Weiterleben in andersneu

Nachdem ich den Partner vom Krankenhaus abgeholt hatte, begannen wir, den Tisch mit Medikamenten zu füllen. Haufenweise Schachteln, medizinisches Gerät und dessen Zubehör.
Dann kamen die Lebensdokumente dazu. Krankenkassenzettelage, Versicherungsbriefe. Irgendwann war etwas Steuerliches zu tun, der Tisch hats getragen.

In den vergangenen 4 Monaten konnte ich das Zimmer nicht betreten, ohne damit konfrontiert zu werden, was ihm passiert ist. Wie schlecht es ihm ging. Wie lebensgefährlich es war. Wie schlimm es war und wie viel schlimmer es noch hätte kommen können.

Für den Partner war es bequem so. Vor allem am Anfang, als er noch nicht lange stehen oder gehen konnte.
Ich bemühte mich um Desensibilisierung. Drücke die Gedanken weg, setzte mich auf meine Gefühle. „Es ist ein Ausnahmezustand, das geht auch wieder weg. Alles hat ein Ende“, habe ich mir gesagt und dieses Ding mit den Augen gemacht, bei man sehend nichts sieht.

Ich habe manchmal Anflüge von merkwürdigem Stolz auf meine Fähigkeit mich an Shit anzupassen und mein eigenes Darunter-leiden zu vergessen. In Bezug auf diese Situation ist er doppelt gestärkt.
Ich bin die_r Partner_in – es war gut, wie ich das hingekriegt habe. Ich habe mich bewährt. Ich war für ihn da. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich aktiv für einen anderen Menschen da – und habe es – mit meinen psychokranken Traumaskills !!! – hingekriegt – BÄM!
Denn das ist der Stoff aus dem „sich an Langzeitshit anpassen“ gemacht ist: „Nicht dran denken.“, „Auf die Gefühle setzen.“, „Durchziehen.“, „Nothing else matters because everything else matters.“

Im Nachhinein fragt man sich immer, wie man das überhaupt so ausgehalten hat. Aber guckt man genau hin, sieht man, dass da vor allem die Dissoziation aufrechterhalten werden musste und das alle Energie gebunden hat. Weniger ein akut bewusstes Leiden oder eine konkret definierte Not.
Deshalb finde ich diesen ganzen Überlebens-Wertschätzungstrallafitti so unsinnig. „Du hast überlebt – das war die Leistung“ – für mich ist das Quatsch. Die Leistung ist die Leistung. Dissoziation aufrechtzuerhalten, ist die Leistung. Das nicht damit aufhören. Das konsequent und immer und immer und jeden Tag den Balken so hoch halten, damit sich niemand dran aufhängt – DAS ist die Leistung.

Und natürlich das Klarkommen im Anschluss. Die Neutralisierung. Die Wiederanpassung. Der Wieder(neu)aufbau.
Denn jetzt ist der Tisch leer.
Die Steuer gemacht, der coronabedingte Diabetes ausgeheilt. Die Menge an Medis in einem kleinen Heidelbeerkörbchen untergebracht. Wir konnten wieder Flügelschlag spielen. Ein Besuch war da. Wir haben an dem Tisch gegessen und einige Stunden gequatscht.
Die Ausnahme ist zu Ende, der permanente Trigger ist abgebaut.

Ich merke jetzt sehr deutlich, wie irritiert meine Wahrnehmung davon ist, dass dort nichts mehr ist, das ich aktiv nicht beachte und bedenke. Wie vorsichtig und bedächtig ich dieses Danach befühle und auf Echtheit prüfe.

Auch das so ein Ding. Es gibt kein Puff und dann Hurra alles wieder fein. Keine große Ausatmung mit seligem Dusel.
Eher ein scheues Hinfühlen, immer bereit, sich sofort wieder in sich zu verstecken. Vorsichtiges Auftreten und gucken, obs hält. Ein neuer Abschnitt der Anpassung. Ein neues, anderes Level an Alltagsdissoziation.
Ein Weiterleben in andersneu.

der Text zum Po(d)etry Slam 2023

Naknak*, meine Hündin, wird sterben.

Plonk! Stimmung am Boden – I know
Aber let’s face it – es ist, wie es ist. Von Hundeseite aus wird bald gestorben.

