Fundstücke #20

Nächste Woche Montag ist der Aufnahmetermin in der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Gestern holte ich den dazu nötigen Krankenhauseinweisungsschein und den Bericht der psychiatrischen Station ab, in der wir vor einem halben Jahr waren.

“Ph, ein halbes Jahr”, denke ich, “dann kanns mir ja nu nicht mehr soooo schlecht gehen. Wenn ich was Ernsthaftes hätte, dann hätte ich das halbe Jahr gar nicht geschafft.”.
Das denke ich, weil das gerne so hätte. Weil mich das in meinen Gedanken um den eigenen Zustand beruhigt und in Einklang zu bringen ist mit dem Gefühl, die Einzige zu sein, die sich bewegt, was verändern will, das Okaye halten und das Nichtokaye auf zu-Okayem-Entwickelbarkeit prüfen will.

Wie schon geschrieben, gehören wir zu den Menschen, die mehr Zeug tun und schaffen, je schlechter es ihnen geht. Uns beruhigt es, wenn wir mit unseren Intrusionen und anderen unkontrollierbaren Momenten nicht ohne äußeren Rahmen sein müssen. Wenn die Welt ein Oben und Unten hat, weil es etwas gibt, das einen Anfang und ein von uns (mit) zu gestaltendes Ende hat.

Kontrolle hat aber ihren Preis. Wir wirken zuweilen lieblos, kalt, unnahbar, wenig mitschwingend, strikt intellektuell und wenn wir das im Zusammenhang mit einem Moment der Kraftlosigkeit oder einem allgemeinen “Es geht mir nicht gut” erklären, dann wirkt es unglaubwürdig oder konstruiert.
Meistens, weil wir irgendeinen uns noch nicht bekannten Kommunikationsfehler machen. Manchmal vielleicht aber auch, weil man uns mitunter einfach “böse” oder “nicht so toll, wie alle immer denken, weil…” braucht.

In den vergangenen 6 Monaten haben wir viel Zeit damit verbracht zu bemerken, was für ein schwieriger Kontakt wir sind. Wie schwer es für außenstehende Menschen sein muss, mit uns umzugehen. Wie anspruchsvoll und fremd wirken muss, was wir vertreten und formulieren.
Es gab so viele Momente, in denen wiederkehrend gleiche Schwierigkeiten ohne jeden Filter bis zu uns Rosenblätter vorgedrungen sind, dass die Lage in ihrer Quintessenz nicht als verändert im Vergleich zu vor 6 Monaten erscheint.

Das bedeutet nicht, dass wir noch immer akut suizidal sind und uns aktiv darüber Gedanken machen, unser Leben zu beenden. Aber es bedeutet, dass wir bewusst spüren und uns bewusst damit auseinandersetzen, dass eine Ursache für die Auseinandersetzung mit dem Aufhören, dem “es einfach sein lassen” und dem “einfach loslassen”, nachwievor besteht und es keine Wege gibt sie zu umgehen.

Gestern habe ich also die Sachen für die Klinik abgeholt.
Zu Hause las ich dann in dem Bericht und dachte darüber nach, wie widersinnig es ist, von Mediziner_innen und Psycholog_innen beobachtet zu werden, als wäre ich ein von gesellschaftlichem und sozialem Kontext losgelöstes Individuum, während ich selbige um Unterstützung dabei ersuche, mich in den bestehenden gesellschaftlichen und sozialen Kontexten besser und/oder anders zurecht zu finden.

Etwas später dachte ich, wie widersinnig es ist mit Menschen, die unsere Behinderungen nicht als wahrhaft und aktiv mit in den Kontakt hineinspielend anerkennen, an inklusiven Projekten zu arbeiten, über unser Sein zu reden oder sich zu wünschen, sie würden sich eventuell mit uns bewegen.

Warum machen wir nur immer wieder so widersinnigen Quatsch?
Weil wir hoffnungslos leicht reinzulegen sind. Denke ich. Weil wir alles kontrollieren können, außer die Impulse, die von dem Wunsch kommen, dass sich Dinge verändern und nicht so (unaushaltbar) schwerschwierigschlimm sind, wie jetzt.
Weil sie nicht abzutöten ist – diese beknackte scheiß Hoffnung auf Erlösung, Loslassen, atmen und okay damit sein.

Man kriegt so viel verbogen und verdreht in sich, um zurecht zu kommen, sich am Leben zu halten und irgendwie immer weiter zu machen. Mit all dem Gift, das die Gewalt in uns reingepumpt hat, kommen wir klar – leben mit einer vielleicht bis zum Ende unseres Seins toxisch strahlenden Mülldeponie unter hunderten Schichten des Könnens, Machens, Wünschens und Wollens.
Aber mit dem einen Bereich, in dem es möglich ist zu glauben, statt zu wissen, handeln wir uns immer wieder Probleme ein.

Wir arbeiten viel mit Glauben, weil wir unsere Reaktionsentscheidungen nicht auf Wissen oder dem Eindruck des Wissens fällen. Wenn Menschen mit uns sprechen, dann sagen sie uns hunderte Dinge gleichzeitig, meinen aber vielleicht nur eins oder zwei. Wir raten. Orakeln und puzzeln und zupfen dann das hervor, wovon wir glauben, dass dies die Dinge sind, die sie meinen.

Wir haben uns lange eingebildet, dass wir gut in diesem Ratespiel sind, weil wir in den gewaltvollen Kontexten unserer Lebenszeit häufig gut geraten haben und das einfach gut können mussten, um nicht in den emotionalen Reaktionen auf das Bewusstsein der eigenen absoluten Auslieferung zu ertrinken.
Inzwischen haben wir bewusst, dass wir einfach Glück hatten und keinesfalls irgendwelche besonders entwickelten Fähigkeiten, die uns special beim Überleben geholfen haben.

Gewalt überlebt man, oder nicht. So einfach ist das. So einfach, schlicht und bitterkalt ist diese Realität der Gewaltopfer und die Vergangenheit der zu Opfern gewordenen.

Nur, ob das mit dem Leben genauso ist, weiß man nicht.
Leben muss man leben, um es über_leben zu können.

Und wie genau das geht, ohne dass wir Schaden nehmen, wissen wir noch immer nicht.

all the shades of “Schweigen”

Mit „Schweigen“ und „Opfer“ – „Schweigen“ und „sexueller Missbrauch“ kommen die Klicks. Damit kriegt man die Leute an die Inhalte zum Thema. Hier eine Broschüre mit Hilfeangeboten und Beratungsstellen, da ein bahnbrechend aufrüttelnder Film. Hier ein berührender „Roman“ und da ein „vom Mantel des Schweigens“ befreiter Skandal. „Die Opfer müssen ihr Schweigen brechen!“ – ein stetiger Imperativ, wo und wann auch immer es um Strafverfolgung und ihre Hindernisse geht.
Wie schwierig dieser Strudel ist, habe ich schon oft im Blog von Vielen beschrieben. Habe aufgezeigt, welcher Schuldspruch an die Opfer und zu Opfer gewordenen damit getragen wird. Habe formuliert, wie laut Opfer und zu Opfer gewordene sind, selbst, wenn sie keine Worte für das haben, was ihnen passiert ist.

Natürlich wird sich überall nach wie vor an allen Ecken und relevanten Stellen auf „das Schweigen der Opfer“ bezogen – und nicht darauf, wer was wo wie wann hören, aufnehmen, begreifen kann, will, muss.
Natürlich wird auch immer noch darüber gesprochen, wie man helfen kann, Wege und Mittel aus den Schweigegeboten, denen Opfer und zu Opfern gewordene unterliegen, zu finden.
Und natürlich steht daneben das Schweigen all derer, die durch diese Bemühungen mit etwas belastet werden, das mit ihnen selbst überhaupt nichts zu tun hat.

Wir berichtigen ‚unsere Menschen‘ nach wie vor, wenn sie uns einfach zu der Gruppe derer zählen, die mit Schweigegeboten zurechtkommen müssen.
Wir wurden nie einem Schweigegebot unterworfen. Wir wurden Redeverboten unterworfen.
Das ist etwas anderes und für uns ist es ein relevanter Schritt gewesen, das zu erkennen und zu begreifen, denn ein Verbot ist etwas anderes als ein Gebot.

Wir erleben die Auseinandersetzung mit Schweigen im Kontext von Gewalt einseitig täter_innen(willen)zentriert und nicht zuletzt, als immer wieder die konkret betroffenen Personen in ihren Handlungsoptionen normierend.
Es ist so selten, dass in einer Fachtagung, einem Kongress, einer breit wirksamen Veranstaltung darüber gesprochen wird, wie sich die Auffassung von Schweigen als Schutz allein und nicht auch als notwendiges gewaltkulturelles Fundament der Gesellschaft, auf das Anzeige- und Strafverfolgungs , so wie das -verurteilungssystem auswirken.

Man spricht so gern von Liese Müller, die schrecklich leidet, weil sie ein unfassbar furchtbares Geheimnis hat, das sie nicht teilen kann. Man beschreibt so gern den Käfig ihres Schweigens und nicht zuletzt natürlich den wahnsinnig inspirierenden Befreiungskampf daraus, was dann auch schnurstracks zu Heilung, Gerechtigkeit und Regenbogen überm Sonnenuntergang führt.

Der soziale Tod von Hilda Stein, ihrer Familie und ihrer Herkunftsfamilie – die Scham, die Not an jedem Wort und jeder Selbstwirksamkeit – das langjährige und dann gescheiterte OEG-Verfahren – die Jahre der Therapie und der Versuche irgendwie auf einen grünen Zweig zu kommen – ohne je in einen Zustand zu kommen, in dem sie mehr sagen konnte als: „Ich wurde von XY misshandelt“ – das fehlt.

Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass es kein „das Schweigen brechen“ ist, wenn man einen Oberbegriff für erfahrene Gewalt benutzt oder einfach eine_n Täter_in benennt (und anzeigt).
Heute wie früher, wissen alle Menschen in der Umgebung, was eine Straftat ist, und was nicht.
Heute wie früher, wissen alle Menschen in der Umgebung, wann genau man was nicht sagen soll.
Und das betrifft nicht nur das Sprechen über Gewalt und Opferschaftserfahrungen.
Das betrifft auch das Sprechen über Krankheiten, seelische Befindlichkeiten, Menstruation und die Beschaffenheit von Kinderwindelinhalten. Zum Beispiel.

Schweigen gebieten nicht nur Gewalttäter_innen. Schweigen gebietet auch und meist sogar noch vor denen, die den Schutz durch Schweigen von ihren Opfern einfordern, unsere Gesellschaft und die (Gewalt-)Kultur, die sie pflegt.

