Fundstücke #88

Am Abend kam noch eine E-Mail. Arbeit. Am Wochenende. Klar.
Ich arbeite 30 Stunden im Verlag, unzählige weitere selbstständig. Irgendwie ist immer irgendwas. Pause, Ruhe, den Kopf voller Raum, damit meine Gedanken sich auch mal ausstrecken und Radschlag machen können, die hab ich seit Februar eigentlich nicht mehr gehabt. Nicht so, dass ich keine Angst davor hatte, dass meine Gedanken in Traumazeugs stapfen oder Erinnerungslawinen freitreten, die ich nicht vor meinem Schreibtisch aufhalten kann.

Erreichbar zu sein ist mir wichtig, ich empfinde das als Teil meiner Aufgabe, weil ich es oft mit Menschen zu tun habe, die noch nicht wissen, wie Buchsatz funktioniert und was er bedeutet. Oder, was ich umsetzen kann und was nicht. Welche Effekte auf Fotos welche Grundlage haben. Dass man nicht alle großen schweren Texte mal eben so in Leichte Sprache schreiben kann.
Ich finde es wichtig, da zu sein. Sicherheit durch Wissen und Verstehen zu vermitteln. Ich nehme die Projektbabys anderer Leute sehr ernst und zu dieser Ernsthaftigkeit gehört ein sachorientierter Umgang für mich. In der Regel kann ich mir den emotionalen Anteil, die persönliche Bedeutung von Projekten für die Menschen herleiten. Und auch, wenn ich darin oft nicht sehr konkret werden kann, so weiß ich doch immer: Es soll gelingen. Es soll nicht weh tun, es soll weder finanziell noch persönlich Grenzen sprengen. Es soll einfach klappen, mit allem, was verfügbar ist.
Das ist meine Insel. Meine Basis. Vor allem, wenn ich es mit Menschen zu tun habe, die ich nicht gut lesen kann und die meine Sachorientierung mit Desinteresse oder wenig geteilter Hingabe für sich übersetzen. Das passiert selten, aber oft immer dauernd als ewig dräuende Wolke manchmal eben schon. Manchmal bin ich halt die einzige Person, die noch Kapazitäten hat oder die, die gerade noch so bezahlbar ist.

In einer E-Mail einige Tage davor ging es darum, mich in einem Projekt zu ersetzen, in das ich einige Monate Vorarbeit gesteckt habe. Nach 65 unbezahlten Überstunden und viel unbeantwortetem Kommunikationsproblem, ein Hammer. Eine Kränkung auch, aber doch noch haltbar. Es ist nicht mein Projekt, nicht meine Entscheidung. Ich bin dafür nicht wichtig – die Arbeit dafür ist wichtig und wenn sie jemand anderes macht, dann ist das gut fürs Projekt und also für die Leute. Und das ist doch schön.

Nur … die Ungerechtigkeit. Die nicht entlohnte Arbeit, die ungesehene (Über-)Anstrengung, die Energie, die es mich kostet, mich aus mir selbst heraus in dem Kontakt und der Arbeit zu orientieren und effizient zu werken.
Und dann diese Mail am Abend. Die noch nicht einmal an mich gerichtet war, sondern andere in dem Projekt. In der auf eine Weise über mich geschrieben wurde, die meine professionelle Haltung untergrub. Sinngemäß stand dort, dass ich zu emotional für weitere, evtl. sachlich notwendige Interaktion sei, nachdem ich einen dann unnötig gewordenen Termin, der ebenfalls unbezahlt und in meiner Freizeit hätte stattfinden sollen, verweigert habe.
Der Klassiker. Empathie für die einen – anmaßende Übergriffigkeit für die anderen. Mich zum Beispiel. Entmachtend ist das. Erniedrigend. Und wozu? Ich verstehe es nicht. Merke aber deutlich: Es tut mir weh und ist unnötig, weil sinnlos in Bezug auf das, was wir als Menschen miteinander zu tun haben.

Es läuft nur selten so schlecht in meiner Arbeit. Aber wenn, dann fast immer ziemlich genau so schlecht.
Geldminus, Kraftminus, ein Minus in dem, was es braucht, um allen Traumawahrheiten, die im Hintergrund ihre vollen Bingokarten hochheben, die Realität entgegensetzen zu können.
Noch nie wurde ich einfach nur so ersetzt oder geghostet. Wegen „gefällt nicht“ oder „Finanzierung fehlt“ oder „grundsätzliche Projektänderung“. Wenn dann, weil es sozial nicht angenehm genug war. Nicht genug verflauscht, dass bestimmte Dinge einfach nicht gehen; nicht schon im Vertrag festgelegt, dass jede Arbeitsstunde bezahlt wird, nicht genug Smalltalk, nicht genug persönlich angenehme Interaktion insgesamt.
Ich bin ein_e okaye_r Arbeiter_in, aber es macht oft einfach nur bedingt Spaß, mit mir zu arbeiten. Und das macht viel aus. Unter anderem hebt es die Schwelle, mich in Teams einzubinden. Mir Brücken in Smalltalk zu bauen. Gleichzeitig senkt es die Schwelle, mich zur Ausführungsmaschine zu degradieren. Also zu vergessen, dass ich Grenzen und Gefühle habe oder meine Grenzen und Gefühle als Störung zu behandeln, nicht respektvoll ist.

Dass ich meine Auftraggeber_innen seit der Pandemie praktisch nie sehe und viel Kommunikation per E-Mail stattfindet, trägt leider auch nicht dazu bei, mich als Mensch wie andere auch darzustellen.
Mir kommt die schriftliche Kommunikation entgegen, weil der Informationsaustausch für mich leichter erkennbar ist, als im Gespräch. Anderen Menschen ist das oft fad und anstrengend. Sie wollen und brauchen das Reizfeuerwerk des direkten Kontaktes. Spaß first, Information second.
Es ist einfach vertrackt.

Aber! Mit dem übertriebenen Elan der Überkompensation und nur genug Willen zur Zugehörigkeit, kriege ich das in der Regel dann doch mehr oder weniger hin. Meistens jedenfalls.
Meine Auftraggeber_innen wissen, dass ich Autismus und Shit kompensiere. Jedoch ist den wenigsten klar, was das genau bedeutet. Dass es genau das bedeutet – ich ballere ununterbrochen alle meine Energien aus allen Rohren nur für sie und gebe dafür einfach viel mehr als nur meine Lebenszeit her – hat für die meisten Leute gar nichts mit meinem Autismus zu tun, sondern mit meinem Charakter. Ich bin halt nett und kann nicht Nein sagen. Geringer Selbstwert. Großes Herz. Ba dumm tss.

