Entschuldigungen

Mou haben uns nach unserem ersten Interview zu „Worum es geht“ einen Kommentar geschrieben. Darin fragen sie unter anderem: „Es betrifft das Ende des Buches, S. 130, „das, was ich noch sagen will“. Warum schreibt ihr jemandem, der_die nach Lektüre des Buches verstanden hat, dass er_sie euch Gewalt angetan hat „Bitte entschuldige dich nicht bei mir. […] Weder du noch ich brauchen eine Entschuldigung.“?
Wie ist euer Konzept von Schuldgefühl und Entschuldigung (in einer strukturell gewaltvollen Gesellschaft)?“

Hier ist meine Antwort darauf.

In einer Gesellschaft wie unserer gibt es kein Leben in Unschuld.
Da wir einander stets und ständig in gewaltvoller Interaktion und Kommunikation begegnen, unsere Werte gewaltvoll definieren und ausleben, prägen und weitervermitteln, ist es für Menschen ab einem gewissen Alter und Interaktionsradius einfach unmöglich, in Gänze unschuldig zu sein – richtiger: als unschuldig gedacht und behandelt zu werden. Denn auch Unschuld schafft es nur durch Interaktion überhaupt von der Idee zur Funktion für die Gesellschaft.
Entsprechend halte ich Unschuld für eine Idee bzw. ein Konzept, das, ähnlich wie das Konzept der Heilung, eine Illusion ist. Eine Erlösungsphantasie, die von niemandem gelebt werden kann, aber existiert, damit Menschen bestimmte Werte und Haltungen nicht hinterfragen und verändern oder ablegen. In dieser Hinsicht handelt es sich also auch um ein Werkzeug der Vermeidung. In diesem Fall der Vermeidung der Erkenntnis (und ihr folgender Lebenspraxis), dass alle Menschen gleich verschieden am Leben sind, um am Leben zu sein (und weiter nix).

Ich weiß, dass viele Menschen, die Gewalt erfahren haben, auf Entschuldigungen der Täter_innen warten oder fordern oder brauchen, um zu verarbeiten, was ihnen passiert ist. Dabei geht es oft auch um den Versuch, erneut eine Bindung herzustellen, die auf andere Art gestaltet ist, um ein gewisses Gleichgewicht, eine gewisse Gleichheit, (wieder) herzustellen. Das kann funktionieren – jedoch nur unter Gleichen, die lediglich der Akt, der später entschuldigt werden kann, trennt. Und auch nur dann, wenn es mehr als eine Entschuldigung nicht braucht, um die ursprüngliche Gleichheit wieder herzustellen.

In meinem Fall bezogen auf die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, braucht es erheblich viel mehr als Entschuldigungen und eine neue ausgewogene Ver_Bindung zu Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden, um in diese Gleichheit zu kommen. Meine Devianz auf vielen Ebenen macht viel dieser Gleichheit unerreichbar. Andererseits ist es aber die Gewaltgesellschaft, die meine natürliche Devianz ausnutzt und mich damit auf vielen Ebenen ungleich macht und hält.
Um meine Gewalterfahrungen also irgendwie „auszugleichen“ oder „wiedergutzumachen“ braucht es auch eine Gesellschaft, die ihre Vielfalt pflegt, liebt, fördert, schützt und verteidigt. Die Opfer wie mich anerkennt, entschädigt, und Reparation leistet. Und zwar, weil sie erkennt, was es für ein Gewaltakt an allen Menschen in der Gesellschaft ist, es nicht zu tun und sich aktiv dafür entscheidet, ihn nicht zu vollziehen.
Eine Gesellschaft, die aus gemeinschaftlicher Vermeidungstradition, Pflichtgefühl oder moralischem Imperativ heraus Buße tut Entschuldigungen vortanzt, um das unangenehme Gefühl von Schuld nicht mehr zu fühlen, rahmt diesen Akt in der Regel als unangenehme Belastung. Als Arbeit ohne mehr Lohn als „das gute Gefühl“. Damit verliert sie für mich noch mehr an Wert und Bedeutung. Denn für das, was ich möchte im Kontakt mit anderen Menschen, brauche und will ich sie nicht erniedrigt oder belastet.

Ich will leben, und zwar einfach so. Ich will mich fühlen, mich verstehen, ich will mich selbst in Verbindung mit anderen Menschen fühlen, verstehen und auch er_leben. Dazu gehört, dass ich verstehe, was mir passiert ist. Nicht nur so, wie ich es mir in der Traumatherapie zusammenüberlegen kann – ständig an der Krücke der Interpretation meiner eigenen von Dissoziation und altersbedingter Hirnreife fragmentierten Erinnerungen hängend und den Zweifel stets mit im Gepäck. Sondern so, wie es sich üblicherweise ergibt, wenn man Dinge mit anderen Menschen erlebt hat: Eine teilbare Geschichte, die rund und voll und ganz wird durch die verschiedenen Perspektiven ihrer Beteiligten und so ein Abbild unser aller Lebendigkeit. Daher brauche, wünsche, fordere ich, dass ich von Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden, höre: „Ich habe damals das und das gedacht. Ich hab mich so und so gefühlt. Ich glaube an das und das – deshalb versuchte ich dies und das. Ich finde dieses und jenes schön/schlimm/ängstigend/problematisch/*, also habe ich das und das getan.“ Denn das haben sie alle – egal ob sie mich geschlagen und vergewaltigt oder missachtet und ausgeliefert haben – nie (aufrichtig, in Gänze und Gleichheit) mit mir geteilt. Gleichzeitig konnte ich den meisten von ihnen nie (aufrichtig, in Gänze und Gleichheit) mit.teilen, wie die Situation.en für mich war.en.

