die Fragen und die Antworten

„When I thought I know the answers, they changed the questions.“ Das stand auf einer Karte, die mir eine Therapeutin geschenkt hat. Da war ich fast 18 und hatte außer der Nische im Doppelzimmer der Ballerburg keinerlei Bezugspunkte. Ich reagierte beliebig, verstand nicht, wieso sie diese Karte angemessen fand, wusste nicht, was sie mir damit sagen will. War mir allerdings sehr sicher darüber, dass sie mich weder aufheiterte noch bei etwas half. In dem Zusammenhang war die Karte vielleicht eine Manifestation dessen, was dieser therapeutische Kontakt letztlich war: Unnütz, zynisch, pseudo-nah.

Neulich dachte ich wieder an die Karte.
Es gab eine außerordentlich großzügige Spende für „Viele Leben“, meine Podcastinterviewreihe, in der ich mit Vielen spreche, die ein besonderes Thema haben. Weil ich für meine Arbeit daran bezahlt werden möchte, produziere ich immer erst dann eine Ausgabe, wenn sie finanziert ist. Die Interviews mache ich, wenn ich kann. Ich bin sehr frei in dieser Arbeit und froh, dass weder Zeitdruck noch die Ansprüche Dritter definierende Größen sind.
Doch ich denke auch über Sympathie nach und darüber, ob es nicht besser für das Projekt wäre, würde ich einfach nur im Hintergrund rummachen und jemand anderes stellt es nach außen dar. Oder wenn ich statt eines Podcasts ein Buch daraus mache. Oder wenn ich es ganz lasse.

Ich dachte an diese dusslige Karte, weil mir auffiel, dass ich selbst die Fragen ändere, sobald ich Antworten habe. Und schlimmer noch: Wenn es die richtigen Antworten sind.

In meiner inneren Traumalogik kann es nicht sein, dass ich etwas richtig mache. Oder wenigstens prinzipiell richtig. Sobald ich etwas mache und nichts Schlimmes passiert, stimmt was nicht. Und wenn mir nicht selbst auffällt, was nicht stimmt, dann fange ich an danach zu suchen. Und immer immer immer finde ich mich selber. Ich stimme nicht. Ich bin der Fehler in dem Ganzen. Nicht [beliebiges Attribut einfügen] genug. Nie. Punktum.

Dinge machen, ist gruselig.
Ich weiß das und mache sie in der Regel trotzdem. Manche Menschen finden das gut, den meisten ist es egal. Es ist für mich selbst ein riesen Ding, denn es gibt dieses „trotzdem“. Ich mache die Dinge nicht einfach, sondern mache sie trotzdem. So sind es immer zwei Dinge, die ich da mache.
Wenn man etwas trotzdem macht, dann muss man die ganze Zeit gleichzeitig gegen die eigene Vermeidung, den eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen. Man muss ihn niederdrücken, weil man sonst keine Dinge machen kann. Wenn mir das leicht fällt, bedeutet es in meinem Fall immer, dass ich umfassend dissoziiere, während ich es mache. Ich mache die Dinge wie und als jemand, die_r dieses „trotzdem“ nicht mitmacht. Ich mache meine Anstrengungen als Einsmensch für mich selbst unsichtbar, unspürbar, pseudo-weg. Wann immer etwas unsichtbar wird, verliert es Relevanz. Bietet keinen Anlass mehr beachtet und geprüft zu werden. Ich vernachlässige also etwas, das eigentlich von großer Relevanz für mein Überleben ist und das ist dann doch einigermaßen ungünstig. Also, wenn man leben möchte.

„Viele Leben“ habe ich angefangen, weil ich die Realitätsbezüge in der Außendarstellung von Menschen, die sich als Viele erleben, vermisse. Meine Frage ist: „Welche Leben(sthemen) haben Menschen mit (p)DIS?“
und nicht „Wie sollten die Lebensthemen von Menschen mit (p)DIS rübergebracht werden?“. Ich hatte mir sogar eine Antwort dazu überlegt, warum ich mich auf die Inhalte konzentriere und weniger auf die massengerechte Darreichung. – Ich bin einfach kein super sympathisches Massenmäuschen. Ich bin ein Sachstandsmonolith – und das ist okay so.
Ich hatte also nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen, sondern auch noch Antworten, die anerkennend und wertschätzend mir selbst gegenüber waren.

