Rezension: „Mit dissoziativer Identität leben und Traumapädagogin werden“ von May-Lo

Buchcover von Mit dissoziativer Identität leben und Traumapädagogin werden von May-Lonah dran

Einen Erfahrungsbericht einer Person mit DIS, während einer pädagogischen Ausbildung – das hat es so noch nicht gegeben.
May-Lo nimmt die Lesenden mit in ihre Auseinandersetzung, die von einer Fortbildung zur Traumapädagogin ausgelöst wurde. Vom Erkennen des Wieder_Erinnerns zur Re_orientierung in einer Gegenwart als Mutter, Begleitende, Funktionierende nach organisierter Ritueller Gewalt, stellt die Autorin viel Nähe her.

diffuse Prozesse – klare Worte

Eine klare Sprache inmitten uneindeutiger Kontexte, unverbundener Bindungen und zuweilen scheinbar ziellosem Vorwärts, trägt hier über 168 Seiten. Es gibt keine nachgezeichnete Struktur dessen, was die Autorin prozessiert. Was sie zu halten scheint und als einzige Richtschnur der Leser_innen dient, ist die Gegenwart. Das Jetzt und der nächstmögliche Schritt.
Ein intensives Er_Leben nach Erfahrungen, die markiert durch eine kleine Grafik, immer wieder gleichsam und umfassend intensiv wirken.

Sein und Werden

Das Ende ist ein Anfang. Ein neuer, ein alter, man erfährt es nicht.
Geht es um eine Befreiung? Haben wir hier die Story mit dem Weg ins Licht, die Freiheit, der Opferschaft weit hinter sich und Ruhe in Frieden zum Greifen nah? – Das bleibt offen und ist meiner Meinung nach das Beste am ganzen Buch.
Denn definitiv gibt es keine Selbstabwertung aufgrund der eigenen Erfahrungen, der Ängste, der Kämpfe, der Belastungen. Es gibt einen berechtigten Stolz auf geschafftes und angeeignetes und eine wie freiwillig auch immer hergestellte Anerkennung dessen was ist. Sowohl des eigenen Seins jetzt als auch des Werdens in Zukunft.

Alles das macht „Mit dissoziativer Identität leben und Traumapädagogin werden“ zu einem Buch, das den Blick auf Menschen mit DIS erweitern, die eigenen Vor_Urteile und Ideen von Traumaarbeit jedoch auch konfrontieren kann.
Hier sehe ich die Rahmung des Manuskripts vom Verlag einigermaßen misslungen. Da konkrete methodische Struktur und Einordnung fehlt, ist dieses Buch kaum Menschen zu empfehlen, die noch keine Vorkenntnisse über dissoziatives Erleben und/oder organisierte Rituelle Gewalt haben. Auch ist fraglich, ob es der Intention der Autorin gerecht wird, wenn man ihre Erzählung als etwas hernimmt, um „die traurige Realität“ von sexualisierter Gewalt sichtbar zu machen.

Für Betroffene, die erfahren wollen, wie eine andere Person mit DIS mit sich arbeitet, um an sich arbeiten zu können, ist es hingegen von besonderem Wert.

„Mit dissoziativer Identität leben und Traumapädagogin werden“ von May-Lo ist am 1. April im Asanger Verlag erschienen und kostet 19,80 €.
Die Autorin twittert unter dem Handle @kurzvorlila

 

Grenzen

Die Sonne geht gerade auf, Wolken schleichen um sie herum, am Horizont steht eine Gruppe Wild.
Ich fahre zur Schwimmhalle, blinzle mir Fetzen aus den Augen. Der Impuls ist, sich zu verkriechen. Einrollen, verstecken, dunkel, still, nichts und niemand. Ich spüre ihn genauso deutlich wie den monolithen Leuchtturm in mir, der mich in die Selbstfürsorge leitet.

Das Wasser ist kühl, im Becken schwimmen außer mir nur drei andere Menschen. Das Morgenlicht wird zu hellen Rhomben, Drei- und Vielmehrecken auf der Oberfläche. Ich schalte meine Augen aus, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Zwei Wochen war die Schwimmhalle geschlossen, weil so viele Mitarbeiter_innen krank gewesen sind. Ich liebe, wie anstrengend es nun wieder ist, mich vorwärtszubewegen. Meine Glieder schreien mich an, ich fühle mich ihnen näher als vorher. Die dumpfen Erinnerungen auf meiner Haut werden zu Schatten und verlieren ihre Macht über mich. Und endlich kann ich es loslassen. Das drängende Gefühl, mich um etwas kümmern zu müssen, was seit mehr als 25 Jahren nicht mehr bekümmerbar ist. Das Gefühl des Versagens, das damit verbunden ist. Das Gefühl der Überforderung vor einem Anspruch, der vielleicht nur von mir ausgeht, aber irgendwie doch nicht so richtig vom Außen zu lösen. Die Furcht vor Gesprächen, die dem Geständnis der Nichtversorgung von Kinderinnens folgen könnten.

Meine körperliche Anstrengung gleicht meiner psychischen. Ich fühle mich rund in mir und kann leichter mit der Eckigkeit der Welt umgehen. Ihre scharfen Kanten müssen im richtigen Winkel auf mich treffen, um nicht an mir abzurutschen, ich muss nur meinen Sicherheitsabstand zu ihr bewahren. Grenzen setzen, vielleicht.

In Gedanken suche ich meine Körpergrenzen ab und stolpere in die Geschichte meiner Narben. Ja, auch das war Kongruenz, Metapher, reale Invasion. Selbstverletzung, Angriff, Zugriff. Aus- und Nutzung. Leute, die Kinder schneiden, Kinder, die sich schneiden. Wenn man das übereinander legt, gibt es nicht nur Gegensatz und Ausschluss, sondern auch Gemeinsamkeit. Kongruenz. Rundsein. Identität.

