Gleichzeitigkeiten

Manchmal sind es Gleichzeitigkeiten, die es mir schwer machen, Auslöser für Traumareaktionen und meine eigenen Fehlschlüsse zu erkennen, obwohl sie mit nur ein wenig veränderter Perspektive unübersehbar sind.
Gleichzeitigkeiten in der Bedeutung von Dingen, um genau zu sein.

Erklärender Ausschwiff, was ich damit meine:
Dass man auch „Verbrenner“ zu bestimmten Autos sagt. Da hatte ich mal eine einigermaßen fürchterliche Zeit, weil ich Verbrennungsvorgänge im Zusammenhang mit Autos nicht vereinbar mit der üblichen Funktionsweise eines Autos empfand. Wenn ein Auto verbrennt, fährt man nicht damit, denn das wäre potenziell tödlich.
Dann habe ich gelernt: Die Fahrzeuge nennt man „Verbrenner“, weil sie im Motor etwas verbrennen, um zu fahren.
Was ich aber brauchte, um eine unfassbare Angst während des Autofahrens nicht mehr zu haben, war eine Einordnung darüber, dass man in einem „Verbrenner“ – ja – in einem Auto sitzt, in dem es brennt (genauer: es einen Verbrennungsvorgang gibt), aber nein – das Auto deshalb nicht automatisch eine Feuerfalle wird, wenn man zu lange damit fährt.
Ja, nein, man macht nicht deshalb eine Rast an Raststätten. Ja, nein, wenn „der Motor überhitzt“, ist das kein erstes Zeichen für eine unkontrollierte Verbrennung, sondern eins für fehlerhafte Kühlung. Ja, wenn die Sonne stark auf die Metallkarosserie scheint, wird sie sehr heiß, aber, nein, der Kraftstoff im Auto kann deshalb weder ausdünsten und wie Gas im Auto entflammt werden – vom Zündschlüssel, den man in das Auto steckt – noch von der Hitze entzündet werden.

Die Gleichzeitigkeit ist in dem Beispiel sowohl die Bedeutung des Wortes, als auch der Schlüsse, die ich damals gezogen hatte. Ich war kein irrational bockiges Kind, das rumspinnt und sich aus Lust am Horror in ein absolutes Katastrophenszenario reinsteigert. Ich habe aus den mir vorliegenden Informationen etwas geschlossen und eine absolut logisch nachvollziehbare Todesangst gehabt, die ich – anders als die Erwachsenen in meinem Leben – weder mit Erfahrungswissen konfrontieren noch mit Vertrauen in meine Bezugspersonen beruhigen konnte.
Bei dem Auto-Feuer-Thema war informierende Differenzierung wichtig, gerade weil es stimmt, dass mit dem Autofahren Feuergefahren bestehen, nur eben nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Ähnliche Differenzierungsbedarfe habe ich bis heute, wenn es um Trigger für traumareaktives Verhalten geht. Nur dass das noch insofern einen weiteren Komplikationsgrad hat, als dass mir meine eigenen Schlüsse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht immer gleich bewusst sind.

Ich habe jetzt den Auslöser für meinen Rückfall in die Essstörung gefunden.
It’s a classic. Drohender Kontrollverlust aufgrund meines aktuellen BMI während meiner Schwangerschaft und unter der Geburt
Für mich mit meinem medizinisch vorbelasteten Autibrain eine absolut klare Kiste: Mediziner *innen haben ihre Werttabellen und daran orientieren sie sich. Punkt. Keine Diskussion. Meine Selbstbestimmung der hill, auf dem ich alleine sterben gelassen werde, weil natürlich niemand jemals wirksam gegen das widerspricht, wozu Ärzt *innen raten. Würde mir ein *e Behandler *in sagen, dass mein BMI irgendetwas nicht zulässt, würde mir niemand beistehen. Ich wäre alleine. Mit einem ausgesprochenen Risiko, das mich vielleicht noch nicht einmal wirklich betrifft, weil der BMI einfach viel mehr zur Messung sozio-ökonomischer und anderer sozialer Diskriminierungsfaktoren taugt als sonst irgendwas. Und es wäre komplett egal, ob ich damit recht habe oder nicht.
Ich wäre allein. Niemand würde mir mehr helfen. Ich wäre in Lebensgefahr.

Schon beim Aufschreiben dieses Absatzes habe ich, ohne es bewusst zu merken, mehrfach geschrieben: „Ich wäre alleine“. Und das, was ich nicht aufgeschrieben habe, hat einfach alle Traumaflaggen auf jedem Erker: „Andere würden mit mir machen, was sie wollen können für richtig/wichtig/angemessen/(mich zwingend) nötig halten, ganz egal, wie das für mich ist.“ „Ich müsste alles mit mir machen lassen, damit mich niemand alleine lässt.“

Da ist sie, diese tückische Gleichzeitigkeit von Gewalt-Trauma und Gewalt-Realität.
Ich habe wirklich und echt so gar keinen Grund, dem medizinischen Apparat grundsätzlich vertrauensvoll zu begegnen. Null. Und gerade im Themenkreis „Schwangerschaft und Geburt“ haben Menschen, die Kinder bekommen können, noch x-mal weniger Grund zur Annahme, im Fall des Falls wäre ihre Selbstbestimmung für irgendwen von Wert. Fast jeder Geburtsbericht einer traumatischen Geburt schreit zwischen den Zeilen in die Welt: „Ich hab zugestimmt, damit ich nicht allein sterbe.“
Da ist immer der Wunsch (und Auftrag und Pflicht und Eid) von Behandler*innen nicht zu schaden und von Angehörigen nur das Beste zu wollen. Und gleichzeitig eine Person, die genau deshalb zu Schaden kommt und die eigene Lebendigkeit (und/oder die des Kindes) als das Beste begreifen soll und in vielen Fällen auch muss.

In genau diesem Dreieck fand das statt, was ich heute als Helfertrauma aufarbeite.
Also jetzt gerade ganz akut. In jeder der letzten Therapiestunden. Ich, Hannah, bin immer wieder extrem aufgemacht an dem Komplex, an dem mein Ich entstanden ist. Als Schutzsystem für eine_n Jugendliche_n, die_r am Helfen anderer Schaden nimmt.
Logisch kommt es zu spontanen Querschlägern, unbewussten Schnellschlüssen, erst einmal nicht nachvollziehbaren Reaktionen, die auch aufgrund des Autismus nicht mal eben einfach mit ein bisschen mehr Reorientierung als sonst containt kriege. Ich bin gleichzeitig in der autistischen Kompensation (die ehrlicherweise auch weitgehend Retraumatisierungsvermeidung ist), der Traumaverarbeitung und in der Traumareaktion.

Ich bin gerade in einem Momentum des Traumaverarbeitungschaos. Das entsteht aus mehr Alltagsamnesien als sonst. Dadurch mehr Anspannung. Dadurch mehr Herausforderung an meine Autismuskompensation im Alltag. Die mich so schon oft über meine Grenzen bringt und mich dünnhäutig macht. Meine Dünnhäutigkeit bietet jüngeren Inneren unerwartet große Fenster in die Gegenwart. Meine Ängstlichkeit über das Gefühl ihrer Blicke durch mich hindurch wird zu einem paradoxen Helfer für mich. Ich habe Angst, sie zu spüren, aber durch meine Angst fühle ich mich sicher. – Wieder so eine Gleichzeitigkeit – Angst haben und so daran gewöhnt sein, dass es mehr Angst machen würde, wäre sie weg, weil ich mich dann nicht mehr sicher im Sinne von zuverlässig fühlen kann.
Und gleichzeitig zu all dem, was allein schon wirklich richtig schwer und zuweilen auch schmerzhaft ist, gehört ein Trigger, der mir – obwohl er mir jetzt unübersehbar erscheint – noch nicht wirklich bewusst war: „Jetzt geht DAS wieder los. Die Klapse und alles. Weil ich mitgemacht hab, aber nicht gut genug. Jetzt knall ich komplett unrettbar durch. Jetzt kann mir niemand mehr helfen.

Jetzt werde ich alleine gelassen.
Eingesperrt.
Mir selbst überlassen.

Ohne jede Möglichkeit, über mich zu bestimmen.

Weil ich zeitweise nicht mal mehr weiß, was ich will.
Was wollen ist.
Wie bestimmen geht.

Es wird eben doch nie enden.

Andere müssen vor mir geschützt werden.
Egal, wie das für mich ist.

Es ist das Beste, wenn ich nicht mehr hier bin.
Ich sollte weg.
Ich muss weg.“

Das hat dann alles gar nichts mehr mit der Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen zu tun, sondern mit der Verarbeitung eines Selbstzustandes, in dem die schwierige Erfahrung nicht mehr nur in mir drin ist, sondern auch im Raum, im Kopf, im Herz meiner Therapeutin und dadurch mit einer anderen Perspektive angeschaut.
Ein Selbstzustand mit neuen bisher ungelebten inneren Zusammenhängen, Selbsterfahrungen und Handlungsmöglichkeiten.
Ich, wir alle als Einsmensch, könnten alles Mögliche machen. Da ist ja was zusammengekommen. Mehr verfügbar als vorher. So ganz objektiv draufgeschaut. Heute ist ja, auch wenn ich mich in diesem inneren Chaos befinde, alles sicher. Alles okay soweit. Und gleichzeitig können wir das noch nicht. Wir können gerade nur, was wir als System jeweils können.

Ich kann richtig kompetent Angst haben und meine Therapeutin anrufen und auf alle ihre Fragen „Ich weiß nicht antworten“, darüber komplett verzweifeln und genau deshalb aber auch präsenter und alltagshandlungsfähiger werden.
Die Anderen können die Kämpfe wieder aufnehmen, die sie damals gegeneinander geführt haben, weil sie gegen nichts und niemanden außen kämpfen konnten. In Form von der Essstörung. Das ist ihr Ding. Ihr Lösungsweg.

Ein Lösungsweg, der schon damals überkomplex war und über zwei andere Systeme hinweg überhaupt gar nichts verbessert hat. Aber etwas sichern konnte. Selbstbestimmung als aktiver Akt. Also etwas, das jeden Tag in bestimmten Handlungen gemacht werden kann.
Selbstbestimmtes nicht alleine Verhungern. Selbstbestimmtes hoffentlich vielleicht an Erbrochenem ersticken. Selbstbestimmter Magendurchbruch. Selbstbestimmter Dauerbauchschmerz. Selbstbestimmte Heimlichkeiten. Selbstbestimmte Schamgrenzen. Selbstbestimmt weggegebene Würde. Selbstbestimmte Zahlenziele. Selbstbestimmte Ideale. Selbstbestimmter Zeitlupensuizid.
0 % Angst. 100 % Kontrolle über die Inneren anderer Systeme, die immer wieder aus ihnen rausbrechen, weil sie um ihr Überleben kämpfen.

Vielesein ist genau diese Art der Gleichzeitigkeiten immer und auf so vielen Ebenen.
Alles ist immer irgendwie verbunden und gleichzeitig komplett voneinander abgetrennt.
Ich kann das alles wissen und trotzdem von genau den Dingen, die ich weiß und über die ich schon tausend Mal gesprochen habe, radikal geschnetzelt werden, einfach nur, weil irgendein bisher nicht so präsentes Innen durch meine Haut sieht und versteht, dass Gewicht immer noch Relevanz in Bezug auf die Selbstbestimmung hat.

„Ja, so wie damals, aber nein, nicht so.“, in einem anderen Szenario könnte ich mich hinsetzen, mich konzentrieren und die Sicherheit vermitteln, das zu erklären. „Schau hier sind die Unterschiede, das läuft so und so … deshalb ist es zwar gleich, aber nicht gleich.
In diesem heutigen Jetzt müssen wir alle, die anderen Inneren und ich alle zusammen, das von anderen Menschen erklärt kriegen. Ich brauche Sicherheiten, die anderen das konkrete Erleben von Selbstbestimmung durch für sie so radikale Akte wie selber etwas (anderes als den Essens/Selbstverletzungs/Suizidschissel) wollen und es dann tun. Wie das geht, müssen wir lernen. Mit Anleitung, denn so etwas hat noch kein Mensch von alleine gelernt.

was es gekostet hat

Ich steige mit der Tür ein. Der gelben Tür, die hinter mir zuschlägt und alles verändert. So beginnt mein Manuskript, weil ich so beginne. Nie kam ich davor. Mir fehlte ein Bindeglied. Eine Idee von mir bevor der Deckel der Station schwer in seinen Rahmen schlug.

Zuletzt haben wir in der Therapie viel Raum dafür gelassen, was mich dahin gebracht hat. Was mich gemacht hat. Zuletzt ging es viel um die Klapsleichen. Davor darum, was es uns gekostet hat, Objekt des Hilfesystems zu sein. Am Ende der Stunde war ich zerschossen von den Querschlägern meiner Gefühle.