Schuld ist in unserer Gesellschaft eine Waffe, die wir alle mit uns tragen. Wer schuldig ist, wird automatisch Schuldner und damit anders. Es entsteht Schamgefühl und daraus der Drang zur Auflösung der Schuld durch Entschuldigung. Wir haben alle gelernt, dass sich zu entschuldigen wichtig ist, aber nicht, wie wir damit umgehen, wenn das nicht funktioniert. Es steht völlig außer Frage, ob man nicht vielleicht auch gut mit Schuld leben kann, wenn man sie akzeptiert und als Teil des Lebens unter anderen Menschen begreift. So nach dem Motto: „Jetzt bin ich schuld am kaputten Teller, morgen ist jemand anderes schuld am Tod eines Menschen, übermorgen sind wir alle schuld am Klimawandel.“ Schuld an sich ist nicht das Problem, das ich mit meinen Gewalterfahrungen bzw. den Täter_innen in diesen Situationen habe. Es ist der Umstand, dass ich über meine Opferschaft in dem Moment beschämt bin und werde, weil sie der Grund für die meisten Benachteiligungen, Krankheiten und Hilfebedarfe ist, während die Täter_innen komplett unberührt davon leben können. Es gibt kein „Heute ich, morgen du, übermorgen wir alle, mal gucken, wie wir damit zurande kommen, vielleicht fällt uns ja zusammen was ein.“ Die Gewalt hat uns getrennt – die Schuld und unsere gewaltgesellschaftlichen Konventionen darum halten uns getrennt.

Ich will mein Leben nicht so gestalten. Ich will nicht getrennt sein von anderen Menschen. Auch nicht von denen, die an mir zu Täter_innen wurden.
Deshalb habe ich das so aufgeschrieben.

Eventuell mache ich damit die Hürde zur Kontaktaufnahme niedriger, das muss ich erfragen, wenn sich jemand melden sollte. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich einfach niemand meldet. Zum einen, weil die wenigsten das Buch lesen werden – zum anderen, weil das, was ich da möchte, unfassbar anstrengend, vielleicht schmerzhaft und für die meisten von ihnen ohne Lohn oder erstrebenswertes Ziel ist. Die wenigsten derer, die an mir zu Täter_innen wurden, haben mich als Menschen wahrgenommen. Vielen wurde ich durch ein bürokratisches System vorgesetzt und also gewissermaßen aufgezwungen. Diese Menschen würden sich vielleicht wegen dieser uns verbindenden Gewalt melden – also, weil sie selbst sich mir gegenüber als Opfer sichtbar machen wollen, die gar nichts dafür konnten, dass sie Gewalt an mir ausgeübt haben. Aber da ich sage, dass ich keine Entschuldigung hören will, entfällt diese Möglichkeit der Gleichmachung.

Das Kapitel ist also wirklich nur das, was ich noch sagen wollte.
Ich habe das aufgeschrieben, damit ich es gesagt habe. Damit es ein Wissen, um diese Möglichkeit gibt. Im unwahrscheinlichen Fall, dass …

Rache wäre leichter

Ich hatte keinen Anlass zu glauben, dass R. jemals etwas anderes wollen könnte als Rache. Vielleicht sogar blutige Rache. Zerstörerische, giftige Rache ohne Bewusstsein für ihre Folgen, ohne Willen zur Anerkennung von Ursachen oder der eigenen Verortung in Zeit und Raum.
In den letzten 18 Jahren hatte ich vor allem Hartes, Unnachgiebiges gespürt. Die generalisierte Ablehnung von Erwachsenen, die Abwehr von Nähe, die Vermeidung von allen, die nach ihr zu greifen versuchten, um ein eigenes Ziel zu erreichen. In ihrer Härte war sie nie Godzilla, der durch die Einrichtungen stampft, die sie zerstampft haben – aber schon ein Mädchen mit Todesblick und undurchdringlichem Geist. Ein Dorn, dessen Stich so wehtun sollte, dass er nicht ignoriert werden würde.

Und dann antwortet sie der Therapeutin, dass sie eine Entschuldigung will. Und das Versprechen, dass etwas dafür getan wird, dass sich ihre Geschichte nicht im Leben anderer Jugendlicher wiederholt.
Am Abend zuvor hatte ich schon die Idee in mir bewegt, den Brief zu schreiben, den R. nie schreiben konnte. Dann aber erinnerte ich mich daran, wie es mir nach dem Klinik-GAU ging. Wie unfassbar bitter mich die Erkenntnis traf, dass es den Menschen leider so unendlich egal ist, wie es mir ging, was ich dachte und wie ich gelitten habe, weil sie mich zur alleinverantwortlichen Quelle dieser Gefühle erklären können – und vielleicht auch müssen.

Denn das Schlimme an sogenanntem „institutional betrayal“ ist nie nur, dass Institutionen (Kliniken, (Wohn-)Einrichtungen, Firmen…) manchmal ihre Versprechen brechen, sondern auch, dass sie keine Verantwortung dafür übernehmen. Und dass es niemand von ihnen erwartet. Dass sie nichts und niemand dazu zwingt, wenn ihr eigenes Gewissen, ihre eigenen Werte, ihre Mitarbeiter_innen und Verantwortlichen es schon nicht tun.
Und dass das nur in bestimmten Aspekten problematisiert wird. Gibt es Blutvergießen oder systematische Vernachlässigung, Abrechnungs- oder Steuerbetrug, Etikettenschwindel oder Zwangsüberarbeitung, kann geklagt werden. Gibt es psychische Gewalt, autoritär begründeten Zwang oder Handlungen aufgrund von etwa Sexismus oder anderen *ismen, gibt es diese Möglichkeit einfach nicht. Denn das Wort der Opfer ist weder den Täter_innen noch dem Staat etwas wert, um Unrecht an_zu_erkennen und (Wieder-)Gutmachung zu bieten.
Das verkleinert das Leiden der Opfer nicht. Im Gegenteil kommt dadurch eine Ebene hinzu, die nichts mehr nur mit den konkret Beteiligten zu tun hat, sondern mit dem gesamten sozialen Kosmos. So hätte ich natürlich nach dem Klinik-GAU die Ärztin anzeigen können und mich in ein entwürdigendes – und mich voraussichtlich weiter demütigendes – Justizgemetzel stürzen können, aber die Falschbehandlung passierte durch ein Team unterstützt und von einer Struktur geschützt. Und die wären nicht auch zur Verantwortung gezogen worden, weil Verantwortung in solchen Häusern bis zur Nichtigkeit diffundiert ist. Am Ende kann in diesen Institutionen niemand Verantwortung übernehmen, weil sie niemand alleinig hat oder übernimmt und die kollektive Anerkennung einen Gesichtsverlust bedeuten könnte. Welcher in der Regel deshalb als ehrverletzend empfunden wird, weil man Patient_innen/Kund_innen/Nutzer_innen nicht als gleichwertig anerkennt.

