Umstellung #Coronatagebuch

Die Fahrt ins Krankenhaus war merkwürdig. Der Himmel blau, die Sonne so warm, als würde sie etwas mit dem Boden vorhaben.
Mein Partner fragte, ob er sich ein Taxi rufen sollte. Ich sagte nein. Und als ich ihn kurze Zeit später fragte, in welchem Krankenhaus er liegt, sagte er, er könne auch mit dem Taxi kommen. Da war ich schon über die Hälfte der Strecke gefahren, hatte meinen zweiten Weinüberfall des Tages kompensiert und war damit beschäftigt, nach meinen Freudengefühlen über seine Entlassung zu suchen.

Schwer atmend blinzelte er in die Sonne. Über sich das Dach des Krankenhauseingangs wirkte er klein und verschrumpelt. Der Weg zum Auto fiel ihm schwer, der Frust, die Angst der letzten beiden Wochen quollen Vorfall für Vorfall aus ihm heraus. Meine Annahme, dass ihn der Mangel töten würde, war richtig. Wäre er kein mittelalter, sondern ein alter Mann gewesen, wäre er gestorben. Wie unser Nachbar Ende letzte Woche. Ebenfalls Covid-19. Ebenfalls beidseitige Lungenentzündung.
Dass mein Partner die zusätzlich zu seinen Lungenembolien hatte, erfuhren wir erst durch den Bericht zur Entlassung. Denn es gab einfach keinen Informationsfluss. Niemand hatte einen umfassenden Überblick. Niemand hat die Verantwortung für das Leben meines wundervollen Partners übernommen. Alle haben sie nur für den eigenen kleinen Bereich funktioniert.

5 Rezepte mit der Aufschrift „Entlassungsmanagement“ an Bord fuhr ich zur Apotheke. Eine Strecke, die ich noch nie hin und zurück gefahren bin und erst herausfinden musste. Zeitweise war das, als wäre ich durch die Windowslandschaft gefahren. Völlig irre.
„Das ist jetzt sicher viel für Sie beide, hm? Eine große Umstellung.“ sagte die Apothekerin hinter dem Berg an Medikamenten und Gerätschaften hervor. Der Partner hat einen Covid-19bedingten Diabetes entwickelt.
Ja, das ist eine Umstellung. Eine, in der ich meine Rolle noch nicht kenne. Eine, aus der mich mein Partner raushalten will, wie er mich aus all seinen Krankheitssachen raushalten will. Eine, die mich einer ähnlichen psychischen Belastung aussetzt, wie in der Woche vor seiner Einweisung ins Klinikum. Sehen, hören, riechen, fühlen, wissen, dass da etwas nicht stimmt – aber Abstand halten. Nichts fühlen, nichts denken, not my monkeys, not my business.

Ich bin unserem Alltagsleben manchmal sehr nützlich, weil ich ein gutes Gehör habe. Ich höre seinem Atem an, ob es ein feuchter oder ein angestrengter Tag ist. Ob er schon inhaliert hat oder nicht. Als er in seine zweite Covid-Woche ging, war er schon längst zu schlapp und mental nicht mehr in der Lage, diesen Anlass meiner Todesangst um ihn zu verstehen. Und es war meine Unfähigkeit, der Arzthelferin in der Hausarztpraxis klarzumachen, dass hier etwas absolut nicht „typisch Covid“ läuft, die ihm nicht schon früher einen Arzt ans Bett gebracht hat.
Als er dann selbst um einen Arzt bat, habe ich in mir eine Tür zugemacht. In meiner Welt kam das viel zu spät. Ich war darauf eingestellt, dass er stirbt. Meine Umstellung in dieser Situation ist also eine ganz andere. Auch in mir selbst. Denn natürlich haben nicht alle wie ich gefühlt und gedacht. Aber was wissen die denn von meinem Alltag hier und heute? Und wie kohärent wissen sie das?

Die Apothekerin erklärte mir, was im Umgang mit den Lanzetten, den Pens, den Sticks zu beachten ist. Schrieb die Dosierung auf jede Schachtel und steckte sie in einen Stoffbeutel. Um mich herum einige andere Menschen.
Ich der einzige mit Maske auf.
Den Umgang damit werde ich weiter irgendwie allein hinkriegen müssen.

und dann die Wahrheit

Es ist eine erwartbare Entwicklung.
Rot-schwarze Kuttenmänner und übergeschnappte Therapeutinnen im Spiegel, unachtsam und übereifrig reagierende Strukturen in Münster, Empörung folgt Verzweiflung von Betroffenen – und dann gehts um die Wahrheit in der Zeit. Erinnerungen sind trügerisch. Wahrheit ist rein. In ihrem strahlenden Licht: Elizabeth Loftus, amerikanische Gedächtnisforscherin, erfolgreiche Derailingstrategie in jedem strittigen Prozess mit dem Thema „sexualisierter Gewalt“ vor einem US-Gericht.

