orgastischer Overload

Es ist die totale Überflutung, in die ich mich hineinschmeiße, wie sonst nur ins Schwimmbad. Das ist so klar wie ebenjenes Schwimmbadwasser, aber seien wir doch ehrlich: Sonst würde ich das auch nicht machen.

Am Mittwoch eine Lesung in Dresden, am Donnerstag eine Übernachtung in fremder Umgebung bei neuen Leuten, am Freitag ein Intensivplenum bei der Arbeit, die im Moment außerordentlich anstrengend ist.
Aber, oh Adrenalin. Du süße Wunderdroge, bereitgestellt in Hülle und Fülle. Bereit mich zu betäuben, zu beflügeln und mich damit so nah an meine Vorstellung von „Normal“ zu bringen. <3 Ohne dich wäre das nicht möglich. Ohne dich wäre das alles hier ein Albtraum. Ich würde vermutlich fühlen, wie weh mir alles tut. Würde vergessen, was mein Plan ist, würde meine Ziele aufgeben, würde mich hassen, weil ich meinen eigenen Erwartungen nicht nachkommen kann.

Ich glaube, dass ich zu selten kommuniziere, wie groß meine Abhängigkeit von Stresshormonen für mein Alltagsfunktionieren ist. Und was das für Auswirkungen auf meine Gesundheit hat. Und mein soziales Umfeld. Und letztlich auch für mich. Denn natürlich ist mir klar, dass auch mein Körper nicht dafür gemacht ist. Und sowieso: Der Absturz kommt immer. Ich weiß, wie mein Wochenende wird. Und, dass ich meinen Akku, meine Energiereserven, nicht wieder aufgefüllt bekomme. Bis zur nächsten Lesung am 4. August in Lübeck (18 Uhr, Café Brazil) werde ich mich im Ladevorgang befinden. Um mich dann erneut komplett zu verausgaben. Weil ich will, weil ich kann und weil es sich einfach gut anfühlt, alles zu geben, was ich habe. Ich liebs einfach. Es ist so schön, sich nicht tot zu fühlen. Oder halbtot. Oder in Wahrheit tot, doch zwangsbelebt von Reflexen und automatisierten Skripten. Und das zusammen mit den Dingen, die mir gefallen. Die mir wichtig sind. Für die ich mich entschieden habe.
I LOVE IT!
Für diese Momente habe ich gekämpft. Die waren mir das Überleben wert und wichtig.
Dass ich sie nicht bekomme, ohne dass mein Körper in den absoluten Overdrive schaltet, dafür kann ich nichts. Glaube ich. Denn egal, wie langsam ich es angehe, wie zart und bedacht ich mit mir umgehe – der Schalter kippt irgendwann einfach.
Und warum weiter dagegen ankämpfen? Es hat keinen Sinn, setzt mir nur ein weiteres Ziel, das ich nicht erreichen kann.

Also rein da. In den gezielten Reizrausch. In das orgastische Flimmern, das mein Blut zum Glitzern bringt und eine bunte Eindruckswolke in meinem Geist hängenlässt. Heute ist heute. Es ist keine Gewaltwolke. Wenn ich später hineingreife, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wehtun. Es wird Glücksmomente rieseln, Freude regnen, mich dankbar und satt machen. Ich werde etwas von der Welt kosten und schon früh genug merken, was ich davon verdauen kann und was nicht. Das Jetzt ist eins mit Morgen drin. Ich bin nicht mehr allein. Alles ist lösbar. Und wenn nicht, dann ist das eben so. Ich kann immer suchen, wenn ich noch nichts gefunden habe.

Ich habe mich entschieden, diese Momente zu wollen und zu genießen. Gerade weil so viele andere Momente in meinem Alltag genau die gleiche Wirkung auf mich haben, dann aber schier unerträglich sind.
Diese Momente werden nicht weniger oder mehr, leichter oder einfacher, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil. Je mehr ich mich schone, desto schlimmer wird der Absturz, desto größer die Kluft zwischen der Welt und mir. Und desto sinnloser wird die Schonung, die Vermeidung selbst. Denn was soll ich denn mit einem vollen Akku, der nicht benutzt wird? Warum nie vom Vorrat essen?

Ja, ich muss aufpassen. Ja, meine Energiereserven von Dingen angefasst, die bei anderen noch nicht an die Reserven gehen. Ja, mein traumatisierter Körper hat ein ganz eigenes Energieniveau. Mein autistisches Gehirn hat eine Verdrahtung, die auch im Ruhezustand erheblich viel mehr Energie zieht, als nicht-autistische.
Aber das ist alles zu einem Zweck da: Lebendigkeit. Interaktion und Kommunikation mit der Mitwelt.
Nicht nur dann und wann, sondern immer.
Auch, so wie jetzt. Ein bisschen betäubt. ein bisschen durch, aber ganz da. Mittendrin. Im Leben.

#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.

k.eine Lawine

Es ist Jahre her, dass mich mein Shampoo zum Kotzen gebracht hat. Und wie lange Jahre vorbei fühlt es sich an, dass ich zuletzt unter so einer massiven Lawine von Erinnerungen begraben wurde. Vorbei ist mein eitler Höhenflug, bald wäre ich durch. Nicht mehr lange. Bald bin ich fertig mit der Therapie. In Kürze nur noch little fires everywhere und ich wie Fiona Feuerwehr kompetent und alltagsnormal am Start.
Jetzt saß ich am Fenster, mein Telefon noch in der Hand. Meine schwere Decke auf den Beinen, müde, das Nachgespräch mit meiner Therapeutin prozessierend.
Ich kam mir so dumm vor, dass ich nicht damit gerechnet habe. Das Prinzip, dass man irgendwo rüttelt und aus dem Unsichtbaren fällt etwas runter, so unbemerkt ist meine Angst davor geschrumpft.

Aber „Lawine“ ist eigentlich das falsche Wort. Das Problem mit Lawinen ist, dass sie viele wichtige Dinge begraben. Sie rollen sich aus und die Arbeit danach ist restaurativ. Man verliert Dinge, die man kennt und bekommt jede Menge Material dazu, aus dem man sie sich nicht wiederherstellen kann.
Bei Erinnerungen an Erlebnisse in meiner Kindheit ist es eher so, dass ich ganz vorsichtig an einem Stück Erinnerung zupfe und dann durch den Boden breche. Tausend Jahre falle und in einer Dimension lande, über die mir niemand etwas sagen kann. Ich kann nicht wissen, ob das echt ist, nur ob es sich echt anfühlt. Ich kann nicht wissen, wie die Abläufe sind, nur wie ich sie verstehe. Keiner meiner üblichen Maßstäbe wird meinem Erleben gerecht, die Orientierung ist praktisch unmöglich. Es geht nur vorwärts oder weg. Bis man raus hat, wie man im Übergang stehen kann. Wenn es einen Übergang gibt.

