wennschon, dennschon #Coronatagebuch

Die Situation ist stabil. Das sage ich mir in jedes Angstloch hinein, das sich in den Nischen meiner Geschäftigkeit auftut.
Der Partner ist weiterhin positiv und kann deshalb nicht verlegt werden. Es ist schlimm und ja, um zwei, drei Ecken geht es auch um Leben und Tod, aber eben nicht so. Es ist viel mehr das „um Leben und Tod“, das in unserem gemeinsamen Leben einen eigenen Anteil hat. Schon längst überall eingewebt, mitgedacht und eingeplant, wie Wandfarbe und Bodenbelag, Luft und Wasser, Himmel und Erde. Kein Grund zur Panik. Kein Anlass zu Dramadramahopplahopp-Aktivismus, der 5 Hebel gleichzeitig zu bedienen erfordert.

Dass ich zwischendurch Angst habe, hat viel mehr mit der Neuheit der Situation zu tun, als mit der Situation selbst. Und damit, dass ich noch nicht fit genug bin, um mir so gutzutun, wie es mir sonst immer guttut. Ich kann noch nicht wieder schwimmen gehen. Kann den Garten noch nicht bearbeiten. Habe noch keine_n Hundesitter_in gefunden, damit ich zur Therapie fahren und meine Anspannung loslassen kann.
Im Moment kann ich nur arbeiten. Womit ich überwiegend Anfangsschwierigkeiten habe. Und Dranbleibeschwierigkeiten. Neben den üblichen Selbstorganisationsschwierigkeiten.

Aber ich bin nicht ungesehen darin. Das macht viel aus. Alle, mit denen ich spreche, trösten mich, bedauern den Partner und wünschen uns beiden, dass bald wieder alles gut wird. Mir gefällt das. Vor allem, weil wir so spürbar als Teil eines Ganzen, unseres gemeinsamen Ganzen gesehen werden. Es ist nicht nur der Wunsch, dass er wieder gesund wird, weil das einfach besser ist als krank zu sein, sondern auch, damit wir bald wieder zusammen sind. Als würden wir so richtig und wirklich zusammengehören und nicht nur in meinem Wünschen und Wollen.

Der Gedanke an eine Richtigkeit wie diese gibt mir gerade viel Ruhe und Kraft.
Ich habe ganz stark das Gefühl, dass er nicht sterben wird. Nicht nur, weil die Situation gerade stabil ist, sondern einfach so. Vielleicht ist das eine Selbstschutzverarschung. Kann sein. Aber sie fühlt sich richtig an und das hilft gerade auch. Wenn ich schon Tag für Tag klarkommen muss, dann doch gerne so.

Mangel entgegenbeten #Coronatagebuch

Der erste Anruf war um 3 Uhr morgens herum. Mein Telefon: still. Ich: Im ersten leeren Schlaf seit Wochen.
Am Tag zuvor hatte er noch gesagt, es ginge ihm besser. Seine Gesichtsfarbe war von Mehlkreide zu Camembert gewechselt, der Husten seltener. Mir ging es schlecht, sobald es mir nicht mehr gut ging. Jeder Moment der Ruhe ist ein Dorn, der Erinnerungsblasen zum Platzen bringt. Meine körperliche Schwäche weiter keine Hilfe beim Umgang damit.

Kurz vor 8 schaffte er es die Hunde zu wecken, die mich dann aus meiner weichweißen Betäubung rissen.
Er bat mich, ihm eine Tasche zu packen. Fürs Krankenhaus. Das Sprechen undeutlich, angestrengt und umständlich aus dem Oberkörper gepresst.
Ich sammelte seine Sachen zusammen, fütterte die Hunde, begann das Gespräch mit der Rettungsstelle zu üben. Dachte kurz darüber nach, ob ich ihn gewissermaßen umgebracht habe, weil ich ihn nicht früher gehört habe. Schob sein Telefon in den Rucksack und fand mich daran erinnert, dass ich nicht der einzige erreichbare Mensch in dieser Nacht gewesen war.

Der Anruf bei der Rettungsstelle klappte gut. Es lief sehr anders als vor 20 Jahren, heute wird man die Wichtig-Ws konkret abgefragt. Das ist eine gute Hilfestellung.
Der Rest wie im Film. Zwei Rettungsmenschen in Maske und Papierleibchen, ein piependes Fingerdingsi, ein anstrengendes Gespräch zur Vermittlung der Grunderkrankung und der aktuellen Situation mit Covid zusätzlich. Davor der Akt, in dem sich der Partner frische Sachen anzog, spürbar an der Grenze dessen, was ihm möglich ist.
Sie steigen ein, er hinterher. Sie testen ihn und suchen ein freies Bett. Ich denke grimmig, dass er mit einem freien Bett nichts anfangen kann. Er braucht kein Bett, er braucht Versorgung und Pflege. Ein Bett hat er. Hier. Bei mir. Wo wir beide wohnen und uns über Witze totlachen und über Nazis erheben und einen Maulwurf haben und Kinder großziehen werden.

Der Rettungsmensch ruft mir zu, wo sie fündig wurden, dann fahren sie los. Ich schließe die Tür und denke: „So, jetzt wird hier endlich mal aufgeräumt.“ Tatsächlich aber schreibe ich Messengernachrichten und trinke Kaffee. Streichle Bubi, der mir seinen ganzen Körper gegen das Bein drückt. Spreche mit der Nachbarin, die den Krankenwagen gesehen hat und ihre Hilfe anbietet. Bis ich nicht mehr sprechen kann, weil ich keine Wörter mehr denke.

Ich spiele Sims 4, gehe mit den Hunden raus. Lasse mein Gesicht von den frühlingswarmen Böen streicheln, die sich kräftig über die zartgrünen Felder schieben.

Wir sind in einem AG-Treffen der Initiative Phoenix als der Partner anruft. Er hat eine Lungenembolie. Sollte erst in eine andere Klinik verlegt werden, dort ist aber kein Platz frei. Er bleibt in der Klinik, wo das CT ausgefallen ist, während er in einem untersucht werden soll. Jemand weint an mir vorbei, ich hake eine weitere erfüllte Befürchtung ab. Weiß, dass ich das in der nächsten Zeit nirgendwo sagen kann, weil das Gesundbeten unserer Zeit erfordert, immer positiv über solche Dinge zu denken. Aber: Es wird nicht seine Krankheit sein, die ihn umbringt. Es wird Scheiß wie dieser sein. Die Ärzt_innen, die seltene Krankheiten nicht kennen und keine Zeit für fundierte individuell nötige Zusammenarbeit haben. Die Pfleger_innen, die einfach nicht arbeiten können, wie sie wollen und sollen. Technisches Gerät, das es nur ein Mal pro Haus mit hunderten Anwendungsfällen gibt. Es wird Mangel sein, der ihn tötet. Mangel in einem der reichsten Länder auf der Welt. Egal, wie positiv ich jetzt denke. Wie sehr ich hoffe und wünsche, dass alles gut geht. Das kann ich machen, um mich selbst besser zu fühlen. Aber die Realität ist eine andere und die kann ich im Moment nur bezeugen.

In der Abenddämmerung fahre ich zum Krötenzaun. Sammle Erd- und Kreuzkröten ein, als meine Betreuerin anruft. Sie ist als Bevollmächtigte eingetragen in der Patientenverfügung des Partners und schon lange mit ihm befreundet. Ihre Stimme wackelt und ich höre ihr dabei zu, wie sie sie mit positiven Annahmen stützt.
Eine letzte Kröte im Eimer verabschiede ich mich von ihr. „Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung scannen und mailen, nicht vergessen. Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung.“ Ich wiederhole es im Kopf, bis es keinen Sinn mehr ergibt. Fahre im großen Bogen wieder nach Hause, fotografiere einen Regenbogen.