Auf dem Rückweg scheint die Sonne. Nicht mehr lange, dann können wir wieder mit dem Fahrrad zur Schwimmhalle fahren. Ein Kinderinnen schickt mir seine Freude über den Gedanken durch ein Fuchteln. Manche Grenzöffnung ist okay.

unverzeihlich und vorbei

Wir haben uns lange nicht mehr als Körper erlebt. Meine Kolleg_innen und ich. Wir trafen uns zur Besprechung aller Dinge und zur Befühlung aller Prozesse, die es nicht von Monitor zu Monitor schaffen.
Hohes Risiko für alle. Auf allen Ebenen. Und auch – das Leben. Das es nicht ohne Risiko gibt. In dem man nur tun kann, was man tun kann.

Ich moderiere, führe durch die Methode, schreibe mit, bin stolz und dankbar, die Traumaarbeit am Tag vorher so gut ziehen lassen zu können. Das war so lange nicht möglich. So lange so viel belastender als jetzt. Was ich jetzt fühle und denke, das hat alles mit meinen Kolleg_innen zu tun. Und damit, dass ich sie am Herzen trage. Sie sind mir wichtig, ich mag sie, wir gehören zueinander.
Wir erwarten einen großen Prozess in diesem Jahr, ich erwarte meine Überforderung. Wir planen und überlegen zusammen, ich behalte meine Befürchtung für mich, denn mehr als diffuse Furcht ist es noch nicht.

Auf dem Weg zum Bett für die Nacht mischt sich das Dröhnen der Zugklimaanlage mit dem Erinnern an das Dröhnen meines eigenen Blutes im Ohr. Ich schütte Musik hinzu wie frisches Gemüse in eine Tütensuppe. Tippe mir den Rhythmus auf die Grenze zwischen der Welt und mir. Denke nichts, fühle nichts. Bin dankbar mir sicher zu sein, dass ich dennoch da bin. Ich bin nicht meine Gedanken, ich bin nicht meine Gefühle. Ich bringe sie hervor – wenn ich es kann, wenn ich es will, wenn ich es muss, kann, darf, soll. Sie brauchen mich, ich bin auch ohne sie. Es ist okay.

K. schreibt mir, dass es eine Demonstration von Querdenkern in der Innenstadt gibt. Ich plane Umwege ein, obwohl ich kaum die Augen aufhalten kann. Es regnet, ist kalt. Wer es ernst meint, lässt sich davon nicht abhalten und hat deshalb gerade jetzt die Gelegenheit Menschen wie mich echtem Psychoterror auszusetzen. Denn mir ist wirklich unbegreiflich, wie ernst man solchen Unsinn wie Impfchips und Freiheitsbedrohung durch Rücksicht auf chronisch kranke, behinderte, sehr junge und sehr alte Menschen meinen kann. Mir macht das Angst. Zusätzlich zur Angst vor Ansteckung und damit der Angst meinen Partner durch Ansteckung zu töten. Zusätzlich zur Angst, eine Ansteckung zu überleben und dann mit Longcovid umgehen zu müssen. Zusätzlich zur Angst, die sich aus der Erfahrung ergibt, eine behinderte Person in dieser Gesellschaft zu sein.
Schon das Wissen, dass ihre Demos genehmigt werden, macht mir Angst. Denn mit freier Meinung hat das alles nichts zu tun, sondern mit der Idee, dass Menschenverachtung und Hass etwas mit Meinung zu tun hätte. Beziehungsweise, dass sich menschenfeindliche und hasstragende Meinungen aus irgendetwas anderem als Menschenfeindlichkeit und Hass entwickeln.
Es ist struktureller Betrug am Recht der Allgemeinheit sich frei und sicher zu fühlen, wenn man Querdenkern die Raumnahme erlaubt. Und es ist unverzeihlich.

Die Altstadt umrundet komme ich eine Stunde später als nötig an. Denke nur noch in Fetzen, esse etwas, lasse eine Serie in mich hineintropfen, falle in einen Schlaf, aus dem ich wegen Luftnot wieder herausstürze. Meine Allergie. Kurz nach 3. Draußen rauscht es, drinnen ist es still. Ich wackle in meinem Körper herum wie ein Steinchen in einer Blechbüchse. Hinter meinen Gedanken ans Trinken, meine Tablette, mein Notfallspray und der Planung meiner Lebenserhaltung rauscht ein Traumawiedererleben entlang. Dazwischen ist ein Spalt. Eine Luftbarriere. Ich weiß nicht, wie ich sie herstelle, aber sie ist da und ich halte mich auf meiner Seite, ohne zu wissen wie eigentlich.
Ich atme und trinke, huste und schleime. Halte die Arme über meinem Kopf, schaue auf die Uhr, konzentriere mich auf die Wirkung meiner Maßnahmen.
Die Bilder rauschen in meinen Ohren. Ich sehe Unverzeihliches. Fühle Unverzeihliches. Denke Unverzeihliches. 20 Minuten später ist es vorbei.

12 Stunden danach liege ich auf der Couch unter der schweren Decke. Ich bin zu Hause. Bubi liegt neben mir, der Partner spielt etwas vor, NakNak* hat uns im Blick. Ich verkörpere mich, ES ist vorbei.
Unverzeihlich und vorbei.

Pläne

„Je stressiger es im Alltag wird, desto mehr Struktur brauchen wir, um zu funktionieren.“ Das klingt für die meisten Leute total logisch und nachvollziehbar. Klar, wer viel vorhat, ist immer gut beraten sich einen Plan zu machen, um gut zu arbeiten oder Abläufe zu gewährleisten.
Für mich beginnt der Stress in „stressiger Alltag“ schon in dem Moment, in dem ich weiß, dass Dinge passieren werden, die üblicherweise nicht passieren. Und zwar nicht, weil sie passieren, sondern weil das Passieren dieser Dinge alles verändert und damit auch sämtliche Ressourcen und Stützen des Alltags beeinflusst. Was bedeutet, dass ich mich nicht nur um die passierenden Dinge, sondern auch ihre Wirkung auf mich kümmern muss.

Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagespläne sind mir noch nie ein Korsett gewesen, nie ein Angriff auf meine persönliche Freiheit – viel eher sind sie der Grund dafür überhaupt in die Situation zu kommen, mich frei entscheiden zu können. Denn ich kann weder entspannen, noch ruhen, noch Kraft tanken, wenn ich nicht weiß, was in den folgenden Stunden und Tagen noch auf mich zukommt und wie ich was wann wie genau kompensieren kann und darf.
Im günstigsten Fall mag ich die Art der Störungen des üblichen Ablaufs einfach nicht oder bin nur irritiert. Dann finde ich Stabilität und Ruhe in Stimming oder meinen Projekten. Problematisch wird es, wenn ich mit den Ressourcen schon so weit runter bin, dass ich weder von Stimming noch von irgendetwas anderem profitiere. Am schlimmsten ist es, wenn der Ablauf über so lange Zeit gestört oder beeinflusst wird, dass ich überhaupt keinen üblichen Ablauf mehr ausmachen kann.
Das gesamte letzte halbe Jahr war so ein Zeitraum. Wir haben viel gearbeitet, viele emotionale Tiefschläge kompensiert, die unsere Freund_innnenschaften bzw. das, was wir dafür hielten, betrafen. Wir haben Physiotherapie und Fahrschulunterricht in Theorie und Praxis durchgezogen, sind alle zwei Wochen nach Bielefeld zur Therapie und alle zwei Wochen zur Autismustherapie woanders gefahren. Wir haben uns an eine Selbsthilfegruppe für Viele herangewagt, haben einige erste Interviews für unsere Podcast-Reihe aufgenommen und alles das immer mit dem Partner und den Beziehungsalltag im Hinterkopf, die Bedürfnisse der Hunde, die Pflicht, die Kür, die Versprechen bezüglich des Gartens, des Podcasts, unserer Projekte.
In den letzten drei Wochen hatte ich jeden Tag einen anstrengenden Termin, seit Ende Oktober habe ich wieder mit Weglaufimpulsen aus  Flashbacks/Alpträumen/Intrusionen aus dem Schlaf heraus zu kämpfen, was bedeutet, dass nicht einmal die Nachtstunden zuverlässig für Erholung da waren.
Dass ich noch nicht „ausgerastet bin“ (den Meltdown nach außen sichtbar hatte) liegt daran, dass ich eine Verzögerung in der Verarbeitung habe und in der Regel nach innen explodiere, also dissoziiere. Und weil die Dissoziation praktisch mein Betriebssystem ist – mich bisher niemand anders erlebt hat – fällt das nicht als Problem auf.
Manchmal finde ich das auch gut so. Denn mit der Ratlosigkeit, der Frage: „Ja und jetzt?“ umzugehen tut mir nur weh und oft ist es den Streit aus der Enttäuschung heraus, dass dieser Schmerz nicht bemerkt wird, einfach nicht wert.

Viele Menschen denken und planen nicht so weit im Voraus wie wir, weil sie es nicht müssen. Ihr Jetzt ist ein anderes als meins – ist nicht so leicht zu zerstören von morgen, bald oder nachher. Und viele Menschen schieben einfach gern auf, weil sie die Kraft für alles auf einmal aus einem viel tieferen, größeren Fass schöpfen als ich. Um in dem Bild zu bleiben, habe ich genau eine Tasse, aus der ich schöpfen kann und ich bin maximal geizig mit jedem noch so kleinen Tropfen, weil ich es muss. Nicht, weil es so schlimm ist, erschöpft zu sein, sondern weil „eine volle Tasse“ zu haben für mich a) nicht bedeutet, nicht erschöpft zu sein und b) weil auch das Management dieses Budgets, die Erfassung, die Planung, die Kommunikation des Budgets bereits daraus geschöpft wird.
Ich habe nie einen fixen Stand von 100 % und daraus kann ich dann hippy happy Leben gestalten – ich muss bereits 40 % weggeben, um in der Lage zu sein, mein hippy happy Leben erfassen, mich selbst darin fühlen und verstehen zu können. Und das ist, was die meisten Menschen – auch „meine Menschen“ – manchmal einfach vergessen: Die meisten Menschen müssen aus ihrem größeren Kraftfass vielleicht 10 oder 15 % dafür weggeben und das oft nicht einmal bewusst. Und am Ende eines Tages haben sie immer noch 20 bis 30 %, um zu verarbeiten, was sie erlebt haben. [1]

Ich habe nicht die Wahl irgendetwas von meinen Therapien (und dem, was wir darin machen) oder Projekten einfach zu lassen, denn ich benutze vieles davon zum Prozessieren und Verarbeiten sowohl dessen, was mir in der letzten Woche, aber auch vor 30 Jahren passiert ist. Jede Therapie, aber auch das Bloggen und Podcasten sind damit Hilfsmittel, die mir – bei aller Anstrengung, die sie bedeuten – ermöglichen, mich im Bezug zur Welt zu halten und damit ein fundamental wichtiger Teil eines mehr oder weniger festen Plans, der mich in diesem selbstbestimmten, autonomen Leben hält.

So einen Plan zu haben – ja, mir überhaupt erstmal einen zu überlegen, mich zu trauen an die Zukunft zu denken, mir eine auszudenken, zu wünschen, mich auf so viel hätte würde wäre wenn einzulassen, habe ich erst mit der Berufsausbildung geschafft. Das war 2016. Da waren wir gerade 9 Jahre aus organisierten Gewaltkontexten ausgestiegen, die uns sehr genau vorgegeben haben, was wann wie zu denken, zu wollen, zu machen war.
So frei wie heute verliert mein Leben und das, was ich darin tue, sofort an Bezug und damit Sinn und Bedeutung, wenn ich meinen Plan loslassen soll. Und das wird bewusst oder unbewusst öfter mal von mir verlangt oder „vorsichtig vorgeschlagen“, wenn der Eindruck entsteht, ich hätte mich verrannt oder überfordert. Oder – was eigentlich am meisten schmerzt – : Wenn ich selber sage, dass etwas zu schwierig für mich ist.
Der erste Reflex ist dann oft die Idee der Entlastung durch Vermeidung. Das Angebot mir irgendeine Aufgabe abzunehmen, irgendein Wagnis nicht zu begehen und zu erwarten, dass ich das okay finde – vielleicht sogar noch krass dankbar bin und mich einfach super fühle. Das tue ich in der Regel aber nicht, denn die Alternative zur Überforderung ist in meinem Fall immer der Ausschluss. Das nicht mitmachen, nicht dabei sein, ohne Bezug sein. Ein Zustand, den so, in dem Umfang wie ich es erlebe, kaum jemand wirklich innig er_leben möchte, weil Bezug für soziale Wesen wie uns Menschen ein existenzielles Grundbedürfnis ist. [2]

