diese Tage, an denen man fürs Leben lernt

Es gibt Tage und es gibt Tage. Und “diese Tage”.

An “diesen Tagen” wartet man schon seit einer Ewigkeit darauf, dass die Menstruation jetzt endlich einsetzt, damit sich das schäbige Allgemeinbefinden endlich verändert. Man hält  beim Duschen die Luft an, weil die vielen kleinen Wasserstrahlen auf der Haut so exorbitant mehr weh tun als sonst. Man heult das erste Mal, wenn man sich daran erinnert, dass die alltime-favorite-Bekleidung aus Rock und Strumpfhose nachwievor unmöglich ist und schluckt das zweite Geheul herunter, als einem auf dem Weg zur Straßenbahn der Grünflächenpflege-Rasenmäher-Horrorschwadron entgegen kommt.
Man quetscht sich Small Talk aus dem Wörterpansen direkt hinter den Rachenmandeln, um der Person, die eine_n freundlich anquatscht, ebenso freundlich zu begegnen.
Und man weiß, dass ab jetzt absolut nichts mehr passieren darf, weil sonst das gesamte Kartenhaus des Hier und Jetzt in sich zusammenkracht.

Murphys Law sei Dank, passieren aber natürlich Dinge.
In der Schule riecht es heute nach Waffeln, wir warten lange auf den Lehrer und stehen in der Einflugschneise des Kellerganges. Hunderte Schüler schlurfstöckelschlappen an uns vorbei und niemand von ihnen versucht, wenigstens eine der zwei Türen nicht in den Rahmen knallen zu lassen.
Meine Mitschüler_innen schaffen es zu reden, zu lachen, ein bisschen dösend zu warten. Ich bin froh NakNak* unter meinen Finger zu spüren und so zu wissen, wie groß ich tatsächlich bin. In meinem Gefühl gibt es meinen Körper nicht mehr. In meinem Gefühl, bin ich ein Wesen ohne Haut über den bloßen Nervenenden.
In mir drin schreit ein Kleinkind in Todesangst.
Ich merke, wie die Ankunft des Lehrers für mich zu etwas wird, das mich retten soll. Alles aufhören lassen soll. Wie ich das Warten mit jeder Minute mehr nur deshalb durchhalte, weil ich mehr und mehr davon überzeugt bin, dass dann alles gut werden würde.

Es ist eine bittere Enttäuschung, als er dann da ist und doch nicht genau das passiert.
Es wird erschreckend und schlimmschlimmschlimm als wir, wie er auch, anerkennen müssen, dass auch heute unser Unterricht nicht wie geplant passieren kann, weil die Internetverbindung in der Schule gestört ist.
Für mich verschwindet die Schule als Struktur. Als greifbares Element, dass mich halten kann. Aushalten kann. Mich und den Puls, der über mein Sein hinwegrauscht, wie ein Wasserfall.

An “diesen Tagen” nähere ich mich einer Verständnisebene für das Leiden in unserem Leben und einer Idee von dem Leiden, mit dem wir früher unser Leben gestaltet haben werden.

Wir haben Unterricht im Rechnerraum. Dort stehen etwa 25 PC’s mit Knubbeltastatur und Hartplastikmäusen. Von der Decke leuchten ca. 12 Leuchtstoffröhren auf die LCD-Bildschirme und den Tafelersatzbeamer. Es rauscht vom Boden nach oben, tickt asynchron von der gesamten Decke nach unten. Dazwischen zucken die Mausklicks und versuchen sich durch das dichte Murmeln aus den Menschenmündern zu bewegen. Drehstühle knacken. Kleidung raschelt. NakNak* kratzt sich. Auf meiner Haut wird es feucht und kalt.
Das Unterrichtsthema interessiert mich. Ich würde mich gern mit einem Buch darüber in meine Flauschhöhle verkriechen und mich damit befassen. Aber ich sitze hier und versuche mich damit zu trösten, dass ich das ja nur 90 Minuten aushalten muss und dann nochmal was Interessantes für 90 Minuten erfahre und wir uns dann überlegen können, ob wir uns ein Buch über dieses Thema besorgen.

Ich spüre, wie der Schwan etwas aus meinem Träumen vom Lesen in der Flauschhöhle nimmt, um das Kleine einzuwickeln und wie ein Teil meiner Kraft an seine Stelle verschoben wird.
Die Störung kann nicht behoben werden und wir sitzen in einem zunehmend weißer werdendem Rauschen. Ich kann nicht mehr denken. Meine Gedanken sind die Geräusche um mich herum und ein mehr und mehr nach mir greifender Gefühlsstrudel. Ich gehe raus. Ertrage Schüler um Schüler, der durch den Flur an uns vorbei läuft, anguckt und dann durch die Tür geht, um sie hinter sich zuknallen zu lassen.
Ich gehe rein, packe meine Sachen, melde mich beim Lehrer ab.

Ich fühle mich verrückt und habe Angst davor, vielleicht, ohne es zu merken bereits eine Grenze überschritten zu haben, die eingehalten werden muss, um einen Ausbruch chaotischen Seins zu verhindern.
Jemand schreit mich an “Warte nur bist du zu Hause bist!” und ich denke zum x-ten Mal in den letzten Monaten, wie schön das wäre, kämen wir nach Hause und würden von jemandem erwartet. Ich kommentiere so ausführlich, wie ich es noch schaffe, was ich tue. In welcher Stadt ich gerade in die Straßenbahn steige, in welche Linie und von wo bis wo sie fährt und alles, was ich aus dem Fenster erkennen kann.

Wir fahren an dem Wohnort einer Gemögten vorbei, am Arbeitsort des Begleitermenschen, an der Praxis der Therapeutin, an dem Wohnort einer Freundin und ich halte mich daran fest, wie uns jede_r Einzelne_r dieser Menschen sagen würde, dass es okay ist zu gehen, wenn es nicht mehr geht, oder nötig ist, um schwerwiegendere Probleme zu vermeiden.
Merke, dass es etwas macht, daran zu denken.

Ich steige aus der Bahn und fühle mich schwindelig. Es ist warm und der Zug von NakNak*s Leine wabert im Grenzbereich eines Schmerzempfindens.
Mein Trinkwasser ist fast leer und beinahe rutsche ich schon wieder in meinen Ärger darüber, ständig irgendwas irgendwie zu brauchen. Doch dann ärgere ich mich über meinen Ärger.
Weil die Energie gerade sowieso da ist und es mir leichter fällt aus einem Ärger über mich heraus, etwas zu verändern.

Vielleicht drehe ich deshalb um und laufe in die Stadt.
In ein Fachgeschäft für gutes Hören.

Ich trete in den Laden wie ein Cowboy in den Salon und ziehe meine ganze Kraft aus dem Boden unter mir.
Die Person sagt, man müsse immer erst mal beim HNO prüfen lassen, ob mit den Ohren alles in Ordnung sei und ich bekomme von hinten rechts die Bilder von Ärzten mit Stirnspiegel, die unfassbar schmerzhaftes Licht in Ohren bündeln; der Mutterfrau, die sich über das Kind, das nicht normal auf Ansprache reagiert bekla.sor.gt, die fingerdicken Tabletten, die es zu jedem Ohrenschmerz gab…
Mich für diese Erinnerung bedankend drehe ich mich aus den Bildern heraus und antworte: “Das Problem sind nicht meine Ohren.” und strahle sie an. “Das Problem ist mein autistisches Gehirn!”.

Die Person nickt und sagt, sie verstünde das Problem. Dann greift sie nach einem Katalog und zeigt uns verschiedene Ohrstöpsel und Gehörschutzkopfhörer.
Hinter mir steht ein murmelndes Innenhäufchen und schwankt zwischen der Aufnahme der Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten und Materialien und Fassungslosigkeit darüber, wie nicht schlimm war, dass ich gesagt habe, was ich gesagt habe.

Wir kaufen ein Paar “PartyPlug” von Alpine und lassen uns zeigen, wie man sie einsetzt, entfernt und reinigt. Als wir den Laden verlassen, fühlt es sich an, als hätten wir eine Unterrichtsstunde gehabt. Vielleicht in “Mut zur Selbstfürsorge lohnt” und “Mut zur Offenheit lohnt” und “Es ist okay”.
_______________

Einen Tag später tragen wir die Ohrenstöpsel mit Schulbeginn.
5 Zeitstunden später, hatten wir noch keine Angstmomente, kein Gefühl der unaushaltbaren Überreizung und kamen zu Hause mit genug Kraft für einen Blogartikel an.
Sie jucken ein bisschen in den Ohren, aber nicht durchgehend. Sie sind weich und damit gut tragbar für uns– absolut kein Vergleich zu den Oropax, die wir früher schon ausprobiert haben.

Es ist eine Erfahrung, die Mut macht.
Mut zur Hoffnung, dass es vielleicht doch gar nicht so schwer schaffbar ist.