Ich formuliere es radikal und dadurch leicht misszuverstehen, wenn ich schreibe: „Ein Schweigen der Opfer gibt es nicht“ und bleibe dennoch dabei.
Denn es ist wichtig zu verstehen, dass das Verschweigen von Gewalt(ausübungs)- und Opferschaftserfahrungen (also auch: globalen Ohnmachtserfahrungen) nichts ist, was in irgendeiner Form für bestimmte Personengruppen reserviert sein darf.

Die Anerkennung einer eigenen Opferschaft wird dadurch erschwert, dass man sich durch das soziale Reglement, wer wann worüber wo und vor wem etwas zu sagen verpflichtet ist, oder nicht, wer sich wann wo wie und wem gegenüber einer Aussage entziehen darf und wer nicht, eine eigene Position suchen muss.
Es ist nicht immer und ausschließlich der Druck vor der Angst, eine Opferschaftserfahrung könnte nicht geglaubt werden oder die Angst vor einer Strafe durch eine_n Täter_in, die Menschen daran hindert, gemachte Opferschaftserfahrungen zu beworten. Noch allzu oft ist es auch das ganz klare Spüren der Unerwünschtheit dieses Themas oder das Bewusstsein um Ohnmachtserfahrungen als dem Leben in dieser Gesellschaft immanent.
Genauso wie heute nach wie vor der soziale Tod eintreten kann, wenn man sich nonkonform in Bezug auf die Regeln der thematischen Angemessenheit verhält.

Natürlich stehen daneben die Überlegungen: „Okay, wenn wir das nicht wollen – wenn wir dieses Reglement aufbrechen wollen, dann müssen wir darüber reden. Und zwar immer und überall – wir verschonen niemanden. Sich rausziehen und die Augen verschließen, das erlauben wir nicht. Niemand soll sagen dürfen, er kenne niemandem, dem SO ETWAS mal passiert ist.“.

Für uns ist das ein Ansatz, der an der falschen Stelle anfängt. Weil wir wissen, dass jeder Mensch in der Umgebung auf jeden Fall jemanden kennt, dem SO ETWAS mal passiert ist – es aber nicht immer unbedingt auch weiß. Und zwar aus Gründen, die in der Umgebung dieser Menschen und den Möglichkeiten des konkret betroffenen Menschen liegen.

Was nutzt es Ella Kranz, die den örtlichen Kindergarten leitet und schwere Medikamente einnimmt, um trotz massiver PTBS-Symptome weiter arbeiten zu können, wenn Hannah C. Rosenblatt in allen Einzelheiten über ihre ersten 21 Lebensjahre schreibt? Oder Ute Koch jede Sekunde ihrer erlittenen Vergewaltigung durch ein Mikrofon ins Fernsehen spricht?
Ella Kranz braucht das nicht. Niemand braucht das. Niemand, außer vielleicht Hannah C. Rosenblatt, Ute Koch und all die anderen, die irgendwann das Gefühl haben, dass es richtig ist, die Einzelheiten und Details auszusprechen, um sie eben überhaupt einmal ausgesprochen zu haben – weil man es konnte oder wollen konnte oder können wollte oder oder oder
Jedenfalls braucht sie das nicht, um zu erfahren, dass sie nicht allein ist und es Hilfe für sie geben kann, die ihr auch so solidarisch zur Seite steht, dass sie weder ihren Job noch ihre soziale Position verliert. Dafür braucht sie das ausdauernde Engagement von Helfer_innen, strukturelle Sicherheiten und das Zutrauen in sich, durch diese Zeit ihres eigenen Lebens gehen zu können – also eine Umgebung, in der sie schweigen und sprechen kann, aber nicht muss.

Ich möchte Menschen mit meinen Erfahrungen verschonen, um mich zu schonen. Ganz klar.
Ich komme nicht gut mit all diesem reflexhaft abgespulten Zeug zurecht, das Menschen von sich geben, wenn sie nicht wissen, was sie von sich geben sollen, könnten, wollen. Deshalb halte ich meine Opferschaftserfahrungen als Teil von mir, wie meine Hundehaltungserfahrungen, meine Bastelerfahrungen, meine Schreiberfahrungen, meine x anderen Lebenserfahrungen in Kontakte hinein und entbinde Menschen ganz grundsätzlich von einer Reaktion darauf.
Ich erlaube ihnen mit mir zusammen darüber zu schweigen und einfach gemeinsam zu sein in dem Wissen, dass diese Erfahrungen da sind.

Das ist meine Art der sozialen Selbstermächtigung in dieser unserer Gesellschaft, die sowohl mich als Person, die zum Opfer wurde und mein offizielles Verschweigen von Straftaten an mir, als auch all die Abwehr- und Selbstschutzmechanismen in meinen Mitmenschen geformt hat.
Ich bin kein „schweigendes Opfer“, weil mich die Polizei oder irgendein gewaltkultureller Opfermythos so braucht, um mir meinen Schmerz, mein Leiden und nicht zuletzt auch uns als Mensch, der viele ist, zuzugestehen und anzuerkennen.
Ich bin eine Person, die etwas verschweigt, weil sie es kann, nachdem es jahrelang aktiv von ihr zu können gefordert wurde, und zwar von jemanden, der sie ganz global beherrscht hat.

Heute ist es meine Entscheidung zu schweigen. Meine globalen Opferschaftserfahrungen sind vorbei und die Macht der Täter_innen ist auf einer Ebene in meinem Leben, die nicht mehr nur mit mir allein zu tun hat und sich deshalb auch nicht mehr auf mich allein konzentriert.

Mein Schweigen ist losgelöst von Schulddynamiken.
Mein Schweigen ist losgelöst von Errettungs- und Heilungsphantasien.
Mein Schweigen ist losgelöst von meiner früheren Opferschaft.

Mein Schweigen ist, was es ist: Schweigen, aus Gründen, die ich allein bestimme, auch dann oder sogar trotz dem, ich damit Täter_innenwillen oder Interessen von Täter_innen schütze, berücksichtige oder bewahre.
Mein Denken, Fühlen und Leben im heutigen Hier und Jetzt, will ich nicht so täter_innenzentriert passieren lassen.

Für mich ist es wichtig, dass sich um Opfer und zu Opfern gewordene gekümmert wird, weil sie zu Opfern wurden und das etwas mit ihnen macht bzw. gemacht hat. Und nicht, um Täter_innen zu drohen oder sie zu bestrafen oder zu beschämen.
Die Auseinandersetzung mit Straftäter_innen ist in unserer Gesellschaft ganz klar und strukturell geregelt. Wir haben Gesetze, die sie als Täter_innen definieren. Wir haben eine Justiz, die ihre Taten verurteilen und ihre Strafen bemessen soll und wir haben Gefängnisse, die sie genauso aus der Gesellschaft herausreißen, wie es die Gewalt- und Ohnmachtserfahrung ihrer Opfer zuweilen tut.

Für Opfer und zu Opfern gewordene fehlt etwas Vergleichbares.

Eine detaillierte Beschreibung meines früheren Leides wird solche Strukturen nicht entwickeln. Sehr wohl aber könnten sie dazu beitragen zu normieren, wer was erfahren haben muss, um welche Hilfen, wie wo vor wem einfordern zu dürfen.

Meiner Ansicht nach, muss man davon wegkommen, sich mit dem „Schweigen der Opfer (und zu Opfern gewordenen)“ auseinanderzusetzen und sich endlich mehr damit beschäftigen, wie man hört, was Opfer und zu Opfern gewordene sagen und wie man dann damit umgeht als Gesellschaft.
„Wir Opfer und zu Opfern gewordene™“ schweigen nämlich alle unterschiedlich und die Anerkennung dessen bleibt aus.

Genauso wie weiterhin darauf verzichtet wird, sich mit dem Schweigen der Täter_innen auseinanderzusetzen.
Ein einziges Mal will ich in einer Missbrauch-Trauma-Gewaltpräventionsverstaltung sitzen und hören, dass die Täter_innen ihr Schweigen brechen sollen und man sich etwas überlegt hat, wie man das wohl möglich machen könnte.

Es ist Zeit, sich dem Schweigen zu widmen, anstatt sein Ende einzufordern.

was ‘unsere Leute’ wissen sollten

Und manchmal geht es gar nicht darum, wie dringend ich verstanden und gesehen werden möchte, sondern darum, dass ich das Moment verpasse, in dem ich meinen Impuls übergehe, zu akzeptieren, wie dringend mein gegenüber mich und das, was ich sichtbar mache, ein_fach, simpel und leicht braucht.

Unsere täglichen Über.Belastungen sind für mich so üblich, dass ich die Menschen vergesse, deren größte Nähe zu großen, komplexen Problemen, der Kontakt mit mir ist. Manchmal und mit zunehmendem Kontakt zu anderen Menschen mehr, vergesse ich, dass es für sie ein großer Schritt aus einem Kosmos, in dem grundlegend alles als okay, einigermaßen heil, ausreichend gesund und genügend sicher wahr.genommen wird, ist, mit uns in Kontakt zu kommen.

Früher hatte ich das noch bewusster als in der letzten Zeit und habe Menschen in der Folge gemieden oder mich ihrer Sphären entsprechend angepasst.
Heute merke ich an vielen Stellen, welche Folgen so eine “aber eigentlich ist ja grundlegend alles heil und okay” – Haltung hat und bin konfrontativer. Will nicht hinnehmen, wie sich der Großteil der Menschen vor der Auseinandersetzung mit durchaus und bereits in der eigenen privaten Praxis veränderbaren Problemen, scheut oder verschließt. Will nicht akzeptieren, wie viele Menschen sich für etablierte Floskeln entscheiden, auch und teilweise sogar obwohl sie wissen, welche Aussagen sie damit auch treffen, obwohl sie sie eigentlich ablehnen.
Ich will nicht akzeptieren, wie viele Missstände by the way im täglichen Lauf hingenommen werden, weil jede noch kleine Veränderung zur Zumutung mutiert. Zu diesem einen großen Schritt in einen Kosmos hinein, in dem die persönliche , als heil und okay wahrgenommene Grundlage, schlicht nicht mehr da ist bzw. durch die etablierten kulturellen Praxen als inexistent erscheinen.