Wie viele andere autistische Menschen bin ich sehr hartnäckig. Was ich mir vornehme, das mache ich früher oder später auch. Ich nehme mir nichts vor, das unrealistisch ist und verfolge meinen Lebensplan jeden Tag, weil ich einen brauche, um mein Amlebensein in Existenz und Sinn auszuhalten und zu gestalten.
Das ist nicht banal. Nicht wegzulachen oder zum Quirk zu erklären.
Es ist bedingungslos zu respektieren und mitzudenken.

Immer.

 

[1] In diesem Text verwende ich das Bild von einem Fass bzw. einer Tasse voll Kraft als Flüssigkeit. Viele andere chronisch kranke, neurodiverse, behinderte Menschen verwenden das Bild von einem bestimmten Budget von Werkzeugen/Besteck, das sie zur Verfügung haben. In der Podcastepisode „Was helfen könnte – die Besteck-Theorien, eine Kommunikationshilfe“ habe ich sie genauer beschrieben.

[2] Angebote wie diese führen viele behinderte Menschen in die sogenannte „Schonraumfalle“, was dazu führt, dass Abhängigkeiten entstehen und also die Freiheit der Menschen eingeschränkt wird. Sowohl die der behinderten Menschen als auch die der Menschen, die ihnen die Schonräume ermöglichen und aufrechterhalten müssen.
Mir ist bei Überforderung am besten zu helfen, wenn man mich dabei unterstützt, den Punkt der Überforderung zu verstehen und mit dem auszustatten (oder mir zu ermöglichen, dass ich lerne), was ich brauche, um sie zu überwinden.
Jede Hilfe, die Helfende überflüssig macht, ist besser als der beste Schonraum.

ein dritter November

7 Uhr 40. Es ist hell und kalt. 5° zeigt die Wetter-App, 3° meine Körperreaktion.
Ich vermeide es, bei so niedrigen Temperaturen länger mit dem Rad zu fahren. Anstrengung plus kalte Luft gleich Asthma-Attacke, das ist eine Rechnung, die fast immer aufgeht. „Vor allem, weil du deine Luke dauernd offen lässt!- Was bist du – ein Fisch?“
Ich presse meine Lippen aufeinander, trete in die Pedale, hoffe, dass weder meine Hand- noch meine Fußschuhe sehr feucht werden. Kurze Zeit später ist mein Mund wieder offen, eine Innere teilt mir eine Erinnerung an das Brechen der Nase zu. Ich beiße die Zähne zusammen. Lasse mich in die Musik auf meinen Ohren fallen. Langsam verschwinden sie darin. Meine Inneren, die Anderen, der ganze belastende Kram.

Umgezogen und restwarm steige ich in den Bus. Darin sitzt ein Psychiatriepfleger und quatscht den jungen Fahrer voll. Trotz Kopfhörern in den Ohren höre ich alles, was aus seinem unmaskierten Mund herauskommt. Wie die sich immer in Dinge verrennen und das manchmal ganz schön gefährlich werden kann. Dass die Arbeit schon Spaß macht, wenn man die erst mal unter Kontrolle hat.
Schon sind sie alle wieder bei mir. Sitzen mit im Bus, drängeln sich in meine Aufmerksamkeit, brodeln dicht unter unserer gemeinsamen Hülle. Er verstummt über einem Magazin als wir losfahren. Ich atme auf und merke, dass ich friere. Frühstück vergessen, Blutdruck im Keller. „Dumm dumm dumm – Warum bist du so scheiße?“ Musik an, runterfahren, Füße und Hände langsam und intensiv bewegen. „Nach dem Zahnarzttermin kümmere ich mich darum.“ Den Gedanken denke ich als solide Form mit glatter Oberfläche. Ein Monolith, an dem die vorbeirutschen, die sich nicht damit verbinden wollen/können und die haften bleiben, die Halt brauchen.

Ich komme zu spät zu dem Termin. Bauarbeiten, Güterverkehr, die deutsche Bahn an sich. Ich bin ruhig und froh ein Stück rennen zu müssen. Blutdruck wieder hoch, die Lunge meldet Stechen und Drücken, das Innere diffuse Bilder vom Kampf um Luft durch Stoff und Fremdeinwirkung. Ich bin ruhig und in der Dauerschleife eines Songs, der mir gut gefällt. Ich denke an nichts, fühle meinem Herzschlag nach, rufe in der Praxis an, um Bescheid zu sagen, als die Idee an mir vorbeischwimmt. „Okay, ist kein Problem – bis gleich!“, gibt die Mitarbeiterin durch an mich, die_r es weiter nach innen trägt wie einen Brief ohne Adressaten.

In Bielefeld liegt eine tote Taube auf dem Sand am Fuß einer Stadtplatane. Ich greife den Lenker des Rads fester, fixiere meine Umgebung, sehe alles, erkenne nichts. Jemand inneres fährt uns zur Praxis, ich zittere als ich absteige. Klopfe mich ab, schüttle mich aus, ziehe mich zusammen, um meine Aufmerksamkeit zu bündeln.
Meine Zähne sind super, meine Figur auch. Seit dem frühen Sommer habe ich 32 Kilo abgenommen, das wird von der Mitarbeiterin goutiert, was mich irritiert. Meine Zähne richtig zu pflegen und gut zu behandeln war viel schwieriger, als mein Übergewicht zu reduzieren. Ich denke das laut und drehe ein jüngeres Ich weg von dem vergifteten Kompliment, um nicht gleich beim Frühstücken von ihr gestört zu werden.