„Sie waren absolut am Boden“, hat meine Therapeutin gesagt.
Sie hat in 13 Jahren nur zwei Mal etwas gesagt, das mich in einer Situation ähnlich eindeutig verortet, beschreibt, einordnet.
Jetzt fühlt es sich an, als hätte sie damit einen Keil unter die gelbe Tür geschoben. So, als hätte sie eine Kraft aufgebracht, eine Klarheit hergestellt, um die ich seit vielen Jahren gerungen, doch nie erreicht habe.

Ich kann es auf meiner Haut spüren. Dieses „Vorher“, das wie eine Hitzewand vor der Tür steht und die Eigenschaft hat, mich in eine 14-Jährige zu verwandeln, die nicht weiß, wie ihr geschieht, eigentlich noch 13 ist und diese Tür als entbeinende Schleuse erlebt. Als entkernendes, ent-selbstigendes Moment.
Mein Gefühl ist drückend uneindeutig. Die Erkenntnis aber klar.
Das hat es sie gekostet. Nicht nur die Familie. Die erweiterte Familie. Vermögen. Schulfreund *innen. Die Band. Die Chöre. Die Gemeinde. Die Freund *innen da. Die Nachbarin mit dem Klavier. Die Anarchofriends. Jede Aussicht auf Zukunft. Jeder Raum für eigene Wahrheit. Persönliche Freiheit. Selbstbestimmung.

Es hat sie auch sich selbst gekostet.

vom Erarbeiten von Erinnerungen

Es ist 10 Jahre her, dass es 13 Jahre her war.
Ich erinnere mich an den Tag, an die Situation und daran, wie es mir damals ging. Hier habe ich sogar darüber geschrieben. Ich erinnere mich daran, wie belastend es für mich war, überhaupt zu diesem Termin zu kommen. Die innere Vorarbeit, die äußere Vorarbeit. Ich musste für die Zugfahrt sparen und sparen hieß damals noch, dass ich auf Notwendiges verzichte. Ohne Sookie bin ich dahin gefahren. Dumm aber klug. Ich war ohne jeden Anker, aber die Rückfahrt wäre ein Albtraum für sie geworden.

Ich war allein. Mit dieser Person, die so maßgeblich an dem beteiligt war, was damals passierte. Mit mir, in mir, meinetwegen. Und wie damals blieb ich ungesehen von ihr.
Oder ich konnte die Art, wie sie mir gezeigt hat, dass sie mich sieht, nicht übersetzen. Dann reden wir von einem Gefühl von mir. Einem Eindruck. Einer Erlebensrealität von mir, die zwar passiert und wirkt, aber kein Faktum über die Sache darstellt. Finde ich wichtig.
Obwohl mir ehrlich gesagt lieber wäre, wäre es so einfach, wie es mir mein Gefühl vermittelt. Hier eine unsensible Person, die rücksichtslos ihren Interessen folgt und ignoriert, welches Leid dabei entsteht und da ich, leidend. Klare Grenze, eindeutige Rollen.

Ich leide aber nicht, oder?
Ich kaue daran. Komme immer wieder darauf zurück. Verbringe keinen Monat, vielleicht nicht mal keine Woche, ohne dass ich über drei, vier Ecken dann doch wieder daran denke. Sei es, weil ich helfe oder weil mir geholfen wird. Sei es, weil ich mit der Innenarbeit weiterkomme oder eben genau nicht.
Im Moment schreibe ich mein nächstes Buch. Das wird eine narrative Biografie. Faktisch richtig muss darin nicht alles sein. Es ist meine Erzählung davon, wie bestimmte Dinge waren. Und natürlich stoße ich an dieses Ding. Das inzwischen 23 Jahre her ist und verdächtig stark überhaupt kein Gefühl bei mir weckt, sondern schlicht beunruhigenden Druck durch eine viel zu nah drängende Nebelwand der Dissoziation. Und Loyalitätskonflikte. Verantwortungsfragen.

Wann immer man sich traumatisierenden Erfahrungen widmet, muss man sich fragen, wozu man das eigentlich macht. Dadurch bekommt man Kraft. Eine kleine Lücke zwischen Wahrnehmen und Reagieren, in der man sich einen Plan machen kann. In der man Dämme gegen Erinnerungsfluten und Drainagesysteme gegen Gefühlsstau errichten kann. Es ist einfacher, wenn man ausgestattet und vorbereitet den Hahn aufdreht.
Mein Hahn tropft. Und obwohl ich gewappnet und vorbereitet bin, weiß ich: Der Boden darunter ist bereits komplett und weiträumig aufgeweicht. Der wird mich nicht tragen, sondern einsinken lassen. Es ist unwahrscheinlich, dass ich in Fluten ertrinke oder mit der Masse nicht klarkomme. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass ich nicht mehr da wegkomme und der Hahn wirklich komplett abgebaut werden muss, weil sich ein neuer Standpunkt von mir ergeben hat.
Übersetzt also: Diese Sache sickert schon so lange in mich ein, dass eine Beschäftigung damit etwas mit mir machen wird, von dem ich bereits diffus, unsortiert, uneindeutig, vage weiß. Wahrscheinlich brauche ich den „Hahn“ noch nicht einmal weit zu öffnen, also meine Erinnerungen angestrengt kommen lassen. Sehr wahrscheinlich fluten mich weniger die Erinnerungen als ihre Bedeutung für mich. Ihre Implikationen für viele Aspekte meines Lebens. Die Verantwortung, die ich habe.

Vielleicht schätze ich das jedoch nur so ein, weil ich ein kleines Intellektualisierungsmupfi bin.
Lange über das Ereignis nachdenken und grübeln, das habe ich vor etwa 20 Jahren als Merkmal der posttraumatischen Belastung kennengelernt. Nicht aufhören können, daran zu denken, im Kopf immer wieder die gleichen Brandreden halten, sich immer wieder überlegen, was wäre wenn; was würde gewesen sein, wenn; hätte nicht, würde, wäre wenn … Das ist genau meine Sparte.
Dinge, die ich nicht verstehe, Dinge, die ich nachvollziehen kann, Dinge, die ich nicht vorhersehen kann, Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, Dinge, die ich nicht ändern kann, Dinge, die ich gerne ändern, verstehen, vorhersehen, nachvollziehen, kontrollieren können, würde – alles immer in meinem Kopf. Das ist meine Stärke, meine Ressource, mein Umgang mit allem. Allerdings kann ich das in Bezug auf die meisten anderen Dinge in meinem Leben beeinflussen. Wenn ich eine Idee habe oder einen Plan, dann höre ich auf. Dann hat das Nachdenken keinen Sinn mehr.
In Bezug auf Traumainhalte habe ich diese Kontrolle nicht. Ich komme einfach nie zu einer Idee. Einem Plan. Das ist, weshalb es klug ist, mit anderen darüber zu sprechen. Alle gemachten Gedanken auszubreiten und mit jemand anderem darauf zu schauen. Dafür ist es sinnvoll, alle gemachten Gedanken zu kennen.
Ich kenne nur meine Gedanken. Die der Anderen in mir noch nicht.
Und deren Gefühle? Die auch nicht. Nicht wirklich.

Am Ende dieser Arbeit werde ich haben, was man „kohärente Erinnerungen“ nennt. Ich werde sagen können, dass ich mich nach 23 Jahren endlich klar erinnere. Und es wird klingen, als hätte ich mich dafür entschieden, weil es mir jetzt in den Kram passt. Oder als ob da vorher nichts gewesen wäre, kein Problem, kein Grauen, kein Trauma – aber dann plötzlich doch.
Und in Wahrheit habe ich die ganze Zeit immer wieder und wieder und wieder Erinnerungen daran gehabt. Immer und immer und immer wieder darüber nachgedacht und versucht sie zu be.greifen, zu ordnen, mich selbst zu verorten in Bezug dazu, ohne den persönlichen Standpunkt zu verlassen, auf dem ich mich sicher fühle.

Seit 10 Jahren geht das so. Mindestens. Denn die Reise vor 10 Jahren war bereits ein Versuch, aus dieser ständigen Kreiselei herauszutreten. Und ja, das ist mein Leiden darunter im Kern. Nicht, dass es passiert ist, nicht, dass ich einer gewissen Verantwortung nachkommen muss, wenn ich diese Erfahrung öffentlich teile, sondern, dass ich bis dato nicht aus mir selbst heraus klären, be.greifen, ordnen und abspeichern konnte. Ich war so allein, als es passierte, wie ich allein war, als ich versuchte, es zu begreifen. Und auch hier wieder: kein Faktum, sondern Erleben.

Vor 10 Jahren bin ich allein losgezogen, um das zu klären.
Heute habe ich andere Möglichkeiten.

so

Jemand soll

bloss nicht

kommen.

Eine Traurigkeit. Eine Agonie so dicht, dass es sich nach Ersticken anfühlt.
Eine sumpfige Schicht unter meinem Alltagstrallala.
Wenn ich mit mir allein bin, quillt sie durch die Risse in meinem Selbst.
„Ein anhaltender emotionaler Flashback“ Schlaubi-Hannah sitzt in ihrem Intellekt-Gummiboot und nutzt jede Gelegenheit, um den Auftrieb zu erhöhen.
Der emotionale Flashback, das Kernstück der komplexen PTBS. Das Ding, das eigentlich alles an dieser Therapie, diesem Leben, diesem Heilen so schwer macht. Der Kack, den man so schwer vermitteln kann an Leute, die weniger Schattierungen von Elend und Leid kennen. Der Scheiß, der nur entstehen kann, wenn es nicht nur einmal kurz schlimm war. Sondern

eigentlich,

in Wahrheit,

wenn man ehrlich ist,

LEIDER,

egal, wie es dann im Einzelnen, Konkreten war,

immer

immer

immer

(((schlimm)))

war.

Das Wissen um dieses Symptom macht den Boden von meinem Gummiboot durchsichtig. Ermöglicht mir Sichtkontakt. Gibt mir die Chance, einen Bezug herzustellen und zu erkennen, wo er spontan passiert ist. Was der Auslöser war und was ein Auflöser sein könnte.
Wenn es um emotionale Flashbacks geht, brauche ich nicht überlegen, ob es ein Geräusch, ein Geruch, ein Gegenstand, eine soziale Situation war, die sie ausgelöst hat. Ich muss wissen und verstehen, wie sich für mich angefühlt hat, was ich erlebt habe. In meinem Alltag. Meinem Jetzt. Sonst ergibt es keinen Sinn und ist nur verwirrend und belastend.

Es hat mit der Operation angefangen. Schon vorher. Ein bisschen. Wie eine Welle von seichtem Gewässer. Weit weg. Schwach. Zu wenig für meinen Relevanzrahmen. Zu wenig für mich, um zu begreifen, dass jemand in mir, ich, etwas fühlt. Jemand soll – bloß nicht – da sein. Kann bitte – auf gar keinen Fall – irgendjemand – NIEMAND – mich – sehen? Wer kommt? Wer kommt nicht? Kommt jemand? WER? Was passiert? Passiert DAS? Nein Ja Immer immer immer für immer immer immer seit immer immer immer
Und als mein Stein im Schuh, der in Wahrheit ein Gebirge ist, zu einem Lehmklümpchen geworden war, wurde aus der kleinen sachten Welle – dem Wellchen irgendwo im fernen Traumascheißeland – eine Überschwemmung, die ewige Sümpfe hinterließ. Ziehend kalte klamme Sumpftraurigkeit. Schwappende Lähmung. Unendlich tiefes Elend. Verlassenheitsgefühle, die sich wie ätzendes Gas anfühlen. Wie eine ganz eigene Todesfalle.
„Es wird niemand kommen“, das könnte so gut helfen, wenn es helfen würde. Aber es soll ja jemand kommen. Jemand soll ja da sein. Nur nicht so. So

so

SO

wie immer

damals immer

In diesem Sumpf k.lebt nicht nur ein Innen. Ein Opferkind. Ein Kinderinnen im Traumafreeze. Eine einzige Erfahrung, die ich prozessieren muss. Ein Blick, ein Reality-Check und zack bumm trilili sigh of relief.

Das ist etwas, das ich aus meinem Leben kenne und runterdrücke bis ich nicht mehr kann. Dann breche ich kurz zusammen und gehe weiter. Weil keiner kommt. So wie ich das brauche. Will. Möchte.
Ich kann nicht vorleben, wie der Umgang sein könnte. Wie diese Traurigkeit, diese wirre Widersprüchlichkeit zwischen Wollen, Durchhalten, Aushalten, Warten, Hoffen und Wünschen, Realitäten, Ängsten und Nöten, irgendwie geklärt werden kann. Wie die weggehen kann. Denn in meinem Leben geht sie – in Bezug auf ganz andere Sachen – weit weniger traumatische Grauenhaftigkeiten – ja auch nicht weg.
Außer mir ist niemand

so

für mich da.