Für mich ist das was Neues, aber bei Weitem nichts so Ehrfurcht erregendes wie für viele andere Menschen.
Zum Beispiel meinen Partner. Seit uns die Maus auf ihren Logout vorbereitet, betreibt er elegante Flughafenaerobik beim Spaziergang und ehrerbietendes Planking auf 10 Zentimetern Bettkante beim Schlafen.

Denn einem so alten Hund wird der Platz nicht einfach zugewiesen. Es wird entweder umfassend gewutscht und gewedelt oder zartfühlig hingenommen, dass sich die 13 Kilo Flausch zu 4 Quadratmetern unbewegbarer Fläche entfalten. Egal, ob im Bett, auf dem Sofa oder … im Weg.
Die Muppe goutiert eine solche Behandlung.

Mein Partner und ich säuseln uns inzwischen jeden Tag zu, wie süß mein kleines Ettimupf doch ist. Fast als hätten wir beide ein bisschen Angst, das Wichtigste zu vergessen. Wie süß sie ist.
Sie war 13 Jahre meine Assistenzhündin. Hat mich aus meinem Schneckenhaus in die Welt gezogen und mir auch die Türen zum Podstock eröffnet. Doch das ist ein Scheiß dagegen, wie süß sie ist. Sie und das kleine Stück Zunge, das ihr beim Schlafen rausguckt.
Und manchmal – ganz manchmal auch beim Wachsein.

Es stirbt sich ganz schön langsam für Mopsi, finde ich manchmal. Vor allem, wenn wir eine neue Stufe ihrer Schmerzbehandlung nehmen müssen. Andererseits ist auch total klar: Der Hund stirbt so langsam, damit man Zeit hat sich dran zu gewöhnen.
Das ist wie bei einer Schwangerschaft, nur mit weniger Grund zur Freude am Ende und mehr organisatorischem Tüdelüt. Denn find mal jemanden, der dir den toten Hund verbrennt, wie du das willst. Zärtlich. Ohne Pfötchen-Schick – Ihr wisst schon, diese Pfote, die nicht aussehen darf wie die Jack Wolfskin-Pfote und deshalb überhaupt nicht wie eine Pfote aussieht, sondern wie ein nierenförmiger Wobbel mit Anhängsel.

Auf der Suche nach einem Haustierkrematorium ist mir zum ersten Mal richtig bewusst geworden, wie viel unnötigen Kram es zur Reverse-Geburt zu kaufen gibt. Klar, Schmuck – alles mit Wobbelpfote drauf, aber auch Gefäße in jeder Form und Farbe.
Die Art Gefäße, die man sich in der Welpenzeit abgewöhnt hat, aus Gründen.
Gründen, die dann wohl erledigt sind, wenn man sich zwischen Glanzlackoval oder Pappkartonminimal-Urne entscheiden will. Obwohl einem das Herz einen See um die Füße blutet, denn so einen Hund zu verlieren … da bleibt einfach nichts trocken. Auch das irgendwie ähnlich wie damals in der Welpenzeit.

Und noch etwas gehört zum Haustiersterbe-Geschehen: die Regenbogenbrücke.
Ich halte das Wort „Regenbogenbrücke“ für eine Tautologie, da im Grunde jede Brücke ein Bogen ist. Aber gut.
Ich habe jedoch einige Fragen. Zum Beispiel: Wie muss ich mir das vorstellen? Ist die Regenbogenbrücke auch der Highway to hell? Gibt’s da ab und zu Stau? Unfälle? Was wissen tote Haustiere über das Bilden einer Rettungsgasse? Kommen die Gelben Engel auch für Tiere, die zur Hölle fahren?
Generell interessiert mich auch, wozu die Tierseelen überhaupt eine Brücke brauchen, wenn sie auch genug Zeit hätten, die Kluft zu durchklettern oder drum rumzulaufen … in einem weiten Bogen.

Als verantwortungsbewusste_r Hundehalter_in habe ich aber natürlich auch noch ganz andere Fragen zur letzten Reise der Motte. Etwa: Muss sie ihr Körbchen selber mitbringen? Handtücher, Waschlappen, frische Schlüppis? Was ist mit ihren Papieren? Gibt es da drüben Begrüßungsgeld oder muss ich drauf vertrauen, dass ihre Bettelmasche – perfektioniert in über 15 Jahren am Küchentisch – ausreicht, um durchzukommen?