Zu Hause scanne die Dokumente ein und lese nach, was er sich wünscht. Bin ihm dankbar dafür, dass ich nicht entscheiden soll, sondern seine Freundin. Freue mich für ihn, dass er nicht nur mich in seinem Leben hat.

Später im Einschlafen denke ich mir aus, wie er wieder nach Hause kommt. Wie der Garten dann aussieht. Wie aufgeräumt und sauber seine Wohnung ist. Wie wir wieder draußen sitzen und uns die Bäuche hart lachen.

Rekonvaleszenz #Coronatagebuch

Wie kleine Sterne leuchten die Narzissen auf der dunkelgrünen Wiese. Weicher Wind streift mich. Doch das wohlige Räkeln in den Frühling hinein fällt mir schwer. Zu viele Baustellen im Garten, im Haus, bei der Arbeit, in mir selbst. Gleichzeitig ist es still um mich herum. So wie ich hier stehe, ist von diesen Baustellen keine wirklich wichtig. Alles ist irgendwie zu lösen und auszuhalten. Es dauert einfach. Das ist schon alles.

Aus dem Schlafzimmer des Partners höre ich das angestrengte Atmen, das noch angestrengtere Husten. Ihm geht es immer noch sehr schlecht. Die Frage, ob wir einen Not_Arzt kommen lassen sollen, verneint er weiter.
Wenn ich ihm deshalb nicht böse bin oder mich mit der Angst verrückt mache, dass ich verpassen könnte, dass er stirbt, frage ich mich, ob etwas in ihm wie seine Autoimmunerkrankung funktioniert. Nämlich gleichzeitig für und gegen sich selbst.
Er hat Angst vor der Intensivstation, deshalb vermeidet er eine Behandlung. Auch jetzt, am 9. Tag seiner Covid19-Erkrankung. Mit Schleimblubberlunge, dickem Hals und Druck im Kopf.
Was sagt es über unser Verhältnis zur medizinischen Versorgung, wenn es zum nötigen Selbstschutz chronisch kranker Patient_innen gehört, sich nicht behandeln zu lassen? Nichts Gutes, das kann man wohl festhalten.

Ich selbst konnte nach wenigen Tagen schon wieder umschalten. Aus dem Traumasumpf in den Kampf um Arbeitsfähigkeit, Kontrolle und Überblick. Aus der Ohnmacht in die Traumareaktion. Mir gehts gut. Alles fein. Außer, wenn ich merke, dass mein Puls unnötig schnell geht, ich meine Müdigkeit zu spüren zulasse, ich kurz fühle, dass die Situation gerade ganz und gar nicht okay ist.
Ich muss eigentlich in die Schwimmhalle. In die Bewegung. Meine Routinen. Meine übersichtlichen Aufgaben. Meine Ablaufpläne und Ordnungen. Dieses passive Rekonvaleszieren tut mir nicht gut. Macht mir Angst. Triggert allen möglichen Kram hoch, den ich nicht in Aktivität ersticken beruhigen kann.

Deshalb konzentriere ich mich gerade auf alle Aktivität, die ich schaffe.
Eine kleine Krötenschicht am Tag. Eine moderate Hunderunde. Kochen. Sims 4 spielen. Unauffällige Checks auf Lebenszeichen beim Partner. Elaborierte Baupläne für das Grundstück des Nachwachshauses bis in den Schlaf. Und immer wieder die Erinnerung: Langsamkeit ist etwas anderes als Stillstand.

PLURV im Spiegelmagazin

„Im Wahn der Therapeuten“ war schon eine problematische Überschrift, als Felix Kuballa seinen gleichnamigen Film veröffentlichte. Das war 2003.
Nun, Anfang 2023 die gleiche Suppe also noch einmal. In einem Spiegelartikel mit dem gleichen Titel für die Onlineversion und der gleichen Strickart:
Eine Person, die behauptet, eine Psychotherapeutin hätte ihr eingeredet, sie sei Opfer Ritueller Gewalt geworden, sei in Lebensgefahr, wie ihr Kind auch.
Neu ist, dass das Jugendamt hinzukommt. Auch eine Gefährdung erkennt. Eine Richterin entscheidet: Ja, hier ist Gefahr für das Kind in Verzug. Das Kind wird woanders untergebracht.
Ebenfalls neu: Der direkte Angriff auf Michaela Huber und Brigitte Bosse, dargestellt als Hauptvertreterinnen eines verschwörungsgläubigen Therapeutennetzwerkes, mit der Mission möglichst vielen Psychotherapeut_innen einzureden, dass es Rituelle Gewalt gibt.
Nicht neu: False Memory Deutschland e. V. hats durchschaut. Weiß zu verbreiten, dass psychische Krankheit und Autosuggestion zu falschen Erinnerungen führen.
Außerdem wie üblich in solchen Artikeln: Die Polizei hätte nie irgendwas gefunden. Es gäbe noch mehr Patient_innen als Malin Weber, die Soldaten und echten Folteropfern die begrenzten Traumatherapieressourcen von Deutschland wegnehmen. Die dissoziative Identitätsstörung sei eine Glaubensfrage.

Ein ermüdend schlecht recherchierter Text, der dennoch zieht. Natürlich. Er bietet Grusel durch die Illustration und Gewaltbeispiele, man fühlt sich informiert durch die Zahlen und Expert_innenkommentare, ein bisschen traurig für die Patientin und ein bisschen empört über das Geld, das das Familienministerium verteilt hat für Forschung, die laut Text möglicherweise Unsinn als Prämisse hat. Textarchitektonisch ist das Umami. Journalistisch richtig schlecht.

So meldete sich Brigitte Bosse am Montag mit Anmerkungen zu dem Artikel. Stellt klar, dass der Journalist ein Seminar zum Umgang mit DIS besucht habe, um diesen Artikel zu schreiben und sie dazu interviewt hat. Nichts davon im Text.
Ebenfalls nicht im Text: der lange Arbeitsweg zu einer fachlichen Definition des Begriffs „organisierte Rituelle Gewalt“. Allein im „Infoportal Rituelle Gewalt“ sind 19 Definitionen aufgelistet. Die erste von 1991, die letzte von 2019. So wird nicht klar, wonach das Autor_innen-Duo eigentlich gesucht hat. Was seine Prämisse ist. Was die Prämisse von False Memory Deutschland e. V. ist, wenn der Verein sich dazu äußert. Oder die Polizei. Es erwähnt die amerikanische „satanic panic“, die es in Deutschland so nie gegeben hat, wirft ein Buch aus den Achtzigern mit rein und rührt Alison Miller, eine kanadische Psychotherapeutin dazu. Dann eine Prise von der Skandalisierung des Themas in der Schweiz, die ebenfalls journalistisch bemerkenswert schlecht bearbeitet, aber populistisch maximal wirksam ist.

Und mehr sollte dieser Text vermutlich nicht sein. Populismus.
Bisschen Stimmung gegen Psychotherapie, bevor hier alle glauben, sie hätten ein Trauma. Oder könnten sich an Psychotherapeut_innen wenden, wenn sie doch eins haben.
Ein Mal mehr am Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Kompetenz des Familienministeriums und damit den Staat sägen. Zeile für Zeile dafür sorgen, dass man glaubt, alles sei eine Glaubensfrage – selbst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt und letztlich auch die Hilfen für Gewaltüberlebende. Nebenbei noch ein paar unliebsame und seit Jahren hart arbeitende Therapeutinnen schreddern. Wenn man schon dabei ist.