Andererseits ist es für diese Menschen eben doch manchmal eine Zumutung. Eine Überforderung. Eine Belastung, die man nicht halten kann, auch, wenn man sich grundsätzlich dazu bereit erklärt hat, sie auf sich zu nehmen.
Ich verpasse das Moment schnell, weil ich schneller bin in der Erfassung und Verarbeitung all dessen, was ist. Bis Menschen verstanden haben, was ich alles mitbedenke und worauf meine Formulierung einer Problem- oder Konfliktlage basiert, bin ich schon längst in dem Prozess der Verarbeitung des Gefühls unverstanden, ungesehen zu sein. Und manchmal eben auch des Eindrucks, umgeben von Menschen zu sein, die einfach keinerlei Resonanzboden für eine gemeinsame  oder einander verstehende Kommunikation bieten, oder dem, von Menschen umgeben zu sein, die plump drauflos raten und von sich auf mich und uns schließen und das für Gegenseitigkeit halten.

Ich nehme mir oft vor langsamer zu machen. Atmen, denken, warten, Gedankenstopp.
Leider bedeutet “Gedankenstopp” bei mir noch immer “dissoziieren”, weil es denkt, wie es denken kann – egal, ob ich das bewusst halten will oder nicht.
Dabei ist der günstige Verlauf noch der, dass, wann immer ich mir sage: “Stopp ”, mein Denken die 100 Shades of “Stopp” mit all ihren Auswirkungen, eventuellen Bedeutungen in diversen (allen) Kontexten und Fragen, die sich an diesem Umstand generell entlang befinden (like: Müssen sich Tiere –> Reptilien –> [neurologischer Aufbau und erforschte Befähigungen von Reptilien] eigentlich auch in ihrer Verarbeitungsgeschwindigkeit stoppen oder verhindert ihre neurologische Befähigung dies?) bearbeitet.
Die ungünstige Variante ist, dass ich irgendwo an eine Gedankenstelle komme, die etwas Unverarbeitetes (also Traumainhalte) negativ angetriggert und mich komplett aus dem Kontakt reißt und das ist leider genau die Variante, die ich und wir am Tag mehrfach erleben.

Und ja, das bedeutet auch, dass ganz übliche Missverständnisse oder Momente, in denen man einander erst einmal auf eine Ebene bringen muss, bei uns Wechsel auslösen und damit sogar unmöglich machen, dass manche Innens (so wie ich) überhaupt je erleben, wie sich ein Konflikt oder eine schwierige Situation in eine Gegenseitigkeit oder ein thematisches Verbundensein auflösen.

Wenn man ein bisschen was übers Vielesein weiß, dann weiß man auch, dass wir Innens jeweils andere Fertig- und Fähigkeiten haben und oft auch von sich sagen: “Mein Leben ist ein ganz anderes als das der anderen.”. Vielleicht hilft meine Beschreibung solcher Kommunikationsprobleme und ihrer Folgen ein bisschen besser zu verstehen, wie es zu dieser Aussage kommt.
In meinem Kosmos gibt es Zillionen ungeklärter Konflikte, in denen ich nicht gesehen werde und mit dem Gefühl zurückbleibe, eine Lösung sei immer irre wichtig – aber nie von mir machbar, denn ich habe nie erlebt, wie sich etwas, das ich aufzeige, in gegenseitigem Verstehen löst.

Mein Kosmos ist damit auch grundlegend nicht heil und okay und auch: nicht veränderbar.
Denn auch diese Erfahrung fehlt mir. Ich bin immer wieder damit konfrontiert, dass Menschen sich dazu entscheiden diesen meinen Kosmos aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus zu betreten und wieder daraus zu verschwinden, aber mit mir zusammen einen gemeinsamen zu bilden funktioniert nicht.
Ich kann nicht einmal bewerten, wie das für mich ist, denn erfahren habe ich das noch nicht. Aber meine Vorstellung davon, wie es wäre gemeinsam zu sein, ist schön. Immerhin schön genug, dass ich diese Erfahrung gerne mal machen möchte.

Manchmal spüre ich die Anstrengung des Gegenübers und nehme mir vor, es in Ruhe zu lassen. Ich mache mich selbst weg und verschließe mich vor der Person. Dann gehe ich aus dem Kontakt und nehme den Konflikt mit. Ich ordne ihn mein Bild davon, wie die Welt und das Miteinander für mich funktioniert und vielleicht, durch die mir durchgehend bewussten Wiederholungen bestärkt, auch immer nur laufen kann.

Und will all diejenigen beißen, die mir erzählen, wie grundlegend okay und heil doch alles eigentlich ist.
Wenn sie beim nächsten Mal über mich stolpern.

Weltautismustag #1

In verschiedenen Städten gibt es heute Veranstaltungen, bei denen über Autismus aufgeklärt wird und Austauschmöglichkeiten bestehen.
Wer nicht hingeht, sind wir.

Wir sind nach inzwischen 10 Monaten mit der nachwievor neuen Diagnose eher überfordert und darum herum gewirrt, als klar, selbst-sicher und orientiert.
Ich weiß nicht, ob ich über uns sagen kannwill “Ich bin Autist_in” – weiß nicht, ob ich das, was die Diagnose benennt, als Teil von Identität betrachten kannwill.
Denn, well, was meint das denn in Bezug auf uns?
Unsere andere Diagnose heißt “dissoziative Identitätsstruktur” und jeder strukturelle Huckel auf der Identitätsplattform ist ein Innen, ein Teil des ES oder DAS DA, eine Energie, eine Seele.
Autismus ist mehr Strickmuster – Identitätseigenschaft vielleicht. Oder Seinseigenschaft. Vielleicht auch Wahrnehmungs-DNA.
Der Autismus macht vielleicht auch, wer oder was wir sind – ist aber nicht, wer oder was wir sind.

Wir sind noch immer mit dem Bitternis beschäftigt, wie so wahnsinnig viele kompetente Pädagog_innen, Psycholog_innen, Psychiater_innen und Mediziner_innen übersehen konnten, dass bei uns ein Autismus vorliegt.
Es ist dem Bitternis ähnlich, wie so viele Menschen die Gewalt in unserem Leben übersehen konnten.

In vielen anderen Szenarien, etwa, wenn wir ein absolut unauffälliges, weil gut angepasstes Menschenwesen gewesen wären, das viele Freunde hatte, ein geradliniges Leben in die 30er geführt hätten – okay okay dann: okay.
Aber nicht mit dem Wort- und Wissensschatz, den wir schon als Vorschulkind hatten. Nicht mit den Intelligenztestergebnissen. Nicht mit einem Geschwist, bei dem ein Autismus bereits diagnostiziert wurde. Nicht mit über x Berichten von x Psycholog_innen und x Klinikaufenthalten noch vor Erreichen der Volljährigkeit. Nicht bei den sozialen Problemen und dieser Art der Einsamkeit als einzig durchgängige Konstante. Nicht nach all den diagnostischen Stunts, die an uns vollführt wurden.

Zwischendurch bin ich froh darum, überwiegend die Bitterkeit zu fühlen und nicht den unfassbar weiten Abgrund aus Trauer und Verzweiflung, der darunter aufklafft. Die Bitterkeit schützt mich davor, von all diesen kleinen Erinnerungsfragmenten an eine Kindheit voller mehr oder weniger großer Miss- und Unverständnisse mit mehr oder weniger furchtbaren Konsequenzen, überflutet zu werden.
Sie schützt mich vor dem Gedanken: “Es hat sich nichts verändert.” und dem logischen Schluss “Es ist nicht vorbei” (—> alles was die Traumatherapie der letzten 13-14 Jahre sagt, ist falsch)

Seit der Diagnose erweitert sich unser Blick auf die Probleme von uns als Einsmensch. Erweitert sich das Bewusstsein darum, dass wir tatsächlich eine behinderte Person sind, obwohl unser Umfeld immer wieder auf unsere Fähig-und Fertigkeiten pocht, als würde ihr Vorhandensein einen Schutz davor bieten.

Eine Angewohnheit übrigens, die auch andere autistische Menschen haben und fleißig in Austausch und Diskurse jeder Art streuen. So endete dann auch unser Versuch, sich in einem Forum für Menschen mit Asperger-Syndrom auszutauschen. Leidvergleiche und Rechtfertigung vor anderen Menschen über die eigenen Empfindungen und Schwierigkeiten – das ist nichts, was uns hilft, die Diagnose als Wort für unsere Probleme anzunehmen, geschweige denn mit den Problemen umzugehen.

Überhaupt tue ich mich schwer mit der autistischen Netzblase.
Viele machen sich derzeit stark gegen eine “Therapie” mit dem Kürzel “ABA” und manche hetzen deshalb gegen kritisieren im Zuge dessen gerade den größten deutschen Förderer von Projekten für Menschen mit Behinderungen, die “Aktion Mensch”.
Daneben teilen einige ihre Erfahrungen und manche versuchen Autismus inkludierend Tipps und Tricks zur Selbst_Hilfe zu sammeln.
Die meisten konzentrieren sich nicht auf autistische Menschen als eigenständige Individuen, sondern als Teil einer Gruppe, die für die Argumentation hergenommen wird. Häufig geht es darum, nichtautistischen Menschen etwas über autistische Menschen zu erzählen und das “Aufklärung” zu nennen.
Selbstvertretung, um der Selbstvertretung für alle willen, erlebe ich als selten.

Ich kann an keiner Stelle des Diskurses partizipieren und rede mir ein, es auch gar nicht zu wollen, damit es nicht so schmerzlich ist.
Denn, was ich merke ist, dass diese Menschen keine Amnesien für sich und ihren Alltag haben. Manche dissoziieren auch – doch nicht in dem Umfang wie wir. Sie können sich und ihr Leben halbwegs zusammenhalten, während meines einfach durch mein Denken und Wahr.nehmen hindurchnebelt und halbseidene Fäden an verschiedenen Eckpunkten hängenbleiben.

Ich habe außerdem kein Interesse daran, ein_e Aufklärer_in zu sein – ich würde lieber Erklärer_in sein. Wenn überhaupt. Irgendwann. Vielleicht.

Derzeit fühle ich mich schuldig, wenn ich Fach.Bücher von bestimmten Menschen lese, weil diese auch ABA unterstützen oder zumindest nicht offen dagegen angehen. Ich fühle mich schuldig, wenn ich mich glücklich über unsere Hochbegabung schätze und merke, wie groß ihr Anteil an unseren Kompensationsfähigkeiten ist. Ich fühle mich unsolidarisch und schlecht, wenn ich Stereotypen und Vorurteile über autistische Menschen in meinem eigenen Kopf nicht jeden Tag und immer, sondern nur hier und da aktiv dekonstruiere. Ich schäme mich dafür, wann immer ich denke: “Ja, du bist eine special autistische Snowflake – ich kommentiere das jetzt hier mal nicht weiter”.

“Die autistische Community im Netz”™ ist mein persönliches Mich-schlecht-fühl-Erziehungs-ABA.
Ich habe noch keinen Platz für mich gefunden und denke, dass sich das vielleicht auch nicht ändert.