Und dann das Material. Ich kann nichts damit anfangen. Vielleicht kam ich deshalb auf das Bild der Lawine.
Eine Bemerkung der Therapeutin war, dass niemand von uns Mitgefühl mit ihnen hat. Ihnen, Kindern, die wir nicht wie Kinder erleben, nicht wie Kinder fühlen, nicht wie Kinder denken. Die sie aber als Kinder identifiziert. Das ist die schwierige Ebene. Ich habe Erinnerungen bekommen. In Form von Traumascheißekonfetti. Wild umherwirbelnd, verwirrend in seiner Mischung der Emotionen, Impulse und Gedanken_reste_stücke_anfänge. Das ist etwas, was diese so eingeordneten Kinderinnens betrifft, aber nicht sie selbst sind. Das ist etwas, was ich wahrnehme, aber nicht ich bin.
Identität vs. Erfahrungshintergrund. Hat beides miteinander zu tun, ist aber nicht das Gleiche. Mitgefühl erfordert ein Miteinander, in dem man einander fühlt und das ist nicht da. Auch jetzt nicht. Ich kann die Gefühle nicht benennen und einordnen, ich kann die Gedankenfitzel nicht sinnig mit dem Erlebnis verbinden, fühle mich elend, verlassen und hilflos, wenn ich versuche Ordnung hineinzubringen und es nicht schaffe. Fühle mich von der Therapeutin abhängig, wenn ich denke, dass ich das lieber nur noch versuchen will, wenn sie dabei ist. Bekomme Angst während der Überlegung, wie ich das in einer Therapiestunde machen will, wenn sie immer wieder Fokus auf die Kinderinnens legt, während ich versuche deren Erinnerungen zu etwas zu ordnen, das Sinn ergibt und Bedeutung hat. Beides ist wichtig, ich weiß. Aber gleichzeitig? Das ist zu viel.

Zum Glück war es keine Lawine. Mein Alltag läuft weiter, praktisch unberührt von all dem. Manchmal flackert eine Geräuscherinnerung bis zu mir. Manchmal ein Bild. In der nächsten Zeit benutze ich wieder festes Shampoo. Mein nächster Therapietermin ist in 3 Wochen.
Vielleicht ist es eher eine Welle gewesen.

flight

Später denke ich kurz, dass ich wie ein Kleinkind funktioniere. Irgendetwas ist schwierig, aber wenn sich mir etwas Neues zeigt, dann fühle ich mich gut. Ich sinke in diese neue Sache ein und weil ich Dinge richtig fertig haben muss, bevor ich sie beende, werden es immer mehr Dinge in meinem Leben. Und irgendwann sind „die Feiertage“ während denen die meisten meiner losen und engeren Kontakte halb oder ganz abgeschmiert sind, sich ausruhen oder in der Familie gegenseitig auf den Keks gehen und ich … arbeite. Weiter. An einem der vielen Dinge in meinem Leben.

Ich bin nicht taub für das, was in mir vorgeht. Das ist keine Betäubungsstrategie oder ein un.bewusst ausgenutzter Trigger für Alltagsdissoziation. Es geht einfach. Also mach ichs. Mit allem Spaß, allem Interesse, aller Neugier und Freude. Aller Bereicherung und Selbstbestimmung, die man sich wünschen kann. Einfach so. Immer weiter und weiter.

Gestern war ich dann endlich mit der Überarbeitung von vielesein.de fertig. Die war nötig geworden, weil meine Projekte endlich mal einen Knotenpunkt brauchten. Die Community-Workshops, die „Vielzimmerwohnung“, „Viele-Sein“ und die Interviewreihe „Viele Leben“ – mit allen Spendenoptionen und Episoden einzeln und trallalala.
Und weil ich ernst machen will. Mit meiner Positionierung als arbeitend in diesen Projekten. Auch tragend arbeitend. Relevant, in echt und tatsächlich verantwortlich für den ganzen Bumms, arbeitend. Vor meiner Arbeitszeit im Verlag und danach. Am Wochenende. Im Urlaub. Immer, wenn es geht. Wenn andere Projekte gerade keine Arbeit von mir brauchen.
Daraus ist in den letzten Monaten oft ein Obwohl geworden. Ich habe an diesen Projekten gearbeitet, obwohl ich auch zusätzlich Geld verdienen musste, um die Lektorin für mein Buch bezahlen zu können. Obwohl ich auch mein Cover, meine Werbetexte und die Anträge für Projektzuschüsse fertigkriegen musste. Das kam dann einfach danach. Mit Stressmagenschmerzen, mit Kopfschmerzen, mit nachlassender Kraft dafür, im Kontakt mit anderen Menschen auf ihre Gefühle zu achten, ihre Perspektive anzunehmen, nach ihren Wünschen zu fragen und zu prüfen, ob ich sie erfüllen kann, ohne meine Grenzen zu übergehen.

Ich hatte meinem Partner davon erzählt, dass mir Projekte gegen die Angst helfen. Immer wenn sich etwas auftut, das schwierig ist, ist es gut für mich schnell lösbare Probleme zu bearbeiten. Das verschafft mir Zeit und Selbstbewusstsein für das Problem, das mir Angst gemacht hat und oft löst es sich auch ohne mich. Nur offensiv abgrenzen musste ich mich dann nicht. Aufdecken, dass mir etwas Angst macht und damit andere verunsichern. Andere, die sich auf mich verlassen. Die darauf setzen, dass ich den Überblick habe, dass ich weiß, was zu tun ist, dass ich weiß, wann wirklich Grund zur Sorge, Furcht, Angst, Panik ist.
Niemand erfährt überhaupt davon, dass ich das alles – alles das hier, wie in meinem analogen Leben – mit so viel Angst mache und meine gesamte Funktionalität darauf beruht, dass ich, Hannah, einfach keinen „Freezemodus“ habe, sondern einen „Flightmodus“. Kein depressives Erstarren und alles aufschieben, sondern adrenalingetriebenes Machen und Verbrennen.
Das hat nichts mit „funktionalem Vielesein“ zu tun oder damit, dass meine Therapie mich schon so weit gebracht hat, dass ich jetzt endlich mehr kann als leiden oder dissen. Es hat nur mit Angst zu tun, die ich in ihrem Kern nach wie vor nicht erfasst kriege. Nicht verstehe, ja oft noch nicht einmal direkt bemerke, weil ich mich schneller vor dem Gefühl schütze, als ich es überhaupt begreife.
Im Scherz mit dem Partner entstand ein Kreisel. „Aha und was machst du, wenn dir das Angst macht?“ – „Dann arbeite ich an X“ – „Und wenn das schwer wird?“ – „Dann y.“ – „Aha und das reicht?“ – „Nein“ – „Und dann machst du was?“ – „Dann z.“ – „Ach nee komm, das kann doch nicht sein.“ – „Ja, deswegen mache ich ja dann a.“
Dann sagte er, dass ich bald damit aufhören muss. Ich stimmte zu.