Der Text hätte ohne Konsequenzen bleiben können, wäre es in den letzten 20 Jahren gelungen, den wissenschaftlichen, fachlichen Diskurs um organisierte Rituelle Gewalt transparenter und für die breite Masse verständlich zu kommunizieren. Dann würde das Bistum Münster beispielsweise nicht behaupten können, es gäbe keine Beweise für diese Form der Gewalt und eine Kontroverse, die sich um die Realität der Gewalt dreht, um die Beratungsstelle für Opfer von organisierter und Ritueller Gewalt zu schließen. Das Bistum hätte sein, für die katholische Kirche nun wirklich nicht mehr überraschendes, Desinteresse an der Hilfe für Gewaltopfer auf andere Art begründen müssen. Schade, das wird jetzt wieder einmal verdeckt. Von dem Medienzirkus, den Leute machen, die sich vorgeblich für die Opfer, die Wahrheit, die wirklich nötige Hilfe einsetzen. Was doch bemerkenswert ist.

Der Spiegel präsentiert sich derweil als „aufdeckend“. Was aufdeckend? Das bleibt mehr oder weniger im Dunkeln, denn es gibt ja nichts weiter aufzudecken als eine Erzählung, die der breiten Öffentlichkeit als moderne Gruselgeschichte des christlich fundamentalistischen US-Amerikas bekannt ist. Und zwar so bekannt, dass sie ein Meme ist. Ein Witz. Ein Theme.
Perfekt, um Gewalt lächerlich zu machen. Religiosität jeder Art, mit Dummheit, Wissenschaftsfeindlichkeit und Machtwillen, wo beides nicht zutrifft, zu erklären.

Und ebenfalls ganz fantastisch dazu geeignet, Gewaltdarstellung zu verkaufen. Weil – bisschen gruselig ist die Vorstellung ja schon. Kickt halt doch irgendwie. Und wer daran interessiert ist, möglichst lange, möglichst viel, möglichst immer brutaleres Material zu produzieren, kommt, seit es das Internet für alle, große Speicherkapazitäten und easy Access für wenig Geld fast überall auf der Welt gibt, kaum um die Inszenierung der Taten herum. Das – diese „systematische Anwendung schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in Gruppierungen mit einer (schein-)ideologischen oder religiös geprägten Sinngebung oder Rechtfertigung für ihr kriminelles Handeln.“ (Definition der Aufarbeitungskommission) – ist, womit sich seit Jahrzehnten befasst wird, um den Überlebenden zu helfen. Dafür gibt es Beispiele, die auch in den ganz normalen Medien behandelt wurden und zu mehr oder weniger Anteilnahme geführt haben. Stichwort „Colonia Dignidad“ (Spiegelartikel), „die Sektenkinder“ (YouTube-Upload) aus dieser 37° Sendung, Lebensrealitäten in (Neo) Nazi-Familien siehe „kleine Germanen“ (Webseite zum Film).
Fachlich, wissenschaftlich fundiert, redet kein Mensch, der sich mit organisierter Ritueller Gewalt befasst, von satanistischen Großkulten, die die Gesellschaft infiltrieren und es ist unfassbar, wie immer wieder versucht wird, das zu unterstellen. Offenbar ausschließlich, um Gewalt(folgen)forschung und Einzelpersonen zu delegitimieren.

Wäre die Thematik eine andere, würde der Spiegelartikel als desinformierend überdeutlich sichtbar.
Es ist alles da: Pseudoexperten, Logikfehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen. „Im Wahn der Therapeuten“/„Im Teufelskreis“ ist ein PLURV -Text.
Und so sollte auch die Reaktion darauf sein.

Damit möchte ich jetzt alle ansprechen, die sich von dem ganzen Geschehen verunsichert fühlen.
Lest euch das Handbuch „Widerlegen, aber richtig“ (dt. Übersetzung des australischen „debunking handbook“ 2020) durch, bevor ihr aufklärende Texte schreibt oder in Gespräche mit Menschen geht, die Desinformationen verbreiten oder glauben.
Prüft euch und eure Argumentation darauf, ob ihr selbst in die „PLURV-Falle“ tappt, weil euch das Thema so wichtig ist oder es euch sogar selbst betrifft. In dieser Grafik von klimafakten.de könnt ihr euch anschauen, wie die „Desinformationsmaschine“ arbeitet. Auf der Webseite „sceptical science“ findet ihr noch mehr Taktiken, auf die ihr achten könnt.

Wir leben im Jahr 2023. Es gibt Fakten, es gibt Daten, es gibt eine Öffentlichkeit, die weiß, dass Kinder schwer ausgebeutet und misshandelt werden – und von der man erwarten kann, dass sie versteht, dass aus Kindern irgendwann Erwachsene werden. Gewalt ist kein gruseliges Schauertabu mehr und doch ist es offenbar noch sehr nötig, aktiv daran zu arbeiten, damit das so bleibt.
Der Spiegelartikel soll verunsichern. Er soll verwirren. Er soll ablenken.

Aber es gibt Wichtigeres zu tun.

Extrameilen

„So ist das also, wenn man so einen Anruf bekommt“, dachte ich.
Am Freitagabend hatte ich mir noch vorgestellt, wie das wohl ist, wenn am nächsten Morgen die Polizei anruft oder an unserer Tür steht.
„Guten Tag, sind sie Frau M.?“
– „Nein, Herr M. und ich sind nicht-ehelich verpartnert.“
„Oh, dann dürfen wir ihnen keine Auskunft geben.“
Und ich müsste umständlich über meine Betreuerin erstreiten zu erfahren, dass er im Schneetreiben von der Fahrbahn ab und in eine Leitplanke reingekommen ist. Und dabei schwer verletzt oder getötet wurde. Wie würde es mir dann gehen? Was würde ich dann machen? Was müsste ich dann machen? Mit einem Blick über die Zettellage von der Lebenssortage des Partners dachte ich, dass ich mir wenigstens darüber keine Sorgen machen müsste. Testament, Beerdigung, Versicherungen und bliblablö, das ist alles in trockenen Tüchern, die ich im Fall des Falls vollweinen dürfte.
Aber wie würde es mir dann gehen? Würde ich reagieren wie er, als er hörte, dass sein Vater gestorben ist? Nickend weinen, mich zusammenziehen und in Tränen auseinanderfallen? Würde ich überhaupt verstehen? Was, wenn ich, wie damals vor knapp 20 Jahren, dauerhaft nicht sprechen kann? Was, wenn ich nur Angst fühle, weil ich Trauer noch nicht gelernt habe?

Dann saß ich gestern bei meiner Freundin im Büro, besprach die populistische Kackesuppe im Spiegel und die Shitshow, die ihr folgt. Fühlte ab und an nach, ob die Stelle, wo keine Stunde vorher die harten Wundnahtfäden waren, noch blutete. Und mein Partner rief an, um mir zu sagen, was ich nie hören wollte: „Ich hab Covid.“

Seit drei Jahren haben wir das in unseren Alltag eingebettet. Das Wissen, dass es ihn nicht erwischen darf, weil er eine Autoimmunerkrankung hat, die unter anderem seine Lunge betrifft. Eine Autoimmunerkrankung, die es selten gibt und noch seltener in der Form, die er hat. Wir haben immer alles gemacht, um uns nicht anzustecken. Immer, immer, immer. Ich habe nie die Abkürzung genommen – „Ach komm, schnell mal die Maske lupfen, um was zu trinken/zu essen/für alle gut hörbar im Raum zu sprechen.“, die Maske vorne anfassen, die Maske mehrfach verwenden, mich von Blicken, Sprüchen, Pseudowissen und Halbwahrheiten schuckig machen lassen und gar nicht erst eine aufsetzen.
Ich habe meine Kollektivis in den vergangenen drei Jahren fünf oder sechs Mal getroffen. Im Hochsommer. Draußen. Getestet. Mit Maske, wenn Zweifel waren.
Jeder Außentermin, jede Reise war sehr gut vorbereitet. Immer getestet, immer maskiert, wo es nötig war. Immer sind wir diese teure, und vor allem im letzten halben Jahr oft auch herablassend belächelte Extrameile gelaufen.