Zum Weltautismustag wünsche ich mir Eltern in die Zukunft, die sich trauen dürfen, ihre autistischen Kinder und das Leben mit ihnen, so zu nehmen, wie es kommt. Ich wünsche mir autistische Eltern, die mit ihren autistischen Kindern so leben dürfen, wie es für sie als Familie okay zu leben ist. Ich wünsche mir autistische Helfer_innen und Therapierende, die offen mit ihrem Sein umgehen dürfen. Ich wünsche mir die Möglichkeit die Diagnostik des Autismus von Psychopathologie zu emanzipieren und als üblichen Standard in die Kindesentwicklungsdokumentation zu integrieren. Ich wünsche mir die Installation von Hilfe-und Unterstützungsangeboten für autistische Menschen jeden Alters und jeden Fähig-und Fertigkeitenlevels.
Ich wünsche mir, dass Menschen klar wird, dass sie gewaltvoll agieren, wenn sie normative Ansprüche, in welcher Form auch immer, als zwangsläufig oder unabdingbar zu erfüllen, vertreten.

Als Letztes:  Es macht mich ungeheuer traurig anerkennen zu müssen, das bestimmte Dinge für uns vielleicht immer schwierig sein werden.
Ich möchte lernen mich vor dem Trost anderer Menschen vor diesem Umstand zu schützen. Ich möchte, dass es mich nicht mehr umwirft, wann immer Menschen versuchen mir zu sagen, wie sehr man sich an die unterschiedlichsten Herausforderungen gewöhnen kann, um sich und mich zu ermutigen oder zu trösten.

Fundstücke #18

An dieses Loch in der eigenen Kindheit habe ich mich in den letzten Jahren irgendwie gewöhnt. Ich habe mich daran gewöhnt zu wissen, dass ich nichts weiß und kämpfkrampfe seit Jahren daran herum es eigentlich auch nicht wissen zu wollen und gleichermaßen nicht er_tragen zu können, wenn mir so ein Klumpen Erinnerungen wie zähflüssiger Eiter ins Denken fällt.

Es ist erschreckend und abstoßend für mich. Aus Gewohnheit. Weil mich immer alles erschreckt und abstößt, was ich von dem Kind, das ich und wir einmal war und waren, ohne es zu erinnern, erfahre. Und wenn ich fertig bin mit erschrecken und abgestoßen sein, dann stehe ich da und halte so ein bitter trauriges Fetzstück eines Lebens in der Hand und weiß nicht so recht wohin damit.

Da war so dichte Sommerhitze, dass der Körper nur von ihr zusammengehalten war. Die großen Betonplatten mit den Teerwürsten am Rand bildeten ein warmhartes Unten und die Baumkronen begrünten das Oben. Dieser Hort war ein schöner Ort. Ein Stück zwischen Schule und Zuhause, in dem nur die Hausaufgaben zu erledigen und sich gut mit den anderen Kindern zu vertragen Pflicht war. Die Erzieher_innen hatten einen Schlauch mit Löchern bespickt und damit ein Wasserspiel für den Sommer gebaut. Die  Kinder rannten dort nackt umher und hatten Spaß.
Und ein Mädchen aus der Klasse fragte, warum Körperteile des Kindes so rotblaulila waren.
Da ist das Bild, wie ich mich selbst anschaue und erschrecke.
Und so viele Wörter gleichzeitig vor Augen habe, dass sie sich zu einem weißen Rauschen vermengen.

Es ist so leicht einen weiten intellektuellen Bogen zu spannen und ihn dann in ein Weltbild zu klemmen, das das Kind als Individuum verschwinden lässt. Es ist so leicht, wenn man sagt: “So ist das Leben nun einmal. So sind die Menschen nun einmal. So kann es eben auch laufen.”
Das ist die Nachahmung gesamtgesellschaftlicher Dissoziation. Das ist, was machte, das man dachte, alle wüssten ES und wenn ES etwas außergewöhnlich Schlimmes wäre, dann würde diese eigene Unsichtbarkeit inmitten dieser Gesellschaft, dieser seiner eigenen sozialen Umgebung nicht mehr gegeben sein.

Ich wusste von dieser Episode. Wusste, dass ich und wir der Mitschülerin antworteten, dass wir es nicht wüssten oder so etwas ähnliches. Wir erlauben uns, das Nichtwissen unserer Antwort als übliches Vergessen einzuordnen. Niemand kann sich immer an alles detailgetreu erinnern.
Aber das Wörterding. Und das weiße Rauschen. Das Erschrecken über die Erkenntnis einer Verletzung durch einen Hinweis von außen. Die Erinnerung, dass sie uns erst nach dem Toben unterm Wasserspiel angesprochen hat. Eine vorläufige bittere Idee, dass uns sonst niemand angesprochen hat. Und nicht verstand, als wir etwas sagten.

Und Jahre später die Information, wie relevant Zeug_innenaussagen bei fehlenden Beweisen ist. Und, dass unser Hort heute nur noch eine begrünte Hinterhoffläche ist.

Es macht mich traurig anerkennen zu müssen, dass die schwierigen Erfahrungen des Kindes, das ich und wir früher einmal waren, sich so viel fester in unser Er_leben und alltägliches Sein hineingefressen haben, als die Orte, an denen es sich gut gefühlt haben könnte. Jedenfalls gut genug, um zu vergessen, dass es ein Zuhause gibt, in dem es verletzt wird.

Es ist ein schmerzhaftes Ding anerkennen zu müssen, dass das Kind, das ich und wir einmal waren, schon damals ich und wir waren.

Dass dieses Erschrecken über die Wahrnehmung und das Bewusstsein über etwas von oder an sich selbst schon damals da war, genauso wie der Wörterquirk und die Überforderungen, die daran entlang auch zu Dissoziationen geführt haben und uns vielleicht genau deshalb zu so vielen haben werden lassen, wie wir sind. Und eben nicht nur, weil die Gewalt und das “so tun als ob-Spiel” darum herum überfordert hat, sondern das gesamte Er_Leben überall darum herum.

Ich habe mich an die Idee einer dissoziativen Amnesie gewöhnt, die mit ihrem Ende definiert, dass ich nicht mehr das Kind bin, das ich und wir einmal waren. Ein therapeutisches Re_Orientierungsmärchen, das kurzfristig hilft eine Barriere zu errichten, doch langfristig zur Annahme führen kann, Erwachsene seien keine Kinder bzw.  erwachsen zu sein sei unverbindbar mit Kindlichkeit oder kindlicher Bedürftigkeit.

Ich habe mir überlegt, dass ich gut damit leben könnte zu sagen, dass das Kind, das ich und wir früher einmal waren, noch heute viele Schwierigkeiten hat, die es früher schon hatte und die Teil seines Erwachsenenlebens sind, weil es selbst auch der erwachsene Mensch ist, der ich und wir heute sind.

Das ist keine große Idee, weil Multipelsein das nicht ausschließt.
Der Schritt für mich ist die Möglichkeit, als wahr(haft) anzunehmen, dass die vielen fremden, weil dissoziierten Sozialuniversen überlebt von vielen vielen Kinderinnens, überlebt und beschützt von vielen vielen anderen Innens, Seelen und Energien, die irgendwann von ganz anderen Innens, Seelen und Energien überlebt, beschützt und ins Erwachsenenleben getragen wurden, die wiederum von anderen überlebt, beschützt und in einen weiteren Abschnitt Erwachsenenleben getragen wurden usw usw usw in einem einzigen Leben passiert sind und bis heute passieren.

Neben der Erklärung für mein Erschrecken und Nichterinnern, mein ständig fremd im eigenen Leben sein, die ganze Angstproblematik, die Symptomatik des unkontrollierten Erinnerns und all das, hat die Diagnosestellung der DIS nichts aufgelöst.
Schon gar nicht mein Bild von mir, die völlig problemfrei wäre, wären diese dysfunktionalen Reaktionen und schwierigkeitsbeladenen Innens nicht mehr da oder einfach funktionaler und orientiert, dass ihre Schwierigkeiten heute vorbei sind.

In den letzten Wochen haben wir aber neue Dinge versucht, die wir für uns als individuelle Herangehensweise empfinden.
Dazu gehörte Überforderungen wahr(haft)zunehmen und entsprechend anders zu arbeiten und auch zu interagieren, aber auch der Beginn den Wörterquirk als Baustein therapeutischer Arbeit zu nutzen.
Ich merke, dass es uns gut tut und hilft. Weil es etwas ist, das wir alle gleich bzw. sehr ähnlich erleben.

Darüber merke ich aber auch, wie sehr wir unsere Individualität aus “So ist das Leben nun einmal. So sind die Menschen nun einmal. So kann es eben auch laufen.” heraushalten. Wie sehr wir, obwohl wir wissen, dass auch wir zum Lauf der Dinge, diesem Leben, dieser Gesellschaft gehören uns erst dann dort zu finden trauen, wenn wir unauffällig bis unsichtbar sind.
Keine Erwachsene, die mal Kind war. Keine Person, die Wörterquirks hat. Keine Person mit Loch in der Selbst- und Umweltwahrnehmung. Keine Person mit fremden Problemen im eigenen Leben.

Jeder Erinnerungseiter bringt mich in ein Moment, in dem ich merke, welche Ähnlichkeiten ich und wir mit dem Kind, das wir früher einmal waren, haben.  Wie sehr mein Fremdheitsgefühl nicht an den Problemen der Innens, sondern an der Zerrissenheit meines Mit_Nach_Empfindens und der manchmal daraus folgenden Unnachvollziehbarkeit ihrer Reaktionen darauf liegt.

Ich merke, wie ich mich daran gewöhnt habe Wörter für Symptome zu benutzen, wo Wörter für uns und unser in diesem Leben passieren, sein müssten.

Offenheit mit eigenen Opferschaftserfahrungen als emanzipatorische Umgangsentscheidung

Neulich stolperte ich über eine Auseinandersetzung, in der es um ‘Opferpositionen’ und ihre Rolle im emanzipatorischen bzw. feministischen Diskurs ging.

Da wir nun einmal ein Opfer von Gewalt wurden, sind solche Auseinandersetzungen für uns schwierig und letztlich gehen wir vorsichtshalber immer erst einmal davon aus, dass unsere Verletzlichkeit an der Stelle schnell zu Gefühlen führen, die wir nicht hätten, wären wir nicht so konkret betroffen. Das bedeutet: Wir als früheres Opfer hören Personen, die über Opfer und zu Opfern gewordene Personen sprechen zu und ziehen von unseren reaktiv auftretenden Emotionen ein Drittel bis die Hälfte ab.