Wir, R., ich und alle, die vor mir von und in Institutionen verletzt wurden, haben Entschuldigungen verdient, da bin ich mir sicher. Aber gewollt habe ich nie eine.
Wirklich aufrichtige Entschuldigungen haben etwas mit Frieden in allen Facetten zu tun. Mit Befriedung von Konfliktgräben, mit Befriedigung von sozialen Grundbedürfnissen und der Wiederherstellung eines friedlichen Miteinanders. Ihre Funktion ist also vorrangig die Veränderung der Qualität des Miteinanders.
Ich aber will nie wieder irgendetwas mit diesen Einrichtungen und ihren Vollstrecker_innen Mitarbeiter_innen zu tun haben. Ich brauche sie nicht, um meine Punkte zu validieren, ich will nicht hören, was sie über meine Punkte zu sagen haben. Ich sehe sie als gesellschaftlich gewollte Werkzeuge der Gewalt und Ausgrenzung, als Zubringer des Kapitalismus und gescheiterten Versuch einer Utopie, die sich ihrer eigenen Ableismen nie bewusst werden wollte. Sie sind Abgrenzungsgegenstand meiner heutigen Lebensrealität geworden und als nichts anderes will ich sie je wieder sehen.

Aber R.s Unnachgiebigkeit betrifft keine Psychiatrie oder Klinik für Psychosomatik. Sie betrifft keine Individuen und zieht keine Grenzen an sich selbst.
R. geht es ums Prinzip. Um eine Ungerechtigkeit, die weder sie noch andere verdient haben und von der sie weiß, dass sie niemandem gewünscht wird.
Das ist so viel schwieriger als Rache, weil es zwei Dinge bedeutet:
Erstens: Kontakt und den Wunsch zum Miteinander
Zweitens: Eine Arbeit, deren Ergebnis nur schwer messbar ist und also in der Regel kaum als Wert geschätzt wird. Was letztlich dazu führen kann, dass schon der erste Punkt nicht zustande kommt.

Unabhängig davon, wie ich es schaffen kann zur Erfüllung ihres Wunsches beitragen, hat er mich berührt. Denn dahinter kann ja kaum mehr als die Annahme stehen, dass man einander grundsätzlich friedlich gegenüber stehen will und dies ein gemeinsamer Wert ist.
Vielleicht war sie nie unnachgiebig uneinsichtig, sondern hatte ganz schlicht – völlig banal und logisch nachvollziehbar – nie die Chance auf ein Miteinander, in dem ihre „untragbare“ Frustration als in einem realen Sachstand begründet anerkannt wurde.
Sie hat Recht und sie weiß das. Sie ist wütend darüber, dass diesem Recht keine Wirkung folgt und weiß, dass ihre Wut abgelehnt wird. Wie sollte sie je nicht für immer und ewig todesfrustriert sein?

Ich weiß noch nicht, was wir jetzt machen. Hab selber Angst vor ihrer Wut, ihrem Frust, weiß ja selbst, dass es mich gibt, weil es sie gab und passierte, was passierte. Frage mich, ob es den Versuch wert ist oder der Sache nötig.

Ein Wunsch nach Rache wär jedenfalls irgendwie leichter. 😅

Verantwortung, Schuld und was uns sonst noch so trennt

Eigentlich ist es doch eine ganz einfache Kette:
mir wurde Gewalt angetan —> ich erhielt etwas, dass ich ver- geben kann

Weshalb ich das gerade nicht tun kann, erklärte ich in dem Abschnitt der aufzeigte, dass die FolgenDavidPfister der zugefügten Gewalt von meiner Seele- meinem Sein- diesem blinkenden Kern der “uns” darstellt, bereits so aufgenommen wurde, dass jedes Vergeben hieße: “jemanden” von uns zu ver-geben. Im Sinne von “ein Innen weg- geben”.

Schnell entspinnen sich die Gedanken anderer Menschen auch um das Thema der Schuld und der Verantwortlichkeit von Menschen die zum Opfer (zwischenmenschlicher) Gewalt wurden.

Ja, gut.
Dann also die Themen Schuld und Verantwortlichkeit.

Gerade nach dem letzten Artikel hörte ich: “Nein- du hast keine Schuld gehabt- es war nicht deine Verantwortung.”
Was aber ist Verantwortung?
Entsprechend allgemein gültigen Wortdefinition, ist Verantwortung, eine Art Verpflichtung im Rahmen von geltenden (sozialen, kulturellen, moralischen, religiösen) Normen (die in Gesetzen festgehalten sind) zu interagieren. Es ist etwas, das wir Menschen uns gegenseitig aufdrücken, damit wir vernünftig miteinander leben können.

Das ist eine gute Idee wenn es darum geht, Schäden zu verhindern und Ansprüche auf Ausgleich und Gerechtigkeit definiert und geltend gemacht werden können.

Verantwortung ist keine flexible Pflicht. Sobald man sich in einem menschlichen Kontext mit einem Normenkonzept befindet, ist sie da. Man ist verantwortlich für alles was von einem ausgeht- wie für alles was zu- an einem herangetragen wird. Ganz grundlegend und immer und überall.
Es gibt nur genau einen Punkt an dem man trennen kann zwischen dem, was die eigene Verantwortung ist und dem, was die Verantwortung eines anderen Menschen ist. Und das ist der Punkt an dem etwas nicht mehr im eigenen Einfluss- Beeinflussungsbereich liegt.