Die Sorge um sie endet wohl nicht mit der letzten Ehre, das dämmert mir jedenfalls langsam.
Andererseits! – So wie ich sie kenne, bleibt es nicht dabei, dass sie sich die Radieschen, Karotten und Kartoffeln von unten nur anguckt.
Auch deshalb hoffe ich sehr, dass sie statt über die Regenbogenbrücke einfach den Weg allen Fleisches geht – gerade durch in die ewigen Jagdgründe.
Meine Mopsmaus ist zwar ein Hütehund – kann also sein, dass sie da Probleme kriegt – aber man ist ja nie zu alt, um etwas Neues zu lernen.

Was sie schon jetzt kann, ist ins Gras zu beißen – um dann eine beeindruckende Spur von Rasenrest und Dreck durch die Gegend zu tragen.
Ich sag ja – sie bereitet uns gut auf ihre eternal Abmeldung aus unserem gemeinsamen Space vor.

Meine kleine weiche NakNak*.
Meine Muppe, meine Maus,
die Motte, das Spinni
meine Schrabnella, das Ettimupf
meine Mopsmaus, mein süßes Fräulein Humpenschlump.

Fundstücke #87

Meine Nacht hatte zwei Stunden ohne Erinnerungen und Horror. Verzweiflung. Einsamkeit. Die Klebrigkeit von Angstscheiß, Heulrotz und Tränen. Das in unendliche Tiefe gezogen werden von Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Müdigkeit, Ohnmacht. Dieses Gefühl im Leben nie wieder auch nur einen Schritt nach vorne machen zu können, weil da einfach nichts mehr ist, was den Körper in Bewegung bringen kann.

Mit dem Sonnenaufgang änderte sich das langsam. Dem Vogelzwitschern. Der Verheißung, die jeder neue Tag für mich hat. Ich erkannte den Flashback als solchen und zog Kraft aus der Erinnerung, dass das auch wieder vorbeigeht. Wollte etwas davon aufschreiben und ließ es dann doch. Denn in Wahrheit hört es einfach nie auf.

Das ausgelacht werden. Die Sideeyes. Das Unverständnis. Die Fehlannahmen. Die Rücksichtnahme, die keine ist. Der Ableismus. Die Hilfe, die keine ist. Die Offenheit, die keine ist.
Der Unterschied ist, dass ich keine 7, 8, 9 Jahre alt bin. Dass ich die Scham und Enttäuschung über mich nicht in Form von Schlägen oder Beschämung vor einer Gruppe vermittelt bekomme. Dass ich mich heute effizienter selbst bescheißen kann. Langfristiger. Mich deutlich ausgiebiger selbst in die Anpassung zwingen und mich darin okay fühlen kann.

Der Trick sind Inseln. An mindestens einer Stelle im Leben muss es gut sein. Wenigstens okay.
Und seit der Pandemie habe ich nur in der Therapie so eine Insel. Klar, dass jetzt einfach alles schwierig und überanstrengend ist. Ich habe keinen anderen Ort mehr zur Dekompression. Überall wird von mir erwartet zu funktionieren wie ein nicht-autistischer Mensch. Ohne, dass den Leuten das klar ist. Wie soll es denn auch? Sie sind nicht-autistisch. Es kann ihnen nicht klar sein.
Ich habe kein Anrecht auf ihre Perspektivübernahme. Kein Recht zu fordern, sich zu informieren. Vielleicht mal eins oder zwei der Bücher über Autismus zu lesen, die ich ihnen empfohlen habe. Oder sich mal – vielleicht sogar bei anderen Angehörigen oder anderen autistischen Menschen – zu erkundigen: „Hm, was heißt das wohl die_r Freund_in einer autistischen Person zu sein?“ Aber ja, natürlich habe ich den Wunsch. Schon lange.

Und gleichzeitig habe ich natürlich den Wunsch nach Gleichheit. Nach einer Richtigkeit der Gleichheit, mit der sie mich behandeln und ansprechen. Ich wünsche mir sehr, dass das nicht in Wahrheit nur deshalb Realität ist, weil sie diese Realität herstellen. Für sich. Für ihre Möglichkeiten, mit mir umzugehen. Mein Verhalten einzuordnen. Mich für sich verstehbar zu machen.
Ich wünschte, ich könnte es einfach sein lassen, mich in ihre Realität hineinzupassen. Diesen Angstreflex unterdrücken. Dann wäre es vielleicht weniger verwirrend für sie. Weniger widersprüchlich. Weniger überraschend jetzt gerade so schnell, so umfassend, so heftig in die Krise zu rutschen. Es wäre logisch für sie und Anlass Dinge zu verändern.
Aber nein.
Für sie ist offensichtlich, dass etwas für mich schwierig ist und entsprechend logisch, dass ich etwas ändern muss. Meine Einstellung, meine Perspektive, meine Ziele und Wünsche an mein eigenes Leben. Und wenn alles zu schwer für mich ist, dann kann ich halt alles nicht machen. Nicht arbeiten, nicht leben. Das ist die Logik, die sie haben und doch verleugnen. Niemand von ihnen wünscht mir den Tod. Nur ewig währenden Frieden mit mir und der Welt.