Denn wir haben gelernt: “Wenn andere über Opfer oder zu Opfern gewordene Personen reden, hast du als ehemaliges Opfer
a) die Klappe zu halten , weil du
b) keine objektive/vernünftige/fachliche/professionelle/richtige Ansicht dazu haben kannst, weil du
c) selbst mal Opfer warst und damit im Falle einer Äußerung
d) ganz eigene subjektive/unvernünftige/unsachliche/falsche Ziele mit jeder Aussage verfolgst, was ergo
e) bedeutet: man muss/braucht/sollte dir sowieso und überhaupt weder zuhören noch deine Worte ernstnehmen, anerkennen und als glaubhaft einstufen, falls doch etwas von dir zu vernehmen ist.”

Ich habe erkannt, dass es sich hierbei um Gewalt und Diskriminierung aufgrund von Vorurteilen und Ergebnissen gelebter Gewaltkultur handelt.
Ich habe aber auch erkannt, dass diese Art der Gewalt so alltäglich und verinnerlicht ist, dass viele Menschen dies nicht merken und entsprechend anerkennen.

Diese Erkenntnisse haben wir uns also so einsortiert, dass wir selbst uns die Hälfte der eigenen Gefühle als unangemessen und falsch abschneiden. Um sie uns dann in einem angemessenen Setting wieder zu erlauben, was uns in der Regel einige Stunden Tage kostet und letztlich dazu führt, dass wir uns nur noch sehr selten mit solchen Auseinandersetzungen befassen.

Wenn in dieser verbliebenen Hälfte eine Empfindung ist von der ich glaube, dass sie, wenn ich sie gut begründe und klar markiere, dass ich davon ausgehe mich vielleicht auch zu irren (weil ich ja weiß: “reaktiv” ≠ “durchdacht und reflektiert” ergo “nicht konstruktiv”), von meinem Gegenüber nachvollziehbar ist, teile ich sie mit.

Und weil ich abwäge zwischen “Anstrengung ein komisches Versteckspiel um die eigene konkrete Betroffenheit + Anstrengung mit einer anderen Person über ein Thema zu sprechen, von dem ich selbst konkret betroffen bin” vs. “Anstrengung mit einer anderen Person zu einem Thema zu sprechen, von dem ich selbst konkret betroffen bin allein” – wähle ich ich oft eher den Weg der Offenheit.

Das bedeutet nicht: “Hey ich bin total offen damit zum Opfer geworden zu sein – ich hab das nämlich alles schon total verarbeitet und kann da jederzeit und mit allen drüber reden”, sondern: “Hey – das hier wird für mich zu schwer, wenn ich nebenbei auch noch was verbergen muss. Also: ich bin konkret betroffen – ich wurde selbst zum Opfer. Das ist ein  Teil des Hintergrundes meiner Argumentation.”.

Für mich ist es wichtig, dass dies für mein Gegenüber klar ist und anerkannt wird.
Und gäbe es eine weitere Verbreitung gegenseitiger und bedingungsloser Annahme und Respekt, würde es andere Menschen weitaus weniger verwirren, erschrecken – und misstrauisch machen, gäbe es auch kein Problem an meiner Vorgehensweise.

Offener Umgang mit eigener Opferschaft bedeutet für viele Menschen eine Wendung im Diskurs, die etwas von ihnen verlangt. Es gibt keine allgemeine Haltung nach der die Erwähnung eigener Opferschaft genau keine weitere Reaktion notwendig macht. Kaum jemand erwähnt die eigene Opferschaft im ganz üblichen Gespräch und niemand erklärt ein Gespräch, in dem auch Opferschaftserfahrungen vorkamen, als eines der üblichen, die man halt so hat.
Und genau das ist das Problem.

Das große Schweigen über Gewalterfahrungen, das immer wieder erwähnt wird, gibt es meiner Meinung nach nicht.
Es gibt ein Schweigen, wenn es darum geht etwas zu erreichen. Etwa in Kontexten der juristischen und polizeilichen Strafverfolgung. Doch das ist kein Schweigen über Gewalterfahrung – das ist ein Schweigen über Opferschaftserfahrungen innerhalb eines Machtkontextes, der sich auf genau zwei Positionen konzentriert: Opfer und Täter_innen und diese unterschiedlich bewertet bzw. beurteilt.

Wir haben diese Dichotomie im Alltag, in der Sprache und auch in den Diskursen, entlang derer sich zu positionieren und auch zu kultivieren versucht wird. Dies erschwert Opferschaft(erfahrungen) als einen allgemein möglichen Hintergrund einer Person im Diskurs anzuerkennen ohne reaktive Bewertungen und Imperative folgen lassen zu müssen.
Das ist der Punkt weshalb es opferfeindliche Begriffe wie “Opferabo”, “Opferperformance” oder die Formulierung “die Opferkarte spielen” gibt, die transportieren, dass Opferschaft etwas ist, das etwas zur Folge hat bzw. darauf abzielt zu etwas benutzt zu werden, das jemandem etwas bringt. Positive Aufmerksamkeit zum Beispiel. Oder Mitleid. Oder weniger strenge Beurteilungen und Bewertungen von Fehlern. Mehr Flausch.

Ich erlebe durch meinen offenen Umgang mit der eigenen Opferschaft in der Regel nervig umständliche Furchtsamkeit, allgemeine Umgangsunsicherheit, den Wunsch stellvertretend etwas gut für mich zu machen, derailing, Leidvergleiche und oben beschriebene Absprache von Verstand, Vernunft, Berechtigung mich weiterhin zu äußern.
Nichts davon ist etwas, womit ich gut umgehen kann und nichts davon ist etwas, das mir gut gefällt oder gut tut. Aber alles davon gehört zu verinnerlichter Gewaltkultur und hat genau nichts mit mir und meiner Opferschaftserfahrung zu tun.

Ich kann Menschen die Furcht vor Kontakt (Teilhabe, Zeugenschaft – also Mitkenntnis und daraus auch Mitverantwortung in einem weiteren und zukünftigen gemeinsamen Kontext) nicht nehmen, wenn der Umgang einzig unüblich ist. Wenn es immer special irgendwas bedeutungsvolles hat, dann kann es nicht üblich werden und dann kann es in den Köpfen und Erwartungen der Menschen, mit denen ich zu tun habe, auch nie zu etwas werden, das im Zusammenhang mit anderen Menschen, die ihre eigenen Opferschaftserfahrungen transparent machen, nicht mehr als etwas gilt, das synonym mit “die Person will jetzt was von mir” ist.

Es gibt Menschen, die zu Opfern wurden, für die es ein Weg ist Menschen schonungslos zu behandeln, wenn es um die alltägliche Realität von Gewalt geht.
In meinem social media – Kosmos begegnen mir immer wieder mal Personen, die es für wichtig und angemessen halten Gewalterfahrungen in allen möglichen Details zu schildern um niemanden zu verschonen, so wie sie selbst nicht verschont wurden.
Für mich ist das eine Form Gewalt weiterzutragen und kein inhaltlicher Diskursbeitrag. Leider ist es nicht üblich offen als zu Opfern gewordene Menschen auftretende Personen auf gewaltvolles Handeln aufmerksam zu machen. Schon gar nicht gibt es genug etablierte Praxen anzuerkennen und zu verinnerlichen, dass eigene Gewalterfahrungen nicht davor schützen selbst Gewalt auszuüben.

Gänzlich außen vor bleibt im derzeitigen Diskurs die Zeug_innenschaft und die Auswirkungen dessen sind fatal, denn häufig gelten Zeug_innen als gar nicht betroffen von der Gewalt, die in ihrem Beisein geschehen ist oder von der sie erfahren haben. Und wo keine Betroffenheit zugestanden wird, da wird neben einem Leiden unter Belastungsreaktionen auch abgesprochen, eine Mitverantwortung oder Mitbeteiligung oder noch schlichter formuliert: Teilhabe an dem Geschehen zu haben und/oder empfinden zu können.
Durch die Ignoranz von Zeug_innenschaft als wichtiger Bestandteil des Miteinander (auch und gerade im Fall von Gewalt im Sinne einer Schädigung) wird ignoriert, dass es eine Mitbeteiligung gibt, die neben “das gute zu flauschende Opfer” und “die bösen zu hassenden Täter_innen” steht.

Viele Zeug_innen wollen nichts mit der Gewalt zu tun haben. Manche, weil sie sich nicht der Mitverantwortung stellen wollen. Manche, weil sie selbst ihre Zeug_innenschaft nicht reflektieren. Manche, weil sie keinen Anhaltspunkt für die Relevanz dessen finden können.
Die meisten Zeug_innen halten sich selbst für irrelevant, weil sie innerhalb der offiziellen Dichotomie zur Klärung von Opfer-Täter_innenschaft im juristischen Kontext keine relevante Rolle innehaben.

Für uns sind Zeug_innen hingegen sehr wichtig. Unsere Therapeutin ist für uns neben ihrer Rolle als unsere Begleiterin in unserem Auseinandersetzungsprozess auch eine Zeugin für ebenjenen Prozess geworden. Wir sprechen mit ihr über unsere Gewalterfahrungen und damit wird sie automatisch auch zur Zeugin.
Durch ihre Zeuginnenschaft (unabhängig davon, ob sie uns in unserer Opfer- oder Täter_innenschaft bestätigt oder negiert!) wird die geteilte Erfahrung zu etwas, das tatsächlich war. Sie wird zu etwas, das nicht zu leugnen, nicht zu ignorieren und deshalb auch zu verarbeiten ist.

Letztlich ist es ihre Zeug_innenschaft, die uns selbst davon entlässt eine Bewertung oder reaktive Beurteilung unserer Rolle überhaupt vornehmen zu müssen. In dem Moment, in dem wir die Gewalterfahrung miteinander teilen (bzw. wir sie ihr mit_teilen) entsteht für uns ein Raum gemeinsamer Betroffenheit bzw. ein Raum, in dem wir spüren, dass wir über ein gemeinsames Wissen um eine Erfahrung miteinander verbunden sind. Darüber treten für uns ganz konkrete Umgangsfragen in den Vordergrund, die durch wertungs- und urteilszentrierte Diskurse häufig eher unnötig verzerrt und gestört werden.

Unsere Gemögten, Gemochten und Bekannten sind ihrerseits aber auch wichtige Zeug_innen für uns. Auch mit ihnen teilen wir gemeinsame Kenntnis von Opferschafts- und/oder Gewalterfahrungen (aber natürlich auch vielen anderen Erfahrungen!) und erleben uns darüber miteinander verbunden.
Auch hier entstehen Umgangsfragen, die letztlich sehr gut auch in emanzipatorische Diskurse einfließen.