Dieses Dings und alles.

 

P.S. : Kostenpunkt für die Ohrstöpsel: 13,10€
Es ist möglich diesen Gehörschutz individuell an den Gehörgang angepasst zu bekommen
– das kostet ca. 125€.
Es gibt sie auch noch für andere Frequenzbereiche.

“ein Ich macht noch kein Selbst”– ein verkürztes 101 Vielesein

Und plötzlich sind wir wieder mitten unter Menschen mit Er_Lebensrealitäten, die anders sind als unsere.

In der Schule sprachen wir viel über unsere Reizwahrnehmung und was uns hilft, sie auszuhalten. Was wir brauchen und wo sich Probleme ergeben könnten. Wir tasteten nach Bereitschaften sich auf individuelle Lösungssuchen zu begeben und blicken nun auf eine gute Grundlage mit unseren Lehrer_innen und Mitschüler_innen.
In “Ausbildung inklusive” werden wir näher darüber schreiben.

Am Mittwoch und Donnerstag fand außerdem die Tagung „Mutige Einblicke in düstere Welten. Rituelle Gewalt verstehen und handeln“ in Münster statt.
Wir waren dort, um unsere Projekte “Viele-Sein”, “das Nachwachshaus” und auch dieses Blog zu bewerben, uns mit Menschen, die das Thema teilen zu vernetzen und zusammen mit der freien Journalistin Claudia Fischer einen Workshop über Täter_innenstrategien zu geben.
Während der Tagung sprachen wir mit vielen unterschiedlichen Menschen über Gewalt als Normalität, die Problematik des Täter-Opfer-Dualismus, soziale Absicherung traumatisierter Menschen als Politikum, Religion und Spiritualität nach extremer Gewalt und ganz viel 101 “Vielesein”.

Es tut uns gut in der Auseinandersetzung ums Vielesein immer wieder mal mit Menschen in Kontakt zu kommen, die nichts oder nicht viel darüber wissen. So werden wir immer wieder daran erinnert, wie klein unsere Blase ist. Wie lange wir uns bereits in diesem Diskurs bewegen und welche Aspekte wir hier und da an die Seite gestellt haben, weil sie zu früheren Zeitpunkten keine Relevanz für uns hatten.
Wir werden aber natürlich auch daran erinnert, dass es gefährliche, im Sinne von gefährdende, Ansichten aufs Vielesein gibt und kommen in eine Situation, in der wir mit Erinnerungen an die eigenen Krisen und Nöte während der ersten Jahre mit der Diagnose “DIS” konfrontiert sind.

Für uns ist es immer wichtig vor welchem Hintergrund sich jemand mit dem Vielesein auseinandersetzt, denn wir haben auch auf dieser Tagung wieder die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit spirituell-esoterisch-philosophischer™ Grundhaltung häufig nicht anerkennen können, wie quälend das Vielesein mit all seinen Konsequenzen und Qualitäten sein kann und welche Qualen vor dem Vielesein stehen.

So standen wir an einem Tisch mit der Abendsonne im Rücken und bemerkten wie privilegiert wir mit unseren 14 Jahren Auseinandersetzungs- und Prozesserfahrung um das Thema sind. Einfach, weil wir vor 14, 10, 8 Jahren nach einer Aussage wie: “Wenn die DIS für Sie keine Störung und keine Krankheit ist, wo ist dann das Problem? Das sind ja alles nur Gedanken.”, in unseren Zweifeln ertrunken wären, die Therapie und sonstige Hilfen beendet und uns zurück in den Kampf um die Zerstörung der “Gedanken” begeben hätten.

Das Modell der dissoziativen Identitätsstruktur beschreibt auf eine versachlichte, inzwischen stabil theoretisierte Art und Weise die Folgen globaler Verunmöglichung von innerpsychischer Kongruenzentwicklung in einem Individuum. Es geht nicht um den wissenschaftlichen Beweis darum, was man sich so alles ausdenken kann, wenn man sich etwas ausdenken muss.
Niemand kann sich überlegen “Ich werde jetzt einfach viele.” oder “Ich mach das nicht mehr mit – das macht jetzt eine andere Person.”.
Um eine DIS oder eine DDNOS oder andere tief in eine wie auch immer ausgestaltete Persönlichkeit hineingreifende dissoziative Problematik zu entwickeln, “reicht” auch das bloße Erleben von Gewalt und Todesnähe nicht.

Das ist 101 Traumawissen: nicht jedes Ereignis mit Todesnäheerfahrung zaubert eine posttraumatische Belastungsproblematik, geschweige denn eine DIS in einen Menschenkopf hinein.
Doch jedes Ereignis mit Todesnäheerfahrung birgt das Potenzial dazu und kann darin durch diverse Faktoren weiter verstärkt werden.
Etwa allein, ungesehen und unverstanden mit der Erfahrung zu sein. Die Erfahrung innerhalb größerer sowieso latent lebensgefährlicher Kontexte gemacht zu haben und so keine Räume zur Verarbeitung zu haben. Und vieles mehr.

Ebenfalls 101 Traumawissen: Menschen – alle Menschen! – verfügen über unterschiedlich gelagerte Resilienzfaktoren. Manche nennen das “Überlebenstrieb”, “innere Stärke”, manche meinen das, wenn sie sagen, sie hätten einen “unbezwingbaren Willen zu leben”.
Unserer persönlichen Ansicht nach, ist es kein Ergebnis von Resilienz eine DIS zu entwickeln, sondern Zufall im Rahmen der Möglichkeiten, die maßgeblich von neurobiologischen Entwicklungschancen und sozialen Dissoziationsprozessen (bzw. der sozialen Dissoziationskultur, die vorgelebt wird) abhängen.

Nach unserem eigenen Empfinden ist es bei Vorliegen einer DIS – ausgeschrieben: im Status tertiärer Dissoziation – sachlich falsch von “Persönlichkeit” oder “Identität mit diversen Merkmalen” zu sprechen. Die Diagnose bzw. das Modell beschreibt bereits die absolute Desintegration all dessen, was nötig ist, ein kongruentes Selbst (im Sinne einer “Persönlichkeit” oder “Identität”) zu er_leben und nach außen wirken zu lassen.

Ein Ich macht noch kein Selbst.

Es gibt diverse sprachliche Probleme über das fragmentierte Selbst zu sprechen, ohne defizitär, anmaßend, abwertend oder schmerzhaft für andere Betroffene zu agieren. Auch deshalb weisen wir an dieser Stelle erneut darauf hin, dass wir im Blog von Vielen ausschließlich von uns und über uns schreiben.

Wir sind ein dysfunktionaler Mensch, weil wir kein kongruentes Selbsterleben haben (und in einer sozio-kulturellen Umgebung leben, die nicht auf unsere Art der Informationsverarbeitung ausgelegt ist). Das ist für uns die Essenz des Vieleseins.

Das Erleben des eigenen Selbst kann man sich nicht überlegen. Das ist keine theoretische Idee, die man sich darüber macht, wie man ist und funktioniert. Es ist auch keine Wahrnehmung auf die man sich konzentrieren kann. Entweder man hat es, weil es mehr oder weniger konkret benennbare Wahrnehmungserfahrungen gibt oder man hat es nicht, etwa weil, wie im Falle der tertiären Dissoziation vorliegend, dissoziative Barrieren/Klüfte zwischen (Reiz-)Sender und (Wahrnehmungs-)Empfänger liegen.

Was wir von uns wahrnehmen sind Ichs bzw. Ich-Zustände. Jemande. Etwasse. Seins.
Wir nennen konsistente Ich’s in der Regel “Innens”. Kein einziges Innen von uns ist eine “Persönlichkeit” oder hat, was mit “Identität” benannt wird. Doch jedes Innen hat ein Gefühl für und ein Bild von sich.
Jedes Innen hat unterschiedlich viel und unterschiedlich zuverlässig Zugriff auf Informationen. Das können Informationen über gemachte Lern_Erfahrungen sein, häufig sind es aber auch Wahrnehmungs- und Er_Lebenserfahrungen.

Wir alle sind in unserem Re_Aktionsradius in der Regel an das Erregungsniveau des Körpers und physiologische, wie innerpsychische Prozesse gebunden. Unser Erregungsniveau und andere physiologische Prozesse wiederum sind häufig Reaktionen auf die soziale und natürliche Umwelt, in der wir uns bewegen. Häufig – nicht immer und ausschließlich.

An dieser Stelle ein weiteres 101 Traumawissen: Posttraumatische Belastungsstörungen/probleme/reaktionen basieren auf Stress(informations)verarbeitungsproblemen  und daraus hervorgehend fehlerhafter Informations/Erfahrungsintegration.
Die dissoziative Identitätstruktur ist die psychostrukturelle Antwort auf eine permanent bestehende Stress(informations)verarbeitungsproblematik bei gleichermaßen permanent bestehender Überreizung durch toxischen Stress oder latent bestehender Gefahr dessen (etwa in einer dysfunktionalen/gewaltvollen (familiären) Umgebung).