Das ist nicht genug für eine Auflösung.
Aber das kann ich durch die kleine Scheibe in meinem Gummiboot vermitteln. In den Sumpf einsickern lassen.
Ich bin da.
Ich bin so.

So wie jetzt.

mit Kraft, ohne Zucken

„Eigentlich geht der aber noch“, denkt eine sachte Wolke über meine Schulter hinweg. Er, der dunkelblaue Wäscheoktopus aus Kunststoff, den mir meine Eltern bei unserem letzten Kontakt geschenkt haben. Das ist 14, vielleicht sogar 15? Jahre her. Ich drücke ihn tiefer in den Gelben Sack.

Im Badezimmer hängt nun eine neue kleine Wäschespinne am Kippfenster. Aus Edelstahl. Geschenkt vom Freund, Partner, Ehemann.
Der uns vorhin mit Quatschmachen über ein Christkind, das er gerade beim Einbruch in unser Wohnzimmer beobachtet hätte, kurz vor den Lachkrampf gebracht hat. Und gleich, das weiß ich aber noch nicht, unser Lieblingsspiel mit uns spielen wird, bevor wir sein Lieblingsessen zu Weihnachten kredenzt bekommen.
Ich denke an die Bettwäsche, die mir meine Tante zum 18. Geburtstag in die Wohngruppe geschickt hat. Dunkelblau, mit einfachem Sonne, Mond und Sterne-Muster. Längst nicht mehr Biber, seit Jahren zunehmend löchrig. „Die geht noch“ schwappt es nach jeder Wäsche, jedem Trocknen, jedem Zusammenlegen, jedem Neuaufziehen über mich drüber.
„Es war ein beknacktes Geschenk für einen 18. Geburtstag.“, „Aber es war eins. Hätte ja auch nichts kommen können.“, „Ja, ich habe das eigentlich nicht verdient.“ Ich schließe die Tür zu diesen Inneren. Ich will sie nicht fühlen, will mich nicht so fühlen.

Diese kleinen Alltagsgegenstände, die sich in jedem Haushalt ansammeln, irgendwann einfach wegkönnen und eben nicht mehr wegmüssen, weil sie wegsollen. Weil eine Therapeutin, Betreuerin, Helferin, Vertraute, Freundin argwöhnt, ob an dem Geschenk ein geheimer Code klebt. Ein impliziter Imperativ, der mich zur Kontaktaufnahme zwingt. Weil ein Therapiekonzept erfordert, nichts Verbindendes zu früheren Täter_innen zu besitzen.
Ich habe in der Verweigerung, diese Dinge wegzuschmeißen, meinen ersten Aufstand geübt. Mein erstes „Nein, du, ihr könnt mich mal – ICH entscheide das!“, gedacht, gefühlt und dann auch gemacht. Und gewartet, was sie machen würden. Mich verletzen? Oder nur rausschmeißen? Wegstoßen? Verlassen? Mir nicht helfen? – Wäre eh passiert. Mich zu halten, war nie möglich, egal, was für ein liebes Mädchen eine liebe Patientin ich gewesen wäre.
Am praktischen Ende meines Leidensdrucks hatte ich einen Haushalt, den ich mit Hartz-4 bestreiten musste, nachdem ich ihn mit der absurd niedrigen Erstausstattungspauschale aufgebaut hatte. Mit 18. Nach etwa 4 Jahren Heim-Klapse-Ping-Pong und einer Symptomatik jenseits von stabiler Entscheidungsfähigkeit. Kleinigkeiten, die bei solchen Aufforderungen zur Bereinigung Befreiung Entfernung von solchen Dingen nie wirklich eine Rolle gespielt haben. Komisch eigentlich. Dabei ging es doch immer um mein Bestes. Alles haben, was ich ganz banal und alltäglich brauche, gehörte irgendwie kaum dazu.

Mein Handy zeigt eine Nachricht mit Foto. Eine zweite Freundin hat ein Päckchen von mir unter ihren Baum gelegt. Eine dritte hat ein Briefchen von mir bekommen. Mein Partner hat auch Geschenke von mir bekommen. Und ich kann trotzdem Ende dieser Woche zum Chaos Communication Congress fahren. Und muss mich nicht einschränken. Brauche keine Geschenke, um mich zu versorgen. Jetzt sind Geschenke einfach immer schön. Und ich kann Menschen, die sich über meinen Besitz und ob ich ihn haben sollte auslassen, sagen, dass sie anmaßend und grenzüberschreitend sind. Mit Kraft in Brust und Bauch. Ohne Zucken.

Deshalb kann er weg. Der Oktopus.
Wenn jemand guckt, um zu prüfen, ob er noch da ist und wir es überhaupt wert waren, können wir ja sehen, wie es um Kraft und Zucken bestellt ist.

Der kleinste einsame Ort

Sookie war 8, als ich bemerkt habe, wie nah sie mir war.
Dass sie den Unterschied gemacht hat zwischen „frei sein“ und „frei leben“.
Dass ich mir in ihrer Anwesenheit ein Gefühl von Ankommen und Sein zugestehen konnte, das andere Menschen mit ihrer Familie, ihren engen Freund_innen und Verbündeten haben.

Sookie ist jetzt seit fast 6 Monaten tot.
Und ich fühle mich so verlassen und einsam, dass ich mir den Käfig zurückwünsche, in dem ich früher so viel Zeit verbracht habe. Manchmal auch mit Sookie. Vor dem Rausgehen, weil ich Angst vor Gesprächen mit anderen Menschen hatte. Nach dem Rausgehen, weil mich der Selbsthass über mein Sein und Sprechen mit anderen Menschen innerlich verbrannt hat. Vor Betreuungsterminen. Nach Betreuungsterminen. Vor der Therapie, nach der Therapie. Jeden Tag während des ersten Ausbildungsjahrs.

Mit der Partnerschaft mit meinem Mann und den ganzen Entwicklungen, die sich daraus ergaben, habe ich den Käfig immer weniger gebraucht. Es hat sich immer weniger so angefühlt, als bräuchte ich einen Ort, an dem die Welt und ich in sicherem Abstand voneinander existieren. Ich habe die Blase von Sookie und mir für ihn erweitert.

Und jetzt ist da keine Blase mehr.
Wenn wir uns jetzt missverstehen, dann ist da nichts mehr, das mich in meinem Bindungsgefühl hält. Da ist der gleiche umfassend vernichtende Selbsthass, wie ich ihn im Kontakt mit jedem anderen Menschen in so einem Moment hätte. Da ist der gleiche Impuls zur Selbstvernichtung wie früher. Nichts, das sicher erscheint. Nichts, das Halt gibt. Kein Momentum in Bewegung. Nur die absolute Frei-von-heit im unendlichen Raum dessen, was man nicht vorhersehen, nicht überblicken, nie sicher wissen kann.

Da ist nur noch Erinnerung. Imagination.
Eine Blase in der Seele. Der kleinste einsame Ort.

das Wiedersehen

21 Jahre und eine Handvoll Zeitspaghetti.
So lange haben wir uns nicht gesehen. Wobei wir uns nie zuvor gesehen haben.
Und doch standen wir da am Bahnhof in den Armen der anderen, wie man das am Bahnhof oft sieht. Wenn der Lauf der Dinge zweier Menschen zu einem gemeinsamen Strom wird und sie sich in wirbelnd strudelnden Gefühlen halten. So standen wir auch da. Z.s Freundin C. und ich.

Wir waren Klapsfreundinnen mit Fastaussicht auf Draußenfreund_innenschaft, aber dann passierte alles Aber und wir verloren uns. Bis wir uns wiederfanden, aber nicht halten konnten. Bis wir es dann endlich doch konnten.

Ich lebe mit dem Bild von mir als fürchterlicher Teenager. Eingebildet, rücksichtslos, übergeschnappt, gemeingefährlich. Sehr unreif. Sehr affektgetrieben. Unsozial im Allgemeinen, berechnend und kalt im Speziellen. Im Grunde so, wie ich mich bis heute fürchte und bekämpfe zu sein oder zu wirken.
Dass wir bis auf J. und C. keine Freund_innen hatten und auch in der Kindheit für ein halbes Jahr nur eine L. eine Rolle spielte, war für mich immer darin begründet. Heute kann ich diese Freund_innen alle als mir ähnlich neurodivergent und im familiären Bereich verletzt erkennen.
Kommen ein Auti und ein_e ADHSler_in in ’ne Bar, gehen sie mit einer Start-up-Idee oder einem Heiratstermin wieder raus – das klingt nach einem Gag, ist aber keiner. Nicht wirklich. In meinem Leben ist das der rote Faden für fast alle meine Kontakte und Freund_innenschaften. Schade, dass ich das erst mit 30 gelernt und verstanden habe. Und mir erst heute so wirklich richtig anzunehmen traue. Schade auch, weil ich mit meinem Bild, meiner Erzählung von mir auch immer meine damaligen Freund_innen schlecht gedacht habe. Wie bekloppt, wie grundkrank, wie niedrig muss ein Selbstbewusstsein sein, um gerne mit mir Zeit verbracht zu haben – das tut sich doch niemand mit Rückgrat an, niemand, dem alle Uhren richtig ticken.

In meinem Lauf der Dinge ist das Bedauern darüber drin. So umarmte ich C. mit einer Entschuldigung in Gedanken und dem Gefühl des „Kurz vorm Auseinanderfallens“ von Z., die ob der Umstände des Wiedersehens so gut wie gar nicht klarkam. Ihre Freundin, sah noch aus wie ihre Freundin, war – ist – ihre Freundin, aber nicht so. Die 22 Jahre mit Zeitspaghettirändern haben sie groß und erwachsen gemacht. Zeitliche Orientierung mit dem Vorschlaghammer.

Wir haben 3 Stunden durchgehend gesprochen. Abriss Biografie seit 2002, Abriss Therapieweg bis heute. Ist heute alles gut? Besser? Anders? Wie gewollt? Wann hat man angefangen zu wollen? Will man müssen oder nicht? Was ist jetzt wichtig? Kurzer Check, ob wir einander vergleichen – gegenseitige Versicherung, dass diese Phase jeweils vorbei ist. Erleichterung. Gut fühlen. Eis essen. Verabschieden, mit Ideen, wie wir uns öfter sehen können.

Ich glaube, C. ist heute 36. Ich 37. Wir hatten die gleiche Psychologin in der Klinik.
Und heute begegnen wir uns in fast verwundertem Stolz darüber, dass wir überhaupt noch leben. Als hätten wir nur Glück gehabt, obwohl wir beide wissen, dass wir hart dafür arbeiten mussten und diese Arbeit nicht als „für immer fertig getan“ betrachten können.

Im Zug merke ich erst, wie voll und wie vermischt ich bin und was ich aufschreiben muss, damit ich es nicht verliere. Meine Therapeutin kriegt es ab. Ich hoffe noch im Rahmen und spüre der Abwesenheit von Angst dabei nach.
Es hat sich wirklich unfassbar viel verändert. Seit 2002, aber auch seit 2012 und 2015 und 2017 und 2020 …

Getriggert.sein

„Aufgewühlt“, das Wort brachte mein Partner ein, als ich ihm sagte, was in mir vorging. Ja, „aufgewühlt“, das kam diesem Gefühl nahe. Blubbernder, wälzender Treibsand, der mich in ein unendlich dumpfleeres Blaugraugrün ziehen würde, wenn ich ihn nicht bald verlasse.

Mir gefällt es, wenn ich neue passendere Worte unter den Bedeutungsschirm „getriggert“ schieben kann. Denn was soll das denn eigentlich sein „getriggert“? Doch immer nur „angestoßen“, „berührt“, „ausgelöst“ … und – „angefasst“ im unangenehm nahen, wahrhaften Wortsinne.
Ich aber war verwirrt, uneindeutig, innerlich hin- und hergeschoben zwischen Er.innern und Er.wachsen. Wusste, dass der Text, den ich lektorierte, nicht deshalb triggerte, weil er Vergewaltigung zum Thema hatte, sondern, weil ich vergewaltigt worden bin und seine Inhalte meine harte Alltagsschutzschale berührten.
Eine auslösende Berührung, das ist ein Trigger. Die Triggerreaktion ist alles danach.

„Ich bin getriggert“ wollte und will ich auch heute nicht sagen. Ich bin nie getriggert. Ich bin nie die Reaktion auf einen Trigger. Ich bin das Ergebnis einer Trigger.reaktion – in meinem Selbstempfinden aufgrund der DIS und selbst das eigentlich nur gewissermaßen – aber „getriggert“ ist kein Adjektiv für mich.
Es ist ein diffuser Begriff, genutzt als soziales Adjektiv. Gemacht nur, um anderen zu sagen, dass man gerade „was mit Trauma hat“, aber nicht, was. Eine widersprüchlich anziehend abstoßende Kommunikation.