Ich möchte nicht, dass das Mitteilen meiner Erfahrungen dazu führt, dass sich andere Menschen unfrei in ihren Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten fühlen, nur weil wir miteinander verbunden sind. Eine Auffassung der Zeug_innenschaft an der Stelle ist genau deshalb auch hilfreich, gerade, weil sie von der beurteilenden oder wertenden Instanz entbunden sind.

Wir möchten auch nicht, dass unsere Mitmenschen bewerten oder beurteilen, was wir erlebt haben. Weder die Erfahrungen selbst, noch unseren Umgang damit, denn letztlich sind wir die Person, die diese Erfahrungen gemacht hat und mit den Konsequenzen leben muss. Egal, ob bezeugt oder nicht. Egal, ob bewertet oder nicht. Egal, ob beurteilt oder nicht. Egal, ob als wahrhaft anerkannt oder nicht.

Unsere Offenheit mit unserer früheren Opferschaft ist, neben ganz schlichten Versuchen die eigenen Kräfte zu schonen, also eine auch emanzipatorische Umgangsentscheidung.
Wir erwarten keine Rücksicht, keinen Flausch, keine milden Urteile. Wir erwarten, dass unser Erfahrungshintergrund mitbedacht und anerkannt wird – unabhängig von Täter-Opfer-Dichotomie und anderer gewaltkultureller Praxis.
Wir hoffen, dass Zeug_innenschaft etabliert wird. Wir hoffen auf Verbindung und Miteinander.

Wir wollen einen Diskurs, der sich endlich den Umgangsfragen widmet.
Unsere Offenheit ist ein erster Schritt darauf zu.

nur eine weitere Facette früheren Horrors

Ich stelle es mir genau so vor.
Da ist eine Idee. Eine Fantasie. Und irgendwie kommt man in ihren Bann. Verknüpft Gefühle mit ihr. Baut sie sich aus und malt sie sich schön an. Wie ein Haus, das eines der schönsten Zuhauses werden soll, das man sich vorstellen kann. Und dann vergisst man, dass es eine Idee ist. Eine Fantasie, die gut in dem Knochengehäuse zwischen den Ohren aufgehoben ist und dort ihr schönstes Zuhause haben kann, solange sie nicht weh tut.

Ich stelle mir vor, wie Menschen, die zu Opfern wurden irgendwann erleben, was wir gerade erleben und dann vergessen, dass es nur einen sicheren Ort dafür gibt. Das Kopfinnere. Am besten die Stelle, an der sich nichts lange hält, weil alles immer gleich neu verarbeitet wird.
Ich stelle mir, wie Menschen erleben, was wir gerade erleben und zu Täter_innen werden, weil ihr Kopfinneres keine solche Stelle hat. Weil sie nicht gebraucht wird. Weil es keine Impulse gibt, sie zu etablieren. Etwa durch eine Psychotherapie. Oder einen anderen Prozess der Reflektion und Transformation.

Wir erleben Gewaltideen. Beziehungsweise: Wir Rosenblätter erleben, wie etwas neben uns tritt, das Gewaltideen hat. Und sich unsere Alltagsgegenstände, Alltagsgedanken, Alltagsschmerzen, Alltagserbsenmomente zum Baumaterial dafür nimmt.
Aber unsere Alltagsangst verschmäht. Unser Erschrecken über diese Ideen. Unsere Furcht plötzlich an den Punkt gelangt zu sein, an dem wir von der netten Multiplen aus der Nachbarschaft zu einer psychopathologisch monströsen Horrorfilmfigur gerieten.

Auf der anderen Seite haben wir natürlich über Täter_innenintrojekte gelesen. Wissen natürlich, dass kein Mensch solche Gewaltexzesse wir wir sie erlebten übersteht und dann nie wieder mit Fragmenten, Ideen, Bildern, Szenarien ähnlicher bis gleicher Art konfrontiert ist.
Nur dachten wir bisher unsere Konfrontation damit würde nie die Form verändern, sondern immer hübsch begrenzt auf die Räume innerhalb “unkontrolliertes Erinnern” (also Flashbacks, Intrusionen, Bildererleben, Gedankenschleifen, Pseudohalluzinationen) bleiben und damit auch begrenzt auf genau einen Ort und genau einen Zeitraum: “unser Kopfinneres” und “Früher im Jetzt”.

Durch das Einbeziehen unseres Alltagskosmos erscheinen uns diese Ideen nicht im Raum “Früher im Jetzt”, sondern in “Früher und Jetzt”. Als hätte es die letzten Jahre nie gegeben und wenn doch, dann ohne den Kern dessen zu berühren, was dort passiert.

Was uns in unseren Ego-Ich-kann-meine-Welt-nur-allein-retten-Verpisst-euch-alle-Trips früher oft zum Verhängnis wurde, könnte uns nun vielleicht auch an dieser Stelle passieren. Ein Innen oder mehrere? oder, wenn wir bei unserem Wort “Täter_innenenergie” bleiben wollen, könnte nach außen agieren, als hätte es die letzten Jahre nie gegeben und hätte ergo keinerlei Bindung an das, womit wir uns hingegen inzwischen relativ fest und stabil verbunden fühlen.

So könnte es entstehen, das Multimördermärchen, das in der Mehrheit der Krimis, Thriller und Horrorfilme, in denen Menschen mit DIS oder DDNOS als Täter_innen auftauchen, erzählt wird. Genau so.

Wir haben unserer Therapeutin eine Nachricht geschrieben. Wir schreiben jetzt darüber. Öffentlich.
Und brechen damit aus unserer Angst hervor in Todesangst zu geraten. Stumm und starr vor dem Innen zu werden, nur weil es auf eine Art nach unserem Heute greift, ohne es als solches zu identifizieren oder als solches anzuerkennen.
Vielleicht auch: ohne es als solches identifizieren oder anerkennen zu können.

Wir kennen Innens, die nach unserem Heute greifen und nicht damit umgehen können. Wir kennen das schon und wir haben das schon oft regulieren können.
Es ist eigentlich nichts Neues.
Eigentlich.

Es ist nur eine weitere Facette früheren Horrors.
Eine, die anders weh tut, als die anderen.

das elternunabhängige Kind

Ich komme gerade vom Jobcenter und habe eine Telefonnummer vom BAföG-Amt im Rucksack. Wenn wir eine Berufsausbildung anfangen, werden wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten. Ohne die Familie*.
Wie immer in Sachen “Auseinandersetzung mit der Verwaltung unseres Lebens” erlebe ich den Umstand einer noch lebenden und wirtschaftenden Herkunftsfamilie als Fallstrick.

Wir kennen die Optionen des elternunabhängigen BAföG und wir kennen all die anderen Möglichkeiten.
Auf der formalen Ebene ist alles klar.
Wir sind sicher. Wir bleiben sicher.

Aber der Gedanke. Die Erinnerung, dass es sie noch gibt. Viele Kilometer weg von hier. Ohne mich und trotzdem noch “meine Familie*”.
Ganz ehrlich: ich möchte lieber in den Bauch geboxt werden, als diesen Gedanken zu haben. Diese Erinnerung.

Und daneben wieder die Erfahrung in strukturellen Versorgungsoptionen nie ohne die Herkunftsfamilie auftauchen zu können.
Das Jobcenter schaute was von den Eltern zu holen ist. Das BAföG-Amt würde danach schauen wollen. Wenn es um Leistungen vom Landschaftsverband wegen des betreuten Wohnens in Familien geht, wird vielleicht auch danach geschaut.
Für die deutsche Behördenlandschaft sind wir das Kind unserer Eltern.
Das behinderte Kind unserer Eltern.

Wir sind nicht und können auch nirgendwo zur Anerkennung einfordern, dass wir auch das von den Eltern traumatisierte und behindert gemachte Kind waren. Und heute erwachsen sind. Mit dem Wunsch selbstbestimmt, autark und eigenverantwortlich zu leben und zu wirtschaften.

In den letzten Tagen bewegen wir auch unseren Antrag an den FSM in unseren Gedanken und der Wohnung hin und her. Lassen hier was liegen und verstecken dort etwas. Kratzen den ganzen getrockneten Frustschleim von unseren Herzen und registrieren am Ende doch erschreckt das Ausmaß der Verletzung, die all die bürokratischen, allgemein formalen Bezüge unserer Gewalterfahrungen im familiären Bereich hinterlassen (haben).
Geld aus so einem Fond ist nicht, was wir wirklich brauchen. Ist auch nicht, was wir wollen. Obwohl es so viel erleichtern würde, was sonst wiederum nur über mühsam langwierige Ritte auf Amtsschimmeln möglich wäre.

Es ist eine Abkürzung und zwar eine, die uns flauscht und die den Staat flauscht. Wir kommen an wichtiges Zeug – der Staat kommt aus der peinlichen Lage heraus ehemalige Opfer von Gewalt in der Familie strukturell und darüber insgesamt zu benachteiligen, denn da kann ja nun auch immer darauf verwiesen werden: “Wir haben ja Hilfe angeboten, aber irgendwie haben sich nur ein paar gemeldet und das ist ja dann auch nicht unsere Schuld, sondern liegt sicher am Bedarf…”.

Seit Jahren stemmen wir uns mit viel Kraftaufwand dagegen in sogenanntes “parent shaming” zu verfallen, um unserer Herkunftsfamilie nicht so viel Einfluss auf unser Leiden und Kämpfen zuzugestehen. Das ist zu einfach so zu reden. Jedenfalls in unserem Fall. Und dem unserer Geschwister.
Wir hatten noch jede Menge andere Menschen in unserem Kinder- und Jugendleben, die wir verantwortlich machen für das, was uns passiert ist. Und jede Menge beschissene Strukturen mit Auswirkungen, die uns nicht früh genug in gute und bedarfsgerechte Hilfekontexte brachte.

Und ich merke, wie es das System selbst ist, das gerne hätte, dass ich am Ende meine Familie bzw. mein familiäres Umfeld dafür verantwortlich mache, dass es mir heute so geht, wie es mir geht. Damit wir uns nicht umdrehen und das System fragen, warum es denn nicht einfach mehr für Menschen in Abhängigkeitssituationen ermöglicht.
Vielleicht.

Keine Ahnung.
“Das System” ist ja auch ein schwammiges Ding. Es ist ja nicht eine Behörde, oder ein Gesetz.
Es ist ja verboten Menschen zu verletzen. Es ist ja verboten Menschen auszubeuten. Es ist ja verboten geschehen zu lassen, was uns geschehen ist.

Aber Unrecht ist es erst, wenn das System davon weiß. Beziehungsweise: es anerkennt.
Und das geht erst, wenn man hingeht und etwas sagt. Und zwar so, wie es das System einordnen kann.