„Ist es jetzt also soweit?“, dachte ich abends im Bett, die Hunde wie eine Flauschbastion an meinem Körper entlang liegend. „Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Sollte ich mich anstecken, damit ich wenigstens ohne Tüddelüt bei ihm sein kann, wenn es ihm nicht gut geht? Was, wenn er nicht aushalten kann, dass ich mich um ihn kümmere? Kann ich das verpacken? Was, wenn er über Nacht erstickt und ich finde ihn? Was, wenn wir die letzten drei Jahre mit diesem ganzen Extrashit verbracht haben, aber uns eigentlich hätten noch mehr lieben müssen? Noch mehr ineinander verflechten, miteinander verwachsen müssen?“
NakNak*, deren Demenz nun nicht mehr zu übersehen ist, hob zum tausendsten Mal an dem Abend den Kopf, um ins Leere zu starren und den Versuch zu machen, ihren arthritischen Körper aufzurichten. Die nächste Konfrontation mit Sterblichkeit. Die nächste Erinnerung daran, dass es keine Extrameile um den Tod herum gibt.

Eine lange schwierige Nacht später bin ich auch positiv.
Meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann ich in der Praxis abholen. Die ist 14 km von hier. Ich habe Fieber und dicht unter der Oberfläche brodelnde Kinderinnens, wegen des triggernden Druckgefühls in der Brust und der Lage im Mund-Rachenbereich. Einen Scheiß werde ich irgendwo, irgendwas abholen.
Ich habe gerade ganz andere Extrameilen vor mir.

und langsam auch Freude

Am Mittwoch war das Paket angekommen. Die ersten Rezensionsexemplare meines Buches. Kurzer Schnack mit „unserem“ Postboten, Werbung auf den Küchentisch, hoch ins Büro. Die Hunde hoben ihre Köpfe, beobachteten mich beim Öffnen.

Ich hatte mich enorm unter Druck gesetzt. Wollte, dass sie am Montag ankommen, damit ich sie sofort an die Menschen weiterschicken kann, die eine Rezension schreiben möchten. Obwohl ich am Montagmorgen noch voller Dormicum von der kleinen Kiefer-Op war. Dem Montag nach dem 4 Tage-Trip nach München, bei dem ich meine Arbeit vor und nach der Veranstaltung machte.
Drei Tage warten zu müssen, hat mich umgetrieben. Meine Pufferzeit für eventuelle Eventualitäten fies zusammengeschrumpft. Denn natürlich ist die ganze Buchsache von allen möglichen Katastrophen bedroht. Druckfehler, Satzfehler, inhaltliche Fehler, Produktionsmängel … jemandem könnte auffallen, dass ich das aufgeschrieben habe und mich deshalb beschämen, abwerten, hassen …

Dabei ist das alles Lauf der Dinge und ich hätte mich ausruhen können. Nichts tun. Verarbeiten. Vertrauen. Aber dann hätte ich meine Müdigkeit gespürt. Und die Kontrolle über meine Gedanken schleifen lassen. Ich hasse es, müde zu sein. Und ich hasse es, wenn meine Gedanken ohne mich weiterziehen, weil ich weiß, dass ich sie nur selten wiederfinde.

Mein Buch in den Händen begriff ich, dass ich noch etwas hasse: Den Umstand, nie on track zu sein mit der Kommunikation meiner Gedanken. Dass da immer etwas fehlt. Etwas nicht mit erwähnt ist. Ich irgendein Detail zurückhalten muss, weil etwas anderes mehr Raum braucht oder erfahrungsgemäß mehr Aufmerksamkeit bindet. Schön blöd, dann Bücher zu schreiben. Kleiner, beengter und umständlicher geht es heute eigentlich nur noch im direkten Gespräch.

Dann bemerkte ich das Pochen im Hals, das sich zu meiner Wunde im Oberkiefer hochwand und mein Zittern. Freudestahlender Egostolz war das nicht. Aber gleichzeitige Aufregung und Erleichterung. Und dem folgend natürlich: Angst.
Klar. When in doubt …

Ich lenkte mich damit ab, ein Foto zu machen und es bei Instagram zu teilen. Es wurde das erfolgreichste Bild seit meinem ersten Maskenselfie und damit nicht wirklich so richtig ganz hilfreich gegen die Angstgefühle.
Was geholfen hat, war wie immer: Banalität.
Das Lektorat mit Deadline bei der Arbeit, die Hunderunde im Modder von Niedersachsen, die Projektbaustellen von „Viele Stimmen“, die Doppelfolge „Viele Leben“ im April. Der Abwasch, die Wäsche, die halbe Stunde zwischen Pantoprazol und Ibuprofen. Die Tatsache, dass es nur ein Buch ist. 144 Seiten, die niemand braucht, aber vielleicht manche wollen. Nichts weiter.

Inzwischen habe ich eine Örtlichkeit in Bielefeld gefunden, wo ich lesen werde. Im Mai. Mehr dazu bald.
Jetzt kommt langsam auch Freude auf. Dass es geschafft ist. Der Pflichtteil. Und dass es ab jetzt vor allem Spaß machen und insgesamt auch etwas für mich sein darf.

Worum es geht“ erscheint am 15. März.
Ihr könnt es im analogen Buchhandel oder im Onlineshop des veganen Kollektivs „roots of compassion“ vorbestellen.

Wer eine Rezension schreiben möchte, kann sich bei mir melden und bekommt ein Exemplar zugeschickt.

die interne Fachveranstaltung

Nun gab es also eine interne Fachveranstaltung. Wir fuhren nach München, trafen uns und sprachen zwei Tage miteinander.
Die Absage wurde nicht diskutiert, die Zeit lieber für konstruktiven Austausch genutzt.

Ich habe mich oft an meine Arbeit erinnert gefühlt. Das Plenum, das Ringen um den roten, den gelben und den eigenen Faden. Das stetige Mit- und Ausschwingen, was ist wichtig und was erscheint nur so. Der Wunsch nach Harmonie, Einigkeit und Verbundenheit, der sich an Vorbehalten, Unsicherheiten und kritischen Positionen vorbeischiebt und das Vorwärtskommen zu einem zuweilen belastend langsamen Prozess macht.
Doch es hat mich auch gefreut. Sehr sogar, denn so finde ich, muss es weitergehen. Plenum, Arbeitsgruppen, Plenum, Ergebnisse mit.teilen, vertreten und weiter zum nächsten Plenum.

Ich glaube nicht, dass es hilft, einander in Gruppen und Grüppchen über den deutschen Sprachraum verstreut zu kennen, aber nicht regelmäßig auch zu kontaktieren und interagieren. Gruppen und Grüppchen, die aus Gründen geschlossen und deshalb argwöhnisch betrachtbar sind. Es ist nicht nachhaltig, einander nur auf Tagungen und Konferenzen zu treffen und ein einigermaßen halbgares „Weiter so!“ zuzustecken. Vor allem, wenn wir Kritikpunkte haben. Haltungen nicht nachvollziehen können. Un- oder Halbwissen erkennen. Gefahren sehen. Und einfach mehr voneinander wünschen und wollen. Vielleicht auch brauchen.

