Disclaimer: Beim gestrigen „European Inclusion Summit 2020“ stellte ich die Frage, ob die Ebene der gesetzlichen Abhängigkeit behinderter Opfer von Gewalt mitgedacht wird. Ich glaube, dass man meine Frage nicht gut verstanden hat. Deshalb habe ich diesen Text geschrieben.
Hier kann man ihn als PDF runterladen und weitergeben.
Click here for the PDF in english
Ich würde mich freuen, würde sich jemand bei mir melden, die_r diesen Text unentgeltlich in Leichte Sprache/Plain Language übersetzen kann und möchte, damit viele Menschen von meinem Vorschlag erfahren.
Danke an Katja B. Und Illy A. Heger für die englische Übersetzung.
„Mutti, Vati – Ich will die Scheidung von euch!“
– ein Vorschlag zu langfristigem Schutz behinderter Menschen, die Gewalt in der Familie (üb)erleben mussten
In Artikel 6 des deutschen Grundgesetzes steht:
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.
Dieser Artikel bildet den Kern des deutschen Familienrechts und funktioniert als Abwehrrecht. Das bedeutet, dass die Familie vor Ein- und Übergriffen von Außen geschützt wird. Außerdem ist dieser Artikel als „wertentscheidende Grundsatznorm“ zu verstehen, weshalb der Staat sich verpflichtet, die Familie vor Schädigung und Störung durch ihn oder Dritte zu schützen, aber auch durch angemessene Förderung zu stärken und Benachteiligung zu vermeiden.
Was ich hier so buchtrocken hinschreibe, ist im deutschen Recht durch viele Gesetze und Regelungen ergänzt, ausformuliert und gesichert. Man könnte auch „konserviert“ schreiben. Denn sicherlich gibt es Regelungen und Gesetze, die vorgeben, wie Familienmitglieder miteinander umgehen, welche Rechte und Pflichten bestehen, wenn keine Bindung durch z. B. Heirat (der Eltern) mehr besteht – es gibt aber bis heute keine Möglichkeit, sich von der eigenen Familie nicht nur räumlich, sondern auch rechtlich zu trennen und als Individuum ohne Abstammung behandelt zu werden.
Familie ist man immer und in manchen Belangen auch vor allem anderen. Zum Beispiel vor dem Umstand, dass man Opfer von Gewalt, ausgeübt von der eigenen Familie, ist oder war.
In den letzten Jahren ist es üblich geworden, auf Konferenzen und Fachtagungen zu Gewalt an Kindern zu betonen, dass die Täter_innen in der Regel aus der eigenen Familie und dem näheren sozialen Umfeld kommen. Auch wenn es um Gewalt in der Ehe geht, wird dieser Umstand unterstrichen und immer wieder formuliert, welche Konsequenzen dies sowohl für die Dimension des Gewalt(üb)erlebens, als auch für den Schutzbedarf der sie betreffenden Personen hat.
Was in der Regel ausbleibt, ist die Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen, die über Schadenersatz, Strafanzeigen und spezifische Fragen zu familienrechtlichen Problemen hinausgeht.
Für mich persönlich ist das seit vielen Jahren problematisch.
Ich bin eine behinderte Person, die durch das Gewalt(üb)erleben müssen in der eigenen Familie eine komplexe und chronische Traumafolgeerkrankung erworben hat. Ich musste als Jugendliche aus eigener Kraft fliehen, nachdem das Jugendamt (möglicherweise auch bedingt durch meine Behinderung und damit einhergehende Kommunikations- und Interaktionsprobleme) meine Situation nicht so einschätzte, dass eine Herausnahme aus der Familie gerechtfertigt zu sein schien.
Die Dimension meiner Gefährdung und der Gewalt an mir durch die eigene Familie wurde den Menschen, die mich in der Zeit betreuten und versorgten, erst über 1 Jahr später klar. Es war nicht möglich, einen Sorgerechtsentzug oder einen Entzug anderer elterlicher Rechte anzustreben.
Ich war in den folgenden etwa 5 Jahren damit beschäftigt, den gewaltvollen Einfluss meiner Familie zu kompensieren, denn ich war aufgrund meiner Erkrankung und meiner Behinderung auf Leistungen der Eingliederungshilfe angewiesen. Ich brauchte, aufgrund meiner Behinderung noch weit über mein 18. Lebensjahr hinaus, Unterstützung und Hilfe bei der Navigation durch die Welt, dem Erwachsenwerden, bei der Aufrechterhaltung eines eigenen Haushalts und nicht zuletzt auch meines eigenen Lebens.
Diese Sozialleistungen, aber auch andere Leistungen, wie zum Beispiel das Kindergeld, sind an die Familie gekoppelt. Das bedeutete für mich, dass meine Familie jederzeit – auch an Auskunftssperren vorbei – dazu verpflichtet war, mir diverse Unterlagen zukommen zu lassen, immer wieder zu Hilfeplangesprächen eingeladen wurde (bis ich volljährig war und dies ablehnen konnte) und immer wieder durch die Kommunikation mit dem Jugendamt und später Sozialamt davon in Kenntnis gesetzt wurde, wo ich wohnte, was ich machte, wie es mir ging, wann ich wo, wie medizinisch versorgt wurde und so weiter und so weiter. Eine Amtshilfe durch das örtliche Jugendamt – ich lebte inzwischen sogar in einem anderen Bundesland – wurde abgelehnt. Die Gründe dafür konnten nie geklärt werden. Mir war ein Kampf um diese Hilfe nicht zuzumuten.
Bis ich 34 Jahre alt war, hatte ich zu keinem Zeitpunkt die Chance, den von mir gewünschten und für meine persönlichen Sicherheitsgefühle notwendigen Abstand zu diesen Menschen herzustellen.