Unsere (Staats-) Gesetzgebung nennt Kinder unmündig und stellt sie als besonders hilflos und schutzbedürftig dar. Das heißt: vor dem (Staats)Gesetz haben Kinder keine Verantwortung dafür zu tragen, wenn ihnen Gewalt angetan wird- da ihnen im Sinne der Gesetzgebung jede Möglichkeit zum Einfluss bzw. zur Beeinflussung fehlt.

Ich vermute, weil unsere demokratische Kultur das Konzept der Staatsmacht sehr hoch bewertet (da ihre Standbeine die Aufgabe haben, absolut neutral und ausschließlich den geltenden Gesetzen entsprechend zu agieren), heißt es heute sehr schnell, dass jemand eine Schuld trägt, weil er eine Verantwortung (entsprechend der staatsmächtlichen Normen) abgegeben hat oder einer hilflosen- (einer zu Einfluss unfähigen) Person übergeben hat.

Doch ist für mich- uns diese Überzeugung fern.
Sehr viel näher liegen uns die Felder der Verantwortung, auf die so bewusst scheinbar nur wenige noch Rücksicht nehmen, weil die Staatsmacht soviel Raum einnimmt.
(Pseudo)Religiöse (und damit schnell (sub)kulturelle) Normen und darin begründete Verantwortung wird (vor allem hier in Deutschland) meinem Empfinden nach verachtet- ja manchmal sogar missbilligt und jede weitere Pflicht, die man sich aus ihr heraus annimmt wird abgetan und teilweise sogar kriminalisiert.
Doch sie ist da. Und sie hat für viele Menschen unter Umständen genauso viel Gewicht wie die Staatsgewalt. (Stichwort “nicht integrationswillige Migranten”, Beschneidungsdebatte, Burkadebatte, das Kreuz im Klassenzimmer)

Wir sind mit einem Konzept aufgewachsen in dem unser Einfluss- unsere Möglichkeiten der Einflussnahme auf andere Menschen nicht als inexistent betrachtet wurde.

copy gnar.gn.funpic.deWir wuchsen mit dem Wissen und der Selbstverständlichkeit von Gewalt auf, weil sie in dem Kontext gerechtfertigt ist, aufgrund eben genau dieser Form der Selbstverantwortung und pseudoreligiöser Pflicht..

Wenn man etwas will, dann soll man es tun. Wenn man etwas nicht will, dann soll man es lassen.

Der Fall, dass man nicht will, dass etwas mit einem gemacht wird, ist schlicht nicht vorgesehen. Das gesamte Konstrukt ist darauf aufgebaut, dass jeder einen Schmerz oder einen Unwillen überwindet (und überwinden will) um stärker und damit wertvoller für alle zu werden.
Und das ist schon alles.

Alle Konflikte die sich darauf aufbauend entwickeln, sind begründet in dem Doppelleben das wir zu leben gezwungen waren (und es innerlich bis heute sind). In der einen Welt, der Welt in der Verantwortung mit potenzieller Schuld, Hand in Hand geht und Kinder vom Gesetz geschützt werden, können wir vieles was uns angetan wurde als definitiv unrecht betrachten und eine Unschuld im Sinne einer Unfähigkeit einer Einflussnahme, sowie all den Schmerz und die Demütigung annehmen. Das gilt zum Beispiel für alles was uns passiert ist, seit wir aus dem direkten Wohnumfeld der Täterkreise (also aus dem direkten pseudoreligösem Einfluss) heraus sind- nicht aber für das, was uns unter dem Deckmantelkonzept der Pseudoreligion angetan wurde, während wir direkt noch dort lebten. In jener anderen Welt hätten wir etwas verhindern können und haben es nicht getan.

Die vom Staat und auch der breiten Masse immer wieder unterstrichenen Trennung von Religion und Staat ist es zu verdanken, dass wir mit unserem Ansinnen diese Punkte irgendwie zu verbinden allein auf weiter Flur zu stehen scheinen.

Ich merke es, wenn ich auf der Suche nach Literatur zum Thema des geistigen Ausstiegs oder auch der spirituell-psychischen Selbstbestimmung bin. Ich merke es, wenn ich auf der Suche nach einem Konzept, einer Idee, einem Stichpunkt bin, der mir erlaubt meine eigene Verantwortung an der uns zugefügten Qual sowohl anzunehmen, als auch gleichzeitig als “Unrecht” zu bezeichnen.

Wir wollen (und können) nicht einfach unseren Kopf aufklappen und einmal feucht durchwischen, um dieses uns gleichsam zerstörende- wie aber auch haltende (Normen- und) Wertesystem abzubauen.
Oft stoßen wir damit auf Unverständnis, stürzen unter Umständen hilfreiche Phrasen, die sich jemand vorsagt, um mit seinen Gewalterfahrungen zurechtzukommen um, wenn ich sage, dass wir nicht vergeben oder wie nun hier, dass wir die grundlegende Verantwortung für das was uns passiert ist, nicht als inexistent oder zu Unrecht auf uns abgewälzt betrachten (können) bzw. beides gleichzeitig gesehen haben wollen.

Würde ich anfangen Tätern eine Verantwortung im Sinne der Gesetzgebung zuzuschreiben, würde ich ihnen eine Schuld aufdrücken, die sie aber im richtigeren Kontext (der ursächlich für die Handlung war) schlicht nicht haben. Ja, würde ich zu einem Richter gehen- der einzig dem juristischen Recht der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist- käme es zu einem Schuldspruch. Doch würde ich zu einem Richter gehen, der den Gesetzen jenes pseudoreligiösem Konstruktes entspricht, wäre meine Anklage ein Fall für einen Schuldspruch!