Menschen mit traumatischen Erfahrungen im Zuge von zwischenmenschlicher Gewalt in der frühkindlichen Entwicklung, haben in der Regel neurophysiologisch nachweisbare Anpassungen an toxischen Stress entwickelt. Der Hippocampus und ein Teilbereich des Stirnlappen sind kleiner, der Mandelkern deutlich sensibler – das gesamte System von gewalterfahrenen Menschen ist auf die Wahrnehmung von Gefahren eingestellt.

Angst ist ein Erregungszustand. Einer, der allen Menschen gleich das Leben rettet, wenn nötig.
Angst ist leicht lernbar – und schwer verlernbar.
Ein System, das in weiten Teilen auf Angstgefühlen und den entsprechenden Körperprozessen basiert, funktioniert anders. Der Körperstoffwechsel ist ein anderer, das Immunsystem ist anders aufgestellt, die sozialen Fähig- und Fertigkeiten schwanken zwischen oft zwischen “Kampf”, “Flucht”, “Starre”, das Leben ist ein Kämpfen um Funktionalität, Er_Leben.s.Qualität und Sicherheit mit für vor sich selbst.

Wir erleben uns selbst so, dass wir häufig mittels starrem Kampfverhalten vor Menschen und anderen Gefahrenquellen flüchten und ordnen uns dieses Phänomen als typisch für Menschen mit DIS ein. Wir haben die Annahme, dieses Reaktionsmuster bereits bei vielen anderen mit DIS (wichtig: nicht DDNOS, ESD oder anderen dissoziativen Problemen) diagnostizierten Menschen gesehen zu haben. [Da wir uns hier auch irren können, steht dort “Annahme”].
Unserer Ansicht nach ist diese Reaktion vor allem deshalb möglich, weil die Dissoziation (“Starre”) quasi das Hintergrundrauschen unserer Lebensrealität ist. Bis heute.

Es vergeht für uns kein Tag ohne amnestische Lücken, Depersonalisation, Derealisation – immer wieder in Sekundenbruchteilen wegfunktionalisiert durch Wechsel in unterschiedlich reagible Zustände (“Innens”, Jemande, Etwasse…) und immer wieder innerhalb bestimmter Funktionsinseln oder zwischen den verschiedenen hin und her.
Während Menschen, die nicht viele sind, jeden Tag auf einem Level dissoziieren, das ihnen die Informations- und Stressverarbeitungsprozesse nicht erheblich erschwert oder gar verunmöglicht, ist unser Level und die psycho-physische Bereitschaft dazu quasi “von Haus aus” übermäßig hoch – selbst dann wenn augenscheinlich keinerlei bedrohliche Stressoren auf uns einwirken.

Die Dissoziation wird häufig – gerade in den von mir erwähnten spirituell-esoterisch-philosophischen™ Kreisen – mit dem Nirwana, einer meditativen Trance oder der vollständigen Auflösung in Frieden und Kosmos verwechselt. Für viele nicht traumatisierte Menschen ist eine “out of body-experience” ein geiler Kick, eine freiwillig gesuchte Erfahrung, die sie im Zusammenhang mit Drogen oder extremer Körperbelastung hervorrufen.
Für manche Nihilist_innen ist das Vielesein als Zustand vollkommener Auflösung des Selbst, der Beweis für die Richtigkeit der eigenen Orientierung am Nichts, womit verschiedene (alle) Verhaltensnormen für absurd und sinnlos erklärt werden.

Es sind jene Menschen, von denen wir uns manchmal in unserem aktiven Bemühen um mehr Kongruenzgefühle, adäquate Re_Aktionsmusternutzung und Verarbeitung unserer Erfahrungen beschämt und verachtet empfinden.
Für sie ist unser Zustand der Beweis für ein theoretisches Weltbild, das gerne zur Legitimation antisozialen und/oder antinormativem Handelns gegenüber anderen Menschen verwendet wird – und nicht der Beweis für die Zerstörungskraft ebensolchen Verhaltens gegenüber Kindern unter 5 Jahren.

Vielesein ist keine Entscheidung. Es ist kein Lifestyle.
Wenn man uns am falschen Tag fragt, ist es nicht einmal ein Life.

Pauline_s haben vor Kurzem ein paar Artikel dazu geschrieben, was “multipel sein” für sie bedeutet.

Für uns ist das Vielesein unser Sein.
Nicht mehr, nicht weniger.
Das Blog von Vielen sagt genug, was das für uns bedeutet.

 

P.S. für mehr Informationen zur dissoziativen Identitätsstörung als Krankheit bzw. komplexe Traumafolgestörung empfehlen wir folgende Literatur:
”Das verfolgte Selbst” von E. Nijenhuis, “Trauma und die Folgen” von M. Huber und  “Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen” von U. Gast & G. Wirtz

Tage mit Rettungsauftrag

Tage, wie heute sind „zu rettende Tage“. Tage mit Rettungsauftrag. Tage, die kaputt beginnen und nur durch Routinen oder Elemente dieser Routinen zu etwas „zu rettendem“ werden, damit sie zu etwas werden, das wir gelebt haben.

Der heutige Tag ist nicht durch irgendwas bestimmtes „zu rettend“ geworden. Es war einfach schon alles falsch, als ich vom Wecker aus einem komatösen fast 10 Stunden-Schlaf gerissen wurde und mich fühlte, als wäre mein Gehirn ein ausgetrockneter Schwamm, der von innen am Schädelknochen entlang reibt.
Ab dem Moment wusste ich, dass es ein Tag wird, an dem es darum geht, ihn als gelebt abzuspeichern und extrem darauf zu achten, welche Trigger was wann in welchen Ecken von uns machen. Gerade jetzt.
Und ab dem Moment wusste ich schon, dass wir in den nächsten Stunden zunehmende Schmerzen haben werden, überreizen werden und dennoch durchhalten müssen. Weil unsere Lage im Moment keine ist, in der wir nach unseren Kräften gehen können. Wir müssen nach Deadlines und Abläufen gehen, denen es scheißegal ist, wie viel Kraft wir für sie haben.

Dabei ist dann im Krisen- oder Ankergespräch später immer wieder die Frage: “Wie kann ich Ihnen helfen?” oder “Was könnte denn jetzt helfen?” vor der wir (gerade an „zu rettenden Tagen“) stehen und denken: Is doch egal, was jetzt „helfen“ kann – a) was heißt “was” und b) was heißt “kann” (und c) helfen! –PH! Nix! Gar nix! Niemals! Je! Irgendwas!) – Hauptsache irgend___was passiert und hilft dann auch wirklich.
Es ist das kindliche ABERJETZTSCHNELLSOFORTGLEICHMITOHNEABERHÄTTEWÜRDEWENNPLANUNG – JETZTJETZTJETZT like: JETZTSOFORT!!!!!! in Kombination mit einem Egoding, neben dem Gefühl sowieso keinen Überblick zu haben und keine Priorität einordnen zu können, neben dem Wunsch einfach irgendwie ein großes Stopp in die Vorgänge zu halten und ausruhen zu können.

Vorhin habe ich ein Video gesehen, das meiner Wahrnehmung von heute ziemlich nah kommt (Wir sehen nicht so verwackelt wie in dem Film umgesetzt, sondern immer eher so als wäre die Umgebung eine durcheinanderwirbelnde Schachtel Puzzleteile – also viele Details, aber nie ganze Räume oder Personen)

Aufgewacht bin ich um 7:30 Uhr mit einem Wahrnehmen wie ab 0:42 – heulend auseinandergebröselt, bin ich aber erst gegen 15:50 Uhr – nach 4 Straßenbahnfahrten, einmal Tierarzt plus Geldsorgen und Familienkontaktwunschgegensteuern, intensiv arbeiten an Stiftungsschreiben, intensiv arbeiten in einer ungewohnten/fremden Arbeitsumgebung mit ungewohnten/fremden Umgebungsgeräuschen (die zwei Baustellen, eine Hauptstraße mit Straßenbahn und Passanten enthielt), eine neue Person kennenlernen, fremdes Frühstück essen und dem Versuch mich mit meinen Gefühlen und meinem Wahrnehmen (ab 0:53 bis 1:18) verständlich auszudrücken (und nicht zu schreien, mir absichtlich weh zu tun oder sonst irgendwas lautes bzw. überintensives zu tun).
Die 11 Sekunden zwischen 0:42 und 0:53 waren im Grunde unser Tag von „Aufwachen“ bis „dem Begleitermenschen am Telefon vollheulen und sich die Kopfhaut reiben bis aufkratzen“.