Ich weiß nicht, was ich noch machen soll, um mich insgesamt besser zu fühlen.
Anderer Job? – Der Tag nach dem Sonnenaufgang enthielt mit meiner Arbeit unzufriedene Autor_innen. Ich habe ihren Auftrag an mich nicht verstanden und ihre Wünsche geraten. Falsch, natürlich. Jetzt geht der Zirkel um die Verantwortlichkeit für ungenügende Kommunikation herum und wird bei mir hängen bleiben. Es wird mein Fehler sein. Meine Verantwortung, mein Problem, mein Auftrag, das zu verbessern.
Etwas anderes als lesen, schreiben, setzen kann ich nicht. Nicht vermarktbar. Nicht Lebensunterhaltlich.

Beziehung beenden? – Wieso? Die Beziehung ist schön – ihre Zukunft halt einfach inexistent, weil wir mit nichts aus dem Quark kommen, was Prozess in irgendeine Richtung ermöglichen könnte. Das hat für mich nichts mit uns als Beziehungspartner_innen zu tun, sondern mit dem, wie wir als Einzelpersonen nutzen können, was da ist. Niemand von uns beiden kann etwas für die Lebensbedrohung, die durch eine Coronainfektion für den Partner entsteht.
Vielleicht muss ich meinen Kinderwunsch aufgeben. Nach bald 20 Jahren wünschen und planen und überlegen, wie ich es schaffen kann, einfach damit aufhören, dran zu glauben. Vielleicht muss ich akzeptieren, dass neben vielen anderen normalen Dingen im Leben von Menschen auch das einfach nicht in meinem Leben passieren wird.
Auch Pech muss man manchmal einfach akzeptieren.

Da bleibt nur die Frage, wofür ich, wir, uns bis hierhin gequält haben.
Wofür überlebt. Therapiert. Weitergemacht. Hinmotiviert.
Wofür, wenn der einzige echte Wunsch, das stärkste Wollen in mir drin auf den gleichen „Tja, Pech“-Stapel kommt wie die anderen Berufs- und Lebenswünsche, die ich hatte?

Wofür?

Kompensation

Der Nachricht der lange weg gewesenen Kollegin folgte ein Bruch in mir. Ganz leise. Wie ein Haarriss, der sich von einer Ecke zu einem feinen Netz ausbreitet.
Letztes Jahr hat sie gesagt, sie würde wiederkommen. Jetzt kommt sie nicht wieder. Nicht so.
Ein Jahr habe ich durchgehalten. Die fehlende Struktur. Der fehlende Gesamtüberblick. Die Ruhe und Klarheit in Erklärungen von Strukturen und Anträgen. Das nie wirklich so richtig ganz klar wissen.
Jetzt bleibt das so.
Mein so toller, schöner, erfüllender Arbeitsplatz, er wird voller Barrieren bleiben.

Jetzt lösen sich die Motivationsposter, die ich über all meine Probleme mit der Arbeit geklebt habe, um durchzuhalten. „Ist nur ein Jahr“, „C. kommt wieder.“, „Es kann sich alles entwickeln“, „Was ich nicht kann, kann ich lernen“. Ich werde wütend auf mich, weil ich mich wieder ein Mal für etwas in Zwänge motiviert habe, in die sich andere Menschen eher nicht bringen würden. Wütend auf die Kollegin, obwohl ich mitdenke, dass sie vielleicht schon vor einem Jahr gesagt hat, dass nicht so wiederkommt wie vorher. Es ist gut möglich, dass sie immer gesagt hat, dass sie nicht wiederkommt und ich es einfach nicht hören wollte. Denn ich wollte die Unabhängigkeit vom Jobcenter, das Geld und den Job, so wie er bis zu ihrem Weggang war.
Und ich hatte mir ja ein schönes Sicherheitsnetz aufgebaut.