Da arbeite ich mich jetzt wieder hin.
Und im September gibts die 4. Ausgabe „Viele Leben“.

hätte hätte Traumakette

Dieser Text ist auch im Audio-Podcast „Viele-Sein“ im Format von Vielen erschienen.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass sich einige Viele-Blogger_innen damit auseinandergesetzt haben, ob sie selbst zu Täter_innen werden könnten. Eng damit verknüpft sehen wir die Auseinandersetzung damit, was alles hätte sein und werden können, wäre die Gewalt nicht passiert und wäre man in folge dessen nicht erkrankt*.

Hätte hätte Traumakette
Was für ein Kreisel. Warum fragt man sich: “Was hätte würde wäre wenn?”
Im Allgemeinen dient diese Fragestellung dem Herausfinden von in der Zukunft vermeidbaren Fehlern oder Dynamiken. Geht es also um die Frage, was aus diesem verkohlten stinkendem Zeug in meinem Kochtopf hätte werden können, ist eine Antwort zu finden außerordentlich hilfreich, konstruktiv und unter Umständen sogar evolutionär vorteilhaft.

In Bezug auf erlebte Gewalt oder auch Erkrankungen, mit denen man leben muss, weil sie nicht heilbar im Sinne von “komplett wegmachbar” ist, ist diese Frage im Grunde selbstverletzendes Verhalten. Das bedeutet nicht, dass sie nicht auch hilfreich ist oder konstruktiv oder in irgendeiner Weise vorteilhaft sein kann, sie kann es allerdings ausschließlich in weiterhin bestehenden Kontexten der Gewalt bzw. Auslieferung sein.
Wenn man sich also als Person, die weiterhin Gewalt erfährt, immer wieder fragt: “Was wäre gewesen, wenn ich XY getan oder nicht getan hätte?”, dann kann sie auf Möglichkeiten des Selbstschutzes kommen oder sich an die Idee von Hilfe bringen. Oder jemand die_r chronisch krank ist, könnte an die Idee kommen, gesundheitsfördernde Maßnahmen zu ergreifen oder quasi per Fehler/Symptomprotokoll auf die Dinge stoßen, die neben der Erkrankung heil und gesund sind.

Aber in Bezug auf Dinge, die in all ihrer zerstörerischen Auswirkung nicht mehr zu ändern sind, ist es selbst_verletzend. Es negiert, dass jetzt irgendetwas gut sein könnte. Es missachtet die eigenen Resilienzen, die Kreativität des Lebens, sämtliche Entscheidungen, die dazu beigetragen haben, mit dem was passiert ist umzugehen und ihren auch positiven Auswirkungen in der Gegenwart.

Auf die Frage, was aus uns geworden wäre, wenn die Gewalt nicht passiert wäre, können wir nur sagen, dass wir vermutlich auch dann eine seelische Schacke hätten, einfach weil unerkannt autistisch zu sein, zu ganz eigenen Traumatisierungserfahrungen führen kann.
Wir leben schlicht nicht in einer Welt, in der alles super läuft, wenn wir einander nicht absichtlich oder offensichtlich verletzen. Wer das behauptet, ist mit ausgezeichneten Abwehrmechanismen ausgestattet oder schlicht ignorant. In der Regel sogar beides.

Ein weiterer Punkt weshalb die Frage nach dem “HätteWürdeWäreWenn” nicht zielführend ist, ist der Umstand, dass sie gar kein Ziel hat. Diese Frage dient dem Vergleich mit einem Ideal, das man sich selbst ausgedacht hat, um Ansprüchen gerecht zu werden, die seltenst aus einem_einer selbst heraus kommt.
Wenn wir uns diese Frage stellen, dann vergleichen wir uns mit Leuten in unserem Alter, in unserer Klasse, mit unserem Bildungsstand – Kategorien, die keinerlei Rückschlüsse auf emotionale oder soziale Kompetenzen erlauben. Wir denken: “Ach, die Mitschüler_innen damals – an dem Gymnasium, das wir besuchten, bevor alles kaputt ging – die sind jetzt verpartner_innt oder verheiratet, haben Kinder, arbeiten in Jobs, die haben voll was erreicht und könnten noch so viel, nichts hält sie zurück.” Nicht eine Sekunde denken wir in diesem Moment daran, dass man durchaus auch Haus und Hof, Kind und Kegel – oder bewusst nichts davon – haben kann, während man die Folgen einer Vergewaltigung, einer Krebserkrankung, eines kompletten Bankrotts oder eines verkorksten Innenlebens kompensiert.