Was gut funktioniert.
Bei Tee und einem Brötchen sitze ich in der Bäckerei und suche eine Zugverbindung zurück aus. Eine Stunde habe ich noch. In der kaufe ich mir einen Bademantel für die Schwimmhalle und werde zwei Mal fast von Autofahrer_innen überfahren.
Dann steige ich in den RE6 nach Minden, der nie pünktlich in Minden ankommt und heute sogar so viel zu spät ist, dass ich alle möglichen Anschlüsse nach Hause verpasse. Eine Stunde stehen wir am Gleis, essen ein zweites Brötchen zum Mittag, trinken das eiskalte Wasser aus der Trinkflasche, fangen wieder an zu frieren.
Auftauend im Zug denke ich darüber nach, statt ins Sportbecken in die Sauna zu gehen. Einmal ganz tief aufwärmen tut bestimmt genauso gut, wie eine Stunde Bahnen ziehen. In Wunstorf, meinem Hassbahnhof, warte ich auf den Umstieg und fühle die ersten Regentropfen. Die Wärme ist dahin, wenn wir durch den Regen nach Hause gefahren sind. Grmpf. „Bald haben wir den Führerschein.“ muntere ich mich selber wieder auf und fahre am Feierabendverkehr vorbei in die Schwimmhalle.

Der Bademantel ist mir viel zu groß. Da ist sie also immer noch, die verschobene Körperwahrnehmung – oder die Problematik, dass L bei Marke A die XXS von Marke B ist und andersherum. Eine Person kommt mit zwei kleinen Kindern in die Umkleidekabine. Mir wird schlecht, ich esse, einer spontanen Eingebung folgend, die Banane in meinem Rucksack und wickle mich fest in den Bademantel. Die Kinder hüpfen nackt durch den Raum, ich bin erfüllt von einer fremden Panik, dass sie mich berühren könnten. Ich sage irgendwas Nettes zum Abschied und stiebe wie dampfgetrieben zu den Nassräumen. Hier ist es nicht voll, ich bin allein da. Atme mich ruhig, denke das Wort „Nichts“ in Schreibschrift, spiele ein bisschen mit dem warmen Wasser aus der Dusche.
Im Bademantel laufe ich an den bodentiefen Bistrofenstern vorbei. „Hah, so ist es besser“ stecke ich mir meinen ersten Triumph des Tages an die Brust und ersticke das schlimme Gekeife der Dunkelbunten im Sportbecken, wo ich schon nach einer Bahn nichts mehr denke, erinnere, von den anderen spüre. Ich schwimme meine Routine durch, beobachte wie Anna heute ihr Seepferdchen schafft und wackle zur Düse im Entspannungsbecken, um meinen Mausarm massieren zu lassen. Es ist zehn vor halb 6 als ich das Wasser verlasse, den Bademantel ein weiteres Mal feiere und mir unter der Dusche den langen Zopf aufmache.

Es regnet immer noch. An die Gebäudewand gelehnt, esse ich noch die beiden Äpfel aus dem Rucksack und suche nach Schlupflöchern in meiner Angst vor dem Radfahren in der Dunkelheit. Es gibt nur eins und das verschluckt mich. Irgendwie komme ich zu Hause an, wo der Partner schon zu Abend isst und die Hunde mich sachte anstupsen.
Wir kochen schnell, essen noch schneller, gucken unsere Serien, versuchen zu erfassen, wie es dem Partner geht, liegen früh mit zwei Wärmflaschen im Bett unter der schweren Decke.

„Für einen dritten November nicht schlecht“, denke ich kurz vorm Einschlafen.

Fundstücke #78

„Kalte Wärme“ will ich es nennen, tatsächlich ist mir aber nur warm unter meinem morgenkalten von Radfahrschweiß feuchtem Körperspeck, den ich eingeschlossen im Bahnhofsklo trocken tupfe und dann in frische, zivile Kleidung stecke.
Wir sind zum Bahnhof geradelt, das sind 18 Kilometer. Es war neblig, feucht, kühl, wundervoll. Dort angekommen sahen wir die Zugausfälle und hörten außer den Durchsagen: nichts. Ok, das stimmt nicht, aber es tat nicht weh und so hört sich das Restnichts eines Bahnhofs ohne ständige An-, Ab- und Durchfahrt für mich an. Schmerzlos.

Ich twittere das und registriere dann den Gedanken, dass das vielleicht zu intim war. Danach, dass diese Einschätzung einer alten Perspektive entspringt, die nie genauso zu meinem Alltag gehörte. Ich werde nicht ständig beobachtet und beurteilt. Niemand teilt mir zu, wo ich anfange, ob und wenn ja bis wohin meine Intimsphäre reicht und wenn ich etwas von mir mit.teile, dann ist das prinzipiell in Ordnung, denn ich bin keine Ressource, die jemandem gehört.
Später frage ich mich, ob es an meinem PMDS liegt, dass mir so scheiß egal ist, wer diesen Gedanken hatte und wieso. Ob ich gerade brutal vermeide und zarte Versuche von Kinderinnens und – Jugendlichen, sich ein Bild vom Heute, meinem Heute, zu machen zerschmettere – oder daran, dass diesem Gedanken, auch diesem fremdvertrauten Kindergefühl der ständigen Beobachtung, Kontrolle, Überwachung, eine Angst zugrunde liegt, auf die ich einfach keinen Bock habe. Like: Wirklich keinen Bock, keinen Nerv, keine Zeit, weil mein Heute tausend andere, viel nützlicher mit Angst befühlbare Dinge enthält.
Und ja, weil ich meine Angst nutzbar haben will. Es ist meine Angst, mein Schmerz, meine Gefühle, meine Gedanken, alles meins und ich kann mir aussuchen, was ich damit anfangen will. Manchmal nur theoretisch, fein, aber meistens auch praktisch.