Dabei bin ich einfach konsequent. Wenn mich jemand mit etwas beauftragt, dann führe ich den Auftrag aus. Nach bestem Wissen und Gewissen, aller Kraft, allem, was ich geben kann. Alles andere würde für mich keinen Sinn ergeben. Man bekommt keinen Arbeitsauftrag, in dem es heißt: „Machen Sie mal so lala.“ Das Ende jedes Auftrages hängt an der Zufriedenheit der Auftraggebenden und zu erraten herauszufinden, was sie zufrieden macht, ist Kern jeder Arbeit im Dienstleistungssektor. Das ist in der Gestaltung und Textarbeit nicht einen Deut anders als in der Gastro oder in der Produktion anderer Güter.
Und ich bin eine Person, die nicht gut im Dechiffrieren sozialer Hinweise ist. Man muss mir sagen, was zufrieden macht. Man muss mir sagen, was man konkret von mir erwartet. Verstehen, dass meine Vorschläge tatsächlich immer nur Vorschläge sind. Glauben, dass ich wirklich und echt nie mehr sagen will, als ich sage bzw. schreibe.

Vermutlich unterschätze ich, wie viel Anstrengung es für andere Menschen bedeutet, sich in diesen Punkten an mich anzupassen. Oder sich dem wenigstens theoretisch anzunähern.
Und vermutlich ist meine Prämisse auch einfach falsch. Warum sollten sich andere Menschen, um einen entspannten, befriedigenden Kontakt mit mir bemühen? Das mache ich ja schon.

Haustier.leid

NakNak* hatte sich den Fuß aufgeschliffen. Ihren kleinen verformten Krumpelfuß, mit dem alles angefangen hatte.
Erst war er geschwollen, beim Röntgen wurde die Arthrose gefunden. Sie war schon 13 Jahre alt. Klar, das Alter, ach ach.
Als ihre Rückenschmerzen stärker wurden, so stark, dass sie, die ihr Leben mit Vollgas durch Hans Dampfs Gassen gesprintet ist, nicht mehr in Bewegung sein wollte, wurde die Spondylose erkannt. Ihre Wirbelsäule verknöchert, um die nachlassende Stütze durch Bänder und Sehnen auszugleichen.

Seitdem hat NakNak* einen Pflege- und Behandlungsplan. Seit über 2 Jahren bekommt sie Medikamente, Osteopathiebehandlungen, zuweilen Physiotherapie bei der Tierärztin und die volle Krallen- und Fellbehandlung bei der Hundefriseurin.
Jetzt braucht sie mindestens einen Schuh.

Irgendwie sind wir da gelandet, wo ich in meinem Hartz-4 Leben nie hätte hinkommen können. In meinem alten Leben würde sie leiden, ihr Leben vielleicht schon vor einem oder sogar zwei Jahren zu Ende gegangen worden sein. Von meiner Armut und mir.
Jetzt informiere ich mich über Hundeschuhe, bestelle nicht nur ein Modell, sondern gleich zwei zur Anprobe. Ich bezahle knapp 100 € im Voraus und bin angeekelt von meiner Erleichterung darüber, dass ich nicht zwischen einem schlecht produzierten Fleecewobble mit Pseudopfotenaufdruck und einer Babysocke wählen muss, sondern direkt das High-End-Teil für reiche Hundehalter_innen aussuchen kann.

Es ist so unfair, wie viele Haustiere armer Leute so unter- oder mangelversorgt sind, während so viel weniger Haustiere einfach so, so umfassend versorgt und unterstützt werden können. Und natürlich, wie viele einfach nie in ihrem Leben wirklich vernünftig gehalten und gepflegt werden, ganz unabhängig vom (sozio)ökonomischen Status ihrer Halter_innen.

Anfang letzter Woche habe ich ein älteres Reel von @decolonized [Link zu Instagramprofil] gesehen, durch das ich verstanden habe, wie eng das Halten von Haustieren mit der Kolonialisierung europäischer Mächte verknüpft ist. Wie sehr es beim Halten von Haustieren insgesamt einfach nie nie nie um die Tiere ging, sondern darum, dass Menschen Angst, Hunger oder Einsamkeit hatten.
Dass wir Hunde, Katzen, (exotische) Vögel und Fische, Reptilien, zuweilen auch Wirbellose halten, ist ein so stinkendes Unrecht. Für mich kann es darüber keine Diskussion geben. Kein „Ja, aber…“, keine rhetorische Verdrehung, die es für mich irgendwie doch okay, moralisch, ethisch in Ordnung macht.

Wir Menschen kümmern uns einfach nicht genug umeinander. Deshalb sind wir uns nie genug. Es ist in uns drin, dass wir Herr über die Natur und alle ihre Formen sind und sein wollen, wie abstoßend ist das. Wie … bah.

Und jetzt sitze ich hier und warte auf den Schuh für meine kleine NakNak*, damit ihr neben Rücken und Gelenken, nicht auch noch Wunden am Fuß schmerzen.
Das ist alles einfach so eine grundlegend faule Kackscheiße. Das alles.

Kurznotiz: YouTube-Videos zum Thema DIS

Wir haben zusammen mit Felice und zwei anderen Betroffenen an einem Film zum Thema DIS mitgewirkt.

Teil 1

Teil 2

In den kommenden Tagen erhalten wir die Audiospur von der gesamten Aufzeichnung unserer Runde (ca. 4 Stunden) und veröffentlichen sie in unserem Podcast „Viele-Sein“ und der Webseite dazu vielesein.de.

die Absichten der anderen

Vor kurzem wurde die Frage an mich gerichtet: „Was brauchen Betroffene (organisierter, Ritueller) Gewalt, um sich sicher zu fühlen?“
Sie erschien mir banal und ich antwortete sinngemäß, dass es Sicherheit braucht. Wenn man Angst hat, braucht man Sicherheit.
Das Gespräch ging noch lange und am Ende fragte ich mich, ob die fragende Seite selbst zu unsicher war, um anderen Sicherheit zu bieten. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es bei der Frage im Kern nicht um die Bedarfe gewaltbetroffener Menschen ging, sondern um Dinge, die nicht ausgesprochen wurden. Mein Punkt loszulassen und aus dem Kontakt zu gehen – um nicht noch mehr Angst zu bekommen.

Es war klar, es ging um etwas anderes und mir war klar, dass ich es nicht erraten können würde. Zu wenige Informationen, zu wenig naher Kontakt, zu wenig Relevanz meiner Sicht auf die Dinge, um darauf zu beharren, sie gesagt zu bekommen.
Und – die Kluft.

Die gleiche Kluft, mit der ich mich in den letzten Tagen auch befasse.
Ich bin verbundener mit einem jugendlichen Funktionssystem in mir. Mein Bild von meinem jugendlichen Lebensalltag wird umfassender. Meine Möglichkeiten, die eigene kindjugendliche Perspektive auf die Gewalt in der Herkunftsfamilie zu erinnern, vermehren sich.
Es sind existenzielle Leiden und Fragen, auf die ich auch heute keine Antwort finde und kaum Linderung einbringen kann. Und es sind schwerwiegende Entscheidungen, die in einer Einsamkeit getroffen wurden, die ich zuweilen passender als „Isolation“ bezeichnen muss.

Denn schon früher konnten wir die Absichten anderer Menschen nicht erkennen. Ein autistisches Feature. Für mich das Element, das meinen Autismus zu einer sozialen Behinderung macht.
Denn wenn man nichts voraussetzen kann, ist immer alles möglich.
Im Guten wie im Schlechten.

Menschen können wirklich sehr nett, sehr liebevoll, sehr fürsorglich, sehr hilfsbereit sein – vor allem, wenn man sie selbst ohne Vorannahmen über sie anspricht und im Gespräch alles erzählen lässt, was sie erzählen wollen. Die allermeisten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie mir ihr Bild von sich gestalten können und je wohler sie sich fühlen, desto sicherer fühle ich mich im Kontakt mit ihnen.
Und da ist die Falle.
Denn manche Menschen lügen. Und obwohl ich weiß, dass es Menschen gibt, die das tun, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es merke, gering. Das hat nichts mit Vertrauensseligkeit zu tun oder Naivität oder Dummheit. Es hat damit zu tun, dass die Lüge ein Handeln mit einer Absicht ist, die ich nicht wissen kann, wenn ich der Person weder nah noch verbunden, noch ähnlich bin, was den Status angeht. Niemand kann das – aber die meisten Menschen können sich intuitiv in andere Menschen hineinversetzen und Annahmen machen, mit denen sie sich sicher fühlen, weil sie in der Regel zutreffen oder (in Bezug auf die Sache) irrelevant sind. Die meisten Menschen erkennen sich selbst in anderen Menschen. Das ist der Trick, das Ding, die Fähigkeit. Ich erkenne mich oft nicht einmal in mir selbst.

So bleiben mir im Kontakt mit anderen Menschen nur zwei Optionen:
Entweder es ist immer wahr (richtig), was andere Menschen mir mitteilen oder es ist immer gelogen (falsch). Mit diesen Optionen habe ich mich schon als Kind befasst. Die grüne, mit Kunststoff überzogene Wäscheleine in der Hand, mit der ich mich erhängen wollte, nachdem mich meine einzige ~„Freundin“~ schon wieder belogen hatte, um mich vor anderen Kindern bloßzustellen. Nachdem ich meine Lehrerin damit enttäuscht hatte, nicht zu wissen, was sie von mir wollte, nachdem die Horterzieherin sich laut gefragt hat, ob ich denn nie mal richtig zuhöre, wenn sie etwas sagt. Während ich meine eigenen Eltern nie verstand, nie zufrieden machte.
Ich wusste einfach nie, was sie wollen und erst recht nicht warum.

Damals habe ich für mich entschieden, dass immer alles wahr ist, was andere Menschen mir sagen. Auch, weil das mit dem Erhängen nicht geklappt hat. Denn das wäre die Alternative gewesen: Menschen für immer meiden. Einfach nie wieder jemals mit irgendwem in Kontakt gehen. Nie wieder für immer. Auf ewig ganz allein sein. Solch ein Vorhaben lässt sich nur tot umsetzen.
Und das hatte nun einmal nicht geklappt. Und ich hatte Angst bekommen. Auch irgendwie nachvollziehbar.
Woher dann der Mut kam sich für ein Leben in Option „alles ist wahr“ zu entscheiden, weiß ich noch nicht. Vielleicht ging es auch nicht um Mut. Aber mutig erscheint es mir heute. Mutig und vielleicht nur möglich, weil ich bereits eine dissoziative Identitätsstruktur hatte.

Viele Menschen erwarten von mir, heute sehr misstrauisch zu sein. Auch, weil ich nicht vertraue. Für mich sind „Misstrauen“ und „Vertrauen“ aber kein Gegensatzpaar und ich bin nicht misstrauisch – ich bin absolut trauisch. Ich traue allen alles zu und kann mich in der Folge der Logik anderer Menschen einigermaßen anpassen.
Sie tun mir schreckliche Dinge an und begründen sie mit Lügen, die ich nicht durchschauen kann? – Sie haben Gründe, die schrecklichen Dinge ergeben Sinn, ich kann sie rationalisieren und zumindest so verpacken, dass ich handlungsfähig bleibe. Solange sie mir ihre Gründe sagen, kann ich mich in ihrer Logik sicher fühlen.
Sie sagen mir schöne Dinge und sind nett zu mir, belassen es aber bei mir, herauszufinden oder „einfach zu wissen“ wieso oder, genauer gesagt, mit welcher Absicht? – Stress pur. Angst, Unsicherheit, Unwohlsein.

Sobald ich keine äußere Wahrheit vermittelt bekomme, bin ich mit dem Nichtvorhandensein einer eigenen Wahrheit aufgrund von tausenden möglichen Wahrheiten konfrontiert. Und ich bin gezwungen zu raten. Oder viel zu fragen – was üblicherweise zur Folge hat, dass mich die Leute für dumm, naiv, ignorant, desinteressiert oder empathielos halten – oder außergewöhnlich einfühlsam und interessiert an ihnen. In jedem Fall sehen sie nicht, in was für einer prekären Situation ich bin. Wie anstrengend es für mich ist. Mit was für einem Ausmaß an Unsicherheit – und also praktisch grenzenloser Angst – ich gerade im Kontakt bin. Für mich gibt es in solchen Momenten keinerlei Sicherheiten und das ist der einzige Fakt, dessen ich mir sicher sein kann.

Meine Kompensation in solchen Momenten ist ein parallel zum Kontakt ablaufender Abgleichprozess. Denn ich kann zwar das Verhalten und die Absichten anderer Menschen nicht gut vorhersehen, aber ich bin gut in Mustererkennung. Einige Geschichten wiederholen sich – manchmal erkenne ich sie wieder und kann zeitgerecht reagieren. Zum Beispiel in der Situation am Anfang dieses Textes.

Ich denke außerdem viel über Gespräche nach und gehe dabei wie ein_e Forensiker_in vor. Logiken und Motivationen lassen sich in der Regel gut zurückverfolgen bzw. herleiten, wenn man das Ergebnis kennt. Im Nachhinein komme ich also oft noch dahinter, wer mir was warum erzählt hat und auch Lügen kann ich dann erkennen oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausschließen oder annehmen.

Ein weiterer kompensierender Akt ist die Dissoziation. Dieser ist allerdings nicht willkürlich von mir einsetzbar, sondern stellt sich ein, wenn ich erschöpft oder auch zusätzlich zu meiner „normalen Alltagsangst“ mit getriggertem Erinnern an traumatische Erfahrungen belastet bin.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass es nicht der Stress durch die Vielzahl an möglichen Wahrheiten ist, der die Dissoziation auslöst. Häufig ist es eher die Notwendigkeit oder der traumareaktiv von mir angenommene Zwang zur absoluten Wahrheit, obwohl ich keine Ahnung, Meinung, Idee, kein Wünschen, keinen Willen dazu habe. Da greifen Traumalogiken, die ich in dem Moment selbst nicht bemerke – weil sie ja sehr logisch sind und scheinbar zur (fehlinterpretieren) Situation passen.
Die Dissoziation greift in dem Moment, in dem ich Angst davor habe, der falschen Annahme zu folgen und damit andere Menschen zu enttäuschen, zu verletzen, zu beleidigen, zu kränken, zu irritieren … und also nicht zu bestätigen, zu erfreuen, zu befriedigen … auf, dass sie mich nicht zerstören wollen, sondern heil lassen. Vielleicht sogar okay finden. Kontakt zu und mit mir wollen.

Dieser Fokus – dieses Kreisen um die Absichten und Gefühle anderer Menschen ist typisch für komplex traumatisierte Menschen. Das Leben vieler Menschen hing und hängt davon ab, zu wissen, wann jene, die an ihnen zu Täter_innen werden, nicht zufrieden mit ihnen sind. Wann Gefahr droht, weil diese Menschen nicht bekommen, was sie wollen. Welche Fehler und Handlungen man besser lässt, weil sie gefährlich für eine_n sein könnten.

Ich habe, was das angeht, nie Glanzleistungen vollbracht und bin heute geteilter Meinung darüber. Denn einerseits weiß ich, dass die Gewalt an mir nichts mit meinem Verhalten und mir zu tun hatte, sondern mit den Entscheidungen, die die Täter_innen getroffen haben. Andererseits gibt es Erfahrungen, die für mich erst dann überhaupt nur eine Chance auf Logik durch forensische Spurensuche bekommen, wenn ich eine gewisse Kohärenz darin schaffe. Die Erinnerungen daran also zusammensetze und dann Stück für Stück auf Hinweise für die Motivationslage untersuche.

Das wiederum bedeutet für mich eine Unsicherheitslage. Ein ständiges Abwägen darüber, welche Erinnerungen wie valide sind und wovon in welcher Art verzerrt oder falsch sein könnten. Es bleibt immer das Risiko der Unterstellung, da ich natürlich die Perspektive der anderen Person substituiere. Ich lebe damit, dass meine eigene Geschichte, meine eigene Wahrheit über meine Erfahrungen und mich nur zu einem unbestimmbaren, niemals fest und eindeutig definierbaren Grad „wahr“ (richtig) ist.
Für mich ist das identisch mit meinem Alltagsgefühl im Kontakt mit anderen Menschen und dadurch – nicht immer und nie leicht – beruhigend. Es passt in mein Lebens- und Ichgefühl.

Das ist nicht toll und oft würde ich gerne mehr Sicherheit empfinden können. Ich würde auch gerne jemand sein, die_r sich versichern lassen kann von den Handlungen anderer Menschen, weil sie_r die guten Intentionen wahrnehmen kann.
Ich bin aber nicht so jemand. Ich muss es gesagt bekommen und nachvollziehen können. Sonst wird das nichts. Außer enttäuschend. Verwirrend. Belastend. Komisch.
Isolierend.

Weiterleben in andersneu

Nachdem ich den Partner vom Krankenhaus abgeholt hatte, begannen wir, den Tisch mit Medikamenten zu füllen. Haufenweise Schachteln, medizinisches Gerät und dessen Zubehör.
Dann kamen die Lebensdokumente dazu. Krankenkassenzettelage, Versicherungsbriefe. Irgendwann war etwas Steuerliches zu tun, der Tisch hats getragen.

In den vergangenen 4 Monaten konnte ich das Zimmer nicht betreten, ohne damit konfrontiert zu werden, was ihm passiert ist. Wie schlecht es ihm ging. Wie lebensgefährlich es war. Wie schlimm es war und wie viel schlimmer es noch hätte kommen können.

Für den Partner war es bequem so. Vor allem am Anfang, als er noch nicht lange stehen oder gehen konnte.
Ich bemühte mich um Desensibilisierung. Drücke die Gedanken weg, setzte mich auf meine Gefühle. „Es ist ein Ausnahmezustand, das geht auch wieder weg. Alles hat ein Ende“, habe ich mir gesagt und dieses Ding mit den Augen gemacht, bei man sehend nichts sieht.