In den beiden Tagen habe ich mich nicht als „Konferenz-Betroffene_r“ gefühlt und das hat mir sehr gutgetan. Ich war nicht als Stellvertreter_in da und auch nicht als jemand, die_r dafür sorgt, dass „die“ „uns“ nicht vergessen. Ich wollte bestimmte Aspekte nachvollziehen können und schauen, wie ich in all dem hilfreich sein könnte. Nun bin ich zurück und frage mich, ob diese Rolle, diese Position okay so war. Hätte ich mehr von der Verwirrung, den traumareaktiven Mails an mich erzählen sollen? Doch so etwas sagen sollen wie: „Wir dürfen nicht vergessen, dass das jetzt gerade weiter passiert“? War ich zu sachbezogen und damit nicht hilfreich für die Betroffenen, die nicht eingeladen waren? Hätte ich etwas von dem diffusen Druck erzählen sollen, mit dem ich umgehe, weil ich schon so lange in der Bubble unterwegs, aber kaum so richtig wirklich und in echt hands on, jetzt machen wir was zusammen, dabei bin?

Ich hatte Gründe das nicht zu tun und rechtfertige mich auch nicht dafür. Dazu sitze ich hier einfach schon viel zu lange, viel zu allein und exponiert in der Öffentlichkeit. Meine Unabhängigkeit ist mein Privileg. Meine Stigmatisierung als zu krank, um glaubhaft zu sein, meine Freiheit. Aber um als hilfreiche_r und vertrauenswürdige_r Arbeitspartner_in gedacht zu werden, ist das nicht sonderlich hilfreich.
Und auch, um in Kontakt und kritischen Austausch mit anderen Betroffenen (die Öffentlichkeitsarbeit machen (wollen)) zu kommen, nicht.

Alles läuft immer so „fastheimlich“. Mit unfassbar langen Zähnen, mit extrem sensibilisierten Vorfühlerchen, so viel Angst vor … ja was eigentlich? Manchmal weiß ich das einfach nicht und ausgesprochen wird es nie. Auch aus Gründen vermutlich. Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur: Es ist schwierig. Und es wird nicht leichter, wenn man nicht darüber spricht.

Ich hoffe, dass wir das in Zukunft tun. Alle.
Miteinander.

k.eine Lawine

Es ist Jahre her, dass mich mein Shampoo zum Kotzen gebracht hat. Und wie lange Jahre vorbei fühlt es sich an, dass ich zuletzt unter so einer massiven Lawine von Erinnerungen begraben wurde. Vorbei ist mein eitler Höhenflug, bald wäre ich durch. Nicht mehr lange. Bald bin ich fertig mit der Therapie. In Kürze nur noch little fires everywhere und ich wie Fiona Feuerwehr kompetent und alltagsnormal am Start.
Jetzt saß ich am Fenster, mein Telefon noch in der Hand. Meine schwere Decke auf den Beinen, müde, das Nachgespräch mit meiner Therapeutin prozessierend.
Ich kam mir so dumm vor, dass ich nicht damit gerechnet habe. Das Prinzip, dass man irgendwo rüttelt und aus dem Unsichtbaren fällt etwas runter, so unbemerkt ist meine Angst davor geschrumpft.

Aber „Lawine“ ist eigentlich das falsche Wort. Das Problem mit Lawinen ist, dass sie viele wichtige Dinge begraben. Sie rollen sich aus und die Arbeit danach ist restaurativ. Man verliert Dinge, die man kennt und bekommt jede Menge Material dazu, aus dem man sie sich nicht wiederherstellen kann.
Bei Erinnerungen an Erlebnisse in meiner Kindheit ist es eher so, dass ich ganz vorsichtig an einem Stück Erinnerung zupfe und dann durch den Boden breche. Tausend Jahre falle und in einer Dimension lande, über die mir niemand etwas sagen kann. Ich kann nicht wissen, ob das echt ist, nur ob es sich echt anfühlt. Ich kann nicht wissen, wie die Abläufe sind, nur wie ich sie verstehe. Keiner meiner üblichen Maßstäbe wird meinem Erleben gerecht, die Orientierung ist praktisch unmöglich. Es geht nur vorwärts oder weg. Bis man raus hat, wie man im Übergang stehen kann. Wenn es einen Übergang gibt.

Und dann das Material. Ich kann nichts damit anfangen. Vielleicht kam ich deshalb auf das Bild der Lawine.
Eine Bemerkung der Therapeutin war, dass niemand von uns Mitgefühl mit ihnen hat. Ihnen, Kindern, die wir nicht wie Kinder erleben, nicht wie Kinder fühlen, nicht wie Kinder denken. Die sie aber als Kinder identifiziert. Das ist die schwierige Ebene. Ich habe Erinnerungen bekommen. In Form von Traumascheißekonfetti. Wild umherwirbelnd, verwirrend in seiner Mischung der Emotionen, Impulse und Gedanken_reste_stücke_anfänge. Das ist etwas, was diese so eingeordneten Kinderinnens betrifft, aber nicht sie selbst sind. Das ist etwas, was ich wahrnehme, aber nicht ich bin.
Identität vs. Erfahrungshintergrund. Hat beides miteinander zu tun, ist aber nicht das Gleiche. Mitgefühl erfordert ein Miteinander, in dem man einander fühlt und das ist nicht da. Auch jetzt nicht. Ich kann die Gefühle nicht benennen und einordnen, ich kann die Gedankenfitzel nicht sinnig mit dem Erlebnis verbinden, fühle mich elend, verlassen und hilflos, wenn ich versuche Ordnung hineinzubringen und es nicht schaffe. Fühle mich von der Therapeutin abhängig, wenn ich denke, dass ich das lieber nur noch versuchen will, wenn sie dabei ist. Bekomme Angst während der Überlegung, wie ich das in einer Therapiestunde machen will, wenn sie immer wieder Fokus auf die Kinderinnens legt, während ich versuche deren Erinnerungen zu etwas zu ordnen, das Sinn ergibt und Bedeutung hat. Beides ist wichtig, ich weiß. Aber gleichzeitig? Das ist zu viel.

Zum Glück war es keine Lawine. Mein Alltag läuft weiter, praktisch unberührt von all dem. Manchmal flackert eine Geräuscherinnerung bis zu mir. Manchmal ein Bild. In der nächsten Zeit benutze ich wieder festes Shampoo. Mein nächster Therapietermin ist in 3 Wochen.
Vielleicht ist es eher eine Welle gewesen.

Schmerzfamilie

Ich habe mir einen Vortrag zum Zusammenhang von Schmerz und Trauma im Kontext von Traumafolgen angesehen.*
Neben mehr Ansätzen zur Erklärung meiner Schmerzen ging ich mit dem neuen Wort „Schmerzfamilien“. Damit sind Familien gemeint, in denen Schmerzen das einzige oder das effektivste Mittel der Kommunikation sind. Statt Dinge auszusprechen, haben einzelne oder auch alle Familienmitglieder unterschiedlich gelagerte Schmerzproblematiken und entwickeln mehr oder weniger effektive Strategien des Umgangs und der Ver_Bindung.