Ich hatte eine Autismustherapeutin, die mir helfen sollte, Struktur in mein Homeoffice zu bringen. Weil ich das nicht alleine kann. Nicht so, dass es mich nicht auffrisst.
Die ist nicht mehr da. Ersatz gibt es nicht. Autismus ist weiterhin nicht als eine Behinderung von Erwachsenen begriffen.

Ich muss es alleine schaffen und irgendwie schaffe ich es auch. Ich, der Liter Kaffee morgens und der halbe Liter Frizz Cola ab um 2. Die ungezählten und praktisch nie bezahlten Überstunden unter der Woche und die Wochenenden voll mit „allem anderen“. Ich und meine Traumareaktionen auf Schlafmangel, soziale Todesängste und allgemeine Desorientierung. Mein Wunsch dazuzugehören und die Idee, nur mit einem Job ist es wirklich verantwortungsvoll und okay an meinem Kinderwünschen festzuhalten. Wir kriegen es hin.

Die ständige Verwirrung, das ständige Greifen in Informationsgelee, ohne jede weitere Stabilisierung, das ist mein Grundrauschen neben dem Rauschen in den Kopfhörern bei jedem scheiß Zoom-Meeting seit 2020. Kein Tag ist strukturiert, alle machen, wie es ihnen kommt und geht, ganz spontan, einfach so und ich passe mich an so weit ich kann.
Was ich nicht kann, ohne mich selbst zu verlieren.

„Du wirkst unglücklich“, sagte mein Partner gestern, „Schon länger“, und ich wäre fast in schreiendes Weinen ausgebrochen. Ging aber nicht. 10 Minuten später hatte ich einen Termin. Gruppengespräch zu einem Projekt, in dem ich nicht verstehe, was wir machen. Aber wozu. Und das ist mir extrem wichtig. Also bleibe ich. Unbezahlt. In meiner Freizeit. Obwohl und obwohl.

Ja, ich bin unglücklich.
Ich wollte in dieser Zeit meines Lebens um Kinder kreisen. Mich mit angetrocknetem Schmodder auf Kleidung und beknackten Dussels auf dem Spielplatz befassen.
Oder meine Arbeit machen, um etwas zu bewirken.
Ich wollte nicht mehr immer davon müde sein, autistisch in einer nicht-autistischen Umwelt zu leben und zu arbeiten. Sondern vom Leben und Arbeiten.

Ja, ich bin unglücklich. Ich bin müde. Ich fühle mich in meiner Kompensation nicht gesehen und das frustriert mich unendlich. Denn es macht auch Lob und Erfolg so unbedeutend. „Cool, dass ihr das macht, Hannah“ erfasst einfach nicht, was es für mich bedeutet etwas zu machen. Es berührt nicht im Geringsten meinen Mehraufwand. Den Verlust von Ich-Zeit. Den Mangel an Aktivitäten, die mir Kraft geben. Und ist auch kein Ersatz für das Gefühl, etwas geschafft und fertig zu haben. Das Gefühl von „Ist gut jetzt“. Pause. Warten, bis wieder Luft, Lust und Kraft für was Neues ist. Das hatte ich wirklich lange nicht mehr.

Was ich im letzten halben Jahr hatte, war Geduld. Nachsicht. Einsicht. Rücksicht. Lauter Dinge, die mit Sicht zu tun hatten. Meine Umsicht, die nur allzu oft mit Perfektionismus, Zwanghaftigkeit und fehlender Flexibilität gleichgesetzt wird, hat mir das ermöglicht. Ja, wir können mir kein Kind machen, wenn der Partner mit 85 % Sauerstoff im Blut aufs Klo torkelt. Scheißegal, was das mit mir macht. Monat für Monat für Monat. Seit Jahren.
Ja, die meisten Leute sind einfach nicht so anpassungsfähig und müssen jetzt ohne Masken und Abstand durch die Gegend laufen, ständig krank sein und sich darauf verlassen, dass sich schon jemand findet, die*r einspringt.
Ja, ich kann halt keine 5 Stunden für eine Aufgabe einplanen, wenn sie – wegen Barrierenkompensation – in Wahrheit 10 Stunden erfordern wird. Es gibt einfach Grenzen und ich denke sie alle immer mit. Gleichzeitig. Und finde immer Wege, sie zu übergehen. Vor allem meine. Denn wenn ich die von anderen übergehe, kriege ich Angst. Schäme mich. Finde mich scheiße und meine Grenzen wertlos. Die Notwendigkeit mich anzustrengen und zu funktionieren noch größer.