Ich hatte immer Angst vor meiner Angst, weil sie der Grund für viele Kontrollthemen in meinem Leben ist. Entweder ich musste kontrolliert werden, weil ich Angst hatte oder weil ich „allen“ Angst gemacht habe. Mich als Behältnis, als Quelle der Angst zu kontrollieren war der Umgang, der irgendwie immer möglich war, die Nutzbarkeit meiner Angst eine Idee, die ich erst umsetzen konnte, als ich begriff, dass ich dieses hin und her aus Angst für mein ganzes Leben hielt, statt einen Teil davon. Einen nutzbaren Teil. Einen von mir für mich nutzbaren Teil. 

Ja, da wäre ich nie hingekommen, hätte ich mich meinen Kinderinnens und Jugendlichen immer so gewidmet, wie ich das jetzt mache. Abwehrend, abwertend, ungeduldig, vermeidend. Aber ich frage mich auch, warum ich mich ihnen widmen soll, wenn sie sich auch mir widmen könnten. Besonders, wenn sie schon wissen, dass sie Kinder in einem Erwachsenenleben sind. Dass 2021 ist. Dass heute ein anderes Heute ist. Denn durch dieses Wissen treffen sie eine Entscheidung, wenn sie in ihrem früheren Erleben bleiben. Jedenfalls theoretisch. Dass das viel mit Gewohnheit, Unbewusstsein und einem unfassbar großen Lernprozess zu tun hat, weiß ich auch. Aber.
Wer sich mir in den Kopf und in die Gefühle hängen kann, um mein Überleben zu retten, obwohl es nicht mal im Ansatz gefährdet ist, kann sich mein Leben auch angucken und checken, dass alles anders ist.

So wie S., der sich im Zug neben mich setzt und so etwas wie Gedanken wie ein Echolot an mich richtet, um zu prüfen, ob immer noch alles ist, wie beim letzten Mal: Alles ok.

hypo

„Was ist denn los mit euch?“, fragt er und hält sich selber an Dingen, die ich nicht sehen kann.
Was ist denn los mit euch, die Frage rutscht Bissen für Bissen weiter runter. Ich esse und esse und später esse ich weiter. Dopamin-Spirale, selbstverletzendes Stimming, eine Essstörung, die so eng mit all dem verbunden ist, ist das mit uns los oder ist das nur der Schaum; die Krone auf einem gärenden, Blasen treibenden Sifftümpel irgendwo in mir drin?
Aber

mir gehts ok.
Ich bin nicht traurig. Spüre die fremde Wut nicht mehr und dieses Gefühl der Zerrissenheit aus Entscheidungsdruck und Anspruch, sich gefälligst dann auch richtig und endgültig zu entscheiden – alles weg. Nicht dissoziiert auf eine Entfernung, die mir genehmer ist, nein, weg.
Ich muss nicht funktionieren, ich tus einfach. Nichts wird von mir verlangt, es kommt einfach so aus mir raus, wie das Essen in mich rein. Eins nach dem anderen. Rein, rein, rein, Leistung, Präsenz, Fertigkeit raus, raus, raus. Nicht belastend. Nicht schlimm. Überhaupt nicht abgerungen oder erkämpft. Wirklich nicht.

Einen Tag später liege ich im Bett und lasse mich von Medikamenten und den letzten Wehen eines Orgasmus schaukeln, der meinen Bauch mit meinem Hals verbunden hat.
Es ist Hyposensibilität. Das Ding, das macht, das man das Tiefe, das Körperinnere nicht gut fühlt, es macht alles kompliziert.
Ich kann meine Haut kaum ertragen und füge mir gleichzeitig Muskeldaueranspannungsschmerzen zu, weil mein Körper, ich, natürlich versuche mich wahrzunehmen. Anspannung ist einfach nicht immer nur ängstliches Hocken im Busch, es ist auch der Versuch die scheinbar unkontrollierbaren Fleischwürste, die mir an Schultern und Rücken hängen, zu fühlen, zu bewegen, mir glaubhaft eigen zu machen.
Das ist nicht nur belastend, weil ich mich trainiert wie ein Hund frage: „Dissoziation oder ein echtes Problem?“, sondern auch, weil es dissoziatives Erleben überhaupt erst auslöst und ich selbstverständlich versuche, das zu unterbinden.
Es ist als würde ich mich mit den falschen Körperfunktionen zusammenhalten. Als würden meine Muskeln die Aufgabe von Nerven übernehmen. Als müsste ich meine Muskeln festhalten, damit sie aufhören etwas für mich erfühlen zu wollen.

Das Pochen im Hals ebbt ab, ich will mich in Wellen werfen, gepresst, begraben und gestampft werden, will das orgastische Krampfmoment in jedem Körperteil haben.
Während ich die Gewichtsdecke aufs Bett hebe, denke ich, dass das mit uns los ist. Fehlende Tiefenwahrnehmung. Kleiner Neuroquirk, großer Kackscheiß.
Stimulation ist alles was hilft, aber ich kann nicht den ganzen Tag masturbieren und danach 8 Stunden unter 28 Kilo Quarzsand begraben sein. Also fresse ich bis mein Magen von innen gegen Dinge drückt, trinke ich bis meine Blase von innen auf Dinge drückt, ballere ich mich mit Inhalten zu bis mein Denken gegen meine Lebenswelt drückt. Es ist kein echt selbstverletzendes Verhalten, keine Kommunikation, kein Problem. Es ist Stimulation, die die meisten anderen Menschen nicht brauchen und für die ich noch keine anderen Wege gefunden habe.