Ja, liebe ultra-Schlauen da draußen, es ist völlig klar, dass hier jemand schreibt, der einer Indoktrination unterworfen wurde und der Gedanke, dass diese Worte hier stehen, weil wir mit viel Angst dazu gebracht wurden, so zu denken und zu vertreten, ist verständlich.
Doch bedenken Sie bitte Eines: jemand der schlicht Täterkonzepte- und Inhalte repliziert, der sieht nicht beide Welten.

Wir haben eure Welt gesehen.
Wir sehen sie und wir wollen in ihr leben, wie alle anderen Menschen auch- doch… wo wir die Täter und die ganze Gewalt in uns haben und sie nie werden ver-weg-geben können, da haben wir auch ihre Werte und ihre Konzepte in uns.

Unser Ziel ist kein Zustand in dem wir von einer Freiheit dieser Inhalte sprechen.
Das Ziel ist ein Zustand der Integration, sowohl dessen was in mir ist- als auch mit dem was um mich herum ist.

P.S. So viele Parallelen: Ich denke: Ich möchte beides gelten lassen können. Ich möchte alles (da)sein lassen dürfen.
Und irgendwie ist es wieder auch das Thema: Ich möchte eine Erlaubnis für mein Sein- mein auch so viel(e) sein wie ich- wir eben sind.

Vergebung*

“Es könnte dir vielleicht helfen wenn du Vergebung zulässt. Sowas kann therapeutisch wertvoll sein, um aus der Opferrolle zu kommen…”

Meine Augen verengten sich, die Haut über meiner Stirn begann zu klüften… Der Vortrag über die richtige Verwendung des Begriffs der Opferrolle begann…
Übrig blieb dann aber doch das Echo der Vergebung.

Was mein Ich zu so vielen Du´s entwickelt hat, war weder eine wiederkehrende Naturgewalt, noch Kriegswirren oder eine andere Art vom Menschen zu abstrahierende Wendung des Schicksals. Hinter jedem Trauma das wir überlebten, standen mir mehr oder weniger nahe Menschen, die mir etwas zufügten- mir etwas gaben, was ich vergeben könnte. Oder auch vergeben lassen könnte?

Ich habe überlegt was wäre, wenn einer der Menschen die an uns zum Täter geworden waren, auf uns zukäme und ein Vergeben einforderte oder mir die Chance eines Vergebungserhaltes von dem Menschen einräumen würde.
Also ganz vermutlich würden wir zu allererst weglaufen wollen, was ich schon als beachtenswert und als Erklärung für den Umstand, dass “Vergebung” hier noch nicht Thema war, einschätze.

Nein, wir wollen diese Menschen nicht wiedersehen. Nein, eigentlich wollen wir nicht einmal an sie denken oder ihnen auch nur noch einen Fetzen unseres inneren Kosmos zugestehen.
Das stimmt so eigentlich aber auch nicht.
Und ist auch gar nicht möglich.

Man sagt nicht ohne Grund: “mir wurde Gewalt angetan”, oder: “mir wurde eine Verletzung zugefügt”. Mit jedem Mal, dass uns etwas angetan wurde, wurde etwas vom Aggressor selbst oder dessen Handlung(skonsequenzen) in uns hineingepflanzt. Die BÄÄÄMs, täglich auftretende (Erinnerungs-)Schmerzen, quälende Ängste und immer wieder nötige Dissoziation zum Schutz vor Erinnerungen- unterm Strich: die gesamte DIS = die komplette (Nicht- Selbst-)Wahrnehmung, die es heute für uns als Gesamtperson gibt, ist das, was uns an-hin(ein)gegeben wurde, von den Menschen, die an uns Gewalt ausübten.

Würden wir anfangen zu vergeben, würden wir also uns ver-geben- uns weg-geben- uns wieder denen hin-geben, die sich uns dereinst einfach (von vorn, von hinten, von irgendwo runterhängend, von irgendwo gefesselt oder von jemanden festgehalten- ) nahmen.

Wir hätten das Recht ein Vergeben einzufordern. Doch was hieße das im Umkehrschluss?
Ich glaube, dass auch wenn man zum Täter wird, ebenso Teile des Opfers im Täter landen. Sadismus lebt davon, dass das Leiden des Opfers gespürt wird- in sich aufgenommen werden kann, genauso wie manche Spielart der menschlichen Sexualität genau darin ihren Reiz hat, das Ausgeliefertsein- die Erniedrigung des “passiven” Partners in sich aufnehmen zu können, um eine Befriedigung zu erfahren.
Wir würden nicht erhalten, was uns genommen wurde. Wir bekämen keine Würde und auch keine Integrität zurück. Wir würden ausschließlich das Leid, das sich im Täter zu Befriedigung antreibender Gefühle verwandelt hat, erhalten.

Würden wir Tätern vergeben würden wir- genau wie die Täter von uns- ein in ihnen verwandeltes Abbild vom uns erhalten. Und bei aller Überlegenheit, die sich eventuell auch einstellen würde, würden wir es nicht verkraften so eine Abgabe an uns- so ein erneutes Einpflanzen in uns- auszuhalten.

Beim Aufschreiben von Taten für den OEG-Antrag fällt mir auf, dass es eine Art Lieblingstäter-Typ gab. Das ist der Typ Mensch der aussieht wie alle anderen- der macht was alle anderen machen- der verlangt was alle anderen verlangen- der Typ Mensch den man auf der Straße nicht wiedererkennen würde- der Typ Mensch der uns gleichsam zum Wegwerfartikel gemacht hat, wie er von uns zu “einem von vielen” gemacht wurde.
Bei solchen Menschen wäre Vergebung möglich. Aber gleichzeitig auch sinnlos. Denn was dieser Typ gewaltausübender Mensch zufügte, fügten wir ihm auch zu: Objektivierung in Reinkultur. Was soll man mit der Ver-Gabe eines Objektes?