Letztes Jahr um diese Zeit wusste noch nicht, was ein Overload ist und erst Recht nicht, dass es um Überforderung und Überreizung geht und nicht darum, dass ich mich einfach anders fokussieren muss.
Ich wusste nicht, dass es in echt ein Zuviel geben kann, das nicht viel mit dem zu tun hat, was andere Menschen auch wahrnehmen und merken und wissen. Vielleicht sogar nachfühlen können, wenn sie sich das vorstellen, sondern um ein Zuviel, das nur wir merken, weil nur wir die Welt so wahrnehmen, wie wir sie wahrnehmen, weil wir eben so wahrnehmen, wie wir wahrnehmen.

Was in dem Video ein zunehmend dunkler Hintergrund ist, ist bei uns mal ein weißer Nebel (Dissoziation, die zu Wechseln führt und eine dissoziative Amnesie, aber auch Fugue-Erfahrungen und Krampfanfälle für mich bedeutet), mal ein milchiger Schleier (dissoziatives Erleben im Sinne von Depersonalisation oder Derealisation), als aber auch so ein dunkles Loch (wo dann nichts mehr geht – weder sprechen, noch denken, noch orientieren, noch sitzen, noch laufen – dann brauchen wir unseren dunklen engen Käfig und eine ganze Weile ganz viel Nichts).

An vielen „zu rettenden Tagen“ verlasse ich mich darauf, dass wir einfach alles wegdissen. Dass wir funktionieren, weil wir funktionieren müssen. Und zwar einfach manchmal wirklich müssen, weil ausruhen, Pause, Stopp, langsam und Schritt und für Schritt zu viel Zeit frisst und wir nach wie vor nicht immer und überall hingeben können: „Ich kann gerade nicht, weil ich nicht kann.“
Und: weil wir weder einfach delegieren können, noch wollen.

Wir haben an wenig Dingen ein Egoding dran.
Aber Dinge, die wir wollen (weil wir sie brauchen oder von denen wir den Eindruck haben, dass sie uns helfen können) machen wir alleine. Weil wir das können. Weil wir schon viele Dinge geschafft haben und ja: Dinge, vor denen andere Menschen abkacken, weil sie nicht die Fähigkeiten dazu haben, sie zu schaffen.
Ja, da ist ein Vergleich und ja, da ist ein: “Wir können etwas sehr sehr gut, das andere nicht können” und ja: da ist ein Egoding dran. Kein Überlebensstolz, aber ein Fähigkeitenstolz.
Ein Fähigkeitenstolz, den wir uns auch klemmen könnten, weil sich funktional zu dissen keine wirklich trainierbare Fähigkeit wie gute Manieren oder ein Handwerk ist, sondern das Ergebnis von Gewalterfahrungen, die uns auch ganz greifbar und konkret das Leben hätten kosten können – aber er ist da und er erfüllt einen Zweck nur für uns allein. Nämlich den, sich durch Tage wie den heutigen zu bringen und daran auch noch etwas Gutes zu finden.

Unsere Gemögten und der Begleitermensch und ganz viele andere Menschen, möchten uns immer wieder so gerne helfen. Fragen, was sie tun können oder sagen uns, dass sie gerne helfen würden, aber nicht können.
Und wir schwanken jedes Mal zwischen: “Ja, okay dann hilf mir ABERJETZTSCHNELLSOFORTGLEICHMITOHNEABERHÄTTEWÜRDEWENNPLANUNG-JETZTJETZTJETZTlike: JETZTSOFORT!!!!!!” und “Ph, ich krieg das schon hin. Ich hab ja schon Dinger geschafft…” und “Ja, ich weiß ja auch nicht oben unten Zeit Raum schwalla la la la la ach ja…”
Und in aller Regel schlängeln wir uns aus den Angeboten raus oder nehmen sie an und kriegen kein Gleichgewicht mehr hin. Können Schulden nicht (schnell oder wie geplant) zurückzahlen, können nicht so viel emotionalen Saft reingeben, wie es der Umgang mit uns erfordert, können nicht die Freuden schenken, die wir schenken wollen würden, fangen an den Kontakt zu zerstören, weil anfangen uns zu überanstrengen möglichst keine Konflikte oder Reibungsflächen aufzumachen.

Alles alleine zu schaffen schützt uns vor diesem Dilemma. Und fühlt sich nachträglich auch noch super an. Irgendwann.
Jahre später, wenn man zurückblickt und denkt: “Alter, wasn krasser Scheiß – Ausstieg während Abendschule und Therapie – krasse Leistung!”. Ich ziehe daraus den Gedanken: “Ja, dann schaffe ich das jetzt hier auch.” und impliziere damit auch: “Ich schaffe das genauso alleine wie damals, als wir alles alleine bzw. fast alleine und immer einfach auf gut Glück ohne Netz und doppelten Boden machen mussten, weil es anders nicht ging. Ganz klar und konkret, ohne eventuell vielleicht hätte würde wenn man könnte … nicht anders ging, als alleine, funktional gedisst und über alle Grenzen und Maßen hinaus auch leidend.

Damals hatten wir kaum Gespür für uns als uns. Hatten kein Gefühl für Grenzen und es ging über Jahre darum zu merken, wann das Stresslevel so hoch war, dass wir gedisst haben und mit welchen Strategien wir versucht haben, etwas dagegen zu tun.
Jetzt geht es darum zu merken, warum wir dissen und welche Strategien ein nice try, aber sinnloser Bullshit sind.

Und die Konsequenzen daraus.
Und die fressen mein Egoding. Aber das sollen sie doch nicht machen. Ich mag es nicht, wenn logische Konsequenzen meine Egodinger aufessen. Ich hab nicht viele davon, deshalb verwechsle ich sie auch manchmal mit Würdedingern, die man gesellschaftlich akzeptiert auch mal harsch verteidigen darf. Weil unantastbare Würde und so.

Daneben ist es aber auch so, dass wir immer wieder die “bedürftige Hannah” sind. Entweder die “bedürftige Hannah, die aber nicht jammert, sondern macht und kämpft” oder die “bedürftige Hannah, die ja einfach nur mehr XY und weniger AB machen müsste, damit…” oder die “bedürftige Hannah, die ein Mahnmal dafür ist, wie gut man es doch selbst hat” oder die “bedürftige Hannah, die so wahnsinnig inspirierend ist, in ihrem Kämpfen um den eigenen Weg”.

Wir sind selten die Hannah, die ganz sicher sein kann, dass alles okay ist und bleibt, wenn sie hunderttausend Dinge nicht mehr macht, weil sie ernst nimmt, wie sehr sie sich damit auch quält.
Oder die Hannah, die nichts (vor allem keine existenziellen Notlagen) zu befürchten hat, wenn sie im eigenen Tempo, im eigenen Level tut, was zu tun ist.
Und wir wissen, wie wenig wir in dieser Gesellschaft eine “kompetente, ernstzunehmende, professionelle, im Leben stehende Hannah” sein können, wenn wir Menschen brauchen, die uns  sagen: “Du bist erschöpft – tu jetzt, was dir gut tut, anstatt zu tun, was du tun musst.” oder “Du quälst dich (andere Innens), weil du (für sie) ein Wiedererleben traumatischer Situationen erzwingst – mach eine Pause.”, weil wir es sonst nicht merken oder merken  und:  “Aber trotzdem! Aber will, weil brauch und dafür wollen sollen muss!” rufen und mit dem Kopf durch die Wand und die Wände hinter ihr wollen.

Es geht an „zu rettenden Tagen“ manchmal auch darum, dass wir merken, dass wir sie retten können.
Dass wir nicht schaffen, was uns üblicherweise (durch Routinen, Tagesplan und bestimmte Inseln des Ist) darin versichert, dass ein Tag ist und war und von uns mit_gestaltet und von uns gelebt wurde, aber, dass wir uns ihren Anfang und ihr Ende ganz sicher und klar vor Augen halten können.

Und sei es mit einem Blogartikel, der das letzte bisschen Denkleistung aufgegessen hat.

das “so-tun-als-ob-die-DIS-Diagnose-neu-wäre”-Ding #1

Während sie uns die Treppen hinunter manövrierte, drehte sie sich zu mir und sagte: “Läuft doch gut, oder nicht? Landkartendings – check!” und fuchtelte ihr Fröhlichfuchteln.

Ich hielt inne und beschloss umzudrehen. Die Treppen zurück nach oben, Sturmklingeln und den krausen Wirrwusch zwischen Denken, Begreifen und Kontrollverlust per Telepathie ins Verstehen der Therapeutin hineinpflanzen. Beschloss: “Nein – Nein – Nein” und all die anderen Konstruktivitäten, für die ich bekannt bin.
Griff nach meinen glatten Wortketten zur Erklärung von allem, drehte mich um und bemerkte, wie andere schon längst um den Lenker des Fahrrads schwirrten, um nach Hause zu fahren.

“Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, wieso du dich immer so schuckich anstellst, wenn es mal irgendjemand von uns schafft, mehr als Mimimi und Nein-Nein-Nein zu sagen?”, fragte mich ein Knäul etwas neben der beschwingt auf dem Rad um sich fuchtelnden Jugendlichen.

Leises Grummeln walzte sich durch das Grau über unserem Kopf. “Ich bin nicht mehr phobisch euch gegenüber.”, antwortete ich und hörte, wie das Knäul missbilligend schnaubte.  “Uns nicht – aber dir selbst gegenüber – Herzilein – dir selbst gegenüber…”.

Manchmal denke ich noch: “Ach – ich warte jetzt einfach kurz bis ich wieder normal bin und dann mach ich alles wieder gut. So wie vorher.”. Dann krause ich neben uns her und summe in mich hinein, dass alles okay ist, weil alles okay ist und nichts nicht rückgängig gemacht werden kann.
Leider weiß ich schon, dass mein Vorher eine tröstliche Selbstverarsche ist, die mich über mein Unvermögen flauschen will. Und leider weiß ich selbst auch schon, dass jedes Nein-Nein-Nein und Mimimi nichts weiter beinhaltet als: “Wääh – ich will aber bitte nicht, dass das so ist, sondern bitte irgendwie weniger SO und mehr – naja – ich weiß auch nicht – fuchtel fuchtel keine Ahnung alles – Hauptsache nicht SO” as you know – i’m the queen of konstruktiv

Und trotzdem verfolge ich diese Therapie weiter. Stehe neben der Tür und beobachte, wie sie mit der Therapeutin reden, höre manchmal hin und manchmal weg.

Die Idee eines So-tun-als-hätten-wir-die-DIS-Diagnose-neu fand ich interessant. Denn ich hatte nie die Chance diese Diagnose als neu zu empfinden oder zu denken. Es gab sie schon, als meine Erinnerung beginnt und einen Umgang, eine Haltung, eine Identifikation damit zu haben, werden von mir genauso erwartet, wie von allen anderen eher in den Alltag wirkenden Innens, die sich damit schon seit 2003 auseinandersetzen.
Ich hatte mir einen sichereren Rahmen dafür gewünscht. Mehr aufgefangen werden, mehr Option sich umzudrehen und jemandem – auch wenn es gar nichts verändert – alles von mir empfundene: “Ja – aber – Mimimi” sagen zu können, um nicht damit allein sein zu müssen, während man nicht weiß, wohin damit.
Jetzt versuchen sie es im Rahmen der ambulanten Therapie weiter.

Es gibt jetzt eine neue innere Landkarte und sie lag heute vor der Therapeutin auf dem Boden. Ich dachte an Metaphern wie  “das Innerste vor jemandem ausbreiten” und viel “oh nein – nein – nein” und wunderte mich wie die Jugendliche und die Therapeutin so miteinander reden.
So ruhig und ganz klar umrissen.
So überhaupt gar nicht dem chaotischen Kreuzfeuer, das in meinen Ohren rauschte, entsprechend und allgemein so… surreal alltäglich.

“Dein Problem ist nicht, nicht zu glauben, dass du zusammen mit uns viele bist – dein Problem ist, dass du denkst, das Viele-Sein an sich, hätte mit dir nichts zu tun, Herzilein.”, sagte das Knäul mit den ersten auf uns herabfallenden Regentropfen.

Ich weiß, dass das stimmt.
Aber.

Mimimi

Fundstücke #14

ES war nie okay
ES war immer schlimm

In Wahrheit ist nie irgendetwas vorbei. Oder zu Ende.
In Wahrheit ist es so, dass die Zeit so viele Huckel, Kluften und Falten hat, das die Idee vom linearen Hintereinanderher absurd und haltlos erscheinen muss.

Natürlich kann ich Aktionen und Abläufe wie  Perlen auf eine Schnur hängen und so tun, als seien die Kreise, die die Uhrzeiger immer neu aufs Zifferblatt malen, die alles ordnende Konstante. Doch welchen Raum soll diese Zeitperlenkette einnehmen, wenn nicht den des subjektiven Empfindens?
Woran entlang passiert Entwicklung und was, wenn nicht Entwicklung ist Zeit und Raum als erfahrbares Stück Weltlichkeit?

Die Welt und ihr Lauf der Dinge sind mehr als ein reißender Fluss, bestehend aus vielen einzelnen Wellen. Viel mehr ist die Welt der Fluss und die einzelnen Wellen sind die Myriaden Tropfen, die zu Selbst und Wahrhaftigkeit zu werden versuchen, noch bevor sie sich verlieren im endlosen Sein und Werden.

In Wahrheit
ist im Inmitten.

sechsundzwanzig

“Sie machen also richtig Ferien”, fragt die Therapeutin in den Raum hinein. Ich betrachte die Frage in ihrem Flug an die Stirn des Kinderinnens, das vor ihr sitzt und möchte mich tot lachen, als dieses nickt.

You say „Ferien“ I say „Hartz4–Alltag“. You think „Ausruhen“ – I think „FUCK OFF“

Das Gespräch verwandelt sich zu einem entleerenden Frage-Antwort – Ping Pong und ich lasse los.
Weil Ferien sind und es egal ist, wie es uns nach der Stunde geht. So oder so gehen wir nach Hause, schlucken die zweite Zahnschmerztablette, lesen, teilen, zeichnen, bearbeiten Fotos, rangieren Not von links nach rechts, gehen mit dem Hund raus, kochen, schauen YouTube-Filme und schlafen ein, wenn die Frühschicht zur Arbeit fährt.

Es ist nichts da, was macht, dass es uns so geht.
Ich bin einfach traurig. Ich leide einfach und es gibt nichts, was das abkürzen könnte.
So ist Depression.

Keine Wörter, keine Gründe, die man wie ein Ursache-Folge-Spiel zusammenkonstruieren kann.
Es war halt viel und es war halt viel Scheiße und es wird auch später noch viel Scheiße da sein.

In zwei drei vier … Tagen, Wochen, Monaten werde ich weniger drunter leiden.

Kein Grund irgendwas zu sagen. Kein Anlass irgendwas zu teilen.
Keine Rechtfertigung um etwas zu bitten.
Es würde nichts verändern.

ein Montag, der drei Tage dauerte

Der Schlussakkord der Therapie lautete auf: “Wenn du ein Problem hast, dann hast nur du ein Problem.” und fügte sich wunderbar in die Scheißesinfonie der letzten Wochen ein, die von schwierigen Dynamiken und Entwicklungen erzählt und davon, dass einige der Menschen, mit denen ich versuche und versuchte zusammenzuarbeiten sich von mir entfernen, mich verlassen, mich allein lassen mit Schmerz, Angst, Ohnmacht und genau dem, von dem ich weiß, dass ich allein es nicht tragen kann.

“Dass ich überfordert bin, ist mein Problem und deshalb ist es legitim mich mit dem Schaden aus diesen Überforderungen allein zu lassen und mir das Gefühl zu geben unzulänglich, böse und unfähig zu sein.” – keine neue Erkenntnis, sagt doch eigentlich jede Gewalt- und Vernachlässigungserfahrung genau das auch.
Trotzdem ist es ein Schmerz und trotzdem ist es falsch.
Und trotz genau diesen Umstandes ist es mein Problem und völlig egal für das Ummichherum. Ich werde angeschwiegen und zwischendurch fühlt es sich an, als würde man mich totschweigen wollen. Oder müssen.

Mein Kopf summte diese Sinfonie in der Nacht vor der Fahrt nach Hamburg immer wieder vor sich hin. Ließ mich nicht schlafen. Ließ sich aber von der Angst den Wecker nicht zu hören ablösen.
Ich stand um 4 Uhr auf und tröstete mich damit, eine gut durchgeplante Fahrt zum Inklusionscamp anzutreten.
Ich hatte eine Sitzplatzreservierung, hatte meine Route innerhalb von Hamburg genau ausgekundschaftet. So wie man das macht, wenn man alleine fremd unter Fremden ist.  Ich weiß, was ich brauche, um gute Arbeit und gute Anteile meiner Arbeit teilen zu können und habe mich darum gekümmert.

Und dann war Montag.
Es kann nur Montag gewesen sein, denn nur Montage schaffen solche Konstellationen aus Verspätungen und Notwendigkeiten in Regionalbahnen steigen zu müssen, in denen bereits um kurz nach 8 Uhr morgens angetrunkene Fußballfreunde und ihre praktischen 5 Liter-Siegerbierfässer sitzen.
Außerdem fährt der alte Penner, der uns in der Hamburger S-Bahn unter den Rock gegriffen hat, sicher auch nur Montags in der gleichen Bahn, wie Leute, die von sowas in Flashbacks getriggert werden.
Da bin ich ziemlich sicher.
Außerdem fahren nur Montags die Busse, die nur einmal in der Stunde fahren, direkt so weg, dass man ihre hämisch grinsenden Schlusslichter noch sehen kann.