Ich bin noch gar nicht so alt, wie ich mich fühle, in diesem schon zigfach durchgekauten Zyklus. Das schon ein Mal vorweg.
Dieser Text wird kein Pro- und Kontra- Kann man Erinnerungen glauben oder nicht. Das Ross ist mir einfach zu hoch und ich sehe keinen Zweck darin, der allen dienlich ist.
Aber es wird ein Text, der die Strategie beleuchten will. Und wie schwierig es ist, hier von einer Strategie zu sprechen, ohne als verschwörungsgläubig oder befangen in einer eigenen (möglicherweise sogar falschen) Betroffenheit gedacht zu werden. Und entsprechend nicht ernst genommen zu werden. Angehört zu werden. Als aktiver, gleichberechtigter Part mit gleichen Intentionen an dieser Diskussion behandelt zu werden.

Denn auch wenn in keinem der letzten Berichte zu (organisierter (Ritueller)) sexualisierter Gewalt mit zweifelndem Unterton steht: „Die Leute, die hier als Opfer auftreten, sind nur Opfer von sich selbst (nachdem sie Opfer von Therapeut_innen waren)“, sie sagen es aus und instrumentalisieren Opferschaft als Status ziemlich ganz genau so, wie es die Instanzen tun, die in Fällen (juristisch) anerkannter Opferschaft über Opfer sprechen. Und das ist relevant.
Es zeigt, dass Opferschaft als ein vorteilhaft nutzbarer Status gilt, während das für die Täter_innenschaft nicht gilt. Deshalb ist allein der Zweifel das wichtigste Werkzeug für jemanden wie Loftus, False Memory Deutschland e. V. und andere Persönlichkeiten, deren Handeln zum Ziel (bzw. zur Folge) hat, die Anerkennung von Täter_innenschaft zu verhindern. Denn die juristische Rechtsprechung gilt im Zweifel immer für die_n Angeklagten.

Ein oft ignoriertes Problem: Opferschaft und Täter_innenschaft sind keine an den juristischen Kontext gebundenen Status.
Die Bindung an diese staatliche Autorität erfolgt ausschließlich dann, wenn es ein Interesse der Allgemeinheit an einem richterlichen Urteil (sowie einer Strafe) gibt und wenn es überhaupt ein Gesetz gibt, das die Tat zu einem illegalen Akt macht. Es ist die richterliche Instanz, welche die Wahrheit zu erfahren einfordern muss, um zu einem dem Recht Genüge tuendem Urteil zu kommen. Nicht: der Wahrheit Genüge tuend. Und auch nicht: Den Angeklagten oder den Anklagenden Genüge tuend. Dem Recht. Deswegen heißen Opfer und Täter_in vor Gericht auch nicht „Opfer“ oder „Täter_in“, sondern Beschuldigte_r/Beklagte_r bzw. Geschädigte_r/Antragsteller_in/Anzeigeerstatter_in.

In unserer Gesellschaft ist Wahrheit singulär gedacht. Als Wahrheit gilt, was als wahr annehmbar gedacht und erlebt werden kann, weil wir Menschen nur so Sinn und Bedeutung für uns herstellen können. Wir halten schwebende Äpfel für unwahr, weil wir jeden Tag Gravitation erleben. Eine Gewaltgeschichte, in der schwebende Äpfel vorkommen, ist entsprechend schnell bezweifelt. Denn so funktionieren wir Menschen eben auch: Wir picken uns raus, was uns am eindeutigsten für oder gegen etwas argumentieren lässt.
Das ist normal, das ist gut, das ist im Leben jedes Menschen eine sehr wichtige Sache. Diese Eigenschaft haben wir als Menschheit immer gebraucht, um zu überleben. Wir müssen wissen, wann uns jemand anlügt oder wir vergiftet sind und unserer Wahr.nehmung nicht mehr trauen können. Wir müssen aber auch wissen, wem wir wann, warum, was glauben. Und hier bewegt sich der Konflikt.