In mir waren mehrere Prozesse ausgelöst worden.
Vor dem Tag, an dem ich den Vergewaltigungstext bearbeitete, hatte ich in dem Buch „Ist das okay?“ gelesen. Ein Kinderfachbuch zum Thema des sogenannten „sexuellen Missbrauchs“. Darin gibt es Texte und Fragen, die man sich offenbar selbst irgendwie beantworten muss. Wie, dahinter bin ich bislang nicht gekommen. Die Antworten stehen nicht im Text. Oder ich habe die Texte nicht verstanden. Oder mir fehlen bestimmte Eckpunkte im Grenzverständnis. Oder ich habe dieses Buch lesend zeitweise keinen Zugang zu meinem erwachsenen Grenzverständnis, weil mein kindliches Grenzverständnis irritiert, verwirrt … aufgewühlt … berührt und aktiviert wird. Vom Thema. Vom erinnernden Thema.

Der feste Boden unter den Füßen meines Gemütes war also schon in Bewegung. Oder – weniger so formuliert, als wäre mein Gemüt ein eigenständiges Wesen, das sich meiner Kontrolle entzieht, was es mir leichter machen würde, mich in der Traumawahrheit zu bestätigen, dass ich eh nie Einfluss auf mein Empfinden (oder irgendwas sonst) habe –
Ich war bereits in einem geistigen Prozess von Verarbeitung, von Neuordnung, von Konfliktbewusstsein und – lösung.ssuche. Logisch, dass meine Alltagsschutzschale nicht die 100 % meiner Energie bekam. Sie war nicht so stabil, ich war nicht so stabil. Ich war nicht mehr hart und starr – sicher wie ein Leuchtturm im Sturm oder Grundmauern in der Erde – sondern in Bewegung ohne Plan, Struktur, Halt, Anfang, Ende. Eine Bewegung, die von Natur aus sehr viel Ähnlichkeit mit dem todesängstlichen Greifen ins Leere, dem Schreien in globale Stille, dem Leiden ohne absehbares Ende des Traumas hat.
„Ich bin getriggert“, sagt überhaupt nichts über diese Bewegungen aus. Nichts über die mühevolle Konzentration in die Ruhe hinein, die man im Umgang mit dem mentalen Treibsand des Traumaerinnerns braucht. Das so viel anstrengendere ruhig in die Luft Reinatmen, statt in sie hineinzuschnappen. Nichts über das Misstrauen gegenüber den eigenen Gedanken zur Situation, das einerseits zwingend nötig ist, um Traumawahrheiten zu erkennen und andererseits ohnehin schon immer so sehr da war, dass man eigentlich nie weiß, welcher Gedanke nun richtig ist und welcher nicht.

„Getriggertsein“ bedeutet für zu viele Menschen zu viele unterschiedliche Dinge. Es ist keine zuverlässige, keine konkrete, sichere Zustandsbeschreibung. Der Begriff kann nur der Zuordnung dienen. Und auch das nur in sozialen Kontexten, in denen ein kongruentes Verständnis vom Zuordnungsrahmen besteht.
In einer Welt, in der der Begriff des Triggers aber beliebig und willkürlich genutzt wird, kann er eigentlich nur der eigenen inneren Ordnung zuträglich sein. Er kann helfen, eine erste Grundordnung vorzunehmen. „Hier das Okaysein, hier das Getriggertsein, dort das Happysein.“ Oder: „Hier das Freundinsein, hier das Getriggertsein, dort das Richtigsein.“
Geben wenige zu, aber ja, hier deute ich an, dass „Getriggertsein“ auch eine soziale Rolle bekommen kann. So etwas passiert und viele schauen verächtlich darauf, weil sie es gleichsetzen mit einer Opferidentität. Die man als Opfer aus Gründen des Ableismus niemals entwickeln, haben oder verkörpern soll – obwohl genau das in dem Prozess der Bewegung, der Verarbeitung einer Berührung (von einem Trigger) mit den Menschen passiert, ob sie wollen oder nicht.
Für mich ist die innere Ordnung wichtig. Auch meine innere Zu.ordnung.
Deshalb schätze ich es, wenn mir neue Worte zur Beschreibung angeboten werden. Wie „aufgewühlt“.

Ich meine – wie großartig ist, dass man Dinge auch mit vielen Worten eingrenzen und konkretisieren kann? Wie schön, dass es nie nur des EINEN Zauberwortes bedarf, um zu vermitteln, auszudrücken und durch das Sprechen auch zu verkörpern, was man aus.sagen will? Wie gut, dass man nicht auf bloße Substantivierungen des Traumasprechs setzen muss, um traumabedingte Belastungen sichtbar zu machen.
Man denkt so oft, dass man besondere Worte für diese besonderen (diese besonders schlimmen, unangenehmen, peinlichen, unfasslich, unendlich erscheinenden) Gefühle, Gedanken und Erfahrungen wählen muss, aber das stimmt überhaupt nicht. Man muss nur die finden, die passen und die, die verstanden werden.
Und anerkennen, dass das manchmal nicht die gleichen sind.

Verantwortungsedition

Der letzte Text von Paula Rabe hat es mir bewusst gemacht. „Trauma und Erinnerungen“ heißt er und enthält viele Fragen. Vielleicht fast alle Fragen, die seit nun über 21 Jahren mein Leben mit.bestimmen.

In meinem letzten Text versuchte ich auszudrücken, wie es mir im Moment damit geht, mich mit meinen Erinnerungen zu befassen. Ich schrieb, dass ich froh bin, fortfahren zu können. Auch aufhören zu können, darüber nachzudenken. Zu interpretieren. Puzzlestücke aneinander zu halten, zu suchen und doch nie mit Sicherheit über Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, ~Echtheit~ zusammenzufügen.
Einer der wichtigsten Therapierfolge.
Ich kann diesen Prozess – grob, vage, nach einiger innerer Justierung und gestützt auf innere Konzepte, die mir Halt und Stütze geben – selbst bestimmen. Ich kann beeinflussen, wie lange er dauert. Ob ich ihn beworte. Ob ich ihn hinnehme, normalisiere, abperlen oder eindringen lasse – oder auch nicht. Das ist sehr viel wert, denn das Ausgeliefertsein an unkontrollierbares Erinnern hat lange den Großteil meiner posttraumatischen Belastung ausgemacht.

Dabei ging es aber nie nur um das implizite immer-wieder-erleben von Ohnmacht, ausgeliefert und hilflos sein, das damit einherging. Auch die Unmöglichkeit, sich darüber kohärent ausdrücken zu können und das eigene Nichtverstehen waren sehr belastend.
Und sind es zuweilen heute noch.
Neben aller Puzzlearbeit. Neben der Akzeptanz des Umstandes, dass mehr als Puzzle nicht verfügbar ist.