Wir haben uns umgeschaltet.
Man nennt das “positive Ressource” obwohl es im Grunde bewusstes Spalten ist und nichts Anderes oder Gesünderes, als die Dissoziation, dessen Wirkung uns zu einem Menschen macht, der viele ist.
Nach vorn treten Innens, die funktional sind, aber wenig schwingungsfähig. Sie sprechen mechanisch und saugen Informationen auf ohne sie zu berühren. Ich treibe neben ihnen her und habe ab und zu die Idee, ich könnte mich ja mit meinen gemochten und gemögten Menschen verbinden, um diese Innens weniger notwendig zum Überstehen dieser Stresssituationen zu spüren.
Doch auf die Idee kam die Erinnerung an den Umstand, sein Problem immer selbst zu haben und die Idee, einfach nicht mehr zurück zu fahren. Einfach noch ein Stück weiter Richtung Norden, dann ein bisschen nach rechts und dann ist es schon nur noch das Drücken eines Klingelknopfes, das davon trennt, endlich das zu bekommen, was man braucht. Will.

Zwei Mal sprachen wir vor Menschen, die sich für das Thema “Komplextrauma” interessiert haben, davon, wie wichtig kontinuierliche Begleitung, klare und transparente Strukturen und eine Idee vom Entstehen einer posttraumatischen Belastungs”störung” ist. Gerade bei Menschen, die daneben eine Behinderung haben bzw. behindert werden.

Und selbst bewegten wir uns auf Notstrom und voller Spannung auf allem, was uns erreicht, um uns zu regulieren.
Vor allem als nach dem Ende des zweiten Camptages unsere Fahrt von Hamburg nach Hause um 19 Uhr genau nicht begann und erst am Folgetag um 16 Uhr 25 endete.

~Fortsetzung folgt~

keine neue Hölle

Eine Woche später habe ich neue Wörter für das, was passiert ist.
Erstaunlicherweise haben diese Wörter keinen Bezug zu Wahnsinn oder Irre, sondern sagen am Ende nichts anderes, als das, was ich empfunden habe.

Zusammenbruch und Abschottung
Meltdown und Shutdown

Nicht: “akute Psychose” und auch nicht: “schizoider Wahn”.

Morgen ist der erste Kontakt danach.
Einerseits merke ich, dass ich mir Sorgen darüber mache, wie viel mein Wort über dieses Ereignis zählt, andererseits merke ich eine Art ruhige Bestimmtheit, die sehr klar nur das zu gelten gedenkt, was in Frage zu kommen erscheint.

Man kann viel aus Krisen lernen und das sage ich nicht, um unser derzeitigen einen Sinn zu geben, sondern weil es so ist.
In Krisenzeiten versagen Schutzschilder und in unserem Fall ist das vielleicht der einzige Zustand, in dem wir Aspekte von uns, unserer Wahrnehmung, unserem Denken und Werten wahrnehmen können, ohne, dass sie durch jeweilige Funktionen nach außen verändert sind.
Jede depressive Krise verzerrt die Kognitionen und Aktionen, zu denen man fähig ist – das ist das Wesen der Depression: der neuronale Scheintod.
Abschaltung zur Sicherung des Überlebens.

Depressionen sind der neurologische Winterschlaf vor Überforderungen, Einsamkeit, Trauer, Verlust, Angst. Depressive Gehirne können aufwachen, wenn sie positive Bindungserfahrungen machen, wenn sie mit genug Melatonin versorgt werden, wenn sie nicht hungern oder dursten müssen. Wenn sie sich erholen können. Wenn sie es sich erlauben dürfen, ihre unverarbeiteten Datenknäule als körperliche Bagatellen sichtbar zu machen.

Wir sprechen seit Wochen von Überforderungen und einem undefiniertem Zuviel.
Sagen immer wieder, dass wir zeitweise keine Fähigkeiten haben zu sprechen. Wir sagen: “Wir können nicht entspannen.”. Wir sagen: “Wir können nicht schlafen.” Sagen: “Wir erinnern.”.
Und unsere Therapeutin fragt: “Warum?” und “Was bedeutet das?”.
Mitunter reißen die Tobenden an ihren Ketten und schreien sie an. Sie reißen an der Barriere zur Präsenz, weil “Warum?” die falsche Frage für uns ist.

Es ist nicht die Frage, warum wir in eine Krise rutschen, wenn wir erfahren, dass unser Denken und Wahrnehmen schon immer grundlegend anders war, als bei anderen Menschen. Wenn wir merken, dass unsere berufliche/finanzielle Situation nicht von uns allein zu verändern ist. Wenn wir merken, wie viel Innen wie sehr anders ist, als wir. Die Rosenblätter, die in den letzten 4 Jahren dieses fragile IST gehalten und getragen haben.

Es ist nicht die Frage nach der Bedeutung der Ereignisse – es ist die Frage nach dem Ausdruck der Ereignisse.
Es ist die Frage, warum das Schweigen im Reden so laut ist.

Und warum das Schweigen in seiner ständigen Präsenz nicht gleichsam problematisiert wird, wie die Kapitulation vor der Überforderung.

“Das Schweigen der Opfer”, ist eine der Formulierungen aus der Massenpresse, die mich am meisten verletzt hat, nachdem ich meinen Moment des Bewusstwerdens der eigenen früheren Opferschaft erlebte. Viel Zeit verging, bis ich meine Äußerungen als Reden ohne Aussage enttarnte. Lange hat es gedauert bis ich verstand, dass mein Reden entstand, weil niemand unser Sagen versteht.

Eine spezielle Hölle ist die, die man nicht in der gleichen Sprache abbilden kann, wie sie die Menschen um einen herum verwenden. Eine spezifische Frustationsquelle ist es, wenn immer wieder Worte stehen und sein sollen, die nicht passen.
Es überfordert, ängstigt, löst Trauer und Einsamkeitsgefühle aus, diese Hölle zu spüren und nicht verlassen zu können.

Neben all dem merke ich Veränderungen, die für andere Menschen Fortschritte heißen.
Der Umstand, dass uns die Therapeutin inzwischen wichtig genug ist, dass wir uns so (über)anstrengen, wie wir uns (über)anstrengen, dass sie begreift, was wir zu sagen aus uns rauswürgen. Solche Kraftakte haben wir für andere vor ihr nicht auf uns genommen.
Von anderen haben wir uns finden lassen – haben Waffen nieder- und Schutzschilde abgelegt und angefangen zu reden.  Da gab es Entlastungen, da gab es Entwicklungen. DAS DA hat sich aber immer erhalten. Unbewortet.

Und die eigenen Ränder, die als wahrhaft anerkannt werden. Nicht als subjektive Grenze und nicht als Ende des WIR, aber als Anfang von dem, was nicht mehr WIR ist. Da ist das Bemerken, dass “die Anderen” erheblich weniger Angst davor haben abgelehnt zu werden, als nicht zugehörig zu sein.  Da gibt es so eine Ahnung von einem Bewusstsein um sich, das ist, auch, wenn man gemieden wird.

Vielleicht gehe ich deshalb morgen da hin, obwohl ich es lieber vermeiden würde.
Weil sie mir das Gefühl geben, ich könnte alles im Außen verlieren und wäre trotzdem noch da. Weil sie mir mit ihrem ruhig bestimmten Wissen vermitteln, dass es nichts Neues wäre. Nichts, was sie nicht schon viele Male überlebt hätten.
Keine neue Hölle.

viele sein erklären

~ Fortsetzung ~

“Und wann hast du gemerkt, dass du in der Pflicht bist alle Menschen mit DIS zu repräsentieren?”

Ich weiß gar nicht mehr genau, wann das zum ersten Mal in einem Gespräch zwischen unserer Gemögten und uns aufkam und was der Auslöser war.
Dass ich das nicht mehr weiß, macht mir klar, dass es für uns bei dem Thema Projektion und Anspruch an uns um mehr geht, als nur das übliche Problem, das Blogger_innen (und *ist_innen allgemein) haben.

Immer wenn ich mit der DIS sichtbar wurde, gerade in Jugendhilfeeinrichtungen oder Betreuungen, manchmal auch bei Mediziner_innen, Beratungsstellen und Praxen für Psychotherapie, gab es die große Unwissenheit. Man sollte es nicht glauben, aber bis heute wissen Mediziner_innen nur selten mehr über Traumafolgestörungen* als das, was unter dem Begriff der PTBS benannt wird.
Bis heute ist es nicht selbstverständlich, dass es in Frauenberatungsstellen mehr als eine oder zwei Berater_innen gibt, die Kenntnis von dissoziativen Störungen als Traumafolge haben.
Mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun zu haben, ist den meisten Erzieher_innen in der Jugendhilfe klar, doch was dies in Bezug auf ihre Arbeit bedeuten muss und worin sich diese Besonderheiten begründen, wissen die wenigsten. Ähnliches gilt für Eingliederungshilfen für Erwachsene.