Auch, wenn man nicht in diese Ordnung passt. Auch, wenn man lieber Schmerzen haben will, als sich den Gedanken und dem Erinnern zu widmen, weil es mit jedem vergehenden Moment darin weniger normal wird und die Welt umstülpt.

zu “Suffragettes – Taten statt Worte”

Kino. Wir.
Wow.

Glücklicherweise kenne ich Menschen, die mit mir in “so einen Film” gehen. Feminist_innen. Menschenrechtler_innen. Gemochte.
Wir treffen uns, die Taschen voller Süßigkeiten und neugierig auf den Film “Suffragettes – Taten statt Worte”. Am Nebentisch sitzen drei andere Menschen, vielleicht auch Feminist_innen. Menschenrechtler_innen. Einander mögende. Nur 20 bis 30 Jahre älter. Mit einem Weinglas vor sich.

Wir wissen, dass wir uns auf eine weiße Geschichtserzählung einlassen, wagen aber die Hoffnung, den Rassismus der Zeit auf der Leinwand abgebildet zu finden. Wir, ich, als eine von drei Einsmenschen im Bunde, bilde mir ein viel über die Suffragettenbewegung zu wissen. Weil ich weiß, dass es weiße privilegierte Frauen waren, die dort, damals vor mehr als hundert Jahren für ein Frauenwahlrecht auf die Straßen gingen. Weil ich in den letzten zweieinhalb Jahren viel über feministische Geschichte gelernt habe und noch immer lerne.
Ich bilde mir Offenheit ein, bilde mir ein zu merken, wo mein Horizont endet und wo ich mich hinbewegen muss, wenn ich mehr sehen möchte.

Am Ende sitze ich in diesem Film und merke: einen Scheiß weiß ich.
Es wird keine Geschichte von einer gelangweilten unglücklichen Frau* erzählt, die eingesperrt im goldenen Käfig nicht im Kopf aushält, was um sie herum passiert und nach und nach auf die Idee kommt: “Och – Wahlrecht wäre nett. Gib mal!”, sondern die Geschichte einer Wäscherin, die sich nach und nach den bereits aktiven Suffragetten in ihrer Stadt anschließt und darüber Ehemann und Kind verliert. Die Geschichte von verschiedenen Frauen, die ins Gefängnis kommen, weil sie Briefkästen sprengten und Telegrafenleitungen kappten. Wo sie hungerstreikten. Zwangsernährt wurden. Nicht als politische Gefangene anerkannt wurden. Bei der Entlassung mit Blumen von der “Women’s Social and Political Union” empfangen wurden.

Der Kinofilm spielt 50 Jahre nach Beginn der eigentlichen Bewegung, die 1867 mit der  Gründung der “National Union of Women’s Suffrage” durch Millicent Fawcett verortet wird. Ich fand aber auch noch andere Anfänge. Ob das alle sind oder ob es nur diese Geschichte ist, die es bis heute geschafft hat sich zu halten, weiß ich nicht und finde das schade. Einfach, weil ich es in den letzten 2 Jahren an jedem neuen Hashtag, jedem neuen Diskursherd erlebe, wie Geschichten sozialer Bewegungen geschrieben werden.

Der Film beginnt mit Einstellungen harter körperlicher Arbeit. Schaltet dann aber doch zügig zu den ersten eingeschlagenen Fenstern. Da steht eine Frau, holt faustgroße Steine aus ihrem Kinderwagen, wirft diese in ein Schaufenster und ruft: “Wahlrecht für Frauen!” und die Hölle bricht los.
Es gibt einen Tumult und das ist die erste Begegnung.
Das sind also diese Suffragetten. Steineschmeißerinnen mit Ausruf. Aha.

Während die Geschichte weiterplätschert und nach und nach mehr Charaktere einfädelt, merke ich, dass ich mich frage, ob ich verroht bin, oder was genau mich gerade an der Gewalt, die ich dort vor mir sehe, eigentlich nun so verwirrt.
Wir sehen wie die Frauen, denen durch Arbeiter_innenbefragungen des Parlamentes Hoffnungen auf ein Wahlrecht gemacht wurden, erneut enttäuscht werden – nach Jahrzehnten friedlicher Auseinandersetzung mit logischen Argumenten um die Herren der Schöpfung erst recht davon zu überzeugen, dass es sich bei Frauen erstens um Menschen handelt, die, zweitens, so eine verantwortungsvolle Sache, wie eine politische Wahl, verantwortungsbewusst und vernünftig ausführen können.
Sie sind wütend. Und werden deshalb von Polizisten niedergeschlagen und verhaftet.
Sie sind einfach nur wütend und enttäuscht und werden deshalb verprügelt und verhaftet – hallo?

Man darf im Kino nicht aufstehen und rufen: “Das ist aber ungerecht – die haben gar nichts getan.”
Die Menschen damals durften das auch nicht. Deshalb ist der Film einer, für den ich eine Triggerwarnung aussprechen würde. Nicht nur, weil es viele Szenen gibt, die Gewalt auch zeigen und spezifische Dominanzgesten einstreuen, sondern, weil das Unrecht eine_n förmlich anspringt, in den Film reinzerrt und die Handkamerasequenzen noch ihr Übriges dazu tun.

Es bleibt die einzige Szene, die für mich nahe an Wut kommt. Frauen in einer Demo, die einem Politiker “Lügner!” zurufen.
Wir sehen viele harte Leben. Viele harte Entscheidungen. Schmerz. Abhängigkeit. Zwänge. Not. Leiden. Ohnmacht. Bitterkeit, die nur Leben produzieren kann. Kampf. Und Weiterkämpfen.
Doch die Wut bleibt stecken.

Meine erste Suffragette habe ich in “Mary Poppins” gesehen und erst jetzt fällt mir das Muster auf, das auch in “Suffragettes – Taten statt Worte” durch einen Polizisten hineingetragen wird: die verwirrten Frauen (aus der Arbeiterklasse), die einer Ideologie zum Opfer fallen (oder wie in der Gesangsszene in Mary Poppins: hineingezogen werden), geführt von mächtigen, privilegierten Frauen, zu Gunsten eines entweder unsinnigen oder egoistischen Ziels.

Der Film schafft es nicht recht die inhaltlichen Debatten der Zeit aufzugreifen. Auch dafür bleibt nur eine Szene übrig: ein Dialog zwischen Polizist und Wäscherin, der in seiner Kürze aber griffig ist und eine gewisse Nachvollziehbarkeit ermöglicht: “Frauen sollten sich an Gesetze halten, auf die sie selbst keinerlei Einfluss nehmen konnten”.
Für einen Film, der zu Recht für das Unterschlagen der Beteiligung von people of colour, sowie Menschen, die sich nicht binär geschlechtlich und nicht heterosexuell verorteten, kritisiert wird, ist dies dann aber doch mehr Leistung, als ich ihm zugetraut hätte.

Ich verließ das Kino mit einem großen Bedürfnis viele Fragen zu googeln. In der Reflektion merke ich, dass es viel mit dem Begriff der “militanten Suffragetten” zu tun hat und damit, wie gewaltbereit und radikal diese Frauenbewegung von Großbritannien dargestellt wird – was mit meinem von einem Leben zwischen 1986 und 2016 geprägten Begriff von “politischer Militanz/Radikalität” zu tun hat und dem, was es vor mehr als hundert Jahren bedeutete als Frau kategorisiert zu werden.

Ich betrachte mir die feministischen Diskurse der letzten Jahre und merke die Wiederholungen. Die tausenden und abertausenden Worte, die mal lieb und kuschelig, mal hart und wütend – aber immer wieder mehr auf dem Papier, als in der Öffentlichkeit gewechselt werden.
Wir, wie und wo auch immer auf dem feministischen Spektrum verorteten Menschen, haben heute keine Emmeline Pankhurst, die von einem Balkon zu uns spricht – wir haben Medienspektakel, die Miteinander predigen und innerhalb der feministischen Diskursgruppen bestehende Fronten verhärten und Ausschlüsse vornehmen. Wir haben weiße cis hetero Frauen, die mit anmaßendem Stellvertreter-Wir über “den Feminismus” und “die Frauen” sprechen, die Vielfalt des Diskurses und die Bandbreite der politischen wie sozialen Forderungen, so wie ihrer Anteilgeber_innen, damit bedeckt halten.
Die Frage nach der Legitimation radikaler(er) Forderungen, die Frage nach der Logik hinter diversen Zusammenarbeiten zwischen Medienbetrieb und Politik (Staat) steht bis heute im Raum und bleibt bis heute fast unberührt.
Als gäbe es keine soziale Bewegungsgeschichte aus der man lernen könnte.

Der Kinoabend ist seit Stunden vorbei. Ich habe gegoogelt und gelesen.
Und habe erkannt: in dem Film sehen wir schon “die wütenden Frauen”. Wütender ging nicht. Lauter ging nicht. Man stufte sie als radikal und militant sein, weil viele andere ganz viel leiser waren. Sein mussten. Weil viel mehr Stille von ihnen erwartet und in ihre Lebensrealitäten gezwungen wurde. Weil “Frausein” und “still sein” auf eine andere Art als heute synonym miteinander galten.

Und am Ende – dem Ende, das der Film nicht zeigt! – , war es vielleicht dann nicht einmal das “laut sein” der Suffragetten, das Frauen das Wahlrecht gab, sondern ihr Verdienst im ersten Weltkrieg und das Loch, das durch tausende gefallene, verletzte, posttraumatisch belastete Männer* in der Gesellschaftsordnung entstand.

“Der Feminismus” hat viele Einflüsse. Die Leben und die Lebensrealitäten der Suffragetten und Nicht-Suffragetten der 1900er Jahre spielten dabei eine große Rolle. Um sich diesen Teilaspekten zu widmen, ist dieser Film ein guter Einstieg.

*ich schreibe in dem Text nur von „Frauen“ und „Männern“, weil in der Bewegung nur von „Frauen“ und „Männern“ gesprochen wurde – die Dekonstruktion von Geschlecht passierte erst später

einer dieser Tage

Und dann sind da diese Tage, in denen man nicht dazu kommt zu merken, wie schlimm sie sind, gerade weil sie so schlimm sind. Erst als man im Bett liegt und unter dem Gewicht seiner Decken zu sich kommt, entsteht der Raum zu der Erkenntnis, dass sich vielleicht einfach noch nicht genug verändert hat, um wirklich anders werden zu können.
Und mit dem Gedanken, dass man sich selbst vielleicht noch nicht genug geändert hat, um Dinge neu und anders anzugehen, fallen die Augen zu und es beginnt ein Zustand, in dem dieser Gedanke die Herrschaft hat. “Du bist nicht okay, wie du bist.”; “Du bist nicht genug”; “Du bist falsch”; “Du musst anders sein, um die Welt ™ zu verändern”. Da greift etwas in mich hinein, reißt an etwas herum, das nicht zu mir gehört, krempelt mich auf links und klemmt meinen Kopf in eine Zange, die sich im schweißnassen Aufwachen, als die Kante zwischen Bettkante und Kommode entpuppt.