Ein jugendliches Innen reagierte auf meine Erklärung des Wortes: „Dann war meine Familie voll die Unschmerzfamilie, haha.“ Eine kleine Erinnerungsblase öffnete sich erneut für mich, etwas erweitert durch die Verbindung zu der Jugendlichen. Meine Mutter, wie sie sich vor Schmerzen in der Küche krümmt. Die Hände um den Bauch, schwer atmend, über ihr stechend brizzelndes Essen in der Pfanne. Ihr Kopf ohne Gesicht, die Anspannung im Raum, Zeitlupe und Lichtgeschwindigkeit. Das Innen im Heute neben mir sagt: „Sieht aus wie in „Alien“, ne?“
Ich gehe weiter. Sehe, wie die Mutter sich aufrichtet, wegdreht, die Pfanne schüttelt. Mich, die_r immer noch starr im Türrahmen steht, zur Seite schiebt und meinen Schmerz der Berührung genauso ignoriert wie ihren eigenen keine fünf Minuten vorher. Da ist die Verbindung zum Innen schon wieder weg.

Im Nachdenken über meine Schmerzwahrnehmung und Einordnung tauchten weitere Blasen auf. Wie ich in meinen Führerschein von der Legoland-Fahrschule unter „Überempfindlichkeiten“ „Schmerz (Weh-Wehchen)“ schreibe und es absolut ernst meine.
Wie stolz ich bin, meine Selbstverletzung zu schaffen, um mich anschließend mit Grund zu verbinden. Mit wie viel, ja, euphorischer Freude ich mich gegen Wände werfe, meinen Kopf anschlage, mich vom höchsten Punkt des Klettergerüsts fallen lasse, weil es sich so gut, so körperhaft – und eben nicht schmerzhaft – anfühlt. Obwohl ich doch so überempfindlich bin. Wenn mich jemand ganz ~“normal“~ berührt, einfach mal anspricht, ich mich an- oder ausziehe, wasche oder die Kleidung wechsle.

Was ich nach dem Vortrag denke ist, dass mein Körper einerseits gelernt hat, dass es von Vorteil ist, so schnell wie möglich zu erfahren, wann es potenziell gefährlich für ihn wird. Er ist sehr sensibilisiert und leitet alles schneller weiter, um entsprechend schneller in die Selbstschutzkaskade gehen zu können.
Andererseits kann mein Körper auch nur mit dem Input umgehen, der bei ihm als Schmerz ankommt bzw. von ihm als Schmerz erkannt wird. Entsprechend begreife ich einfach nur selten und wenn dann stark verzögert Verspannungsschmerzen oder so Dinge wie schmerzende, weil entzündete Organe. Aber lande praktisch sofort in – ich weiß, dass das übertrieben klingt, aber so ist es für mich – schlimmen Schmerzzuständen, wenn es sensorische Ausreißer in der üblichen Alltagskakophonie gibt. Ich also unerwartet angefasst oder angesprochen oder mit lauten Geräuschen (Sirenen, Klingeln, z. T. das Tuten beim Telefonieren) konfrontiert werde.

Irgendwie bin ich sowohl überempfindlich als auch unterempfindlich. Schon im Normalzustand. Kommt Stress dazu, verstärkt sich alles und löst dissoziative Mechanismen aus. Und wird unterscheidbar. Für mich jedenfalls. Ertauben, betäubt sein, ist sehr anders für mich als unempfindlich sein. Dissoziation verändert die Wahrnehmung, die man üblicherweise hat.
Ich habe gelernt, dass meine Wahrnehmung nicht richtig ist. Und ich kann an dieser Stelle nicht sagen: „Weil die Täter_innen das so wollten.“ Ich will es auch nicht. Denn viel häufiger war ich in meinem Leben mit einer ganz normalen, ganz alltagsgewaltvollen Abwehr meiner Empfindlichkeiten konfrontiert. Ganz üblich hat mir die Schulglocke den Schädel zersägt. Voll normal haben mir die Sockennähte die Zehen aufgeschnitten. Easypeasy mit Lächeln im Steingesicht habe ich mich jahrelang durch Händeschütteln, Freundschaftsumarmungen und mein ganz eigenes Desensibilisierungstraining gequält. Immer mit dem Gedanken: Irgendwann werde ich mich daran gewöhnen, dass es sich anfühlt, als würde meine Haut aufreißen. Weil ich nicht wusste, weil niemand in meinem Leben wusste, dass es bei den meisten Menschen anders ist als bei mir.

Bisschen paradox vielleicht – ich wollte gerade schreiben, dass die Gewalt an mir eigentlich immer eher die dankenswerte Ausnahme-Schmerzerfahrung war. Weil der Schmerz in diesen Situationen von allen Beteiligten erwartet war. Aber naja, „dankenswert“, hm. Das macht es irgendwie noch trauriger und schlimmer alles. Hm, hm, hm.

Jedenfalls.
Ich gehe auch mit dem Gefühl aus dem Vortrag, dass ich mit dem Schwimmen als Ausgleich und den Radtouren im Sommer tue, was sich therapeutisch an der Front anbietet. Defokussierung üben, andere Körpergefühle kennenlernen, die Schmerzerwartung aktiv reflektieren und beobachten, was passiert. Sich immer wieder darin verwurzeln, dass jetzt darauf reagiert wird und gut tuende Umgänge probiert werden können. Heute darf es sich auch gut anfühlen – es gibt einen Raum über „Schmerz“ und „Geht“ hinaus. Wir können ihn erforschen.
Und verteidigen. Gegen die Schmerzerwartungen anderer Menschen.

* der Vortrag wurde vom THZ München angeboten und ist Teil eines kontinuierlichen Angebotes – reinschauen lohnt!

der Text zur Debatte nach der Absage des Kongresses in München

Wir kommen aus Zeiten, in denen „das Schweigen der Opfer“ als gegeben hingenommen wurde. So sehr, dass man sich als Person, die zum Opfer geworden ist, zuweilen verpflichtet fühlte, außerhalb bestimmter Räume zu schweigen, um als Opfer an.erkannt zu werden und eine („richtige“) Stimme verliehen zu bekommen. Von Fürstreiter_innen, Stellvertreter_innen … Menschen, die sich einsetzen und ein Schweigen brechen, das über sie selbst hinaus geht. Menschen, die gehört werden, weil sie einen bestimmten Status haben und damit bestimmte Positionen vertreten können, die es ihnen erleichtern, bestimmte Interessen durchzusetzen. Formal vielleicht unabhängig von eigener Opferschaft, eigener Betroffenheit, persönlicher Involviertheit – rein praktisch aber nicht. Denn Opferschaft schwächt. Immer, alles. Auch politische Positionen, politisches Gewicht, soziale Macht. Entsprechend wichtig ist, dass Stellvertreter_innen selbst nicht als Opfer sichtbar werden und ihr soziales Kapital teilen – in diesem Fall also den Menschen, die zu Opfern wurden, Raum verschaffen, in dem sie gehört werden und ihre Forderungen ausdrücken können.

Im Kontext organisierter Ritueller Gewalt gab es diese Stellvertreter_innen lange nur bedingt. Behandler_innen haben sich zusammengetan. Auf Konferenzen und Tagungen gesprochen. Es gab Veranstaltungen, zu denen auch Überlebende kamen, manche konnten auch mal was sagen. Zeitung und Fernsehen haben sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder mal der Thematik gewidmet. Mal mit einer Spurensuche, mal ganz nah am Innen_Leben einer Person, die sich als Viele erlebt und Rituelle Gewalt als Ursache beschreibt, aber regelmäßig auch mit Beiträgen, die die Existenz Ritueller Gewalt anzweifeln und das Schweigen der Opfer zu einer Waffe machen.
Raum wurde also gegeben. Wenig, sehr wenig, und auch nie bedingungslos, barrierearm und wirklich frei, aber im Hinblick darauf, dass diese Räume überhaupt erst einmal geschaffen und durchgesetzt und etabliert werden mussten, ist es nur bedingt fair, daran große Kritik zu üben. Zumal sich Betroffene auch gewissermaßen öffentlich zusammengetan haben. In Foren, Selbsthilfezeitschriften, Facebookgruppen, Mailinglisten. Oft exklusiv. Anonymisiert. Aber nicht versteckt. Nie still_schweigend.