Ohne eine Idee, was ich denn stattdessen tun würde.
Heute versuche ich es mal mit ein paar Stunden Sims. Und morgen auch.

’stuck in time‘

Zuletzt hatten wir es mit Innens zu tun, die an Dinge glauben, die nicht real sind. Das schreibe ich so, weil ich nicht „Blödsinn“, „Lügen“ oder „Traumawahrheiten“ sagen will, denn weder weiß ich näheres über ihre Ansichten noch bin ich mir schlüssig darüber, worum es dabei ~wirklich~ /eigentlich/ in WAHRheit geht.
Ich bin mir nur in einem sehr sicher, nämlich, dass sie deshalb irgendwie falsch sind. Besonders gefährlich vielleicht. Besonders böse. Besonders schlecht. Und peinlich. Doch gerade habe ich mir das neuste Video der CAT Clinic auf YouTube angesehen. „When alters (in OSDD and DID) are ’stuck in time‘
Vielleicht bin ich selber stuck in time, wenn es um Innens wie diese geht, dachte ich. Und ehrlich gesagt halte ich es sogar für sehr wahrscheinlich, je länger ich jetzt darüber nachdenke.

Erzählungen wie die in dem Video oder auch in manchen Fachbüchern produzieren den Eindruck, dass Innens sich für oder gegen die Realität entscheiden, weil sie sich nicht sicher fühlen. Sie misstrauen dem Neuen und halten deshalb lieber am Alten fest. Sie brauchen das Gefühl des Willkommenseins, der Akzeptanz und man sollte sie liebevoll in der Gegenwart aufnehmen.
Schon bei der Aufzählung habe ich den Wunsch, ein Kotzgeräusch zu machen. Nicht, weil ich die Vorstellung irgendwie kitschig oder romantisch verklärt finde (das auch, aber das würde mich nicht so in die Abwehr bringen) – sondern irgendwie auch voll colonizer style. Invasiv. Übergriffig. Als müsste ich in einem Panzer voller Liebesbomben sitzen und nur gut genug zielen, dann würde schon alles klar gehen.

Ich habe generell ein Problem damit, wie häufig über Kinderinnens oder auch jugendliche Innens gesprochen und gedacht wird, weil sie oft als niedlichere Personifikation des traumatisierten Opfers verhandelt werden oder als unberührte Unschuld, reinweiß und shiny in jemandem, die_r das ganze Leben durch den Dreck geschliffen wurde und nach Blutschweiß stinkt. Obendrauf kommt dann oft noch ebenjener Anspruch, sie in ihrer Perspektive doch bitte anzufassen zu verändern, weil wegen Realität und Gegenwart und isso, musso, iswichtigweildeshalbso.

Ich bin an diesem Anspruch gescheitert. Immer wieder. Das war meine, damals unsere, Existenz. Ich sitze vor einer Therapeutin, die vermittelt mir: „Da ist jemand, der_m wurde etwas eingeredet/die_r weiß nicht, dass es heute vorbei ist/die_r denkt, wir hätten 19 hundertxundneunzig – jetzt mach mal. Mach anders.“ Und alles, was ich machen konnte – like actual Können, war wegmachen. Unsichtbar. Klappe zu, Auslöser für den Wechsel zu diesen Innens vermeiden. Von einem Innen, das gut sprechen kann, zu einem System von Innens werden, das die Gegenwart kennt, vom eigenen Vielesein weiß, aber die Bedeutung dessen überhaupt nicht in sich bewegen kann, weil es immer wieder scheitert und scheitert und diese Wiederholung gut 9 Jahre durchlebt, bis es sich traut zu sagen, dass es immer wieder scheitert, weil es anders nicht funktionieren kann als vermeidend.
Daran habe ich in den letzten Jahren gearbeitet. Innerhalb meines Funktionssystems erfolgreich – vielleicht vermutlich sehr wahrscheinlich, weil ich darin niemanden groß in die Gegenwart lieben musste – außerhalb dessen, mit Basiserfolgen. Es macht mir keine Todesangst mehr Kinderinnens oder Jugendliche überhaupt irgendwie wahrzunehmen und es ist auch seit Jahren nicht mehr das schlimmste, was mir in der Therapie passieren kann, wenn jemand von ihnen dort auftaucht. Es ist weiterhin schlimm und ich darf nicht zu viel darüber nachdenken, aber ich klappe nicht mehr komplett in mir selbst zusammen und kann begreifen, was meine Therapeutin mir sagt, wenn sie sagt, dass es okay ist, wenn andere als ich mit ihr sprechen. Ich weiß, dass das in Anbetracht der Therapiedauer eigentlich erbärmlich ist, aber wenn ich mich selbst als Innen denke, das „in der Zeit stecken geblieben ist“, dann kann ich anerkennen, dass es schneller einfach gar nie hat gehen können.

In all den Fallgeschichten von Vielen sind gescheiterte bis traumatisierende Therapieversuche, misslungene Behandlungen oder grob schlecht behandelte Patient_innen nie Thema. Nur selten wird aufgearbeitet, warum Therapieansatz X für Patientengruppe A bis D konkret nicht funktioniert hat und soweit ich weiß, hat es noch nie eine Studie dazu gegeben, welche Auswirkungen schlechte, falsche, traumatisierende Psychotherapie in Menschen mit DIS hat.
Restpatient_innen wie mich gibt es in der Literatur nicht. Erst wieder als Patient_innengruppe für Behandlungsform/verfahren XY, die genau so definiert ist, dass unsere Vorbehandlung und ihre Folgen weder abgefragt noch sonstwie zu relevanten Markern werden. Die Praktizierenden der Traumatherapie befassen sich einfach nicht mit ihren Opfern Fehlern und das hat Auswirkungen auf sehr vielen Ebenen.

