Liebes Tagebuch,
ich habe zum ersten Mal echte Maikäfer gesehen.
Wir schreiben 2024 und ich dachte immer, ich würde nie welche sehen, weil man sie in den 60er-Jahren fast ausgerottet hatte. Mit diesem Wissen war mir der Wunsch ganz leicht aus der Brust gerutscht. Maikäfer, Hirschkäfer, Nashornkäfer – ich als Kind des Anbeginns vom Weltuntergang würde diese Tiere nicht mehr sehen, wie schon meine Eltern bestimmte Tier- und Pflanzenarten nicht mehr sehen konnten. Ganz einfach.
Man hat mir erklärt, das sei eben so. Artensterben gabs schon immer, das haben mir alle gesagt, die schon länger gelebt haben als ich. Artensterben, Umweltverschmutzung und Elend.
Wie lange es die Ignoranz dieser Umstände gibt, habe ich nicht herausfinden können. Für mich war das eben auch schon immer so. Für einen Funken Bequemlichkeit, für einen Moment von Leichtigkeit werden Welten zerstört und niemanden kümmerts. Nicht wirklich. Nicht aufrichtig. Nicht so, dass man sich aufrafft und sich ernsthaft etwas anderes überlegt. Und dann macht.
Nun stand ich also in meinem Garten. Einem einigermaßen aussichtslosen Stück Land, mit Zaun und zwei Hecken darum. Einem Klärteich, der möglicherweise ein Betonbecken hat. Mit Rasen, unter dem der Bauschutt und die Trümmerteile des Hausaus- und umbaus der letzten Jahrzehnte liegen. Ich habe unfassbar viel Plastikmüll und CO₂-Emission in Kauf nehmen müssen, um Beete anzulegen, unter denen sich Kleinstlebewesen bewegen und ernähren können. Damit sie von Wühlmäusen und Maulwürfen gefressen werden können. Damit sich Käfer wohlfühlen, damit Schmetterlinge, Motten und Schnaken ihre Eier ablegen. Ich lasse Brennnesseln stehen und Hahnenfuß, dieses Jahr haben wir wieder viel Storchenschnabel und zwei kleine Taubnesselinseln und blühenden Gundermann gehabt. Ich stecke wirklich viel Kraft in Überlegungen, wie ich es schön habe, ohne den Kleinsten auf diesem Planetenstück die Welt zu nehmen.
Als die Käfer dann da waren – ich entdeckte nur zufällig bei der Betrachtung unseres „Beziehungsbaums“, ein Ahorn, der sich im Sommer unseres Zusammenzugs ausgesät hatte, wie sie unter den Blättern saßen – da dachte ich kurz, es sei noch nicht alles verloren. Und spürte sofort, wie die weichen Arme der Verleugnung auf mir zum Ruhen kommen wollten. Ja, diese Geschichte könnte ich jetzt glauben. Es ist noch nicht zu spät. Wir sind noch nicht drüber. Wir können noch alles drehen. Wir können noch …
Aber „Wir“ verstehen uns noch nicht einmal als „Wir“. „Wir“ ist ein Konzept, das ohne Anwendung ist, wenn es nicht die ganze Welt meint.
Ach, liebe Zukunft, wenn du nur wüsstest, wie behäbig und unbeweglich wir in unserem Verständnis von uns selbst als Teil des Lebens auf diesem Planeten sind. Du würdest deine eigene Existenz noch mehr bewundern. Es würde dich erstaunen, dass es dich überhaupt je geben konnte.
Dass ich an dich glaube, ist heute, als sei ich religiös. Denn eigentlich habe ich keinen faktischen Hinweis darauf, dass es dich in einer Art geben wird, in der wir einander noch begegnen, einander erreichen können. Dass ich dieses Tagebuch, diese Notiz aus der prä-katastrophalen Zeit niederschreibe, ist so vergeblich wie hoffnungsvoll.
Aber ich kanns. Irgendwo steht ein Computer, der speichert den Text ab. Bei mir steht ein Regal mit all meinen Texten drin. Vielleicht habe ich Glück, vielleicht passieren Dinge, eventuell kann dieser so kräftige, so unverhinderliche Lauf der Dinge doch eine Verbindung entstehen lassen.
Wir haben noch Maikäfer im Garten, vielleicht haben wir auch noch eine gemeinsame Zukunft.
Die Hoffnung, der Glaube, stirbt zuletzt.
Das lässt sich nicht verleugnen.