne-Muster. Längst nicht mehr Biber, seit Jahren zunehmend löchrig. „Die geht noch“ schwappt es nach jeder Wäsche, jedem Trocknen, jedem Zusammenlegen, jedem Neuaufziehen über mich drüber.
„Es war ein beknacktes Geschenk für einen 18. Geburtstag.“, „Aber es war eins. Hätte ja auch nichts kommen können.“, „Ja, ich habe das eigentlich nicht verdient.“ Ich schließe die Tür zu diesen Inneren. Ich will sie nicht fühlen, will mich nicht so fühlen.

Diese kleinen Alltagsgegenstände, die sich in jedem Haushalt ansammeln, irgendwann einfach wegkönnen und eben nicht mehr wegmüssen, weil sie wegsollen. Weil eine Therapeutin, Betreuerin, Helferin, Vertraute, Freundin argwöhnt, ob an dem Geschenk ein geheimer Code klebt. Ein impliziter Imperativ, der mich zur Kontaktaufnahme zwingt. Weil ein Therapiekonzept erfordert, nichts Verbindendes zu früheren Täter_innen zu besitzen.
Ich habe in der Verweigerung, diese Dinge wegzuschmeißen, meinen ersten Aufstand geübt. Mein erstes „Nein, du, ihr könnt mich mal – ICH entscheide das!“, gedacht, gefühlt und dann auch gemacht. Und gewartet, was sie machen würden. Mich verletzen? Oder nur rausschmeißen? Wegstoßen? Verlassen? Mir nicht helfen? – Wäre eh passiert. Mich zu halten, war nie möglich, egal, was für ein liebes Mädchen eine liebe Patientin ich gewesen wäre.
Am praktischen Ende meines Leidensdrucks hatte ich einen Haushalt, den ich mit Hartz-4 bestreiten musste, nachdem ich ihn mit der absurd niedrigen Erstausstattungspauschale aufgebaut hatte. Mit 18. Nach etwa 4 Jahren Heim-Klapse-Ping-Pong und einer Symptomatik jenseits von stabiler Entscheidungsfähigkeit. Kleinigkeiten, die bei solchen Aufforderungen zur Bereinigung Befreiung Entfernung von solchen Dingen nie wirklich eine Rolle gespielt haben. Komisch eigentlich. Dabei ging es doch immer um mein Bestes. Alles haben, was ich ganz banal und alltäglich brauche, gehörte irgendwie kaum dazu.

Mein Handy zeigt eine Nachricht mit Foto. Eine zweite Freundin hat ein Päckchen von mir unter ihren Baum gelegt. Eine dritte hat ein Briefchen von mir bekommen. Mein Partner hat auch Geschenke von mir bekommen. Und ich kann trotzdem Ende dieser Woche zum Chaos Communication Congress fahren. Und muss mich nicht einschränken. Brauche keine Geschenke, um mich zu versorgen. Jetzt sind Geschenke einfach immer schön. Und ich kann Menschen, die sich über meinen Besitz und ob ich ihn haben sollte auslassen, sagen, dass sie anmaßend und grenzüberschreitend sind. Mit Kraft in Brust und Bauch. Ohne Zucken.

Deshalb kann er weg. Der Oktopus.
Wenn jemand guckt, um zu prüfen, ob er noch da ist und wir es überhaupt wert waren, können wir ja sehen, wie es um Kraft und Zucken bestellt ist.

die Möglichkeit und das Machen

Was für eine Woche das war, begriff ich erst am Wochenende.
Da habe ich mit einer Freundin telefoniert und gemerkt, dass ich einen Knaller nach dem anderen in meinen Bericht der aktuellen Lage einbrachte.
Später fiel mir aber auch auf, dass ich jeden dieser Knaller komplett erinnere und kongruent empfinde.
So ist das also. Dieses stabil, gesichert und weniger dissoziativ sein.
Wie immer. Nur mehr.

Diese Woche fiel mir dann noch etwas auf.
Ich habe in der Auseinandersetzung mit meinen Psychiatrieerfahrungen einen Prozess angestoßen, der hätte sein können wie immer. Intellektuell. Analysierend. Ganz so, wie ich es immer brauchte, um mich damit sicher zu fühlen. Wenn man Ursache und Wirkung versteht, kann man sich schützen. Und ich, Hannah, die mal die Rosenblätter waren, die mal die Anderen waren, die Menschen und Leben in Klapse und Therapie gut können, brauchte auch nur das. „Wie war es dazu gekommen?“ – „Alles klar, dann ergibt das ja alles Sinn, dann mache ich mal dies und das …“
Jetzt kann ich die fühlen, die vor mir waren. Und manchmal mischen wir uns auch. Manchmal auch schon so sehr, dass es mich nicht einmal komisch befremdet.
Jetzt ist die Auseinandersetzung damit wie immer. Und mehr.

Jetzt merke ich, wie mein Anspruch des Bewusstmachenwollens von Helfer*innen- und speziell Psychiatriegewalt auch daraus entstanden ist, sie mir selbst bewusst zu machen. Und zu halten. Nicht nur für alle, die es (im Gegensatz zu mir) nicht verdient haben, so etwas zu erleben, sondern auch für alle, die es erlebt haben. Wie ich ich? ich.