Manche davon habe in diesem Blog schon oft angerissen und ich will das jetzt nicht alles wiederholen, vor allem, weil ich in diesem Text einen anderen Punkt ausdrücken will. Nämlich, dass mir durch die Rahmung von außen immer vermittelt wurde, ich wäre orientiert. Ich wäre der funktionale Anteil. Die_r Erwachsene. Die_r Fähige. In vielen Punkten stimmt das – in manchen jedoch überhaupt nicht und das geht immer wieder unter. Besonders dann nämlich, wenn wir an Punkte kommen, die mein Entstehungstrauma berühren: Die Konfrontation von „verwirrten“/“unfähigen“/“hilflosen“/von mir nicht gezielt ansteuerbaren Innens im Kontext der Traumatherapie.
An diesen Stellen bin ich einfach nicht fähig. Da bin ich 16 Jahre alt und verstehe nicht im Ansatz, was die Erwachsenen um mich herum von mir zu kapieren verlangen – Vielesein, Dissoziation, Du erinnerst dich nicht, aber…, Wir helfen dir mit Fixierung und Betäubung, Du bist hier sicher, eingesperrt in einer Psychiatriestation – und bin so abgrundtief verloren in dem Auftrag etwas zu „reorientieren“, ohne zu wissen, wohin diese Re_Orientierung gehen soll; zu lieben, als etwas von mir willkommen zu heißen, obwohl (und weil) es doch irgendwie dafür verantwortlich ist, dass ich keine Familie, kein Zuhause, keine Gegenwart außerhalb der Psychiatrie mehr habe und deshalb erst recht keine Zukunft.

Und wie ist es jetzt. Meine Therapeutin fordert mich seit Jahren immer wieder dazu auf, zu differenzieren. Ich soll einen Unterschied erkennen zwischen damals und heute, als würde diese Erkenntnis etwas mit mir machen. Das passiert aber nicht. Ich sehe den Unterschied. Bin informiert. Bin orientiert. Aber Kenntnis allein bedeutet nicht auch Befähigung. Bedeutet nicht auch Ermächtigung.
Mal abgesehen davon hat es oft auch einen Anteil von Bagatellisierung dessen, was mich traumatisiert hat. Es ist immer auch eine Art drüberwischen und manchmal auch der Anspruch an mich etwas zu abstrahieren, was ich ohne Unterstützung nicht zu abstrahieren schaffe. Dieser Aspekt wurde im Video auch angesprochen und das hat mir ermöglicht, mich als „feststeckend“ zu überlegen, obwohl ich kein „Kind im Trauma“ bin. Kein_e „Jugendliche_r im Körper eines Erwachsenen“. Kein „von Täter_innen produzierter Anteil, der nicht wissen darf, dass alles vorbei ist“ oder jemand aus irgendeiner anderen Kategorie, die immer wieder benannt wird, um traumareaktives oder -antizipatives Verhalten zu rahmen.
Ich bin ein von schlechter Traumatherapie gemachter Anteil, der in Traumatherapie ist. Für mich kommt niemand aus dem System und betüddelt mich mit Gegenwartszucker, da bin nur ich. Und meine Therapeutin.

Ich spüre vor allem Druck, ihr doch endlich zu vertrauen. Druck, doch endlich zu glauben, dass heute alles anders ist, obwohl sich außer die Repräsentation (nämlich die Person, die therapeutisch mit mir arbeitet) überhaupt gar nichts von dem verändert hat, was mich damals in diese Lage brachte. Nichts und niemand außer mir schützt mich seit 20 Jahren davor wieder für Jahre in einer Psychiatrie eingesperrt zu sein, weil mein Inneres für zu desorientiert, desinformiert, w.irr, krank gehalten wird, um so gelassen zu werden wie es ist.
Und niemals steht das als Frage im Raum. Ob sie tatsächlich desorientiert sind oder sich anders orientieren als erwartet. Ob ich sie vielleicht erstmal kennen.lernen darf, bevor ich irgendwas an ihnen mache oder ihnen irgendwas einrede, was ich in seiner Bedeutung und Auswirkung für sie überhaupt nicht einschätzen kann. Geschweige denn, ob die das überhaupt wollen.

Ich kann sehen, dass mein Misstrauen alt ist. Ich kann sehen, dass es im Hinblick auf das Verhalten meiner Therapeutin nur ein Mal berechtigt war. Aber wie da raus, wenn die Gegenwart des Heute, der Gegenwart von damals so ähnelt? Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der Ver.rückte einfach sein dürfen. Wo Zwangseinweisung und -behandlung als (traumatisierende) Gewaltverbrechen verstanden werden. Ich habe keinen Grund, keine Angst zu haben. Keine Sicherheiten, die mir nicht genommen werden können.
Ich treffe hier keine aktive Entscheidung gegen die Gegenwart oder die Realität.
Es ist die Gegenwart, die Realität, die mich an diesem einen Punkt „stuck in time“ hält.

Zeitsplitterbomben

„Erinnerungen sind wie Zeitbomben“ – ein Zitat eines Zitates in der Podcastserie „Vor aller Augen“ der Süddeutschen Zeitung. Renate Bühn spricht über ihre Erfahrungen, es ist die 5. Folge. Endlich spricht ein Opfer und rückt die Taten und Täter_innen, die Ermittlungen und Strafprozesse aus dem Fokus.
Ich sitze am Bahnhof. Die Sonne scheint, hinter mir liegt eine Therapiestunde, ich fühle mich wie ein Zeitsplitterbombenopfer. Übersät, durchdrungen, übriggeblieben.

Am Ende war es darum gegangen, dass eigentlich immer das Gleiche passiert ist. Eigentlich wurde immer jemand verletzt und das wars. Ganz abstrakt ist das alles, was passiert ist. Eine Sache, ganz kompakt. Also eigentlich … nichts.
Die Haare auf meinen Unterarmen zittern im Wind wie die Halme des verbrannten Grases überall. Im Podcast sprach man über ungeahnte Ausmaße, über Materialmassen, die nur mit erheblichem Aufwand und persönlichem Einsatz händelbar seien, ich spreche mit mir selbst darüber, wie erbärmlich meine Erleichterung über den Gedanken ist, dass sich heute vermutlich kaum noch analoges Material im Umlauf befindet. „Terabyte von Material“, immer das gleiche und gleiche und gleiche, immer wurde jemand verletzt und das wars.