Die Wichtigkeit von Vergebung im therapeutischen Kontext kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber ich frage mich, für welchen Aspekt genau so ein Sich-Abgeben bzw. der Erhalt einer Selbst-Vergabe wichtig sein könnte.
Ich erinnere mich an eine Situation in der Schule in der jemand mich um Vergebung bitten sollte, weil er mich geschubst hatte. Er wollte es gar nicht und ich hatte einfach nur Schmerzen im aufgeschlagenen Knie. Es war der dritte Akteur (die Lehrerin) die den anderen Menschen dazu drängte mich um Vergebung zu bitten- und zwar damit: “dann alles wieder gut ist”- damit “Ruhe ist”- damit “man sich wieder verträgt”- damit “du lernst, dass man das nicht macht”…

Ich bezweifle den Lernerfolg von Zwangsvergebungen unter Kindern. Wenn man jemanden schubst, dann lernt  man: “Oh guck- der fängt an zu heulen und will nicht mehr mit mir spielen”. Und egal was dann folgt, ob sich das Kind um Vergebung bittet oder nicht, es lernt, dass man jemandem Schmerzen bereitet mit Schubsen und Hinfallen und, dass derjenige keinen Bock mehr auf einen hat- es sei denn man schafft, dass der Andere sein Mitgefühl für den erlittenen Schmerz spürt und sein aufrichtiges Bedauern darum. Zum Beispiel in dem man um Vergebung bittet und Gesten der Zuwendung und Ausgleichs tätigt. (Klar- Kinder müssen diese Gesten erst lernen- aber im günstigsten Fall bekommen sie solche Gesten vorgelebt von den Erwachsenen im Umfeld).

Worauf ich hinauswill ist, dass ich bei der “therapeutisch wertvollen Vergebung” einen dritten Akteur wittere. Entweder im Form des Therapeuten oder einen noch weiter Außenstehenden, der sich (aus ganz egoistischen Motiven heraus), für die betroffenen Parteien wünscht, “dass alles wieder gut wird” oder “dass man sich verträgt” (bei Erwachsenen wird seltsamerweise nie von einem Lernerfolg ausgegangen in Bezug darauf- trotzdem gibts (Verhaltens)Therapieen für Straftäter…Logik?!).

Der Aspekt des sich ver-tragens nach einer Vergebung ist auch nicht uninteressant. Ich habe schon mit einigen weiblichen Menschen (ja, das Geschlecht ist in diesem Kontext wichtig) gesprochen die von ihren Vätern sexuell misshandelt wurden und die davon sprachen, dass es ihnen nach einem “Aussprechen und einander Vergeben” besser ging. Sowas nehme ich selbstverständlich erstmal nicht wertend auf. Ich stecke nicht in ihrer Haut- zu Gefühlen anderer habe ich keine Meinung zu haben.
Doch etwas nachgebohrt ergab sich dann doch immer wieder, dass die Erleichterung weniger aus einer seelischen Erleichterung oder Gleichgewicht kam, sondern von zugestandenen Erbteilen, beendeten Familienfehden oder sogar von der Herausgabe schmerzlich vermisster Kindheitserinnerungsstücke in der Folge. So betrachte ich (für mich persönlich) diese “Vergebung” nicht als echt. So etwas ist eine verleugnete Selbst-Abgabe der Opfer gegenüber der Täter- erneut (und perfiderweise von sich selbst aus, was noch wohlwollend betätschelt wird, von anderen)! Auch, wenn es dabei nicht um körperliche Versehrung oder Zwang im üblichen Sinne ging.

Sich zu ver- tragen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass man eine Last ausgleichend verteilt, um sie besser tragen zu können, sondern es bedeutet für das Opfer ein Ver- ERtragen, weil es etwas gewinnt, was ihm die Last des zu tragenden Unrechts evtl. erleichtert- letztlich aber doch noch mehr Ballast aufbürdet, den es zu tragen hat.

“Damit alles wieder gut wird”
Ist für mich der so ziemlich gemeinste Anspruch in Bezug auf ein Vergeben, den es geben kann. Für wen soll denn “wieder alles gut” werden? Was bedeutet: “gut”? Was genau meint: “alles”?309233_380546228700118_1453393758_n

Wenn man geistig stirbt, weil man durch die Körperlichkeit eines anderen Menschen bereits körperlich fast stirbt, dann gibt es kein “gut” oder “schlecht” mehr. Dann gibt es nur noch “Leben” oder “Tod” und das für den Rest der Existenz.
Ich kann mich an keinen einzigen Zeitpunkt in unserem Leben erinnern (und mich gibt es schon seit der Körper 5 ist) an dem es (das Leben, das Sein- die eigene Existenz) einfach nur “gut” war. Weder für uns-mich allein, noch für uns-mich vor anderen Menschen. Wir waren nie “gut” für andere- waren nie in Gänze einfach “gut”. Nie war in unserem Leben irgendetwas einfach gut- immer gab es soziale oder emotionale oder ökonomische oder moralische Fallstricke, die uns das Gefühl “gut” zu sein oder “gut für jemanden zu sein” wieder stahlen.
Wieso sollten wir eine Vergebung anstreben. damit “alles gut wird”?
Es ist das Streben nach einem Zustand dem alle Menschen nachjagen: bedingungslose Annahme seiner Selbst als schlicht “gut” und der Erfüllung aller Grundbedürfnisse zur gleichen Zeit.

Wir wissen, dass es das niemals kostenlos geben wird.  Unsere HelferInnen zum Beispiel, die uns annehmen und als “gut” sehen, werden alle in irgendeiner Form bezahlt (auch wenn sie nicht direkt für ihre Gefühle bezahlt werden- so ist es die Möglichkeit an diesen Gefühlen Anteil zu haben die bezahlt wird). Niemals wird uns auch nur ein Mensch auf der ganzen Welt ganz genau so bedingungslos annehmen, in einem Kontext der alle unsere Grundbedürfnisse befriedigt, wie es jene hätte tun müssen, die uns geboren hat. Ich glaube, dass der Ausspruch “damit alles gut wird” tatsächlich nur eines bedeutet: “damit du in einen Zustand kommst, in dem du keine Sorgen und keine Ängste haben musst” (“damit du dich so sicher und geborgen (“gut”) wie Bauch/ im Arm deiner Mutter fühlen kannst”).