Im letzten Arbeitsmeeting habe ich gesagt, dass ich gerade nicht weiß, ob ich im September noch arbeite.
Danach kümmerte ich mich um Informationen zum Thema Arbeitsassistenz.
Und plante eine Wanderung.

Im September.

 

Anhang
autism friendly jobs (YouTube Video, englisch)

orgastischer Overload

Es ist die totale Überflutung, in die ich mich hineinschmeiße, wie sonst nur ins Schwimmbad. Das ist so klar wie ebenjenes Schwimmbadwasser, aber seien wir doch ehrlich: Sonst würde ich das auch nicht machen.

Am Mittwoch eine Lesung in Dresden, am Donnerstag eine Übernachtung in fremder Umgebung bei neuen Leuten, am Freitag ein Intensivplenum bei der Arbeit, die im Moment außerordentlich anstrengend ist.
Aber, oh Adrenalin. Du süße Wunderdroge, bereitgestellt in Hülle und Fülle. Bereit mich zu betäuben, zu beflügeln und mich damit so nah an meine Vorstellung von „Normal“ zu bringen. <3 Ohne dich wäre das nicht möglich. Ohne dich wäre das alles hier ein Albtraum. Ich würde vermutlich fühlen, wie weh mir alles tut. Würde vergessen, was mein Plan ist, würde meine Ziele aufgeben, würde mich hassen, weil ich meinen eigenen Erwartungen nicht nachkommen kann.

Ich glaube, dass ich zu selten kommuniziere, wie groß meine Abhängigkeit von Stresshormonen für mein Alltagsfunktionieren ist. Und was das für Auswirkungen auf meine Gesundheit hat. Und mein soziales Umfeld. Und letztlich auch für mich. Denn natürlich ist mir klar, dass auch mein Körper nicht dafür gemacht ist. Und sowieso: Der Absturz kommt immer. Ich weiß, wie mein Wochenende wird. Und, dass ich meinen Akku, meine Energiereserven, nicht wieder aufgefüllt bekomme. Bis zur nächsten Lesung am 4. August in Lübeck (18 Uhr, Café Brazil) werde ich mich im Ladevorgang befinden. Um mich dann erneut komplett zu verausgaben. Weil ich will, weil ich kann und weil es sich einfach gut anfühlt, alles zu geben, was ich habe. Ich liebs einfach. Es ist so schön, sich nicht tot zu fühlen. Oder halbtot. Oder in Wahrheit tot, doch zwangsbelebt von Reflexen und automatisierten Skripten. Und das zusammen mit den Dingen, die mir gefallen. Die mir wichtig sind. Für die ich mich entschieden habe.
I LOVE IT!
Für diese Momente habe ich gekämpft. Die waren mir das Überleben wert und wichtig.
Dass ich sie nicht bekomme, ohne dass mein Körper in den absoluten Overdrive schaltet, dafür kann ich nichts. Glaube ich. Denn egal, wie langsam ich es angehe, wie zart und bedacht ich mit mir umgehe – der Schalter kippt irgendwann einfach.
Und warum weiter dagegen ankämpfen? Es hat keinen Sinn, setzt mir nur ein weiteres Ziel, das ich nicht erreichen kann.

Also rein da. In den gezielten Reizrausch. In das orgastische Flimmern, das mein Blut zum Glitzern bringt und eine bunte Eindruckswolke in meinem Geist hängenlässt. Heute ist heute. Es ist keine Gewaltwolke. Wenn ich später hineingreife, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wehtun. Es wird Glücksmomente rieseln, Freude regnen, mich dankbar und satt machen. Ich werde etwas von der Welt kosten und schon früh genug merken, was ich davon verdauen kann und was nicht. Das Jetzt ist eins mit Morgen drin. Ich bin nicht mehr allein. Alles ist lösbar. Und wenn nicht, dann ist das eben so. Ich kann immer suchen, wenn ich noch nichts gefunden habe.