„Terabyte Nichts, oder was?“ Eine schwere Stirn schiebt sich in meine, zerbröselt meinen Fluchtweg in die Vermeidung.
Nein, nicht Nichts. Sowieso nicht. Aber vielleicht haben wir ein Splitter-, ein Fragment-, ein Müsliproblem? Ich fühle mich merkwürdig verbunden mit den Polizist_innen und ihren Helfer_innen in der Datenauswertung. Terabyte Splittermaterial von Gewalt, die über Stunden, Tage, Monate, Jahre passiert ist, landet Festplatte für Festplatte auf ihrem Arbeitsplatz. Ein Ding, eine Zeitsplitterbombe aus dem Leben eines Opfers, die beschriftet, gesichtet, sortiert, und archiviert wird; von mehreren Beamt_innen, die das Opfer nie kennenlernen werden, nie anders mit ihm zu tun haben werden, als in größter Not, schwerster Pein. Opfern, die für die Sortage mit dem Splittermaterial in ihnen drin vielleicht zur Psychotherapie gehen. Wenn sie einen Platz bekommen. Und dort sortieren dürfen. Können. 50 Minuten pro Woche, bis die Krankenkasse nicht mehr zahlt.

„Wir haben Terabyte Material in uns drin“. Das denkt R., ich fühle es. Wir spüren einander beim Trinken, trennen uns wieder, als eine Lautsprecherdurchsage durch die Kopfhörer schießt. Es ist immer das gleiche und gleiche und gleiche. Und es ist immer wieder etwas. Etwas noch mehr. Etwas wieder schlimmes. Etwas ((schon) (wieder)) unaushaltbares. Etwas anderes. Etwas mit jemand anderem und deshalb neu, anders, wieder gleich und gleich und gleich.
Und wir haben nur uns, das zu sichten. Zu sortieren. Nur unser Gehirn als Archiv zur Verfügung. Und die Splitter sind überall. Nicht alle kann ich fühlen. Von vielen weiß ich nicht einmal. „Und die meisten lässt du bei uns. Als wenn wir deine Polizei wärn, aber in Wahrheit sind wir …“
Sie sagts nicht. Denkts auch nicht. Kanns genauso wenig aushalten wie ich. Der Zug fährt ein, wir schalten um auf Musik.
calm like a bomb“.

15 Jahre nach dem Ausstieg

Der Krieg hat etwas in mir verschoben.
Erst kam die Starre, dann die Bilder, die Albträume, die Schmerzen. Seit Monaten gehören Schmerztabletten zu meinen Mahlzeiten wie eine unverzichtbare Zutat.
Es ist das 15. Jahr nach meinem Ausstieg und ich bin auf eine Art mit Überzeugungen und Ängsten geflutet, wie noch nie zuvor.
Was auch immer sich verschoben hat, es hat rohes Fleisch offengelegt.

Situationen wie diese gehören dazu. Zum Leben und besonders zum Leben nach dem Ausstieg. Zumindest habe ich es so oft bei anderen Vielen mit_erlebt, dass ich es kaum getrennt voneinander denken kann.
Bei mir ist es einfach nicht so gewesen. Vor 5 Jahren nicht und auch nicht in den Jahren davor.

Ich hatte immer nur die BÄÄMS. Die Schreihälse, die mir ihren Hass entgegenbrüllen oder subtil ins Denken injizieren. Die immer wissen, was ich falsch mache, was ich nicht darf und was einfach nicht mein Ernst sein kann. Wegen der Lächerlichkeit.
Die Dunkelbunten sind nur Theorie. Irgendwie bis heute. Obwohl ich merke, was sie da machen. Was sie in mir bewirken und an wem. Jetzt, wo so viel frei liegt, dass es weh tut. Obwohl ich weiß, dass täter_innenloyale und täter_innenidentifizierte Innens nicht das gleiche wie „destruktive Innens“ sind. Jedenfalls nicht in unserem Systemkomplex.

15 Jahre nach dem Ausstieg wollte ich einen super inspirierenden Beitrag schreiben, der Kraft gibt, Hoffnung schöpfen lässt, der andere Betroffene in ihrem Ausgestiegensein bestärkt.
Und jetzt sitze ich hier, muss anerkennen, dass wir weiterhin nicht den inneren Ausstieg geschafft haben und mit Schwierigkeiten kämpfen, die in unserer heutigen Situation doch eigentlich leicht zu bewältigen sein müssten. Wir haben alles, was man dazu braucht -Therapie, sichere Bindung, stabiles Leben, Arbeit, Selbst_Bewusstsein, viele Skills und noch mehr Prozesserfahrung – und trotzdem. Nein, es ist nicht leicht. Es ist kein Zustand aktiven Tuns, sondern einer von Aus_Halten und hoffen, dass die Therapeutin weiß (und mir sagt), was ich jetzt wie tun oder überlegen könnte, um zu verstehen. Oder so.
Vielleicht gibt es nichts zu verstehen. Ich habe keine Ahnung.

Ich bin frustriert darüber, dass ich nur meine Therapeutin habe – und also nur diese anderthalb Stunden alle zwei Wochen – um die Möglichkeit des Versuchs etwas von all dem mitzu.teilen überhaupt anbahnen zu können. So wütend, ungeduldig, manchmal grenzenlos hasserfüllt darüber, dass ich nicht einfach damit rauskomme. Obwohl ich mir doch alles genau dafür vorbereitet habe. Doch alles frei ist. Da ist kein Hindernis, gar nichts. ES bleibt wortlos. DAS DA Emotion ohne Kanal. Meistens das weiße Nichts, das ich als „das Inmitten“ (in mir) kenne. Ein zentrierter Punkt, in dem alles so krass ist, dass es nichts, alles, einfach nur ist.

Neu ist das Gefühl der Enttäuschung.
Vor 20 Jahren hat sich nur meine Ärztin getraut überhaupt anzunehmen, dass ich organisierte Gewalt erfuhr, vor 15 Jahren musste ich den Ausstieg alleine machen, weil niemand verstanden (oder geglaubt) hat und heute gibt es immer noch weder (bedarfsgerechte) Ausstiegshilfen, noch geschützte Räume zur aktiven Auseinandersetzung für Menschen in meiner Situation.
Da haben sich Behandler_innen jahrelang den Mund fusselig geredet, wurden Konferenzen und Fachtagungen gemacht, haben sich Betroffene bei YouTube präsentiert und in Blogs offenbart – da wurden „wir“ vom Staat gehört, der eine fancy Broschüre hat drucken lassen und, was ist davon jetzt hier und heute wirklich nutzbar? Es gibt weiter keine Kliniken, weiter keine Hilfsangebote, die über oberflächliche Beratung und allgemeines Eiei hinausgehen. Ausstieg ist ein individueller Prozess, der direkt und persönlich begleitet werden muss. Lange. Oft. Bedingungslos. Bedarfsgerecht.
Was es jetzt gibt, ist nicht genug und das ist eine bittere Erkenntnis, wenn man wie ich einen großen Zeitraum zu Vergleich hat, in dem bereits so viel mehr als vorher passiert ist.