Und heute ist es vergleichsweise einfach, sich den Raum selbst zu nehmen geben. Ein Instagramprofil reicht aus. Eine Googlemailadresse. Ein Blog, ein Podcast. Es war noch nie zuvor möglich, gleichzeitig so privat und öffentlich zu sein, mit einem Thema. Man hat es dadurch leichter, sich zu positionieren und eigene Interessen zu verfolgen. Schöne Sache eigentlich. Verbindend auch. Viele erleben sich zum ersten Mal verbunden und gestärkt durch die Vielzahl von Menschen, denen es ähnlich geht wie ihnen.
Das trifft auf Gewaltüberlebende zu wie auf Menschen mit anderen Über_Lebensgeschichten. Gewaltüberlebenden gönnt man das aber vielleicht eher als Leuten, die leichteres Gepäck haben. Und Gewaltüberlebenden wird oft auch nur dieses Interesse unterstellt zugetraut: Schweigen brechen. Für die Gerechtigkeit. Die Rache. Der mal mehr, mal weniger diffuse Gedanke an Prävention.
Gibt es Zweifel an der Über_Lebensgeschichte kippt das Ganze in die Unterstellung, Lärm um nichts zu machen, eine Rampensau zu sein, soziale Bestätigung mit Zuneigung zu verwechseln – oder auch: davon zu profitieren, für ein Opfer gehalten zu werden.

In diesen Dynamiken bewegt sich der Diskurs zu Gewalt und ihren Folgen nach wie vor am meisten. Zumindest aus meiner Perspektive.
Es wird viel geschwiegen, um nicht als Lügner_in wahrgenommen zu werden und es wird viel darüber gesprochen, wen man warum für wie glaubwürdig hält und von welchem Ausmaß, welchen Formen und welchen Verstrickungen in gewaltvolle Kontexte man denn nun aber jetzt mal wirklich richtig und echt – LIKE ACTUALLY!!! – ausgehen kann. Bevor man sich irgendwie involviert. Bevor man an Strukturen herumschraubt. Oder sich umfassend informiert. Meinung und Gefühl mit Fakten ergänzt. Glauben schenkt.
Immer wieder werden die Interessen der Betroffenen, die sich aus Grundbedürfnissen ergeben, den strukturgewordenen Interessen, die sich aus sozialen Positionen ergeben (die irgendwann am Ende der Kette etwas mit Grundbedürfnissen zu tun haben) gegenübergestellt. Deshalb sehen wir – wenn wir denn mal Opfer mit eigener Stimme sehen – tendenziell eher Opfer, die (erfolgreich) angezeigt haben, deren Täter_innen(netzwerke) bekannt, verstorben oder im Gefängnis sind. Die „guten Opfer“ sozusagen. Vielleicht auch krank oder behindert durch die Gewalt, vielleicht sogar mal nicht deutsch und weiß, aber eben doch überwiegend Überlebende, die sich vor.bildlich verhalten haben. Die ordnende ordentliche Befragungen haben über sich ergehen lassen, die sich von jeder Behörden- und begutachtenden Person haben anzweifeln lassen, die materialistische Beweise haben anbringen können.

Die „schlechten Opfer“ sind die, die als lügend oder psychisch zerstört und also als unwert eingeordnet werden können. Weil sie dieser Systematik, die es nur gibt, um die sozialen Interessen unserer Gesellschaft zu sichern, nicht entsprechend handeln. Können. Wollen. Sie sind zu kaputt, zu schwer und/oder auf eine Art geschädigt, für die das bestehende System keine andere Verwaltungsoption hat als den Dropout. Den Ausschluss und damit die Diskriminierung.
Man muss sich das klarmachen. Es gibt die Justiz oder irgendwelche anderen Behördenstrukturen nicht, damit alle in unserem Land gut versorgt sind und alles haben, was sie brauchen, um ein gutes Leben zu führen. Es geht um Recht und Ordnung. Das schließt das Recht auf vieles ein – es gibt aber kein Recht auf ein gutes, rundum versorgtes Leben. Es wird primär die Existenz gesichert. Wie die aussieht und ob das fair ist, ist sekundär. Antragssache mit Ermessensspielräumen, die pervers und abstoßend sind, wenn man sich das mal genauer überlegt.

Es geht darum, dass niemand unbe.recht.igt ermächtigt wird. Denn Macht geht immer auch mit der Möglichkeit zu schaden einher. Es geht also – ganz grob heruntergebrochen – um einen Verteilungsvorgang, der von vornherein erfordert, dass man gewissen Normen folgen kann. Auch denen, die an Opfer von Gewalt angelegt werden. Und wie immer gibt es Menschen, die durchrutschen. Wer nicht kann, hat Pech. Es gibt keinen doppelten Boden in diesem System. Wer durchrutscht, ist auf das soziale Kapitel angewiesen, das außerhalb dieses Systems generierbar ist. Freund_innen, Familie, Fans und Follows. Mit genug Freund_innen und Fans kann man auch Recht bekommen und sich ähnlich frei und versorgt bewegen, wie jemand, die_r Recht hat. Vor allem, wenn unter diesen Freund_innen und Fans „die richtigen“ sind.
Das ist der Grund, weshalb die Einen immer Frau Benecke, die im Fernsehen viel Bühne bekommt, zitieren und sich ihr anbiedern und die Anderen an Frau Huber und andere Behandler_innen, die in der psychotherapeutischen Fachwelt (und ebenfalls in den Medien) viel Raum bekommen.

Die Wahrheit der Masse ist nicht die Wahrheit, aber Macht. Wahrheit ist Machtsache. Entsprechend ist Macht, worum die ganze Geschichte um die Abwehr der Anerkennung von organisierter Ritueller Gewalt, DIS als komplexe Traumafolge, Opferschaft als sozialer Status und die Verantwortung des Staates sie zu ver.teilen geht.
Es geht nicht um die Personen, die Stellvertreter_innen hinter denen man sich versammelt, weil sie „die richtigen Sachen“ sagen, die „die Wahrheit ans Licht bringen“ und „aufklären, damit sich etwas zum Guten verändert“. Es geht darum, dass allein mächtige Menschen über die Lebensrealitäten ohnmächtiger Menschen entscheiden und zusätzlich noch definieren (wollen/dürfen), wer denn nun wirklich und wahrhaft ohnmächtig ist.

Es geht um falsche Vorstellungen von Opferschaft und die Er_Lebensrealitäten von Menschen in organisierten, extrem kontrollierenden, ideologisch indoktrinierenden Umfeldern – genauso wie es um falsche Vorstellungen von Täter_innenschaft, Hilfe und Macht durch Wissen(schaft) geht. Beide Fronten, die im Zuge der letzten Aufregung um die Dokumentation in der Schweiz und die Absage des Kongresses in München sehr deutlich wurden, sprechen sich öffentlich als „für die Opfer“ aus. Und verlassen sich beide auf Konstanten, die es so nicht mehr gibt: Unwissen über die Gewalt und ihre Aus_Wirkungen, Unwissen in der Justiz, den Faktor „Seltenheit“ sowie letztlich auch das Schweigen der Opfer.