Dieses Streben ist es was mich-uns so von vielen nicht- (von (sexualisierter) Gewalt in der Familie seit der frühen Kindheit)-betroffenen Menschen trennt. Viele laufen genau diesem Ideal nach, während wir froh sind, um jedes Grundbedürfnis, dass wir durch uns selbst wahrzunehmen und zu befriedigen in der Lage sind. Wir kennen “alles gut” nicht so, wie diese Menschen vielleicht. Wir haben gelernt, dass es überlebensnotwendig ist, immer alle Ängste und Sorgen wahrzunehmen. Sie abzulegen bedeutet für uns existenzielle Bedrohung- nicht entspanntes Schaukeln in der Hängematte.

Vielleicht macht mich dieser Satz auch ein bisschen wütend, weil er nach dem Satz “Vergeben und Vergessen- alles wieder gut” klingt. Oder auch, weil er oft von Menschen gesagt wird, die genervt sind, hilflos sind und damit nicht gut zurecht kommen. Ich fühle mich dann oft in der Position in der ich um Vergebung darum bitten möchte, keine Vergebung einzufordern bzw. zu geben. Wie das Kind, das um der Lehrerin zu entsprechen eine Vergebung vorschiebt, um nicht um Vergebung für die Verweigerung bitten zu müssen.

Ja, das Thema Vergebung ist ein Großes.

Jemand sagte mal zu mir, dass er an uns den Wunsch zur Überlegenheit gegenüber den Tätern vermisst und fragte, ob wir deshalb keinen außergerichtlichen Täter- Opferausgleich oder sogar eine offene Anzeige anstreben, um eine Vergebung zu erhalten. Er meinte, dass wir so weniger um unsere Würde kämpfen müssten und mehr von der Genugtuung hätten.

Ich sagte ihm, dass Objekte- Fallnummern nirgendwo Würde hätten und, dass wir vermutlich alles fühlen würden was nur irgend möglich sei, würden wir diesen Menschen wiederbegegnen- doch das Genugtuung mit “etwas genug zu tun” zu tun hätte.
Ich lächelte ihn damals schon an- so wie ich es heute wieder tat und sagte: “Es gibt nie ein “der Sache genüge getan”, wenn einem der Körper so zerstört und die Seele in Stücke gerissen wurde, dass das Leben und das Sein zur Definitionsfrage wird. Mir geht es nur darum eine Antwort auf diese Frage zu finden- nicht, darum mich “besser” im Sinne von “überlegenen” zu fühlen.”

*Ich verwende durchgehend den Begriff der Vergebung- nicht der “Entschuldigung” oder “Verzeihung”, weil es mir in diesem Artikel nicht um den Schuldaspekt von Straftaten geht, sondern um den Aspekt des Ausgleichs und der sozialen, sowie der seelischen Balance

der fremde männliche Mensch

Habe ich gestern Mittag noch in einem Blog kommentiert, wie mutig und toll ich es finde, wenn ein (weiblicher) Mensch nicht nur lächelt, wenn er sich eigentlich unwohl und bedrängt von einem Fremden fühlt- aber selbst gedacht: “Hm, wäre ich auch so mutig?”, so hatte ich gestern Abend die Gelegenheit zur Selbstüberprüfung.

Zuerst mal möchte ich mir Note 2+ geben- ich war gut! Wenn auch nicht perfekt (aber das Thema hatten wir schon- deshalb das Plus)

Heute war ich verabredet und fuhr dann im Dunkeln allein nach Hause.
Obwohl ich selbst genau weiß, dass der Überfall vom “schwarzen Mann” im Park seltener ist, als der Überfall durch einen mir bekannten Menschen in einer Wohnung, lässt dieser Umstand den Adrenalinpegel (und das Dissoziationslevel) bei uns steigen (was oft genug zur Folge hat, dass ich “Kleinigkeiten” wie zum Beispiel einen auf dem Eis verstauchten Knöchel, erst Stunden später spüre oder allgemein noch mehr von meiner (Selbst)Wahrnehmung einbüße als sowieso schon abhanden kommt).
So auch gestern.
Schon in der Straßenbahnunterführung (dem Startpunkt) hat mich ein junger männlicher Mensch angesprochen, ob ich zufällig die Sprache spreche, die Erinnerungsprozesse in mir antriggert. Ganz freundlich, aber schon eindeutig zu nah an mir dran und offensichtlich mit einem Flirtbeginnswunsch. Mein Innenleben begann auf seine Art loszujaulen bzw. noch lauter als schon vorher in einen sirenenartigen Hintergrundseelenton zu verfallen, was mich nervös und unsicher machte- ganz unabhängig von dem Kontakt mit dem Menschen an sich.

Ich lächelte freundlich und sagte: “Nein, kann ich nicht. Schönen Abend noch.”
Er versuchte ganz offen Kontakt mit mir aufzunehmen- was ich mit einer wie ich finde sehr klaren Körpersprache ablehnte: Ich wendete mich ab und stöpselte meinen Kopf zu.
Bis dahin alles tutti- zwei Fishermänner, schöner Platz in der neuen Bahn und es pegelte sich gut wieder runter.
Noch schnell einkaufen.