Dass es mich enttäuscht, ist neu. Vielleicht, weil ich heute überhaupt erwarte. Vielleicht, weil ich nicht durchschauen kann, warum sich da einfach nicht mehr, nichts Konkreteres tut. Warum ist diese Gesellschaft einfach so grundsätzlich ok damit, dass Menschen leiden?
Sind wir selber schuld? Ist es die Idee von Sichtbarkeit, die sich als irrig entpuppt? Sagen was ist und drauf verlassen, dass es niemand so belassen will – scheinbar wollen es genug Leute doch so belassen. Was bedeutet das in Bezug auf den Stellenwert meines Leidens? Vielleicht leide ich gar nicht.

15 Jahre danach wollte ich weiter sein. Klarer.
Aber nein. Nichts ist klar. Ich bin nur weiter.
Wo, das muss ich noch mehr verstehen.

Wofür

Kleben blieb, dass sie sagte „Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wofür sie da raus sind“.
Weil es ein wunder Punkt ist. Etwas, das mir lange das Gefühl gab, ich könne meine Situation nicht mit der von Menschen vergleichen, die aus komplett abgeschlossenen Gemeinschaften oder Gruppen ausgestiegen sind.

Ich bin da nicht raus, weil ich einen Vergleich angestellt habe und fand: „Ja, nee, draußen ist schon besser für mich. Da bin ich frei, Freiheit ist cool, ich will coole Freiheit.“ Am Anfang meines Lebens „draußen“ stand keine Möglichkeit mir aufzuzählen, was ich jetzt alles darf und vorher nicht. Ich durfte immer alles tun oder nicht tun. Die Grenzen unter denen viele Aussteiger_innen aus „high controlling groups“ gelitten haben, habe ich gesucht, habe ich verlangt – ziehe ich mir heute in mein Leben um Halt und Orientierung zu haben. Mein Leben im Kontext organisierter Gewalt war nicht die Hölle und hat sich, was den täglichen Energieaufwand, die Zermürbung, die seelenzerquetschende Inkongruenz zwischen mir und dem Rest der Welt betrifft, ehrlich gesagt nur im Framing des Leidens darunter unterschieden. Jedenfalls soweit ich mich daran erinnere.

Viele sprechen von ihrem Ausstieg als eine Art Ausbruch aus einem Kerker – ich habe viele Jahre nur in einem Hundekäfig schlafen können, weil es der Rahmen war, in dem ich überhaupt Entspannung finden konnte. Ruhe im Kopf, Orientierung in meiner Körperlichkeit, Pause vom ständigen Greifen nach Dingen außerhalb von mir, um mein eigenes Ende zu fühlen.
Ich litt nie unter der Todesangst anderer Aussteiger_innen, die sich mit freiem Willen oder freien Entscheidungen eingestellt hat. Mir hat nie jemand verboten frei zu denken oder frei zu wollen – ich wurde immer nur für falsches Handeln, falsches Wollen umgebracht. Das ist ein Unterschied. Und ja, ich sehe, wie perfide das ist. Wie elaboriert bösartig das ist, gerade weil das außerhalb solcher Kontexte auch passiert.

Ich bin nicht für irgendetwas ausgestiegen und bleibe auch nicht für irgendetwas ausgestiegen. Ich bin wegen etwas ausgestiegen und das ist im Moment ein Problem, weil es sich bedroht anfühlt.

Vor einigen Jahren formulierte ich, dass das Leben immer nur sich selbst für sich selbst will. Weil das so ist.
Mir war klar, dass viele Menschen diese Formulierung nicht verstehen würden, weil sie sich selten, manche auch nie, mit solcherlei in sich geschlossenen, sich selbst brauchenden, selbst befriedigenden, selbst erschaffenden Systemen befassen. Dabei ist daran überhaupt nichts geheimnisvoll oder kompliziert zu verstehen – es ist nicht einmal besonders, sondern vielleicht einfach viel zu naheliegend, um es zu bemerken. Oder auch zu sehr im Widerspruch mit der Norm, in der alles Sinn und Zweck über sich selbst hinaus haben muss, um als etwas behandelt zu werden. Ein Menschenleben zum Beispiel. Oder ein Lebensziel.

Ich wusste, dass ich sterben würde, würde ich in diesen Kontexten bleiben. Entweder durch jemanden, die_r sich nicht genug im Griff hat oder durch mich selbst, weil ich mich nicht genug unter Kontrolle hatte, um mein eigenes Nicht_Handeln vorherzusehen oder zu beeinflussen. Und ich wusste, dass ich lebe. Dass das ein eigener Wert ist. Eine eigene Ressource. Dass ich, um zu leben, am Leben sein muss.
Und dass ich diesem Kontext nicht geben können würde, was er von mir braucht, fordert, erzwingt, wenn ich tot bin.

Mein Ausstieg war also nie die totale Abgrenzung von diesen Leuten und dem, was sie tun oder glauben, sondern das einzige Mittel, dass ich noch hatte, um zu tun, was sie von mir wollten. Es war eine täter_innen- eine kontextloyale Entscheidung.
Keine Umarmung meiner individuellen Freiheit. Keine Selbstermächtigung. Keine heroische Selbstrettung. Keine Entscheidung aus einem wundersam erhalten gebliebenem Körnchen Selbstwert. Ich hatte einfach nur Glück, mit meinen Überlegungen zufällig die eine logische Lücke in dem ganzen Gebilde gefunden zu haben und damit keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte.

Ich habe die Intentionen dieser Menschen nie verstanden. Selbst heute, wenn mir außenstehende Menschen erzählen, ich sei so sehr angelogen worden, sie hätten immer nur ihre eigenen Ziele verfolgt – ich verstehe es nicht. Für mich handelten sie logisch im eigenen Bezugsrahmen. Sie haben mich also nie angelogen. Sie wollen eine bessere Welt möglich machen. Das wollen viele andere Menschen mit anderen Mitteln auch tun. Wo ist also die Lüge? – In jedem anderen Bezugsrahmen, außer dem, in dem es passiert ist.
Zu welchem Bezugsrahmen gehöre ich? In welchem Kontext hat mein Leben nur eine Bedeutung für sich selbst? – Bis jetzt nur in meinem eigenen. Und in dem sind die Bezugsrahmen anderer Menschen und Gruppen für mich eher Räume, die ich vereinzelt betreten darf. Mal nur kurz und für den Zeitraum einer Arbeit oder gemeinsamen Tätigkeit – und mal über Jahre hinweg, sodass ich das Gefühl habe, ich gehöre dazu, dürfte Wurzeln schlagen und mich verbinden, obwohl ich weiß, dass Verbindung nicht das gleiche wie Verschmelzung ist.