Wir verließen die Praxis unserer Therapeutin und versuchten die losen Fetzen der Stunde noch aufzufangen. Neben mir stieß ein Innen die Füße auf den Boden und sagte: “Ich hab versucht ihr zu sagen, dass ich mir nicht mehr ranholen kann, wie wir denken konnten sich Hilfe ranzuholen wär’s wert weiterzuleben.”. Ich nahm ihm die Füße ab und verlagerte die Energie des Innens in Gehgeschwindigkeit. “Sie hats nicht kapiert. Nichts von dem, was du gesagt hast, hat sie kapiert, noch von dem, was ich gesagt hab.”. Neben uns lief eine Gruppe Schulkinder durch die Straße und die kalte Wind britzelte in den Augen.

Manche Therapiestunden tragen unerwartet dazu bei Brücken in Ecken des Innens zu fühlen, zu dem wir sonst keinen Kontakt haben. Das ist unvorbereitet und spontan. Und meistens hat es Folgen, die im Nachhinein schwer nachzuvollziehen sind. Da ist plötzlich ein Innen, das sonst eher als wabernde Eminenz die Therapie oder das, was wir äußern, beeinflusst, mit mir in einem Gefühl vereint, das ich in früheren Zeiten als unbewortbar erlebt habe. Und dann ist das Ergebnis wieder so eine von diesen Wahrheiten, die sind und an deren Ende wir uns als allein am Rand der Welt empfinden.

Obwohl wir doch alle Regeln befolgt haben. Obwohl wir doch getan haben, was wir tun sollten. Obwohl wir doch mitmachen.
Nur eben leider nicht verstanden werden.
Wir versuchen uns in kürzeren Sätzen. Weniger Monolog. Wir haben uns in der Krisenstation dazu entschieden dieses kurze Denken zu kopieren. Weil: “Neue Wege – neue Methoden”. Wir wollen nicht mehr die sein, die ewig lange redet, weil sie denkt, sie wäre dann besser verständlich. Wir hören immer öfter einfach mittendrin auf. Lassen es und ziehen uns raus, wenn wir merken: “Wir greifen hier schon wieder mehr als das Gegenüber in den Besteckkasten.”.

Und genau das haben wir uns für diesen Hilfezirkus auch vorgenommen.
Immer wenn wir merken: “Ah – du hast dir 2 Löffel eingeplant, weil du heute noch einkaufen musst, weil du noch duschen aushalten können willst und, weil du noch Kraft für positive Ressourcen haben willst – und greifst jetzt schon nach dem dritten Löffel, weil die Person dir gegenüber nicht versteht.”, hören wir auf.
Erinnern uns daran, dass das Gegenüber ja auch einen Besteckkasten hat und warten. Und wissen: wir können nur warten, weil uns Menschen immer wieder so glaubhaft wie nur möglich machen wollen, dass sie uns unterstützen wollen, wann immer wir sagen: “Ich kann das nicht” oder “Ich brauche dabei/dafür Unterstützung”.
Am Ende müssen wir die Menschen beim eigenen Wort nehmen und sie damit überraschen, dass ihre Beteuerungen bei uns nicht links rein und rechts wieder raus gerauscht sind. Oder mit unserer Bereitschaft, ihnen zu glauben und krasser noch: ihnen zu vertrauen und sich darauf zu verlassen, dass sie uns die Wahrheit gesagt haben.

Vielleicht gehören wir zu den Menschen, die sich nur zu anderen hinwenden können, wenn sie hinter sich deutlich spüren, dass die Alternative das Sterben oder auch das “nicht mehr sein” ist. Was – obwohl es sehr ähnlich gelesen wird – etwas anderes ist und damit zu tun hat, dass wir schwer traumatisiert wurden.
Wir haben keine Angst vorm tot sein – wir haben Angst vorm “nicht mehr sein”, denn das ist, was die Gewalt früher so oft mit uns gemacht hat und so viel unaushaltbarer ist, als tot zu sein. Die Toten sind tot. Sie sind eben nicht “nicht mehr”.

Gestern war ein Tag, an dem wir zwei Dinge gemerkt haben:
Erstens: ein kurzer Satz wie “Ich kann das nicht” reicht nicht. Auch dann, wenn das Gegenüber – in dem Fall die Therapeutin – weiß, worum es geht, was es mit uns macht, wie groß die Belastung ist, wie massiv der Trigger ist. Es reicht auch nicht diesen Satz logischer machen zu wollen, indem man seine Umgangsoption mitteilt, die impliziert, dass man selbst nicht involviert ist – weil man es nicht kann.

Zweitens: Menschen mitzuteilen, dass man sich aus Diskussionen herauszieht, weil sie einen ganz grundlegenden Punkt der Argumentation seit einem Jahr einfach nicht kapieren, bedeutet nicht, dass man daraus auch entlassen wird (weil man genau diesen Punkt halt nicht kapiert und ergo keinen Grund sieht, die sich herausziehende Person dann auch in Ruhe zu lassen)
So der Fall im Fotokurs nach der Therapie.

Es gab wieder eine dieser Diskussionen darum, was darf Kunst, was darf Satire, was darf der Fotograf (sic!) und wo sind die Grenzen.
Da sitze ich mit 4 weißen als Männer kategorisierten Menschen in einem Raum und erlebe live mit wie die Jungen von dem Alten lernen, dass man nicht auf Kritik achten muss. “Wer nicht lacht hats nicht kapiert” und “*istisch sind immer nur die anderen aus ganz persönlichen Gründen”.
Es ist abstoßend und schlimm. Für uns. Weil Grenzen aufgeweicht und Verletzungen legitimiert werden. Es wird in Kauf genommen Gefühle zu verletzen, um sich selbst als “nicht langweilig” und “edgy” definieren zu können. Als jemand “der ja nur einen Witz machen will”. Und eben nicht auch als jemand, der missachtet, ignoriert und verletzt, weil er es kann und darf und ihm keine verbindlichen Grenzen sichtbar und einzuhalten wichtig sind – selbst dann, wenn sie aufgezeigt werden.

Für uns ist der Fotokurs nicht nur ein Sprungbrett in eine mögliche Zukunft im kreativen Bereich und eine Ergänzung zu sowieso bestehenden Ressourcen und Fähigkeiten – es geht auch um unseren Willen zur Desensibilisierung von Menschen. Wir wissen, dass wir uns an sie gewöhnen müssen, viel soziales Zeug lernen müssen und auch auszuhalten lernen müssen. Neben allem was das Handwerk “analoge Fotografie” bedeutet und von uns zu lernen wichtig ist, sind dort eben auch Menschengeräusche, Menschenwörter, Menschengerüche, Menschen, die plötzlich und unvorhersehbare Dinge tun, sagen, wollen, verlangen. Menschen, die triggern. Menschen, die überfordern. Menschen, die einfach sind und zwar ganz direkt in unserem Umfeld.
Wir wissen, dass wir da was aushalten müssen.
Die Frage ist nur: Wie viel wovon und wozu?

Für uns ist es keine Option zu sagen: “So sind sie halt – die Männer, die Jungs, die Menschen, die Lehrer, die Schüler … die Anderen”, weil das einfach zu wenig ist. Dafür kostet uns der Unterricht zu viel Geld und zu viel Kraft für Kompensationsleistungen und Aufrechterhaltung der Funktionalität. Dafür geht es uns auch einfach zu sehr viel schlechter nach solchen Diskussionen als den anderen Teilnehmenden.
Und am Ende: Wie eklig wäre es, würden wir uns selbst dazu triezen zu lernen uns zu desensibilisieren, wenn anderen Menschen ganz direkt in unserem Umfeld Gewalt angetan wird bzw. solche Gewalt als legitim bezeichnet wird?
Das ist doch nicht, wie Menschenmiteinander aussehen soll. Das ist doch nicht, womit uns beworben wird, dass sich das Weiterleben lohnt.

Wir haben den Kurs eineinhalb Stunden vor Ende verlassen.
Ich habe mich geärgert, meinem Lehrer den Brief nie zu lesen gegeben zu haben, weil ich Angst davor hatte, er würde sich bloßgestellt fühlen und sowieso gar keine Auseinandersetzung mit seinen internalisierten *ismen wollen. Vielleicht: auch gar nicht leisten können, weil er nämlich auf viele Jahre schauen müsste, in denen er Menschen verletzt hat und dachte, das wäre okay, weil er ja ein okayer Mensch ist, der niemanden verletzten wollte.

Ich will nicht immer die sein, die Menschen Dinge zeigt, die sie übersehen und aus dem Bewusstsein streichen, weil sie das können und ich genau eben nicht. In dieser Rolle ist man nämlich immer wieder die, die im besonderen Maße davon abhängig ist, wertschätzend und anerkennend behandelt zu werden. Passiert das nicht, erlebe ich Verletzung, Verlust von Privilegien und zwar ganz konkret, ganz direkt.
Und genau auch nicht, weil ich das nicht anders verdient habe – sondern, weil solche Gegenüber keine anderen Optionen nutzen sich selbst zu versichern, als eben über solche “Strafen”.

Ich merke, dass wir keine Umgangsoptionen kennen, die solche Situationen und sozialen Konstellationen befriedigend für alle auflösen. Denn befriedigend wäre für diese Gruppe nur sich keine Gedanken machen zu müssen und einfach nur zu hören: “Du bist okay – ich habe etwas Falsches gedacht/gesagt/verlangt. Hier ein Keks.”
Ich habe aber nichts Falsches gesagt/gedacht/verlangt.  Ich habe einfach nur etwas gesagt/gedacht/verlangt, das sie nicht verstehen wollen, weil sie nicht müssen und das für den Rest der Welt völlig okay so ist.

Wir haben noch 6 Termine dort. Und erwachsen und konfliktlösungsorientiert wie ich bin, plane ich uns zu jedem dieser Termine in die Dunkelkammer einzusperren und mir maximal ein “Hallo – schließt du bitte auf?” und ein “Bis nächste Woche” rauszuwürgen.
Ja.
Ich bin echt toll konstruktiv und konsequent in unserem  Plan sich irgendwie mal so richtig mit Menschen auseinanderzusetzen.

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