Hört man zum Beispiel der Vorsitzenden von False Memory Deutschland e. V. in diesem Radiofeature (Link zur WDR-Mediathek) zu, könnte man meinen, wir leben weiterhin in den 80er Jahren. Als hätte es keinerlei Fortschritt in Psychologie, Medizin und Justiz gegeben.
Das Gleiche könnte man aber auch denken, wenn man die_n eine_n oder andere_n Psycholog_in oder Überlebende_n mitkriegt, die_r auf der eigenen Plattform immer noch dafür trommelt, dass man doch endlich glauben solle, schließlich seien SIE überall und immer und die Arbeit damit begründet, dass ja immer noch niemand wirklich Bescheid wüsste. Als wäre Glauben alles, was es braucht, um zu wissen.

Ich kann nur über die Interessen dieser Fronten spekulieren. Ziemlich sicher bin ich mir darüber, dass „für die Opfer zu sein“ nicht das tatsächliche Interesse ist.
Wer „für die Opfer ist“, braucht die Opfer als aktive, handlungsfähige, ermächtige Stimmen und Akteur_innen in eigener Sache und nicht in einer untergeordneten Position, die die eigene Argumentation stützt. Wie ein Objekt. Ein seelenloser Fakt, beliebig einsetzbar, um Aussagen zu verstärken oder zu belegen.
Wer sich für Opfer einsetzt, spendet für ihre Selbsthilfegruppen, ihre Aufklärungsprojekte, verbündet sich mit ihnen auf Augenhöhe und gleicht sich mit ihnen ab. Behandelt sie wie gleichwertige Gegenüber und kritisiert sie also auch mal. Weißt auf Fehler und Fehlschlüsse hin. Verlangt Fakten statt Glauben und anekdotischer Evidenz. Schweigt nicht über eigene Gewalterfahrungen und ihre Folgen.

Ich sehe auf beiden Seiten einen Kampf um soziale Positionen und den Versuch, die jeweils andere Position zu schwächen. Während die Folgen dieses Kampfes von Betroffenen thematisiert werden. Angst, Sorge, existenzielle Bedrohungsgefühle.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücken, dass ich mich als Opfer ausgenutzt fühle in diesem Gerangel. Angelogen und ausgenutzt. Einmal mehr auch schmerzhaft daran erinnert, dass wir an diesem Punkt tatsächlich einfach noch nicht weitergekommen sind: Die Anerkennung von (schwer kranken, behinderten) Opfern als Menschen in einer sozialen Position der Schwäche und Unwertigkeit, die mehr oder weniger absichtlich immer wieder hergestellt wird. Man muss sich klarmachen, dass Behandler_innen, die das Kreuz „für uns“ breit gemacht haben, uns immer krank und völlig zerstört gebraucht haben – genauso wie die Menschen, die, um „die echten Opfer“ zu schützen, umfassend vor „falschen Erinnerungen“ und schlechten Traumatherapeut_innen warnen. Unser Leid ist ihr Argument. Deshalb darf es nicht enden. Es muss so lange neue Opfer geben, bis eine Seite Recht und also die Wahrheit zugesprochen bekommt.
Wer auch immer das jemals zusprechen können sollte.
Diese Frage ist für mich nach wie vor offen in dem Interessenkonflikt. Wer soll durchsetzen, wer Recht hat? Und wie wird dieses Recht dann durchgesetzt? Was für Folgen wird es haben? Wessen Machtgewinn ist tatsächlich ein Gewinn für die Opfer? Die „guten“ wie die „schlechten“.

In der Schweiz hat die Fernsehserie um den auslösenden Fall bereits Folgen für Menschen mit DIS. Auch für die „guten Opfer“ mit DIS. Sie haben nämlich nun einen Behandlungsplatz weniger und eine Debatte darüber, was Behandler_innen glauben dürfen, um als „gute Behandler_innen“ zu gelten. Sie haben keine Debatte darüber, was Menschen, die von schlechten Behandler_innen indoktriniert wurden, brauchen. Wie sie entschädigt werden. Wo sie welche auf welchen Überzeugungen und Fakten basierende Hilfe erhalten. Sie haben, soweit ich das weiß, auch keine Fachdebatte darüber, wie professionelle Abstinenz von Behandler_innen und Verschwörungs_Glaube zusammengehen – oder wie man denn fachlich fundiert feststellen will, ob jemand aufgrund persönlicher Weltbilder oder (pseudo-) religiöser, esoterischer oder anderer (fundamentalistischer) Überzeugungen nicht geeignet für den Beruf ist. Man hat aus meiner Perspektive bisher mehr Menschen geschadet als geholfen. Und zwar nicht – und das will ich hier ganz klar verstanden wissen – weil man gegen jemanden vorgegangen ist, dem vorgeworfen wurde, er hätte jemandem etwas Falsches eingeredet, sondern weil man das ohne jede Rücksicht auf die Sachlage und die Realitäten vieler Menschen getan hat, denen das nie passiert ist – und die das nie getan haben.

Es ist dieses umfassend grobe Handeln und hinzukommend die reaktive Vereinnahmung des Falles für die eigene Argumentation gegen die Anerkennung organisierter Ritueller Gewalt im Rahmen satanistischer Indoktrination, die natürlich Auswirkungen hat und Reaktionen provoziert. Selbstverständlich. Es wäre dumm, nicht darauf zu reagieren. Es ist sinnvoll und klug, sich selbst zu reflektieren nach so einem Fall. Wer sich sachlich, fachlich und auch persönlich richtig mit dieser Thematik befassen und am Ende tatsächlich etwas für die Üb.erlebenden erreichen will, prüft sich auf Fehler. Kritisiert sich selbst, verbessert sich, prüft sich bis in die Tiefe. Schaut sich an: Mit wem ist welche Zusammenarbeit sinnvoll und mit wem (erst einmal) nicht? Nimmt übernommene Verantwortungen ernst und gibt sie wieder zurück, wenn sie nicht (mehr) 100 % sicher getragen werden kann.
Meiner Ansicht nach ist die Absage des Münchener Kongresses daher nur richtig und gut. Die Kommunikation hätte besser laufen können, ist aber sekundär in dieser Situation. Man muss sich immer erst ein Mal auf sich konzentrieren, für soziales Lieblieb und Beschwichtigen und Versichern nach Außen ist später noch Zeit. Genug Zeit. Unfassbar viel genug Zeit, denn es wird immer wieder vorkommen, dass so etwas passiert.
Es ist nicht das Ende der Welt. Es ist kein umfassender „Sieg der Bösen über das Gute“ oder überhaupt irgendeine Aussage über die Realität organisierter Ritueller Gewalt.
So sieht es aus, wenn jemand die eigenen Interessen mit dem eigenen Handeln abgleicht und selbstsichernd handelt. So sieht es aus, wenn jemand reagiert, um handlungsfähig zu bleiben. Konzentration auf die Basis, Überprüfen der Ressourcen, Bündelung der Kräfte, selbst_versichert weitergehen.

Das ist das Verhalten, das es braucht in dieser Auseinandersetzung, um die Dynamik ums Rechthaben und Wahrheiten „ermachten“ aufzulösen. In diesem Sinne ist mein Verständnis für hoch emotionalisierende Aufrufe in die Öffentlichkeit gering und geht nicht wirklich über die Anerkennung der großen Gefühle hinaus. Sie sind da, ja, es schlimm, dass jetzt viele Betroffene (wieder) Angst haben – aber ich persönlich finde viel schlimmer, dass diese Ängste eine Berechtigung haben, weil der Normalzustand bereits von Unterversorgung und viel Leid geprägt ist und sich daran auch in nächster Zeit nichts ändern wird – egal, ob diese Überlebenden tatsächlich und echt und wahrhaft organisierte Rituelle Gewalt erlebt haben oder nur davon überzeugt (worden) sind.

Die Sachlage enthält genug Baustellen. Niemand hilft, wenn nur soziale Interessen im Fokus stehen.