Wir haben heute eine so glatt geschliffene Art die DIS zu erklären, weil wir jahrelang oft nichts anderes als unbezahlte Aufklärungsarbeit gemacht haben, die nicht als solche anerkannt wurde, sondern oft genug auch unter “die Bekloppte reden lassen” einsortiert wurde.
Dass wir dort etwas taten, was weder in unserer Verantwortung lag, noch etwas ist, wofür sich manche Behandler_innen richtig was bezahlen lassen (und dabei oft auch noch weit weniger wirklich begreifbar machen), war uns nicht klar.

Dass es aber auch Auswirkungen auf den Blick auf uns als glaubhafte, wahrhaft multiple Person haben würde, wussten wir ebenfalls nicht und vergessen das auch heute oft.

Es gibt die Diskrepanz zwischen den Worten, die man für seine Umwelt- und Selbstwahrnehmung hat und dem, was man davon wie nach außen für andere sichtbar (findbar) ist.
Wenn ich sage, dass ich depersonalisiere oder derealisiere (das sind die Artikel im Blog, die immer wieder so klingen, als würde ich eine Geschichte schreiben), dann merkt es das Außen nicht unbedingt. Vielleicht sieht man eine motorische Fahrigkeit, bemerkt Schwierigkeiten mit der Sprache, bemerkt, dass es verzögertes Reagieren gibt – doch all das geht nicht zwangsläufig miteinander einher.

Und dann gibt es da die Problematik, dass die Diagnosebeschreibung oft auch das eine oder andere (unausgesprochene) Vergabegebot unter BehandlerInnen begründen.
Das heißt, wenn ein creepy Sherlock auf mich zukommt, 20 Minuten mit mir zu tun hat und mein Sein anhand der Diagnosekriterien seziert, wird si:er nicht immer zu 100% Übereinstimmungen finden.
Solche Personen blenden dann oft auch unsere Entwicklung und ihre Folgen aus.
Es ist kein Anzeichen von einer Nicht-DIS, wenn man nach 13 Jahren DIS- Diagnose irgendwann aufhört, die Diagnose an sich so in Zweifel zu ziehen, wie man das noch tat, als sie frisch war bzw. wie man das noch tat, als man begriff, was sie impliziert.
Es ist auch kein Anzeichen einer Nicht-DIS, wenn man nicht für jede umstehende Person offensichtliche Wechsel des Seins hat. (Genauso wenig ist es ein Anzeichen einer DIS solche Wechsel zu haben.)

Hinzukommen Faktoren wie der, dass es kaum Diagnosen gibt, deren Symptome nicht auch Schnittmengen haben können mit anderen Diagnosen. Wir sehen das ja an den Bereichen, in denen unsere Symptome auch als spezifisch für einen bestehenden Autismus betrachtet werden können. Und wir sehen das an Dingen, wie der chronischen Essstörung, der chronischen Depression und den Schlafstörungen, die ebenfalls verschiedene Folgen und Auswirkungen mit sich bringen.

Eine unserer Jugendhilfebetreuer_innen war Bulimikerin (recovered) und hat jedes andere unserer Probleme ausgeblendet, weil sie nur die Essstörung und ihre Folgen wirklich begriffen hat. Viele traumatisierte Kinder und Jugendliche entwickeln Essstörungen (und andere Süchte).
Ich kann über diese Herangehens- und Arbeitsweise der Betreuerin also gar nicht sagen, sie hätte Scheiße gebaut – sehr wohl aber kann ich sagen (und tue das auch), dass sie die grundlegende Struktur unserer Selbst- und Umweltwahrnehmung ausgeblendet hat, was am Ende für uns bedeutete, nicht die Hilfe (und Ansprache) zu erfahren, die wir gebraucht hätten.

Das Schlimme ist: Uns war das damals nicht so klar und als wir das klar hatten, sind wir auf das ewige Professions-sorry-gesülze reingefallen. Das bedeutet, wir haben sie aus ihrer (den Leistungsträger aus seiner) Verantwortung genommen, weil uns immer wieder gesagt wurde, unser Sein wäre so krank, dass sich da nur Ärzt_innen WIRKLICH RICHTIG GUT drum kümmern können. Und Psycholog_innen. Wenns denn sein muss.
“Ein_e ganz normale_n 08/15 Erzieher_in kann das ja gar nicht stemmen das Thema und das kann man ja auch nicht erwarten, dass die sich jetzt noch extra hier wegen einem Fall fortbilden… “, das ist so der Tenor unserer Betreuungen gewesen.

Das Problem ist natürlich: unser Recht fachlich kompetent betreut zu werden wurde nicht gewahrt.
Das Problem ist aber auch: es hat ja trotzdem gut geklappt

Ja, das ist wirklich ein Problem, denn: nur weil ich aus der Sache insofern heil raus bin, als dass ich nicht in eine Klinik musste oder tatsächlich verstorben bin, heißt es nicht, dass da gute Arbeit an und mit mir passiert ist.

In der Eingliederungshilfe, die wir zuletzt in Anspruch genommen haben, gab es eine fertige Erzieherin, die fortgebildet war und eine, die gerade eine fertige Erzieherin wurde, die fortgebildet war. Das macht zwei über eine “Krankheit” näher informierte Betreuungspersonen. Nicht: zwei kompetente, supervidierte, kontinuierlich weitergebildete, im Team vernetzte, gut für sich sorgen könnende Fachkräfte.

Es läuft für diese beiden Personen so, wie es für viele läuft, die etwas wissen, was die Kollegen nicht wissen können, weil nur eine oder zwei Personen des Teams die Fortbildung vom Arbeitgeber finanziert bekommen: sie kriegen die entsprechenden Fälle zugeschoben und wenn sie sich nicht abgrenzen können, sich verantwortlich für die Menschenleben hinter der Diagnose fühlen oder (das gibts auch) sie nur noch die Arbeit mit Personen, die mit dieser Diagnose gelabelt sind, erfüllend finden, dann übernehmen sie diese Fälle natürlich.
Und betreuen am Ende vielleicht ausschließlich Menschen mit DIS. Was unterm Strich und tatsächlich zu oft im Scherz gesagt bedeutet: Gruppenbetreuung bei jedem Termin.

Es bildet sich in der Folge gerne mal eine Betreuungsrandgruppe.
“Du und deine Multis… (ihr wollt immer ne Extrawurst/ ihr seid doch beide nicht mehr ganz dicht/ die verändern dich total (zum Negativen – ich will nichts mehr mit dir zu tun haben)… )”, das wird dann schnell zum üblichen Ton.
Das Ergebnis sind Betreuer_innen, die in ihrem Team keinen Rückhalt erleben, die sich nicht trauen Urlaub zu nehmen, in Ruhe Krankheiten auszukurieren, die sich für ihre Betreuten aufopfern und die irgendwann nach 20 – 30 Jahren, bei Mindestlohn und verweigertem Streikrecht verbrennen und chronisch krank bis arbeitsunfähig bis selbst eine Betreuung, eine Therapie brauchen.

Und die Multiplen? Sind die dumm und merken das nicht? Nein. Natürlich nicht. Sie wurschteln sich zurecht, weil ihre “Krankheit” sie dazu befähigt das zu können. Am Ende einer Betreuungszeit gibt es immer die Möglichkeit zu sagen: “Na es war schwierig, aber das hat ja geklappt.”.
Die nachfolgende Person mit DIS übernimmt in der Folge ein Erbe, das sie vielleicht aufgrund früherer Betreuungen schon kennt und eigentlich loswerden wollte: nämlich den Anspruch, dass es schon klappen können muss, weil es ja bei allen Menschen mit DIS, die vorher da waren auch geklappt hat.

Für uns war ein wichtiger Schritt uns nicht mehr herzugeben für diese Dynamik.
Wir sind aus der Betreuung raus, statt zu versuchen auf Fort- und Weiterbildungen unserer Betreuer_innen zu bestehen und suchten nach einer Psychotherapeutin, die erfahren ist, aber noch keine 20 30 40 Jahre mit Menschen mit DIS arbeitet.

Es hat sich für uns gelohnt offen zu sein. Wir leben in einer Stadt, die auf vielen Ebenen gut für uns ist. Hier gibt es viele offen nicht heterosexuell lebende Menschen, es gibt viele Menschen, die den Begriff “Inklusion” nicht als feschen Sozialaufwertungbutton auf sich kleben haben, es gibt eine bunte Frauenrechtsbewegung und das Thema “Trauma” wurde und wird hier bis heute an entsprechenden Stellen diskutiert.
Natürlich haben auch wir lange nach einer Therapeutin gesucht, aber die Absagen, die wir erhielten (und die wir erteilten) basierten aber nur in 2 von 27 Fällen auf dem Umstand, dass die Personen absolut keine Ahnung von Traumafolgen hatten.