Hauptsächlich sagen wir uns mit dieser Frage, dass wir bestimmte Dinge nicht haben können, weil wir bestimmte Eigenschaften haben. Wir verstärken in uns Normen und Vorgaben, die nichts mit der Lebensrealität praktisch aller Menschen zu tun haben. Wir bestärken unsere Position als eine Person, die nichts schafft, die nichts kann, die darüber nachdenken und sich wünschen darf, zu tun was alle anderen tun – einfach auf die Art und Weise, wie sie das tut und kann und will und möchte – aber nicht selbst leben.
Wir nehmen uns also aus der Masse der Menschen heraus und wiederholen damit einen Aspekt, den viele überwältigende Erfahrungen am Ende zu einem Trauma macht: Alleinigkeit (und damit Verlassenheit, Verlorenheit, ausgeliefert sein und damit Todesangst)

Das ist der selbst_verletzende Aspekt dieser Auseinandersetzung. Die Wiederholung eines Traumaaspektes.

“Wer das Trauma nicht verarbeitet hat, ist gezwungen es zu wiederholen.” Das ist eine altbekannte Wahrheit der Traumatherapie.
Sie basiert auf der Beobachtung, dass traumatisierte Menschen sich selbst immer wieder in Situationen und Dynamiken begeben, die verschiedene Aspekte ihrer Traumaerfahrungen enthalten. Während Menschen, die ihre Erfahrungen verarbeitet haben, in solchen Situationen und Dynamiken schon Wege und Möglichkeiten kennen, sich nicht mehr traumareaktiv zu verhalten, haben das Menschen, die noch keine Verarbeitungsmöglichkeiten hatten, das nicht. Sie erleben immer wieder ähnliche Dinge, wie im Ursprungstrauma und werden dadurch unter Umständen sogar retraumatisiert.
Das ist natürlich keine Regel, die bei allen Leuten immer genauso eintritt, aber es passiert immerhin so vielen Menschen, dass es als Muster zu beobachten ist.

Und so ist die Frage nach dem HätteWürdeWäreWenn Teil einer Traumakette, dessen Auswirkung Selbst_Verletzung ist.
Ich schrieb am Anfang, dass dieser Umstand nicht bedeuten muss, dass sie deshalb nicht zu konstruktiven Ergebnissen führen kann. Ich glaube, dass sie das kann – wenn man sie als Traumawiederholung verstanden hat.

Wir haben aktuell das Thema, ob wir gute Eltern sein können, so wie wir sind. Mit unseren Limits und Assistenzbedarfen. Würden wir den “HätteWürdeWäreWenn-Weg” in dieser Thematik gehen, kämen wir immer und ganz automatisch an den Punkt uns zu sagen: “Nein.”
Wir wären die schlechtmöglichsten Eltern für ein Kind, weil wir sind, wie wir sind und deshalb nicht mit den idealen Voraussetzungen, in diese Aufgabe und ihre Herausforderungen gehen. Wir sind einfach nicht ideal. Wir sind nicht unauffällig. Wir sind nicht immer mit 100% auf allen Kanälen da. Wir brauchen Hilfe und Unterstützung bei Dingen, die für andere Leute ein Klacks sind. Wir sind uns der Fragilität der Dinge, die uns gerade stützen und stärken extrem bewusst. Wir wissen, dass es nicht viel braucht, um verschiedene Grade der Gefährdung (unserer Autonomien) auftauchen zu lassen.

Aber alles das ist nur in genau einem Szenario ein echtes Problem oder Defizit. Nämlich dem, in dem ausschließlich und einzig dem Ideal bzw. den Menschen mit den idealen Voraussetzungen erlaubt oder ermöglicht wäre, Kinder zu bekommen und beim Aufwachsen zu begleiten.
Wir leben aber nicht in Hitlers feuchten Träumen, sondern in einer Gesellschaft, die von Vielfalt und Varianz geprägt ist (und ja, dies in ihren strukturellen Gegebenheiten nicht abbildet, aber das ist ein anderes Thema).

Wir sind weit davon entfernt, okay damit zu sein, dass uns passiert ist, was uns passiert ist. Wir sind auch niemand die_r eine autistic pride-Flagge wedelt und allen erzählt, so zu sein wie wir ist easypeasy und das einzige Problem sind die Barrieren im Kopf anderer Leute.
Aber wir sind darüber hinweg, den Glauben zu leben, dass Ideale real er_lebbar und Schutz gegen jede Form von Ungemach und Mangel sind. Wir sind heute an dem Punkt, an dem wir besser akzeptieren können, dass wir eben nicht alles kompensieren können. Dass wir eben nicht nur genug nach dem einen Punkt suchen müssen, an dem sich der Schalter verbirgt, den man nur umlegen muss, damit alles glatt, problemlos und toll läuft – einfach, weil es diesen Schalter nicht gibt.