Und selbst heute, wo ich mich zumindest abgesichert fühle, muss ich in dem Bewusstsein leben, dass unsere familiäre Verbundenheit über das Gesetz jederzeit wieder zu Kontakt, zu Rechtsansprüchen und Pflichteinforderungen führen kann. Etwa, wenn meine Eltern pflegebedürftig werden (und ihr Vermögen die Kosten nicht abdeckt) oder gestorben sind. Wenn ich unverheiratet (und deshalb weiterhin im Hartz 4-Bezug) sterbe. Wenn ich unverheiratet ein Kind bekomme und bei dessen Geburt versterbe. Oder, um ein banaleres Beispiel zu nennen: Wenn ich erneut Bafög beantrage, weil ich ein Studium anfangen möchte und – wie zuletzt im Zuge meiner Berufsausbildung – die Sachbearbeiter_innen mir nicht glauben, dass ich wirklich und echt auf elternunabhängiges Bafög angewiesen bin.
Mit dieser Problematik kann ich nicht allein sein in Deutschland, denn bereits die schiere Anzahl der Kinder, die Gewalt in ihrer Familie (üb)erleben müssen, ist enorm. „Im Jahr 2018 prüften die Jugendämter laut Statistischem Bundesamt 157.271 Verdachtsfälle im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung. In rund einem Drittel, bei 50.412 Fällen, wurde eine Kindeswohlgefährdung bestätigt.
In der polizeilichen Kriminalstatistik werden für das Jahr 2019 13.670 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angegeben.“ schreibt zum Beispiel die UNICEF in diesem Faktenblatt zur alltäglichen Gewalt an Kindern (PDF).
Jetzt in der Zeit der sogenannten „Corona-Pandemie“, gibt es vermehrt Berichte wie hier bei der Tagesschau darüber, dass es immer mehr Fälle von Femizid durch Partner_innen, aber auch jede andere Form der Gewalt im familiären Umfeld gibt.
Politisch wird der Auftrag des Schutzes von Opfern, so erscheint es oft, als Kurzzeitprojekt verstanden.
So wird von mehr Frauenhäusern gesprochen, es werden Schutzkonzepte für Einrichtungen entwickelt, die relevant in der alltäglichen Lebensumgebung von Kindern sind und auch das eine oder andere Reförmchen am Opferentschädigungsgesetz (OEG) oder auch am sogenannten „Stalkingparagrafen“ wurde umgesetzt. Doch die Achse der Zugehörigkeit – die Verbindung über Abstammung oder Ehe wurde nie berührt.
Ist die konkret auf den Körper einwirkende Gewalt beendet, so gilt eine Person in Deutschland praktisch als geschützt, da die seelischen Aus_Wirkungen nicht gleichermaßen objektiv gemessen werden können und also jedes Leiden in der leidenden Person verortet wird. Sie wird allein in die Verantwortung genommen, das eigene Leiden zu beenden. Zum Beispiel mit der Aufnahme einer psychotherapeutischen Behandlung, mit einem Umzug, mit einer Namensänderung, mit der Einrichtung einer Auskunftssperre, mit der Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung, die sie in ihrem Namen vor Behörden vertritt.
Meiner Meinung nach geschieht dies zum Nachteil aller Opfer, die zum Beispiel aufgrund von Behinderung, von Armut oder infolge rassistischer Diskriminierung nicht in der Lage sind, sich selbst zu einer Institution unabhängig von Staat und Familie zu machen. Etwa mit Vermögen und dadurch globaler Unabhängigkeit staatlicher Unterstützung und Schutz.
Die private Lebensorganisation eines Menschen sollte nicht an Institutionen gebunden sein, die der freien Persönlichkeitsentfaltung und dem Leben in individueller Freiheit so grundlegend widerspricht, ja sogar der Lebendigkeit des Menschen möglicherweise feindlich gegenüber steht, wie es der Fall ist bei Menschen, die Gewalt in der eigenen Familie (üb)erleben mussten.
Ich möchte ein Recht auf Scheidung im Sinne einer globalen Umschreibung aller Rechte, die eine über Abstammung oder Heirat definierte Familie an einer Person hat, auf diese Person allein, vorschlagen.
Diese Umschreibung sollte eine Person in die Situation versetzen, vom Gesetz als familienlos und also frei von familien-, wie erb- und sozialrechtlichen Ansprüchen an und von den Personen zu sein, die sie, auf welchem Weg auch immer, gezeugt haben, oder mit denen sie durch eine Ehe verbunden war.
Ich wünsche mir, dass Menschen diesen Text lesen, die wissen, wie man solche Vorschläge so formuliert, dass sich für derlei Vorgänge verantwortliche bzw. ermächtigte Menschen damit befassen und ihn auf Umsetzbarkeit und all seine Implikationen prüfen.
Ich wünsche mir, dass sie mit mir in Kontakt gehen. Zum Beispiel per E-Mail an H.C. Rosenblatt ät online punkt de.
Seit Jahren stelle ich auf Konferenzen mit der Thematik des Opferschutzes die Frage, wie ich endlich wirklich selbstbestimmt und frei sein kann. Und immer wieder stelle ich als behindertes Opfer von Gewalt fest, dass die Gesellschaft mit meiner Abhängigkeit von Behörden und damit in manchen Fällen auch denen, die an mir Täter_in wurden, einverstanden ist.
Das ist Unrecht und soll nicht nur für mich, sondern auch für andere in meiner Situation aufhören.
Bitte teilen Sie diesen Text mit Menschen, die mein Anliegen vielleicht interessant finden und mich bei der Umsetzung in irgendeiner Form unterstützen möchten.
Herzlichen Dank
Hannah C. Rosenblatt
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen...