Mou haben uns nach unserem ersten Interview zu „Worum es geht“ einen Kommentar geschrieben. Darin fragen sie unter anderem: „Es betrifft das Ende des Buches, S. 130, „das, was ich noch sagen will“. Warum schreibt ihr jemandem, der_die nach Lektüre des Buches verstanden hat, dass er_sie euch Gewalt angetan hat „Bitte entschuldige dich nicht bei mir. […] Weder du noch ich brauchen eine Entschuldigung.“?
Wie ist euer Konzept von Schuldgefühl und Entschuldigung (in einer strukturell gewaltvollen Gesellschaft)?“
Hier ist meine Antwort darauf.
In einer Gesellschaft wie unserer gibt es kein Leben in Unschuld.
Da wir einander stets und ständig in gewaltvoller Interaktion und Kommunikation begegnen, unsere Werte gewaltvoll definieren und ausleben, prägen und weitervermitteln, ist es für Menschen ab einem gewissen Alter und Interaktionsradius einfach unmöglich, in Gänze unschuldig zu sein – richtiger: als unschuldig gedacht und behandelt zu werden. Denn auch Unschuld schafft es nur durch Interaktion überhaupt von der Idee zur Funktion für die Gesellschaft.
Entsprechend halte ich Unschuld für eine Idee bzw. ein Konzept, das, ähnlich wie das Konzept der Heilung, eine Illusion ist. Eine Erlösungsphantasie, die von niemandem gelebt werden kann, aber existiert, damit Menschen bestimmte Werte und Haltungen nicht hinterfragen und verändern oder ablegen. In dieser Hinsicht handelt es sich also auch um ein Werkzeug der Vermeidung. In diesem Fall der Vermeidung der Erkenntnis (und ihr folgender Lebenspraxis), dass alle Menschen gleich verschieden am Leben sind, um am Leben zu sein (und weiter nix).
Ich weiß, dass viele Menschen, die Gewalt erfahren haben, auf Entschuldigungen der Täter_innen warten oder fordern oder brauchen, um zu verarbeiten, was ihnen passiert ist. Dabei geht es oft auch um den Versuch, erneut eine Bindung herzustellen, die auf andere Art gestaltet ist, um ein gewisses Gleichgewicht, eine gewisse Gleichheit, (wieder) herzustellen. Das kann funktionieren – jedoch nur unter Gleichen, die lediglich der Akt, der später entschuldigt werden kann, trennt. Und auch nur dann, wenn es mehr als eine Entschuldigung nicht braucht, um die ursprüngliche Gleichheit wieder herzustellen.
In meinem Fall bezogen auf die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, braucht es erheblich viel mehr als Entschuldigungen und eine neue ausgewogene Ver_Bindung zu Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden, um in diese Gleichheit zu kommen. Meine Devianz auf vielen Ebenen macht viel dieser Gleichheit unerreichbar. Andererseits ist es aber die Gewaltgesellschaft, die meine natürliche Devianz ausnutzt und mich damit auf vielen Ebenen ungleich macht und hält.
Um meine Gewalterfahrungen also irgendwie „auszugleichen“ oder „wiedergutzumachen“ braucht es auch eine Gesellschaft, die ihre Vielfalt pflegt, liebt, fördert, schützt und verteidigt. Die Opfer wie mich anerkennt, entschädigt, und Reparation leistet. Und zwar, weil sie erkennt, was es für ein Gewaltakt an allen Menschen in der Gesellschaft ist, es nicht zu tun und sich aktiv dafür entscheidet, ihn nicht zu vollziehen.
Eine Gesellschaft, die aus gemeinschaftlicher Vermeidungstradition, Pflichtgefühl oder moralischem Imperativ heraus Buße tut Entschuldigungen vortanzt, um das unangenehme Gefühl von Schuld nicht mehr zu fühlen, rahmt diesen Akt in der Regel als unangenehme Belastung. Als Arbeit ohne mehr Lohn als „das gute Gefühl“. Damit verliert sie für mich noch mehr an Wert und Bedeutung. Denn für das, was ich möchte im Kontakt mit anderen Menschen, brauche und will ich sie nicht erniedrigt oder belastet.
Ich will leben, und zwar einfach so. Ich will mich fühlen, mich verstehen, ich will mich selbst in Verbindung mit anderen Menschen fühlen, verstehen und auch er_leben. Dazu gehört, dass ich verstehe, was mir passiert ist. Nicht nur so, wie ich es mir in der Traumatherapie zusammenüberlegen kann – ständig an der Krücke der Interpretation meiner eigenen von Dissoziation und altersbedingter Hirnreife fragmentierten Erinnerungen hängend und den Zweifel stets mit im Gepäck. Sondern so, wie es sich üblicherweise ergibt, wenn man Dinge mit anderen Menschen erlebt hat: Eine teilbare Geschichte, die rund und voll und ganz wird durch die verschiedenen Perspektiven ihrer Beteiligten und so ein Abbild unser aller Lebendigkeit. Daher brauche, wünsche, fordere ich, dass ich von Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden, höre: „Ich habe damals das und das gedacht. Ich hab mich so und so gefühlt. Ich glaube an das und das – deshalb versuchte ich dies und das. Ich finde dieses und jenes schön/schlimm/ängstigend/problematisch/*, also habe ich das und das getan.“ Denn das haben sie alle – egal ob sie mich geschlagen und vergewaltigt oder missachtet und ausgeliefert haben – nie (aufrichtig, in Gänze und Gleichheit) mit mir geteilt. Gleichzeitig konnte ich den meisten von ihnen nie (aufrichtig, in Gänze und Gleichheit) mit.teilen, wie die Situation.en für mich war.en.
Schuld ist in unserer Gesellschaft eine Waffe, die wir alle mit uns tragen. Wer schuldig ist, wird automatisch Schuldner und damit anders. Es entsteht Schamgefühl und daraus der Drang zur Auflösung der Schuld durch Entschuldigung. Wir haben alle gelernt, dass sich zu entschuldigen wichtig ist, aber nicht, wie wir damit umgehen, wenn das nicht funktioniert. Es steht völlig außer Frage, ob man nicht vielleicht auch gut mit Schuld leben kann, wenn man sie akzeptiert und als Teil des Lebens unter anderen Menschen begreift. So nach dem Motto: „Jetzt bin ich schuld am kaputten Teller, morgen ist jemand anderes schuld am Tod eines Menschen, übermorgen sind wir alle schuld am Klimawandel.“ Schuld an sich ist nicht das Problem, das ich mit meinen Gewalterfahrungen bzw. den Täter_innen in diesen Situationen habe. Es ist der Umstand, dass ich über meine Opferschaft in dem Moment beschämt bin und werde, weil sie der Grund für die meisten Benachteiligungen, Krankheiten und Hilfebedarfe ist, während die Täter_innen komplett unberührt davon leben können. Es gibt kein „Heute ich, morgen du, übermorgen wir alle, mal gucken, wie wir damit zurande kommen, vielleicht fällt uns ja zusammen was ein.“ Die Gewalt hat uns getrennt – die Schuld und unsere gewaltgesellschaftlichen Konventionen darum halten uns getrennt.
Ich will mein Leben nicht so gestalten. Ich will nicht getrennt sein von anderen Menschen. Auch nicht von denen, die an mir zu Täter_innen wurden.
Deshalb habe ich das so aufgeschrieben.
Eventuell mache ich damit die Hürde zur Kontaktaufnahme niedriger, das muss ich erfragen, wenn sich jemand melden sollte. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich einfach niemand meldet. Zum einen, weil die wenigsten das Buch lesen werden – zum anderen, weil das, was ich da möchte, unfassbar anstrengend, vielleicht schmerzhaft und für die meisten von ihnen ohne Lohn oder erstrebenswertes Ziel ist. Die wenigsten derer, die an mir zu Täter_innen wurden, haben mich als Menschen wahrgenommen. Vielen wurde ich durch ein bürokratisches System vorgesetzt und also gewissermaßen aufgezwungen. Diese Menschen würden sich vielleicht wegen dieser uns verbindenden Gewalt melden – also, weil sie selbst sich mir gegenüber als Opfer sichtbar machen wollen, die gar nichts dafür konnten, dass sie Gewalt an mir ausgeübt haben. Aber da ich sage, dass ich keine Entschuldigung hören will, entfällt diese Möglichkeit der Gleichmachung.
Das Kapitel ist also wirklich nur das, was ich noch sagen wollte.
Ich habe das aufgeschrieben, damit ich es gesagt habe. Damit es ein Wissen, um diese Möglichkeit gibt. Im unwahrscheinlichen Fall, dass …