Ich habe manchmal Anflüge von merkwürdigem Stolz auf meine Fähigkeit mich an Shit anzupassen und mein eigenes Darunter-leiden zu vergessen. In Bezug auf diese Situation ist er doppelt gestärkt.
Ich bin die_r Partner_in – es war gut, wie ich das hingekriegt habe. Ich habe mich bewährt. Ich war für ihn da. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich aktiv für einen anderen Menschen da – und habe es – mit meinen psychokranken Traumaskills !!! – hingekriegt – BÄM!
Denn das ist der Stoff aus dem „sich an Langzeitshit anpassen“ gemacht ist: „Nicht dran denken.“, „Auf die Gefühle setzen.“, „Durchziehen.“, „Nothing else matters because everything else matters.“

Im Nachhinein fragt man sich immer, wie man das überhaupt so ausgehalten hat. Aber guckt man genau hin, sieht man, dass da vor allem die Dissoziation aufrechterhalten werden musste und das alle Energie gebunden hat. Weniger ein akut bewusstes Leiden oder eine konkret definierte Not.
Deshalb finde ich diesen ganzen Überlebens-Wertschätzungstrallafitti so unsinnig. „Du hast überlebt – das war die Leistung“ – für mich ist das Quatsch. Die Leistung ist die Leistung. Dissoziation aufrechtzuerhalten, ist die Leistung. Das nicht damit aufhören. Das konsequent und immer und immer und jeden Tag den Balken so hoch halten, damit sich niemand dran aufhängt – DAS ist die Leistung.

Und natürlich das Klarkommen im Anschluss. Die Neutralisierung. Die Wiederanpassung. Der Wieder(neu)aufbau.
Denn jetzt ist der Tisch leer.
Die Steuer gemacht, der coronabedingte Diabetes ausgeheilt. Die Menge an Medis in einem kleinen Heidelbeerkörbchen untergebracht. Wir konnten wieder Flügelschlag spielen. Ein Besuch war da. Wir haben an dem Tisch gegessen und einige Stunden gequatscht.
Die Ausnahme ist zu Ende, der permanente Trigger ist abgebaut.

Ich merke jetzt sehr deutlich, wie irritiert meine Wahrnehmung davon ist, dass dort nichts mehr ist, das ich aktiv nicht beachte und bedenke. Wie vorsichtig und bedächtig ich dieses Danach befühle und auf Echtheit prüfe.

Auch das so ein Ding. Es gibt kein Puff und dann Hurra alles wieder fein. Keine große Ausatmung mit seligem Dusel.
Eher ein scheues Hinfühlen, immer bereit, sich sofort wieder in sich zu verstecken. Vorsichtiges Auftreten und gucken, obs hält. Ein neuer Abschnitt der Anpassung. Ein neues, anderes Level an Alltagsdissoziation.
Ein Weiterleben in andersneu.

der Text zum Po(d)etry Slam 2023

Naknak*, meine Hündin, wird sterben.

Plonk! Stimmung am Boden – I know
Aber let’s face it – es ist, wie es ist. Von Hundeseite aus wird bald gestorben.

Für mich ist das was Neues, aber bei Weitem nichts so Ehrfurcht erregendes wie für viele andere Menschen.
Zum Beispiel meinen Partner. Seit uns die Maus auf ihren Logout vorbereitet, betreibt er elegante Flughafenaerobik beim Spaziergang und ehrerbietendes Planking auf 10 Zentimetern Bettkante beim Schlafen.

Denn einem so alten Hund wird der Platz nicht einfach zugewiesen. Es wird entweder umfassend gewutscht und gewedelt oder zartfühlig hingenommen, dass sich die 13 Kilo Flausch zu 4 Quadratmetern unbewegbarer Fläche entfalten. Egal, ob im Bett, auf dem Sofa oder … im Weg.
Die Muppe goutiert eine solche Behandlung.

Mein Partner und ich säuseln uns inzwischen jeden Tag zu, wie süß mein kleines Ettimupf doch ist. Fast als hätten wir beide ein bisschen Angst, das Wichtigste zu vergessen. Wie süß sie ist.
Sie war 13 Jahre meine Assistenzhündin. Hat mich aus meinem Schneckenhaus in die Welt gezogen und mir auch die Türen zum Podstock eröffnet. Doch das ist ein Scheiß dagegen, wie süß sie ist. Sie und das kleine Stück Zunge, das ihr beim Schlafen rausguckt.
Und manchmal – ganz manchmal auch beim Wachsein.

Es stirbt sich ganz schön langsam für Mopsi, finde ich manchmal. Vor allem, wenn wir eine neue Stufe ihrer Schmerzbehandlung nehmen müssen. Andererseits ist auch total klar: Der Hund stirbt so langsam, damit man Zeit hat sich dran zu gewöhnen.
Das ist wie bei einer Schwangerschaft, nur mit weniger Grund zur Freude am Ende und mehr organisatorischem Tüdelüt. Denn find mal jemanden, der dir den toten Hund verbrennt, wie du das willst. Zärtlich. Ohne Pfötchen-Schick – Ihr wisst schon, diese Pfote, die nicht aussehen darf wie die Jack Wolfskin-Pfote und deshalb überhaupt nicht wie eine Pfote aussieht, sondern wie ein nierenförmiger Wobbel mit Anhängsel.

Auf der Suche nach einem Haustierkrematorium ist mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden, wie viel unnötigen Kram es zur Reverse-Geburt zu kaufen gibt. Klar, Schmuck – alles mit Wobbelpfote drauf, aber auch Gefäße in jeder Form und Farbe.
Die Art Gefäße, die man sich in der Welpenzeit abgewöhnt hat, aus Gründen.
Gründen, die dann wohl erledigt sind, wenn man sich zwischen Glanzlackoval oder Pappkartonminimal-Urne entscheiden will. Obwohl einem das Herz einen See um die Füße blutet, denn so einen Hund zu verlieren … da bleibt einfach nichts trocken. Auch das irgendwie ähnlich wie damals in der Welpenzeit.

Und noch etwas gehört zum Haustiersterbe-Geschehen: die Regenbogenbrücke.
Ich halte das Wort „Regenbogenbrücke“ für eine Tautologie, da im Grunde jede Brücke ein Bogen ist. Aber gut.
Ich habe jedoch einige Fragen. Zum Beispiel: Wie muss ich mir das vorstellen? Ist die Regenbogenbrücke auch der Highway to hell? Gibt’s da ab und zu Stau? Unfälle? Was wissen tote Haustiere über das Bilden einer Rettungsgasse? Kommen die Gelben Engel auch für Tiere, die zur Hölle fahren?
Generell interessiert mich auch, wozu die Tierseelen überhaupt eine Brücke brauchen, wenn sie auch genug Zeit hätten, die Kluft zu durchklettern oder drum rumzulaufen … in einem weiten Bogen.