Wer kommt mir im Laden entgegen? Der junge männliche Mensch von der Straßenbahnunterführung. Erstmal war ich schon verwirrt darüber, dass ich das überhaupt mitbekommen habe (Wieso bemerke ich immer erst in solchen Momenten meine Therapiefortschritte? Genau in dem Moment wäre es doch viel praktischer gewesen, wenn Frau Zarin ihm begegnet wäre- sie hätte ihn wie einen Untertan desinteressiert beguckt und gut… aber ja…Leben kein Wunschkonzert und Wunschdissos gibt’s nicht- also…). Dann aber war ich obendrein noch verwirrt, warum mich der Mensch überhaupt nochmal angesprochen hat. War ich nicht deutlich genug?
Ich wandte mich wieder ab, nachdem ich ihm ein Nicken des Wiedererkennens (aber schon kein Lächeln mehr) gegeben hatte.

Nach den üblichen Einkaufs-interputus-Überforderungsängsten und dem damit einhergehendem Wechsel (und einem weiteren Fishermann, um eine grundsätzliche Orientierung zu halten) gingen wir aus dem Laden.
Wo wer wartete und mich genau in der Dissoziationsnaht abfing? Der fremde männliche Mensch.

Er fing gleich an zu beteuern, er sei kein Arsch und ich bräuchte mich nicht bedrängt fühlen… Worauf ich sagte (und wer mich kennt weiß: hier ist der Platz für den Trommelwirbel mit anschließendem Tusch): “Ja, kann sein, dass ich mich nicht bedrängt fühlen MUSS- aber ich tue es! Sie sprechen mich immer wieder an, obwohl ich nicht mit Ihnen sprechen will und treten mir viel zu nah! Bitte lassen Sie mich in Ruhe!”

Das war wohl deutlich genug. Er ging. Ob er noch etwas gesagt hat, weiß ich nicht, weil ich mir gleich ganz schnell den Kopf wieder zugestöpselt hab, um wegen einer eventuellen Antwort nicht direkt ein noch schlechteres Gewissen zu haben.
Aber- ich habs geschafft!
Die Pflicht* hab ich gut geschafft.
Ein “sehr gut” hätte ich mir für die gelungene Kür  gegeben, wenn ich mich a) hinterher nicht schuldig im Sinne von „zur Entschuldigung geneigt” gefühlt hätte und b) das direkt bei der ersten Begegnung gesagt hätte.

Bei aller “sich selbst auf die Schulterklopferei”, treibt mich diese Episode aber nun doch um.
Da sind zwei Punkte.
Zum Einen: Wieso unterstellt mir der junge männliche Mensch, ich würde ihn für einen Arsch (oder Vergewaltiger?) halten, wenn ich doch eigentlich nur kein Interesse an (und ja, ehrlich gesagt einfach nur panische (alte) Angst vor) einem Gespräch mit einem mir völlig fremden Menschen habe?

Und zum Anderen: Wo kommt dieser Drang zur Entschuldigung meiner Verweigerung her?
Ich hatte am Donnerstag noch bei Fratzbuck ein Foto geteilt:

sorry

Offensichtlich geht es nicht nur mir so. Schön. Aber was der Feminismus nun in dem Punkt helfen soll oder könnte, mich eben nicht mehr zur Entschuldigung geneigt zu fühlen, verstehe ich dann aber doch nicht so ganz (soviel zur Überzeugung dessen was wir so bei Fratzbuck teilen…)
Ich könnte mir gut vorstellen, dass auch ein männlicher Mensch diesen Impuls in sich fühlt, wenn er von einem anderen (weiblichen) Menschen so angegangen wird. Ich hätte mich auch so gefühlt, wenn der männliche Mensch ein weiblicher Mensch gewesen wäre.

Es ist doch ein ganz basales Symptom unseres Miteinanders, dass wir uns jederzeit und immer wieder als offen und verfügbar darstellen (sollen oder sogar müssen). Selbstbestimmung wird irgendwie selten gern gesehen oder gar widerspruchlos anerkannt. Ich kann keine große Exklusivität des Körpergeschlechtes in Bezug zur Selbstbestimmung erkennen. Die Erscheinungsformen variieren ganz klar, aber die Folgen sind die Gleichen: A will B nicht zur Verfügung stehen, verweigert sich und fühlt sich hinterher mies, obwohl es eigentlich unnötig ist.

Eine Antwort habe ich noch nicht, bis hierhin muss ich vorerst ein “Denkstatus under construction”-Schild aufstellen. (Antwortvorschläge wie immer bitte gerne in die Kommentare)

Nun noch kurz zur Unterstellung des “Arschseins”.
Er hat es nicht gesagt, aber es kam bei mir so an, als ginge der Mensch ganz selbstverständlich davon aus, ich hielte ihn für “schlecht” oder sogar “gefährlich”, weil er mich (allein und im Dunkeln) abfing und Kontakt suchte.

Gemäß unserer Biologie sind wir Menschen alle verunsichert, wenn wir allein und im Dunkeln unterwegs sind. Das ist ein total schlauer Mechanismus, der uns im Zweifel genug Adrenalin zum Kampf oder zur Flucht ausschütten lässt, sollte aus dem Dunkel tatsächlich mal eine Gefahr auf uns zukommen. Ich brauche mich nicht dafür zu schämen oder meine Weiblichkeit als Grund für meine Vorsicht und mein mulmiges Gefühl vorzuschieben.
Und ich verstehe nicht, wo es herkommt, dass es offenbar viele andere Menschen tun und/ oder mir diese Einstellung unterstellen.

Ich denke, dass wir uns mit dieser Einstellung um viel Kontakt und damit Austausch und damit widerum um die Chance auf ein friedliches Miteinander bringen. Das macht mich traurig.

Und plötzlich denke ich, dass ich mich vielleicht dafür entschuldigen wollte.
Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie abwies, wie ich Sie abwies: Ohne zu sagen, dass es nicht daran liegt, dass ich Sie für einen “gefährlichen schwarzen Mann im Parkgebüsch” hielt.
Ohne zu sagen, dass ich einfach nur keinen Kontakt mit einem mir fremden Menschen wollte.

Ohne zu sagen, dass mir Menschen ganz grundsätzlich eine Todesangst einjagen, egal wie freundlich oder unfreundlich sie sich mir gegenüber verhalten.