Was das eigentliche Problem ist.

stabilisierte Instabilität

Zwei Tage später wird mir klar, dass es ok ist. Dass sie Abstand nimmt und nicht dranbleibt. Die Therapeutin mit Kapazitäten ohne Kassenzulassung, die nach dem ersten Ruckeln im Kostenerstattungsverfahren mit der Krankenkasse glaubt, da würde gar nichts gehen.
Ich hätte mich in den Kampf geworfen, weil ich von der Betreuerin, die wir jetzt haben, so gut vertreten werde und ansonsten erodiere. Ich fühle die Jugendlichen, ich fühle die Kinder, ich fühle meine Gedanken und wie ich unter dem Druck der letzten Wochen an Konsistenz verliere. Es ist der perfekte Zeitpunkt für irgendeinen beknackten Bürokratiescheiß, von dem ich mich verletzen lassen kann, um nicht selber zur Klinge greifen zu müssen.
Aber nein, sie steigt aus. Einige Tage nach dem Termin mit der letzten Therapeutin und dem Begleitermenschen, in einem inneren Zustand, den ich weder überschauen, noch sortieren, noch beworten kann.

Sie ist die zweite Person, der ich davon erzähle, dass die Therapeutin uns ein Angebot gemacht hat, unser Kommunikationsproblem anzugehen und die dritte, die uns sagt, dass das doch prima ist und wir das annehmen sollten.
Plötzlich bin ich die Person vor einem Tisch voller Optionen, die nur zugreifen müsste, aber zu keiner Regung fähig ist.

Denn da ist sie wieder. Die Hilfe-Falle.
Mein Zustand jetzt ist mit „stabilisierte Instabilität“ am besten zu beschreiben, ich habe keine eigene, erwachsene, Haltung zur Lage, möchte, dass alles ~einfach irgendwie gut wird~ und keine 2 Millimeter hinter mir passiert alles von Traumawiedererleben bis kalte Ordnung, um möglichst glatt abzuschließen.
Das ist nicht der Zustand, in dem ich mich für irgendeine Hilfe oder Unterstützung oder irgendwas, das mich persönlich betrifft entscheiden kann und sollte. Und gleichzeitig ist es der Zustand, in dem ich Hilfe oder Unterstützung dringend brauche.

Eine Woche später wird klar, dass sie Krankenkasse vielleicht nicht mal die Kosten für die probatorischen Sitzungen bei der privat behandelnden Therapeutin übernimmt und R., die mir nun seit Monaten mit ihrem „Menschen sowieso aber Therapeuten ganz besonders-Misstrauen“ im Ohr, im Hirn, im Sein hängt, wird zu einem glühenden Stahlgerüst entlang meiner Knochen. Unfassbar schmerzhaft, ständig präsent und starr.
Das kenne ich von K., aber meine Lösungsversuche scheitern. Es ist, als wäre da etwas eingerastet, das ich nun wirklich nicht mehr allein frei kriege und meine Motivation nach einer neuen Therapeutin zu suchen, hat ihren Tiefpunkt erreicht.

Ich glaube nicht, dass wir in dieser Zeit jetzt jemanden finden. Ich sehe auch nicht, woher ich noch einmal Kraft nehmen könnte, noch einmal alles zu erklären, noch mal alles zu erzählen, noch mal eine Schicht mehr über R. und damit eins der wichtigsten inneren Systeme zu legen, die kennen zu lernen doch so ein großer Fortschritt war.

Also entscheide ich gar nichts. Dass ich bleibe, ist wichtig und das merke ich auch. Früher wäre schon längst niemand mehr da gewesen. R. hätte geregelt, bis sie nicht mehr kann, dann K., bis das, was durch ihre traumalogische Regelei nötig wird, ein Ich ist, das auch ohne sie funktioniert. Jetzt regle ich, indem ich gar nichts regle und mich auf den Lauf der Dinge verlasse. Not sure if win.

die letzten Stunden des Jahres

Am Vormittag ruft der Begleitermensch an.
Wir sprechen über meine Emotionsverwirrung. Über meine Wut, die eine andere ist, als Außenstehende zu erwarten scheinen. Über mein Überarbeiten, um mir das Gefühl von Kontrolle zu erhalten und darüber, dass ich, deren Magen ein unendlich großer, unendlich unempfindlicher Ballon ist, zum dritten Mal in diesem Jahr Gastritis habe.
Einen Tee in der Hand höre ich ihm beim Denken zu und schaue auf die letzten Stunden des Jahres, die von wenigen Autos und vielen Rabenvögeln auf dem wintergrünen Feld begleitet werden. Er fragt, was helfen würde und ich lasse etwas los. Vielleicht ein Stück Maske, die mich flexibler darstellt als ich bin. „Na, wenn sie noch da wäre, würde das helfen. Wenn wir einen ordentlichen Übergang machen könnten. Wenn es nicht so eine Situation wäre, in der wir uns zu großen Teilen für eine neue Arbeitsbeziehung entscheiden müssten, weil die Situation mit ihr alles schlimmer macht, als es müsste.“ antworte ich. „Du abartiges Mistvieh, jämmerliches Heulbaby bescheuertes“, antwortet es mir von innen.
Die Dynamik meiner geistigen Starre ist so verlässlich wie eindeutig. Ich wollte nie, dass wir nicht mehr miteinander arbeiten, sie hat das entschieden, ich habe maskiert, kompensiert, so getan, als wäre die Veränderung etwas, womit ich Schritt halten kann, denn ich bin ja kein Heulbaby, ich bin ja erwachsen, von mir kann man erwarten, dass ich Schritt halte, mich bewege, mitgehe, dem Strudel der Veränderungen folge, wie ein Grashalm im Wasser. Dass es mich und meine Kraft zersetzt, dass ich leide, wird angenommen, weil Scheiden schmerzt, nicht, weil sich damit mein ganzes Leben auf allen Ebenen verändert und ich für die Neuanpassung so unfassbar viel mehr aufbringen muss, als in mir ist.
Dass es nicht mehr so wird, wie es mal war, ist gerade in mir angekommen und passt zum Jahreswechsel, wie die Farben in einer perfekten Komposition. Aber die Akzeptanz dessen ist nicht gleich der Akzeptanz ihrer Wirkungen. Die überfluten mich, schieben mich in immer größere, immer drängendere Arbeitsprojekte, während meine Leistungsfähigkeit spürbar abnimmt. Ich verliere mehr Zeit, beobachte mich öfter, verliere häufiger den Faden in der eigenen Organisation. Das ist inakzeptabel, macht mich inakzeptabel, bringt uns in Gefahr, noch mehr zu verlieren als eine Arbeitsbeziehung.