Und das ist das einzige, das mich heute trägt. Dass ich weiß, dass selbst, wenn wir wieder zurückgehen, um das im Moment praktisch 24/7 in mir hallende Schreien, die Todesangst, die Albträume, dieses fahrig zittrige Greifen nach Halt zu beenden, es nicht bedeuten würde, einen Bezugsrahmen zu betreten, mit dem wir 1 zu 1 verschmelzen würden.

Es wäre alles anders und alles gleich.
Wozu also der Aufwand.

Grenzen

Die Sonne geht gerade auf, Wolken schleichen um sie herum, am Horizont steht eine Gruppe Wild.
Ich fahre zur Schwimmhalle, blinzle mir Fetzen aus den Augen. Der Impuls ist, sich zu verkriechen. Einrollen, verstecken, dunkel, still, nichts und niemand. Ich spüre ihn genauso deutlich wie den monolithen Leuchtturm in mir, der mich in die Selbstfürsorge leitet.

Das Wasser ist kühl, im Becken schwimmen außer mir nur drei andere Menschen. Das Morgenlicht wird zu hellen Rhomben, Drei- und Vielmehrecken auf der Oberfläche. Ich schalte meine Augen aus, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Zwei Wochen war die Schwimmhalle geschlossen, weil so viele Mitarbeiter_innen krank gewesen sind. Ich liebe, wie anstrengend es nun wieder ist, mich vorwärtszubewegen. Meine Glieder schreien mich an, ich fühle mich ihnen näher als vorher. Die dumpfen Erinnerungen auf meiner Haut werden zu Schatten und verlieren ihre Macht über mich. Und endlich kann ich es loslassen. Das drängende Gefühl, mich um etwas kümmern zu müssen, was seit mehr als 25 Jahren nicht mehr bekümmerbar ist. Das Gefühl des Versagens, das damit verbunden ist. Das Gefühl der Überforderung vor einem Anspruch, der vielleicht nur von mir ausgeht, aber irgendwie doch nicht so richtig vom Außen zu lösen. Die Furcht vor Gesprächen, die dem Geständnis der Nichtversorgung von Kinderinnens folgen könnten.

Meine körperliche Anstrengung gleicht meiner psychischen. Ich fühle mich rund in mir und kann leichter mit der Eckigkeit der Welt umgehen. Ihre scharfen Kanten müssen im richtigen Winkel auf mich treffen, um nicht an mir abzurutschen, ich muss nur meinen Sicherheitsabstand zu ihr bewahren. Grenzen setzen, vielleicht.

In Gedanken suche ich meine Körpergrenzen ab und stolpere in die Geschichte meiner Narben. Ja, auch das war Kongruenz, Metapher, reale Invasion. Selbstverletzung, Angriff, Zugriff. Aus- und Nutzung. Leute, die Kinder schneiden, Kinder, die sich schneiden. Wenn man das übereinander legt, gibt es nicht nur Gegensatz und Ausschluss, sondern auch Gemeinsamkeit. Kongruenz. Rundsein. Identität.

Auf dem Rückweg scheint die Sonne. Nicht mehr lange, dann können wir wieder mit dem Fahrrad zur Schwimmhalle fahren. Ein Kinderinnen schickt mir seine Freude über den Gedanken durch ein Fuchteln. Manche Grenzöffnung ist okay.

Pläne

„Je stressiger es im Alltag wird, desto mehr Struktur brauchen wir, um zu funktionieren.“ Das klingt für die meisten Leute total logisch und nachvollziehbar. Klar, wer viel vorhat, ist immer gut beraten sich einen Plan zu machen, um gut zu arbeiten oder Abläufe zu gewährleisten.
Für mich beginnt der Stress in „stressiger Alltag“ schon in dem Moment, in dem ich weiß, dass Dinge passieren werden, die üblicherweise nicht passieren. Und zwar nicht, weil sie passieren, sondern weil das Passieren dieser Dinge alles verändert und damit auch sämtliche Ressourcen und Stützen des Alltags beeinflusst. Was bedeutet, dass ich mich nicht nur um die passierenden Dinge, sondern auch ihre Wirkung auf mich kümmern muss.

Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagespläne sind mir noch nie ein Korsett gewesen, nie ein Angriff auf meine persönliche Freiheit – viel eher sind sie der Grund dafür überhaupt in die Situation zu kommen, mich frei entscheiden zu können. Denn ich kann weder entspannen, noch ruhen, noch Kraft tanken, wenn ich nicht weiß, was in den folgenden Stunden und Tagen noch auf mich zukommt und wie ich was wann wie genau kompensieren kann und darf.
Im günstigsten Fall mag ich die Art der Störungen des üblichen Ablaufs einfach nicht oder bin nur irritiert. Dann finde ich Stabilität und Ruhe in Stimming oder meinen Projekten. Problematisch wird es, wenn ich mit den Ressourcen schon so weit runter bin, dass ich weder von Stimming noch von irgendetwas anderem profitiere. Am schlimmsten ist es, wenn der Ablauf über so lange Zeit gestört oder beeinflusst wird, dass ich überhaupt keinen üblichen Ablauf mehr ausmachen kann.
Das gesamte letzte halbe Jahr war so ein Zeitraum. Wir haben viel gearbeitet, viele emotionale Tiefschläge kompensiert, die unsere Freund_innnenschaften bzw. das, was wir dafür hielten, betrafen. Wir haben Physiotherapie und Fahrschulunterricht in Theorie und Praxis durchgezogen, sind alle zwei Wochen nach Bielefeld zur Therapie und alle zwei Wochen zur Autismustherapie woanders gefahren. Wir haben uns an eine Selbsthilfegruppe für Viele herangewagt, haben einige erste Interviews für unsere Podcast-Reihe aufgenommen und alles das immer mit dem Partner und den Beziehungsalltag im Hinterkopf, die Bedürfnisse der Hunde, die Pflicht, die Kür, die Versprechen bezüglich des Gartens, des Podcasts, unserer Projekte.
In den letzten drei Wochen hatte ich jeden Tag einen anstrengenden Termin, seit Ende Oktober habe ich wieder mit Weglaufimpulsen aus  Flashbacks/Alpträumen/Intrusionen aus dem Schlaf heraus zu kämpfen, was bedeutet, dass nicht einmal die Nachtstunden zuverlässig für Erholung da waren.
Dass ich noch nicht „ausgerastet bin“ (den Meltdown nach außen sichtbar hatte) liegt daran, dass ich eine Verzögerung in der Verarbeitung habe und in der Regel nach innen explodiere, also dissoziiere. Und weil die Dissoziation praktisch mein Betriebssystem ist – mich bisher niemand anders erlebt hat – fällt das nicht als Problem auf.
Manchmal finde ich das auch gut so. Denn mit der Ratlosigkeit, der Frage: „Ja und jetzt?“ umzugehen tut mir nur weh und oft ist es den Streit aus der Enttäuschung heraus, dass dieser Schmerz nicht bemerkt wird, einfach nicht wert.