Nach meinem letzten Text habe ich darüber nachgedacht, ob ich wirklich mehr wissen will. Ob ich mehr zulassen will. Ob es übersteigertes Selbstbewusstsein und Eitelkeit oder auch von mir annehmbar normal ist, das eigene Bild von Kindheit, Jugend und Selbst – wenn man es sich schon selbst irgendwie herstellen muss – von so schwierigen, schrecklichen, fürchterlichen Dingen freihalten zu wollen.
Bin ich traumaphobisch oder gewaltvermeidend? Finde ich mich zu großartig, um zurückliegende Momente von Demütigung und Würdelosigkeit in meinem Leben zu akzeptieren? Oder habe ich Angst davor, dass der Täter_innenwille sich durch meine Akzeptanz realisiert und mit meinem Fleisch verkörpert?
Ich bin zu keinem abschließenden Punkt gekommen.

Mir ist aufgefallen, dass ich grenzenlose Aggression in mir anstoße, wenn ich versuche mich ernsthaft zu widmen. Und wenn ich mich gar nicht widme. Und wenn ich mich anschleiche. Und wenn ich so tue, als würde es mir nicht um mich gehen. Wenn ich etwas davon aufschreiben will. Oder ich beobachte, wie meine Therapeutin etwas davon aufschreibt. Wenn es um die Wahrheit geht und wenn die Wahrheit scheißegal ist.
Also eigentlich, irgendwie, immer.

Dies und mein Wunsch, mein so klassischer Wunsch einer ANP, nach einer Zeit der Fraglosigkeit. Die sind mein Fallstrick.
Ich will meine Ruhe. Immer noch, wie schon immer. Ich will Ruhe im Kopf, Ruhe im Leben. Ich will, dass das alles nie war. Von mir aus mit Lüge. Mit reinsteigern und glauben bis in den Tod. Mit: „Alles war okay, nur ich halt nicht. Naja. Hätt schlimmer sein können. Jeder Tag bringt was zum dankbar sein, tüddelü.“ Ich kann so leben. Die anderen in mir halt nicht.
Blöd.

Und damit bin ich konfrontiert, wenn ich heute etwas erinnere – oder erinnern könnte, wenn ich es denn zulassen würde.
Ich weiß, dass ich mit meiner Aggression verantwortungsvoll umgehen muss. Also umgehe ich sie.
Vermeidungstanz „Verantwortungsedition“.
So kann ich sie natürlich nicht mit jemandem teilen. So kann ich sie nicht lösen. So kann ich nichts erfahren. So kann ich nichts lernen. Aber schützen, bewahren, Zeit und Raum zum Finden von alternativen Zugängen schaffen. Denke ich. Rede ich mir ein. Weil mir etwas anderes nicht bleibt.

Denn ja, mit vielen Gefühlen muss man nicht allein bleiben. Auch ich nicht.
Aber damit schon.
Die Monster, die bösen Mädchen, sie sind einfach nicht kompatibel.
Für mich ist das fraglos.
Traumawahr.

Fortfahren

Für mich war es okay, für die Kinder der absolute Horror. Und so dann irgendwann auch für mich. Schwankende Netzabdeckung, kein Telefonnetz. Keine Fluchtmöglichkeit aus meinem eigenen Kopf, der Körper erschöpft vom Radfahren den ganzen Tag.

Eigentlich das, was ich die ganze Zeit wollte. Nur nicht in so einem Moment. So einem Moment wachsender Überzeugung, dass die Erinnerung eigentlich doch die Gegenwart ist, weil so vieles gleich ist. Nicht nur Um- und Gegenstände, sondern auch das Gefühl. Die Angst, die Starre, die Fluchtunmöglichkeit, der unerträgliche Zwiespalt über den Sinn und Unsinn nach Hilfe zu rufen, weil ja NOCH nichts passiert ist, aber mit Sicherheit bald. Was ja aber in der Regel belächelt, abgetan, nicht verstanden, nicht einmal geglaubt wird. Heute wie damals.

Ich bin süchtig. Seit ich 15 Jahre alt bin, sind Beruhigungsmittel mein allgemein legitimierter Fluchtweg. Selbstverständlich reise ich mit Tabletten im Gepäck. Und auf jeden Fall habe ich uns aus diesem Zustand rausgeschossen. Richtig weit weg. Nirgendwohin.

Am nächsten Morgen überlegte ich, wovor ich da eigentlich flüchtete. Es sind die Gefühle, ja, aber doch auch die Gedanken. Die Schlüsse, zu denen ich kommen könnte, würde ich mehr über dieses eine spezielle Kapitel in meiner Gewaltgeschichte wissen. Die Urteile, die ich fälle, obwohl sie mir nicht zustehen. Die Ungerechtigkeit in all dem, die mit nichts, von nichts und niemandem irgendwie ausgeglichen werden kann, weil Gewalt einfach keiner Sachlogik folgt, sondern sich selbst.

Das ist womit ich bis heute keinen guten, gesunden, wohlwollend, ruhenden Umgang habe. Der Umstand, dass es SO scheißegal ist, was ich eigentlich erinnere und wie kongruent oder beweisbar – am Ende ist es immer nicht wiedergutmachbar, weil es kein gutes Vorher gab. Jedes Erinnern ist ein Klecks mehr auf der Scheißekleckerburg. Und die steht nicht an einem Meer, das sie abträgt.

Aus Erinnerungen an Gewalterfahrungen kann man keine Waffe machen. Keine Werkzeuge, nichts. Nichts, was wirklich nutzbar ist. Außer als Gegenstück, als Grenzpfeiler sozusagen.

Ich wollte und will irgendwie noch immer meine eigene Geschichte kennen. Alles davon. Weil ich annehme, dass ich dadurch vollständiger werde. Aber ich will mich nicht wissentlich und willentlich mit Scheiße vervollständigen. Ich will nicht Teil davon gewesen sein und dann auch noch für immer bleiben. Und darüber denken, was die Kinder denken. Und schon gar nicht fühlen, was die Kinder deshalb und dazu fühlen.

Über mir fliegen Gänse in Formation. Die Sonne scheint, die Luft ist kühl und feucht. Ich bin froh, dass die Nacht vorbei ist. Dass ich, im wahrsten Sinne des Wortes, fortfahren kann. Dass es eben doch meine Wahl ist und bleibt, wie und wann und wozu ich mich dem Erinnern widme.