Ich habe mich entschieden, diese Momente zu wollen und zu genießen. Gerade weil so viele andere Momente in meinem Alltag genau die gleiche Wirkung auf mich haben, dann aber schier unerträglich sind.
Diese Momente werden nicht weniger oder mehr, leichter oder einfacher, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil. Je mehr ich mich schone, desto schlimmer wird der Absturz, desto größer die Kluft zwischen der Welt und mir. Und desto sinnloser wird die Schonung, die Vermeidung selbst. Denn was soll ich denn mit einem vollen Akku, der nicht benutzt wird? Warum nie vom Vorrat essen?

Ja, ich muss aufpassen. Ja, meine Energiereserven von Dingen angefasst, die bei anderen noch nicht an die Reserven gehen. Ja, mein traumatisierter Körper hat ein ganz eigenes Energieniveau. Mein autistisches Gehirn hat eine Verdrahtung, die auch im Ruhezustand erheblich viel mehr Energie zieht, als nicht-autistische.
Aber das ist alles zu einem Zweck da: Lebendigkeit. Interaktion und Kommunikation mit der Mitwelt.
Nicht nur dann und wann, sondern immer.
Auch, so wie jetzt. Ein bisschen betäubt. ein bisschen durch, aber ganz da. Mittendrin. Im Leben.

Jetzt beteiligen: Befragung zur Unterstützung und Versorgung von Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung (IHP Vielfältig Leben e.V.)

Ein Fragebogen für Helfer*innen und Betroffene. Helft jetzt mit und füllt den Fragebogen aus!

Link zum Fragebogen


Mehr Infos haben Papierfliegerfalter in ihrem Blog!

#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.

#2 „Ich höre zu“

„Ich fühle mich ungehört“, „Ich fühle mich nicht gesehen“, „Beachte mich.“ – sehr schwierige Sätze.
Ich kann mich erinnern, wie ich mit 14 ein Mal vor einigen Psychologiestudent_innen vorgeführt wurde und etwas in der Richtung gesagt habe. Stand damals war ich in der Uni-Psychiatrie „wegen Ritzen“. Denn so bleibt es bei den Kindern und Jugendlichen hängen. Sie sind nie in der Psychiatrie, „wegen Personalmangel“, „wegen Zufluchtsplatzmangel“, „wegen Fehlern, die ihre Eltern und andere Bezugspersonen gemacht haben“, sondern wegen „Verhalten XY“. Ich hatte damals gesagt, dass ich nicht mehr wusste, wie ich sagen könnte, was in mir vorgeht.

Für mich beginnt die Schwierigkeit der Sätze vom Einstieg genau dort: An dem Missverständnis von Verhalten in Zusammenhängen, als Verhalten von Personen. Also der Person, genauer ihrer Persönlichkeit, als Quelle von Verhalten.
Sagt man „Ich fühle mich ungehört“ wird das oft nicht als Hinweis an das Umfeld verstanden, dass man sich ausgeschlossen, unverbunden, missverstanden oder missachtet fühlt, sondern, dass man denkt, man habe ein Anrecht darauf, gehört zu werden. Was in gewaltvollen Kontexten als eine grobe Frechheit, eine dreiste Anmaßung, eine narzisstische Selbstüberhöhung, eine unberechtigte Forderung, ein Gewalt legitimierender Selbstausdruck einer unwerten kranken abweichenden falschen Person verstanden wird. Mit allen Konsequenzen.

Diese Erfahrung machen leider sehr viele Menschen in ihrem Leben. Die most casual Alltagsgewalt, die viele Kinder erfahren, ist der Satz. „Du willst doch nur Aufmerksamkeit“ und damit genau diese Verdrehung der Bedeutung ihrer Äußerung. Statt, dass sich ein Umfeld den Auswirkungen seiner Umgangsgestaltung widmet, stellt es die natürlichen Ansprüche einer Person infrage und macht sie damit illegitim. Kinder lernen so, dass ihre Bedürfnisse zu erfüllen eine Frage von Legitimation ist – also erst ein Mal alle damit einverstanden sein müssen, dass sie Bedürfnisse haben, damit sich darum gekümmert wird, sie zu erfüllen.

Gehört zu werden, ist so ein Bedürfnis. Für Kinder ist es sogar die Grundlage ihrer Überlebensstrategie. Sie können sich auf Distanz – bei fehlender Nähe also! – nur hörbar machen, um hoffentlich von denen wahrgenommen zu werden, die ihnen nichts Schlechtes tun. Kurios, dass wir in unserer Gesellschaft denken, irgendwann höre das auf. Dieser Drang, dieses Agieren zum Überleben. Obwohl doch alles, was wir tun, 24/7, von Anfang bis Ende unseres Lebens genau darum kreist.
Aber so funktioniert Ableismus. Die Verdrängung des Bewusstseins um unsere Sterblichkeit ist so umfassend, dass wir jede Schwäche, jedes gefährdende (Noch)Nichtkönnen und jede Bezugnahme darauf abwehren müssen. Auch, wenn sie von unseren Kindern kommen.