Als verantwortungsbewusste_r Hundehalter_in habe ich aber natürlich auch noch ganz andere Fragen zur letzten Reise der Motte. Etwa: Muss sie ihr Körbchen selber mitbringen? Handtücher, Waschlappen, frische Schlüppis? Was ist mit ihren Papieren? Gibt es da drüben Begrüßungsgeld oder muss ich drauf vertrauen, dass ihre Bettelmasche – perfektioniert in über 15 Jahren am Küchentisch – ausreicht, um durchzukommen?

Die Sorge um sie endet wohl nicht mit der letzten Ehre, das dämmert mir jedenfalls langsam.
Andererseits! – So wie ich sie kenne, bleibt es nicht dabei, dass sie sich die Radieschen, Karotten und Kartoffeln von unten nur anguckt.
Auch deshalb hoffe ich sehr, dass sie statt über die Regenbogenbrücke einfach den Weg allen Fleisches geht – gerade durch in die ewigen Jagdgründe.
Meine Mopsmaus ist zwar ein Hütehund – kann also sein, dass sie da Probleme kriegt – aber man ist ja nie zu alt, um etwas Neues zu lernen.

Was sie schon jetzt kann, ist ins Gras zu beißen – um dann eine beeindruckende Spur von Rasenrest und Dreck durch die Gegend zu tragen.
Ich sag ja – sie bereitet uns gut auf ihre eternal Abmeldung aus unserem gemeinsamen Space vor.

Meine kleine weiche NakNak*.
Meine Muppe, meine Maus,
die Motte, das Spinni
meine Schrabnella, das Ettimupf
meine Mopsmaus, mein süßes Fräulein Humpenschlump.

Fundstücke #87

Meine Nacht hatte zwei Stunden ohne Erinnerungen und Horror. Verzweiflung. Einsamkeit. Die Klebrigkeit von Angstscheiß, Heulrotz und Tränen. Das in unendliche Tiefe gezogen werden von Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Müdigkeit, Ohnmacht. Dieses Gefühl im Leben nie wieder auch nur einen Schritt nach vorne machen zu können, weil da einfach nichts mehr ist, was den Körper in Bewegung bringen kann.

Mit dem Sonnenaufgang änderte sich das langsam. Dem Vogelzwitschern. Der Verheißung, die jeder neue Tag für mich hat. Ich erkannte den Flashback als solchen und zog Kraft aus der Erinnerung, dass das auch wieder vorbeigeht. Wollte etwas davon aufschreiben und ließ es dann doch. Denn in Wahrheit hört es einfach nie auf.

Das ausgelacht werden. Die Sideeyes. Das Unverständnis. Die Fehlannahmen. Die Rücksichtnahme, die keine ist. Der Ableismus. Die Hilfe, die keine ist. Die Offenheit, die keine ist.
Der Unterschied ist, dass ich keine 7, 8, 9 Jahre alt bin. Dass ich die Scham und Enttäuschung über mich nicht in Form von Schlägen oder Beschämung vor einer Gruppe vermittelt bekomme. Dass ich mich heute effizienter selbst bescheißen kann. Langfristiger. Mich deutlich ausgiebiger selbst in die Anpassung zwingen und mich darin okay fühlen kann.

Der Trick sind Inseln. An mindestens einer Stelle im Leben muss es gut sein. Wenigstens okay.
Und seit der Pandemie habe ich nur in der Therapie so eine Insel. Klar, dass jetzt einfach alles schwierig und überanstrengend ist. Ich habe keinen anderen Ort mehr zur Dekompression. Überall wird von mir erwartet zu funktionieren wie ein nicht-autistischer Mensch. Ohne, dass den Leuten das klar ist. Wie soll es denn auch? Sie sind nicht-autistisch. Es kann ihnen nicht klar sein.
Ich habe kein Anrecht auf ihre Perspektivübernahme. Kein Recht zu fordern, sich zu informieren. Vielleicht mal eins oder zwei der Bücher über Autismus zu lesen, die ich ihnen empfohlen habe. Oder sich mal – vielleicht sogar bei anderen Angehörigen oder anderen autistischen Menschen – zu erkundigen: „Hm, was heißt das wohl die_r Freund_in einer autistischen Person zu sein?“ Aber ja, natürlich habe ich den Wunsch. Schon lange.

Und gleichzeitig habe ich natürlich den Wunsch nach Gleichheit. Nach einer Richtigkeit der Gleichheit, mit der sie mich behandeln und ansprechen. Ich wünsche mir sehr, dass das nicht in Wahrheit nur deshalb Realität ist, weil sie diese Realität herstellen. Für sich. Für ihre Möglichkeiten, mit mir umzugehen. Mein Verhalten einzuordnen. Mich für sich verstehbar zu machen.
Ich wünschte, ich könnte es einfach sein lassen, mich in ihre Realität hineinzupassen. Diesen Angstreflex unterdrücken. Dann wäre es vielleicht weniger verwirrend für sie. Weniger widersprüchlich. Weniger überraschend jetzt gerade so schnell, so umfassend, so heftig in die Krise zu rutschen. Es wäre logisch für sie und Anlass Dinge zu verändern.
Aber nein.
Für sie ist offensichtlich, dass etwas für mich schwierig ist und entsprechend logisch, dass ich etwas ändern muss. Meine Einstellung, meine Perspektive, meine Ziele und Wünsche an mein eigenes Leben. Und wenn alles zu schwer für mich ist, dann kann ich halt alles nicht machen. Nicht arbeiten, nicht leben. Das ist die Logik, die sie haben und doch verleugnen. Niemand von ihnen wünscht mir den Tod. Nur ewig währenden Frieden mit mir und der Welt.

Ich weiß nicht, was ich noch machen soll, um mich insgesamt besser zu fühlen.
Anderer Job? – Der Tag nach dem Sonnenaufgang enthielt mit meiner Arbeit unzufriedene Autor_innen. Ich habe ihren Auftrag an mich nicht verstanden und ihre Wünsche geraten. Falsch, natürlich. Jetzt geht der Zirkel um die Verantwortlichkeit für ungenügende Kommunikation herum und wird bei mir hängen bleiben. Es wird mein Fehler sein. Meine Verantwortung, mein Problem, mein Auftrag, das zu verbessern.
Etwas anderes als lesen, schreiben, setzen kann ich nicht. Nicht vermarktbar. Nicht Lebensunterhaltlich.