Wir haben so so viele Jahre nach diesem Schalter, nach diesem Punkt, nach diesem einen von uns aus uns selbst heraus ausgleichbaren Fehler gesucht und immer nur uns selbst gefunden. Und warum? Weil wir uns diesen Punkt, diesen Schalter, diesen Fehler selber ausgedacht haben, um die Gewalt und am Ende auch unsere Traumatisierung zu überleben.
Ihn zu suchen, indem wir uns die “HätteWürdeWäreWenn-Frage” stellen, ist bis heute eine Art Reflex. Wenn man sich anschaut, wie lange Gewalt und chaotische Phasen voller TraumafolgeStörungen Teil unseres Lebens waren, ist das völlig logisch. Doch auf diesen Reflex haben wir inzwischen andere Antworten als traumareaktives Verhalten oder Traumawahrheiten.

Nichts wäre besser oder einfacher, wären wir nicht, wie wir jetzt, hier und heute sind.
Es wäre nur alles anders. Jetzt ist es eben so, wie es jetzt ist anders, als bei anderen Leuten in unserem Alter, unserer Klasse, unserem Bildungsgrad, unserer körperlichen Konstitution. Es gibt daneben noch genug Leute, bei denen es ganz genauso ist, wie bei uns und ihnen würden wir schließlich auch nicht sagen, dass ihre Träume und Wünsche, Lebensziele und –pläne völlig Banane sind und was glauben sie eigentlich, was sie sind? Normal?! hahaha! – Warum also sollten wir es uns selbst sagen, wenn nicht, um uns selbst zu verletzen und daran zu hindern, zu machen, was wir uns wünschen?

Ich will an dieser Stelle noch sagen, dass es nie einfach ist, am Leben zu sein. Besonders nicht, wenn man wie wir so schlecht darauf vorbereitet wurde, mit der eigenen Lebendigkeit als etwas umzugehen, das erwünscht, bestärkt und grundsätzlich okay in seinem Zweck für sich selbst ist.
Aber wir leben. Jeden Tag. Und jeden Tag können wir uns dafür entscheiden, uns selbst gegenüber so zu sein, dass wir uns selbst in dieser Lebendigkeit willkommen heißen, darin bestärken, dass es okay ist, wie wir sind und unsere Lebendigkeit mit allem ausdrücken, was uns möglich und wie es uns möglich ist. Auch, indem wir Kinder kriegen, indem wir Reisen machen, indem wir Sex zum Spaß haben, indem wir Bücher schreiben, die niemand versteht, indem wir Dinge anders machen als andere, weil es nun mal die Art und Weise ist, in der wir sie machen können. Und all der ganze andere Quatschkram.

Das ist das wunderbare Privileg der Lebendigkeit: Wir können selbst bestimmen, wie wir uns selbst gegenüber sein wollen.
Auch das muss man üben, ja, und dieser Prozess ist unfassbar schwer! – aber die Möglichkeit ist da und wir sind, diejenigen, die sie nutzen können, wenn wir wollen. Wenn wir uns trauen können und wollen. Wenn wir uns selbst ernst nehmen, uns selbst die gleichen Rechte und Möglichkeiten zugestehen, wie wir das unseren Idealen zugestehen und uns 24/7 darin versichern, dass das total okay so ist. Denn das Leben will immer nur sich selbst. Nicht mehr und nicht weniger. Da bleibt unfassbar viel Gestaltungsraum ganz allein für uns, weil es einfach unser Leben ist – auch dann, wenn wir es mit anderen Menschen und deren Idealen teilen wollen oder müssen oder sollen. Auch dann.

Beim “am Leben sein” geht es um eine Alleinigkeit, die für traumatisierte Menschen oft auf Gefahr deutet. Es kann ein Trigger sein. Deshalb ist der Weg so schwierig und lang und voller Ängste. Manchmal muss man erst ganz intensiv verstehen und begreifen, dass zu leben eine Alleinigkeit bedeutet, die nur sich selbst braucht, um weiter zu bestehen. Da kann Traumatherapie ins Spiel kommen oder auch andere Wege sich damit auseinanderzusetzen und ganz bewusst Lebenserfahrungen zu machen, die dabei helfen, diesem Trigger nicht mehr traumareaktiv zu begegnen.

Am Anfang von all dem steht aber eine Entscheidung.
Die muss man treffen, sonst verändert sich nichts in die Richtung, in die man möchte.
So bitter, so überfordernd, so ängstigend das auch ist.
Auch das ist das Leben und am Leben sein.

Am Anfang steht die Entscheidung für das eigene Leben.

*Erkrankung meint hier, das, was als solche diagnostiziert wird