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Für mich war der Satz „Ich höre zu“ immer wieder wichtig im professionalisierten Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext. Auch heute noch.
Eine Erzieherin im Kinder- und Jugendnotdienst hat ihn mir gesagt, nachdem wir mein nasses Bett ab und neu bezogen hatten. Als wir eine neue Wohngruppe für mich gesucht haben. Bevor ich ihr gesagt habe, dass ich misshandelt worden war. Eva. K. Ich werds nie vergessen.
Eva hat mir damals einen Grundstein dafür gelegt, glauben zu können, dass „Ich höre zu“ einen Zauber einleitet und mich vom ewig unnötig rumnöhlenden Nervkotzbrocken zu jemandem verwandelt, die_r etwas zu sagen hat, das relevant für die Situation ist. Nicht, weil ich das sage, sondern weil ich Teil dieser Situation bin. Sie sich also auf mich auswirkt.

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Zu „Ich höre zu“ gehört Aufmerksamkeit jedoch auch dazu. Und die ist tricky.
Denn einerseits ist Aufmerksamkeit eine natürliche Notwendigkeit zum Überleben in Gemeinschaft bzw. Gesellschaft – andererseits ist sie eine gestaltbare Folge von Wahrnehmung. Wir können entscheiden, wie wir reagieren, wenn wir jemanden wahrnehmen. Und wir haben wenig Kontrolle darüber, für welche Reaktion sich andere Menschen entscheiden.
Ich habe in meiner Herkunftsfamilie, aber auch später in Psychiatrien und anderen Gewaltkontexten immer versucht so unsichtbar wie möglich zu sein. Bitte nicht beachten. Nicht angucken. Denn immer, wenn mich jemand sah, war das ein Problem oder das, was ich als Auslöser für Gewalt an mir einordnete. Man kann nicht gleichzeitig gehört und nicht gehört werden.
Ein schreckliches Dilemma – wie sollte ich denn überleben?

Auch als jemand, die_r nicht gut darin ist, soziale Situationen zu lesen.
Ich war nie unauffällig. Nie das durchsichtig farblose Steinchen am Wegesrand oder das klitzekleine Insekt mit Tarnfarben, das ich sein wollte. Ich war das beste Spielzeug, das sich ein_e Sadist_in wünschen kann.

„Ich höre zu“ ist deshalb heute ein Satz, in dessen Zauber ich erst vertraue, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind:

  • „Ich höre zu“ bedeutet genau das: Mir wird zugehört – ohne eine weiterführende Agenda
  • es wird gehört, was ich sage – nicht wie, wo oder wann ich es sage
  • es wird (für) wahr.genommen, was ich sage und nicht ohne meine Mitwirkung in Bezug gesetzt oder bewertet

Ich weiß, dass es für viele Menschen schwierig ist „einfach nur zuzuhören“. Vor allem, wenn man beruflich zuhört und darauf trainiert ist, im Gehörten alles Mögliche zu suchen, zu finden oder zu bemerken. Aber es ist genau dieses Training, das zu Automatismen führt, die wiederum zu Fehlern führen. Auch zu Wahrnehmungsfehlern. Zu gravierenden, sich sehr schlimm auswirkenden Einordnungsfehlern. Die man manchmal nicht einmal merkt. Oder auch nicht so gern merken möchte. Wenn man etwas zu verlieren hat, wenn man Fehler gemacht hat. Zum Beispiel.

Aber ich als Patient_in, Klient_in, Hilfe empfangende Person habe im professionalisierten Kontakt gar keine andere Wahl, als zu sprechen. Wir treffen uns in konkret abgesteckten Zeiträumen, mit ganz klar abgesteckten Grenzen des Miteinanders. Mehr als sagen, was ist, bleibt da nicht übrig.
Um so wichtiger ist es für mich, dass mir professionalisierte Helfer-Begleiter-Unterstützer- und Behandler_innen sagen, dass sie zuhören, wenn es das ist, was sie gerade tun.