Beziehung beenden? – Wieso? Die Beziehung ist schön – ihre Zukunft halt einfach inexistent, weil wir mit nichts aus dem Quark kommen, was Prozess in irgendeine Richtung ermöglichen könnte. Das hat für mich nichts mit uns als Beziehungspartner_innen zu tun, sondern mit dem, wie wir als Einzelpersonen nutzen können, was da ist. Niemand von uns beiden kann etwas für die Lebensbedrohung, die durch eine Coronainfektion für den Partner entsteht.
Vielleicht muss ich meinen Kinderwunsch aufgeben. Nach bald 20 Jahren wünschen und planen und überlegen, wie ich es schaffen kann, einfach damit aufhören, dran zu glauben. Vielleicht muss ich akzeptieren, dass neben vielen anderen normalen Dingen im Leben von Menschen auch das einfach nicht in meinem Leben passieren wird.
Auch Pech muss man manchmal einfach akzeptieren.

Da bleibt nur die Frage, wofür ich, wir, uns bis hierhin gequält haben.
Wofür überlebt. Therapiert. Weitergemacht. Hinmotiviert.
Wofür, wenn der einzige echte Wunsch, das stärkste Wollen in mir drin auf den gleichen „Tja, Pech“-Stapel kommt wie die anderen Berufs- und Lebenswünsche, die ich hatte?

Wofür?

Kompensation

Der Nachricht der lange weg gewesenen Kollegin folgte ein Bruch in mir. Ganz leise. Wie ein Haarriss, der sich von einer Ecke zu einem feinen Netz ausbreitet.
Letztes Jahr hat sie gesagt, sie würde wiederkommen. Jetzt kommt sie nicht wieder. Nicht so.
Ein Jahr habe ich durchgehalten. Die fehlende Struktur. Der fehlende Gesamtüberblick. Die Ruhe und Klarheit in Erklärungen von Strukturen und Anträgen. Das nie wirklich so richtig ganz klar wissen.
Jetzt bleibt das so.
Mein so toller, schöner, erfüllender Arbeitsplatz, er wird voller Barrieren bleiben.

Jetzt lösen sich die Motivationsposter, die ich über all meine Probleme mit der Arbeit geklebt habe, um durchzuhalten. „Ist nur ein Jahr“, „C. kommt wieder.“, „Es kann sich alles entwickeln“, „Was ich nicht kann, kann ich lernen“. Ich werde wütend auf mich, weil ich mich wieder ein Mal für etwas in Zwänge motiviert habe, in die sich andere Menschen eher nicht bringen würden. Wütend auf die Kollegin, obwohl ich mitdenke, dass sie vielleicht schon vor einem Jahr gesagt hat, dass nicht so wiederkommt wie vorher. Es ist gut möglich, dass sie immer gesagt hat, dass sie nicht wiederkommt und ich es einfach nicht hören wollte. Denn ich wollte die Unabhängigkeit vom Jobcenter, das Geld und den Job, so wie er bis zu ihrem Weggang war.
Und ich hatte mir ja ein schönes Sicherheitsnetz aufgebaut.

Ich hatte eine Autismustherapeutin, die mir helfen sollte, Struktur in mein Homeoffice zu bringen. Weil ich das nicht alleine kann. Nicht so, dass es mich nicht auffrisst.
Die ist nicht mehr da. Ersatz gibt es nicht. Autismus ist weiterhin nicht als eine Behinderung von Erwachsenen begriffen.

Ich muss es alleine schaffen und irgendwie schaffe ich es auch. Ich, der Liter Kaffee morgens und der halbe Liter Frizz Cola ab um 2. Die ungezählten und praktisch nie bezahlten Überstunden unter der Woche und die Wochenenden voll mit „allem anderen“. Ich und meine Traumareaktionen auf Schlafmangel, soziale Todesängste und allgemeine Desorientierung. Mein Wunsch dazuzugehören und die Idee, nur mit einem Job ist es wirklich verantwortungsvoll und okay an meinem Kinderwünschen festzuhalten. Wir kriegen es hin.

Die ständige Verwirrung, das ständige Greifen in Informationsgelee, ohne jede weitere Stabilisierung, das ist mein Grundrauschen neben dem Rauschen in den Kopfhörern bei jedem scheiß Zoom-Meeting seit 2020. Kein Tag ist strukturiert, alle machen, wie es ihnen kommt und geht, ganz spontan, einfach so und ich passe mich an so weit ich kann.
Was ich nicht kann, ohne mich selbst zu verlieren.

„Du wirkst unglücklich“, sagte mein Partner gestern, „Schon länger“, und ich wäre fast in schreiendes Weinen ausgebrochen. Ging aber nicht. 10 Minuten später hatte ich einen Termin. Gruppengespräch zu einem Projekt, in dem ich nicht verstehe, was wir machen. Aber wozu. Und das ist mir extrem wichtig. Also bleibe ich. Unbezahlt. In meiner Freizeit. Obwohl und obwohl.

Ja, ich bin unglücklich.
Ich wollte in dieser Zeit meines Lebens um Kinder kreisen. Mich mit angetrocknetem Schmodder auf Kleidung und beknackten Dussels auf dem Spielplatz befassen.
Oder meine Arbeit machen, um etwas zu bewirken.
Ich wollte nicht mehr immer davon müde sein, autistisch in einer nicht-autistischen Umwelt zu leben und zu arbeiten. Sondern vom Leben und Arbeiten.

Ja, ich bin unglücklich. Ich bin müde. Ich fühle mich in meiner Kompensation nicht gesehen und das frustriert mich unendlich. Denn es macht auch Lob und Erfolg so unbedeutend. „Cool, dass ihr das macht, Hannah“ erfasst einfach nicht, was es für mich bedeutet etwas zu machen. Es berührt nicht im Geringsten meinen Mehraufwand. Den Verlust von Ich-Zeit. Den Mangel an Aktivitäten, die mir Kraft geben. Und ist auch kein Ersatz für das Gefühl, etwas geschafft und fertig zu haben. Das Gefühl von „Ist gut jetzt“. Pause. Warten, bis wieder Luft, Lust und Kraft für was Neues ist. Das hatte ich wirklich lange nicht mehr.