Und ich merke, wie weit mich meine Intellektualisierung gebracht hat. Obwohl sie zu meinem Vermeidungsverhalten gehört und damit aus therapeutischer Sicht zu den Dingen, die meine komplexe posttraumatische Belastungsstörung aufrechterhält. Böse böse also. Irgendwie.
Andererseits musste ich intellektuell begreifen, was meine Diagnose ist. Es hat nicht gereicht zu glauben, ich hätte mich „abgespalten, um mit traumatischen Erfahrungen klarzukommen“. Ich musste wissen, was toxischer Stress ist und wie er sich auswirkt. Ich musste wissen, wie Gehirne üblicherweise funktionieren. Wie Lernen funktioniert. Was Angst ist. Was andere Emotionen sind. Ganz konkret. Was Macht ist. Was Gewalt ist. Warum alle Menschen dagegen sind und gleichzeitig viel dafür tun.
Ohne diese Auseinandersetzung, diese Forschungs- und Versteharbeit hätte ich nie erfahren, dass Intellektualisierung und die vorerst kognitive Erfassung von Umständen nicht ausschließlich traumabedingtes Vermeidungsverhalten sind. Wofür ich mich schämen sollte, weil sich manche Leute davon überfahren, bedroht, eingeschüchtert, abgewertet fühlen. Und weil es meine psychotherapeutische Behandlung unnötig in die Länge zieht. Nur für mein eigentlich irrelevantes und mit diesem Verhalten dreist und aus narzisstischer Motivation erschlichenes Wohlgefühl.

Ohne diese distanzierte Analyse und die Schemata, die ich dafür gebraucht habe, hätte ich nie welche für mein Verhalten und meine Gefühle entwickeln können. Ich wäre Quatscherzählungen übers Viele- und Menschsein, über Gewalt und Hilfe schutzlos ausgeliefert. Wäre enorm abhängig von meiner Psychotherapeutin oder anderen Be.Handler_innen. Würde so vieles von meinem Verhalten immer noch als etwas von meiner viel weniger veränderbaren Person behandeln.

Meine Birne macht wirklich vieles komplizierter, als es manchen Menschen erscheint. Und vielleicht auch umständlicher. Aber sie schützt mich auch. Und stärkt mich dabei, noch andere Schutz- und Kraftquellen zu entwickeln.
Und eine zu sein. Für mich.

Diese Auseinandersetzung ist anders. Wie immer und mehr.
Wie ich sie mache und wie die anderen in mir sie machen.
Sie haben Angst und ich nicht.
Sie haben detaillierte Erinnerungen und ich nicht.
Ich kann die Umstände als Struktur und Dynamik überblicken und analysieren, und sie nicht.
Sie waren komplett auf sich allein gestellt. Jetzt haben wir uns.
Und einen Partner. Und Freund_innen. Und Begleiter_innen.

Ich habe lange geglaubt, um an so einen Punkt zu kommen, müsse etwas mit mir passieren, das ich in keiner Weise beeinflussen kann. Irgendwie würden mir unvorstellbare, bisher unerreichbare Fähigkeiten wachsen. Wenn ich mich als würdig erwiesen habe. Wenn ich durch genug unangenehme Therapietermine durch bin. Wenn ich die richtigen Medis habe. Wenn ich gut genug bin.
Dann würden sie auftauchen wie Krokusse im Frühjahr und dann ginge es von ganz allein weiter in Richtung Heilung und Normalität.

Aber auch Krokusse kommen nicht beliebig aus der Erde geschossen. Da hat jemand mal eine Knolle in die Erde gedrückt. Da war Wetter und Klima. Da ist keine Maus drangegangen. Kein Rasenmäher drübergefahren. Da war Zeit und Ort und Raum und Möglichkeit. Und genug Leben drin, um sich selbst zu wollen und die nötige Arbeitskraft freizusetzen.
Das, was man vom Krokus sieht, ist das, was ihm das Überleben als Spezies sichert. Das, was ihm Kommunikation und Interaktion mit allem, was dafür nötig ist, sichert. Die Wurzeln sieht man nicht. Ihre ständige Arbeit lässt sich trotz vieler Kenntnisse über Pflanzen kaum insgesamt erfassen. Man wird nie erfahren, wie viel Wasser, wie viel von welchen Mineralien im Verlauf eines Tages, einer Woche, eines Jahres dieser eine Krokus wann genau wie wozu sammeln und wie genau umwandeln und einsetzen musste.
Wir werden vielleicht nie erfahren, ob sich die Knolle für ihr Leben entscheiden oder einfach nur dem Leben als Impuls hingeben musste. Aber wir können uns sicher sein, dass da sehr vieles sehr günstig zusammenkommen musste, das nicht allein von ihr beeinflussbar war. Wir können Glück dazu sagen. Und Lauf der Dinge.

Und müssen immer an beides denken.
An das Glück und die Arbeit.
An die Möglichkeit und das Machen.