Wir sind mit einer Attitüde in die Gespräche reingegangen, die jede_n Diagnosezweifler_in darin bestätigt hätten, dass wir eine Hysterikerin (eine Fakerin) sind, die ein “diagnose passing” (also: von den Behandler_innen in dem Glauben gelassen werden, man würde diese eine Krankheit behandeln) erhalten hatte.
Für uns ist es ein Problem, dass wir an uns bemerkt haben: es gibt diese permanenten Notlösungen, weil einfach niemand sagen will, er oder sie hätte Ahnung von dem viele sein einer jeden einzelnen Person, letztlich aber doch so handeln muss.

So passiert es eben auch, dass ich hier als Bloggerin* die betroffen ist, so schnell zum Vorzeigemulti gemacht werde, obwohl ich schon die Bezeichnung “Multi” zum Kotzen finde. So kommt auch der Anspruch an mich zustande, “den Multis” doch gefälligst nicht zu schaden, indem ich bestimmte Haltungen vertrete, die für mich gut und wichtig sind. Etwa die Haltung, nach der es einfach keine inneren Terminpläne und Wechsel geben kann, oder die Haltung, dass (die meisten) Innenkinder am sichersten in der Therapie sind – und nicht im Alltag eines erwachsenen Menschen.

Ich gehöre auch nicht zu denen, die sagen: “Ja viele sein ist bei jeder Person anders” – paradoxerweise ist das für mich nicht so. Ich habe aber auch noch keine Worte dafür, was denn genau wie bei allen, die viele sind, gleich sei und ich will mich in der Hinsicht auch nicht festnageln lassen.
Überhaupt: immer wieder diese Intensionen mich als Einsmensch auf irgendwas festnageln zu wollen, weil ich etwas für die Öffentlichkeit zugänglich ausgedrückt habe.

Ich ermutige immer wieder sich bitte gerne selbst ein Blog zu schreiben, sich selbst in Worte zu bringen und sei es, das man damit beginnt auf meine Texte zu antworten, ihnen etwas hinzuzufügen, eine Gegenrede zu formulieren. Verdammte Axt- mich vollnölen und mit Forderungen zu überschütten ist so leicht, sich analog über unsere Texte und uns als Person zu beschweren und das immer schön damit zu garnieren, dass wir ja höchstwahrscheinlich gar nicht viele sind, weil man ja viel behaupten kann in diesem Internet und weil es ja gar nicht möglich sein, was wir hier alles von uns unserer Lebensrealität erzählen BLABLABLA – aber selbst den Arsch hoch zu kriegen und sich auszudrücken, sich selbst mal zu reflektieren und zu gucken: “Hm ist das denn bei mir anders und wenn ja wie?” oder “Was denke ich eigentlich über XY?” oder “Wie ist das viele sein/multipel sein/Opfer gewesen sein/ mein eigenes Sosein eigentlich für mich?”, das ist dann, aus welchen Gründen genau, nicht möglich oder zu viel … Verantwortung?

Ich habe als Jugendliche vor Betreuer_innen, die keine Ahnung hatten, bereits die Verantwortung übernehmen müssen, für jeden nach uns folgenden Menschen mit DIS zu sprechen. Es ist so klar, dass, weil die Hilfen so beschissen sind, aber alles gut ging, der nächste Mensch wieder vor dem gleichen Ding steht, wenn ich nicht das Maul aufmache oder mich aus der Nummer rauswinde und vertrete, viele sein wäre so individuell, dass man da halt eigentlich gar nichts zu sagen kann und sich auch auf nichts verlassen kann und ach überhaupt man weiß es ja nie so genau und Festlegungen gehen nicht.

Bullshit ist das. Richtig bequemer Bullshit, der einfach immer wieder dazu führt, dass keine Entwicklung passiert.
Es gibt immer noch Menschen, die sich einen sekundären Krankheitsgewinn von einer DIS vorstellen können und sich genau in dieses “Man weiß es halt nicht genau” hineinbegeben.
Ich finde es wichtig öffentlich sichtbar zu vertreten, dass (frühere) Opferschaft absolut 0 Gewinn mit sich bringt.

[Fußnote: jede Unterstützung, die wir von Leser_innen hier erhalten, all die Geschenke und Geldspenden, erhalten wir vielleicht, weil klar ist, dass wir benachteiligt sind. Vielleicht auch aus Mitleid. Vielleicht mochten sich auch Schenker_innen frei machen. Vielleicht aber, ist es einfach mal die Bezahlung, die wir nicht als Gehalt auf unser Konto bekommen, weil wir jede Woche um die 5000 Wörter schreiben und uns offen angreifbar machen, damit andere Menschen, die viele sind, die queer sind, die Opfer geworden sind; die einfach gerne hier lesen, in Worte und Ideen kommen.
Soll es geben. Vielleicht gibts das für mich – psst: ich weiß ganz sicher, dass das so ist]

Wir finden es wichtig, dass die DIS auch auf die Art besprochen und betrachtet werden kann, wie wir das jetzt machen.
Für uns ist es nicht mehr wichtig, dass Mediziner_innen uns gesund machen, weil unser Konzept von Gesundheit und Krankheit ein anderes ist, als das, was immer und unbedingt die Medizin braucht. Das geht für uns nicht mit einer Abwertung der Personen einher, für die das so ist und wir haben das sehr oft schon klar gemacht.
Für uns ist unsere Therapeutin die Person, die sich unserem inneren Chaos widmet und uns dabei begleitet, (unter)stützt es sowohl zu verstehen/begreifen und es zu sortieren ohne es zu normen. Sie ist nicht die, die uns heil macht, repariert oder uns beibringt, wie wir zu sein haben. Sie ist unsere Prozessbegleitung- nicht unsere Dompteurin.

Wir sind fertig damit unserem Umfeld zu erklären, was viele sein ist.
Gerne erklären wir das noch Menschen, die gar keine Ahnung haben. Aber nicht mehr hier im Blog, nicht mehr in unserem Privatleben als ein Mensch, der sich gut um sich kümmern möchte und der sich entwickeln will.

Wir denken oft, dass die Traumatherapieszene endlich ihren Scheiß zusammenkriegen muss und damit aufhören muss, die Leiden der Behandelten zu individualisieren, was bedeutet: dieses Leiden außerhalb (sozial)politischer Kontexte zu erfassen und zu verorten. Es muss einen Diskurs geben, in dem Lösungen gefunden werden, jeder Person einkommens-“rasse”-klasse-alters-zeit- unabhängig die Verarbeitung von Traumatisierungen zu ermöglichen und nicht den tausendsten darüber, wie und ob und nach welcher Schule und wie zertifiziert und nach wessen Lehre und wer mit wem und wo gabs mal Zwist und BLABLABLA innerhalb von episch unnötigen Diskussionen mit der Politik™ darum, was wann wie wo und ab wann überhaupt.

(Achtung ich verwende jetzt ein kollektives Wir – niemand muss sich davon angesprochen fühlen)
Wir Betroffenen müssen aber genau unseren Scheiß zusammenkriegen. Wir sind aus Gründen von Hilfesystemen abhängig – das bedeutet aber nicht, dass wir alles darin auch hinnehmen müssen, weil das ja nun einmal so ist.
Wir dürfen uns dafür einsetzen, dass unsere Betreuer_innen vernünftig fort- und ausgebildet, bezahlt und berechtigt werden. Wir dürfen uns dafür einsetzen, dass unsere Therapeut_innen nicht mehr von Gutachter_innen angekackt werden. Wir dürfen dafür kämpfen, auch dann noch als leidend und belastet und what ever gesehen und anerkannt werden, wenn wir nicht mehr tun, was diesem Stereotyp entspricht.
Wir dürfen jemand sein der viele ist – und nicht so viele, dass wir niemand sind.

Wir brauchen keine Verantwortung übernehmen, die nicht unsere ist – wir dürfen verlangen, dass die Gesellschaft, die mit dafür gesorgt hat, dass wir viele sind, den Arsch hoch kriegt und Gutmachung an uns versucht.

Wir dürfen aufhören zu glauben, weil eine Person, die viele ist, etwas für sich geltendes sagt, sei die eigene Selbstwahrnehmung des viele seins falsch.
Wir sind – es gibt uns und wir sind die Einzigen, die das konkret und richtig für uns beworten können.

Es geht darum aufzuhören sich einzelne „Viele“ rauszusuchen und als Statt-selbst-Sprecherinnen zu wählen. Wir können das und wir dürfen verlangen, dass andere zuhören und begreifen.

Ihr* braucht keine H. C. Rosenblatt, die euch Wörter gibt. Ihr könnt sie nehmen, weil sie da sind und das ist okay. Ihr könnt aber auch eigene Wörter suchen, finden und nutzen. Sie sind genauso richtig.

~ Fortsetzung folgt ~