Viele Menschen denken und planen nicht so weit im Voraus wie wir, weil sie es nicht müssen. Ihr Jetzt ist ein anderes als meins – ist nicht so leicht zu zerstören von morgen, bald oder nachher. Und viele Menschen schieben einfach gern auf, weil sie die Kraft für alles auf einmal aus einem viel tieferen, größeren Fass schöpfen als ich. Um in dem Bild zu bleiben, habe ich genau eine Tasse, aus der ich schöpfen kann und ich bin maximal geizig mit jedem noch so kleinen Tropfen, weil ich es muss. Nicht, weil es so schlimm ist, erschöpft zu sein, sondern weil „eine volle Tasse“ zu haben für mich a) nicht bedeutet, nicht erschöpft zu sein und b) weil auch das Management dieses Budgets, die Erfassung, die Planung, die Kommunikation des Budgets bereits daraus geschöpft wird.
Ich habe nie einen fixen Stand von 100 % und daraus kann ich dann hippy happy Leben gestalten – ich muss bereits 40 % weggeben, um in der Lage zu sein, mein hippy happy Leben erfassen, mich selbst darin fühlen und verstehen zu können. Und das ist, was die meisten Menschen – auch „meine Menschen“ – manchmal einfach vergessen: Die meisten Menschen müssen aus ihrem größeren Kraftfass vielleicht 10 oder 15 % dafür weggeben und das oft nicht einmal bewusst. Und am Ende eines Tages haben sie immer noch 20 bis 30 %, um zu verarbeiten, was sie erlebt haben. [1]

Ich habe nicht die Wahl irgendetwas von meinen Therapien (und dem, was wir darin machen) oder Projekten einfach zu lassen, denn ich benutze vieles davon zum Prozessieren und Verarbeiten sowohl dessen, was mir in der letzten Woche, aber auch vor 30 Jahren passiert ist. Jede Therapie, aber auch das Bloggen und Podcasten sind damit Hilfsmittel, die mir – bei aller Anstrengung, die sie bedeuten – ermöglichen, mich im Bezug zur Welt zu halten und damit ein fundamental wichtiger Teil eines mehr oder weniger festen Plans, der mich in diesem selbstbestimmten, autonomen Leben hält.

So einen Plan zu haben – ja, mir überhaupt erstmal einen zu überlegen, mich zu trauen an die Zukunft zu denken, mir eine auszudenken, zu wünschen, mich auf so viel hätte würde wäre wenn einzulassen, habe ich erst mit der Berufsausbildung geschafft. Das war 2016. Da waren wir gerade 9 Jahre aus organisierten Gewaltkontexten ausgestiegen, die uns sehr genau vorgegeben haben, was wann wie zu denken, zu wollen, zu machen war.
So frei wie heute verliert mein Leben und das, was ich darin tue, sofort an Bezug und damit Sinn und Bedeutung, wenn ich meinen Plan loslassen soll. Und das wird bewusst oder unbewusst öfter mal von mir verlangt oder „vorsichtig vorgeschlagen“, wenn der Eindruck entsteht, ich hätte mich verrannt oder überfordert. Oder – was eigentlich am meisten schmerzt – : Wenn ich selber sage, dass etwas zu schwierig für mich ist.
Der erste Reflex ist dann oft die Idee der Entlastung durch Vermeidung. Das Angebot mir irgendeine Aufgabe abzunehmen, irgendein Wagnis nicht zu begehen und zu erwarten, dass ich das okay finde – vielleicht sogar noch krass dankbar bin und mich einfach super fühle. Das tue ich in der Regel aber nicht, denn die Alternative zur Überforderung ist in meinem Fall immer der Ausschluss. Das nicht mitmachen, nicht dabei sein, ohne Bezug sein. Ein Zustand, den so, in dem Umfang wie ich es erlebe, kaum jemand wirklich innig er_leben möchte, weil Bezug für soziale Wesen wie uns Menschen ein existenzielles Grundbedürfnis ist. [2]

Wie viele andere autistische Menschen bin ich sehr hartnäckig. Was ich mir vornehme, das mache ich früher oder später auch. Ich nehme mir nichts vor, das unrealistisch ist und verfolge meinen Lebensplan jeden Tag, weil ich einen brauche, um mein Amlebensein in Existenz und Sinn auszuhalten und zu gestalten.
Das ist nicht banal. Nicht wegzulachen oder zum Quirk zu erklären.
Es ist bedingungslos zu respektieren und mitzudenken.

Immer.

 

[1] In diesem Text verwende ich das Bild von einem Fass bzw. einer Tasse voll Kraft als Flüssigkeit. Viele andere chronisch kranke, neurodiverse, behinderte Menschen verwenden das Bild von einem bestimmten Budget von Werkzeugen/Besteck, das sie zur Verfügung haben. In der Podcastepisode „Was helfen könnte – die Besteck-Theorien, eine Kommunikationshilfe“ habe ich sie genauer beschrieben.

[2] Angebote wie diese führen viele behinderte Menschen in die sogenannte „Schonraumfalle“, was dazu führt, dass Abhängigkeiten entstehen und also die Freiheit der Menschen eingeschränkt wird. Sowohl die der behinderten Menschen als auch die der Menschen, die ihnen die Schonräume ermöglichen und aufrechterhalten müssen.
Mir ist bei Überforderung am besten zu helfen, wenn man mich dabei unterstützt, den Punkt der Überforderung zu verstehen und mit dem auszustatten (oder mir zu ermöglichen, dass ich lerne), was ich brauche, um sie zu überwinden.
Jede Hilfe, die Helfende überflüssig macht, ist besser als der beste Schonraum.