Eine Stunde später schreibe ich einen Termin meinen Kalender. Dann merke ich, dass der Partner und die Hunde nicht da sind. Ein letzter Einkauf und eine Hunderunde stand noch auf seinem Zettel.
Ich lese die Diskussion unter dem letzten Blogartikel und frage mich, wie dick die Haut wirklich ist, die das Außermir vor meinem Leiden unter Missinterpretation und nicht erkannten Verbindungsversuchen schützt. Dann fange ich an zu putzen.
Wäsche zu machen, den Abwasch abzutragen, zu saugen, zu wischen, während der Partner Brühe für etwas kocht, das man „Hot Pot“ nennt. Es funktioniert wie ein Fondue. Man gart kleine Stücken Gemüse oder auch Fleisch und Tofu in würziger Brühe, die man dann mit einem kleinen Kescher herausfischt und mit verschiedenen Soßen isst. Sehr lecker.

Nach dem Essen schauen wir Filme, dann spielen wir Phase 10 und erzählen uns, was 2020 gut war.
Draußen knallt ab und zu eine verirrte Eigenverantwortung, halb 12 öffnen wir den Sekt. Wir haben Wunderkerzen und einander. Dass wir uns nicht infiziert haben, ist unter den Top 3 der besten Dinge, die passiert sind.

die Klapsen-Gedankenschleife

Es rauscht und knackt in der Leitung, am anderen Ende gibt es Probleme mit Soft- und Hardware. „Hm, in ihrer Gegend kann ich ihnen keinen Termin vermitteln.“ Der Mitarbeiter der zentralen Terminvergabestelle klingt irritiert. In mir zieht sich etwas zusammen. Ich lasse ihn im Umkreis von 50 Kilometern suchen, dort findet er etwas.
Als ich auflege, brennt meine Haut. Mir ist schlecht, ich bin erschöpft. Ob immer noch oder schon wieder kann ich gar nicht so genau sagen. In der Nacht hatte ich einige Stunden damit verbracht herauszufinden, ob ich wirklich ganz aus Schmerz bestehe oder ein Erinnern mich das glauben lässt. Am Morgen hatte ich eine lange Selbstmotivationsphase gebraucht, um daran zu glauben, dass es gut ist, dass es wichtig ist, dass ich genug dafür bin, mich um einen weiteren Termin zu kümmern.
Jetzt sitze ich am Schreibtisch und fühle meine Kopfhörer wie die Berührung einer Person, die mich da erreichen will, wo es am schlimmsten ist. Sehe meine Arbeit, meine Projekte wie Türme, die weit über mich hinausragen, erinnere mich an meine Zukunftswünsche wie an einen Traum, den ich mir nie hätte erlauben dürfen.

Für eine Weile bin ich aus Stein. Mir laufen Tränen eine nach der anderen auf der gleichen Bahn über die Wange ans Kinn, wo sie sich sammeln, um gemeinsam auf meinen Pulli zu fallen. Ich beobachte das, fühle nichts, denke nur daran, was für ein jämmerlicher Zustand das ist. Was für ein erbärmlicher Wurm ich bin. Was für ein ekelhaftes Klischee.
Weiter hinten gibt es einen Streit darüber, was es bedeutet eine_n Therapeut_in zu brauchen, daneben steht die Erinnerung an die Pflegeperson aus der KJP, die mir vor 16 Jahren sagte, dass ich mich schon mal drauf einstellen könne, immer irgendeine Form von Therapie zu brauchen, weil bei mir einfach alles so richtig kaputt wäre.

Vor einigen Monaten habe ich mich so heil gefühlt, dass ich dachte, in ein zwei Jahren fertig zu sein und vielleicht nur noch das Autismuscoaching als Unterstützung zu brauchen. Wir haben über ein Kind nachgedacht, über Heirat, über eine kleine berufliche Selbstständigkeit. Darüber, das Nachwachshaus-Projekt auszuentwickeln, über einen Alltag, in dem meine psychische Beschaffenheit keinen Krankheitswert mehr hat. Jetzt kommt es mir naiv vor. Vermessen. Dumm.
Gesund, normal, ohne Therapiebedarf sind immer nur die anderen. Unbesprochenen Alltag, unbearbeitete Wahrnehmung, das dürfen immer nur die anderen haben. Mir ist das Leben nur dann zuzumuten, wenn jemand mit Fachwissen auch drin ist.

Ich bin in der Klapsen-Gedankenschleife. Getriggert bis unters Dach. Noch zwei drei Kreisel und ich bin suizidal. Kann keinen Sinn mehr sehen, nicht mehr an den Unterschied zwischen „real“ und „wahr“ glauben.
Ich hänge meine Wäsche auf, mache mein Bett, schalte den Wasserkocher ein und beobachte die Bewegungen darin. „Heute ist es anders als früher.“ denke ich und kann keine Entlastung im Gedanken an einen Suizid finden. Da wäre zu viel vorzubereiten, so viele Leute zu verlassen, ohne, dass sie es merken, was mir nie gelingen wird.
Ich rufe bei der Neurologin an. Die Praxis ist zu, ich rufe bei der Therapeutin an, die drückt mich weg. Ich rufe den Begleitermensch an, die Mailbox. Merke wie es hinter mir nickt und sagt: „Siehst?“

„Ich bin überfordert.“ denke ich. „Ich bin überfordert und das ist schon alles. Das passiert. Das ist auch Leben.“ Ich entscheide mich für ein Frühstück, verschließe die Stelle im Auge, aus der die Tränen kommen. Als ich dabei bin zusammenzubrechen, weil mir meine Handlung in Einzelteile und Bedeutungslosigkeit zerfällt, klingelt das Handy.
Die Therapeutin ist dran.