Was ich im letzten halben Jahr hatte, war Geduld. Nachsicht. Einsicht. Rücksicht. Lauter Dinge, die mit Sicht zu tun hatten. Meine Umsicht, die nur allzu oft mit Perfektionismus, Zwanghaftigkeit und fehlender Flexibilität gleichgesetzt wird, hat mir das ermöglicht. Ja, wir können mir kein Kind machen, wenn der Partner mit 85 % Sauerstoff im Blut aufs Klo torkelt. Scheißegal, was das mit mir macht. Monat für Monat für Monat. Seit Jahren.
Ja, die meisten Leute sind einfach nicht so anpassungsfähig und müssen jetzt ohne Masken und Abstand durch die Gegend laufen, ständig krank sein und sich darauf verlassen, dass sich schon jemand findet, die*r einspringt.
Ja, ich kann halt keine 5 Stunden für eine Aufgabe einplanen, wenn sie – wegen Barrierenkompensation – in Wahrheit 10 Stunden erfordern wird. Es gibt einfach Grenzen und ich denke sie alle immer mit. Gleichzeitig. Und finde immer Wege, sie zu übergehen. Vor allem meine. Denn wenn ich die von anderen übergehe, kriege ich Angst. Schäme mich. Finde mich scheiße und meine Grenzen wertlos. Die Notwendigkeit mich anzustrengen und zu funktionieren noch größer.

Im letzten Arbeitsmeeting habe ich gesagt, dass ich gerade nicht weiß, ob ich im September noch arbeite.
Danach kümmerte ich mich um Informationen zum Thema Arbeitsassistenz.
Und plante eine Wanderung.

Im September.

 

Anhang
autism friendly jobs (YouTube Video, englisch)

orgastischer Overload

Es ist die totale Überflutung, in die ich mich hineinschmeiße, wie sonst nur ins Schwimmbad. Das ist so klar wie ebenjenes Schwimmbadwasser, aber seien wir doch ehrlich: Sonst würde ich das auch nicht machen.

Am Mittwoch eine Lesung in Dresden, am Donnerstag eine Übernachtung in fremder Umgebung bei neuen Leuten, am Freitag ein Intensivplenum bei der Arbeit, die im Moment außerordentlich anstrengend ist.
Aber, oh Adrenalin. Du süße Wunderdroge, bereitgestellt in Hülle und Fülle. Bereit mich zu betäuben, zu beflügeln und mich damit so nah an meine Vorstellung von „Normal“ zu bringen. <3 Ohne dich wäre das nicht möglich. Ohne dich wäre das alles hier ein Albtraum. Ich würde vermutlich fühlen, wie weh mir alles tut. Würde vergessen, was mein Plan ist, würde meine Ziele aufgeben, würde mich hassen, weil ich meinen eigenen Erwartungen nicht nachkommen kann.

Ich glaube, dass ich zu selten kommuniziere, wie groß meine Abhängigkeit von Stresshormonen für mein Alltagsfunktionieren ist. Und was das für Auswirkungen auf meine Gesundheit hat. Und mein soziales Umfeld. Und letztlich auch für mich. Denn natürlich ist mir klar, dass auch mein Körper nicht dafür gemacht ist. Und sowieso: Der Absturz kommt immer. Ich weiß, wie mein Wochenende wird. Und, dass ich meinen Akku, meine Energiereserven, nicht wieder aufgefüllt bekomme. Bis zur nächsten Lesung am 4. August in Lübeck (18 Uhr, Café Brazil) werde ich mich im Ladevorgang befinden. Um mich dann erneut komplett zu verausgaben. Weil ich will, weil ich kann und weil es sich einfach gut anfühlt, alles zu geben, was ich habe. Ich liebs einfach. Es ist so schön, sich nicht tot zu fühlen. Oder halbtot. Oder in Wahrheit tot, doch zwangsbelebt von Reflexen und automatisierten Skripten. Und das zusammen mit den Dingen, die mir gefallen. Die mir wichtig sind. Für die ich mich entschieden habe.
I LOVE IT!
Für diese Momente habe ich gekämpft. Die waren mir das Überleben wert und wichtig.
Dass ich sie nicht bekomme, ohne dass mein Körper in den absoluten Overdrive schaltet, dafür kann ich nichts. Glaube ich. Denn egal, wie langsam ich es angehe, wie zart und bedacht ich mit mir umgehe – der Schalter kippt irgendwann einfach.
Und warum weiter dagegen ankämpfen? Es hat keinen Sinn, setzt mir nur ein weiteres Ziel, das ich nicht erreichen kann.

Also rein da. In den gezielten Reizrausch. In das orgastische Flimmern, das mein Blut zum Glitzern bringt und eine bunte Eindruckswolke in meinem Geist hängenlässt. Heute ist heute. Es ist keine Gewaltwolke. Wenn ich später hineingreife, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wehtun. Es wird Glücksmomente rieseln, Freude regnen, mich dankbar und satt machen. Ich werde etwas von der Welt kosten und schon früh genug merken, was ich davon verdauen kann und was nicht. Das Jetzt ist eins mit Morgen drin. Ich bin nicht mehr allein. Alles ist lösbar. Und wenn nicht, dann ist das eben so. Ich kann immer suchen, wenn ich noch nichts gefunden habe.

Ich habe mich entschieden, diese Momente zu wollen und zu genießen. Gerade weil so viele andere Momente in meinem Alltag genau die gleiche Wirkung auf mich haben, dann aber schier unerträglich sind.
Diese Momente werden nicht weniger oder mehr, leichter oder einfacher, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil. Je mehr ich mich schone, desto schlimmer wird der Absturz, desto größer die Kluft zwischen der Welt und mir. Und desto sinnloser wird die Schonung, die Vermeidung selbst. Denn was soll ich denn mit einem vollen Akku, der nicht benutzt wird? Warum nie vom Vorrat essen?

Ja, ich muss aufpassen. Ja, meine Energiereserven von Dingen angefasst, die bei anderen noch nicht an die Reserven gehen. Ja, mein traumatisierter Körper hat ein ganz eigenes Energieniveau. Mein autistisches Gehirn hat eine Verdrahtung, die auch im Ruhezustand erheblich viel mehr Energie zieht, als nicht-autistische.
Aber das ist alles zu einem Zweck da: Lebendigkeit. Interaktion und Kommunikation mit der Mitwelt.
Nicht nur dann und wann, sondern immer.
Auch, so wie jetzt. Ein bisschen betäubt. ein bisschen durch, aber ganz da. Mittendrin. Im Leben.