Wer glaubt, von Opferschaft hätte man Vorteile, die man als Täter_in nicht hat, ist versucht anzunehmen, dass dies ein erstrebenswerter Status sei – ein Grund zu lügen.
In den USA, wo es Prozesse um Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe gehen kann, ist es nicht sonderlich weit hergeholt, diese Annahme zu haben. Nimmt man hinzu, dass es dort kein Sozialsystem wie hier gibt, ergibt es noch mehr Sinn. Aber auch – und vor allem dann, wenn viel Geld im Spiel ist – ist es genauso legitim anzunehmen, dass es in solchen Prozessen nicht um die Wahrheit geht, sondern um Geld. Und damit um Macht und daran geknüpft einen Status, der tatsächlich erstrebenswert ist.
Hier gibt es solche Prozesse nicht. Vermutlich hat Deutschland deshalb so viele Wahrheitsexpert_innen im Dunstkreis von GWUP, FSM, oder dem Kopp Verlag.

„Opfer“ ist in Deutschland ein Schimpfwort. Opfer werden hier nie als benachteiligte Individuen verhandelt, sondern immer als Token benutzt. Also sehr wohl in ihrer Benachteiligung gesehen (und unter Umständen sogar juristisch zu Genüge beurteilt), jedoch ebenfalls immer eingesetzt, um Gewalt (und in der Folge Täter_innenschaft) zu definieren, statt sie zu beenden oder zu verhindern.
Entsprechend logisch ist das Vorgehen, Opferschaft extrem präzise zu definieren – das ist einfach enorm viel weniger anstrengend in seinen Auswirkungen. Würde immer als Opfer anerkannt werden, wer sich benachteiligt oder geschädigt nennt, müsste auch anerkannt werden, dass es sehr viel Gewalt und Täter_innenschaft gibt. Mit unserem derzeit institutionell etablierten Verständnis von Strafe und Wieder.gutmachung, von Recht und Recht haben, kämen wir als Gesellschaft schnell an Grenzen. Privilegien würden allgemein sichtbar und würden in Zweifel, ob ihrer Legitimität gezogen werden. Alle Normen und Werte unserer Gesellschaft kämen auf den Prüfstand. Alle, die sich für normal halten, wären mit dem Zweifel konfrontiert, der jetzt an der wahrhaftigen Legitimität benachteiligter, versehrter, unterdrückter, unnormalisierter Personengruppen gepflegt (und normalisiert) wird.

Mit einer ganz klaren, extrem engen Vorstellung von Opferschaft, werden viele Aspekte ihrer Natur beschnitten. So auch die Natur von Traumafolgen im Rahmen von Opferschaftserfahrung. Diese ist in sich schon schwer zu vermitteln, weil wir Menschen einander nun einmal lediglich ineinander hineinversetzen können – jedoch nie als die andere Person erleben.
Eine Person, deren Normalität, also ihrem Grundbaustein für ihre Entwicklung von Wahrheitskennzeichen, nie die gezielte, absichtsvoll hergestellte Verquerung der Realität enthielt, wird es niemals schaffen zu begreifen, was das für die Schilderung von Gewalterfahrungen für eine so umfassend getäuschte Person bedeutet. Für das Weltbild, für die inneren Konflikte, geschweige denn für die Interessen, die solch eine Person verfolgt, wenn sie dieser Täuschung gewahr wird. Es bleibt eine Annäherung, das zu verstehen. Es bleibt eine Idee, basierend auf den eigenen Erfahrungen, den eigenen in sich verankerten Konzepten von Wahrheit. Das macht den Richter_innenspruch nicht mangelhaft und auch das Suchen nach einer objektiven Wahrheit nicht obsolet, aber nicht zum Garant der Wahrheit an sich. Ein Richter_innenspruch ist kein Echtheitszertifikat, sondern ein Urteil, das sich aus den normalisierten und institutionalisierten Werten, Haltungen und Überzeugungen unserer mehrheitlich privilegierten Gesellschaft ergibt.

Natürlich beziehe ich mich hier auf Opferschaft nach sehr umfassender Gewalt, weil ich meine Argumentation daran sehr eindeutig machen kann und nicht in die Unschärfen von weniger weit entfernten Er_Lebensrealitäten einsteigen muss. Das würde den Rahmen und meine Kapazitäten sprengen, will ich mich doch vor allem auf die Strategie des Derailings als Teil von gesellschaftlichem Vermeidungsverhalten in Bezug auf (organisierte (Rituelle)) sexualisierte Gewalt beziehen.
Es ist meiner Ansicht nach aber wichtig, sich sehr sehr deutlich klarzumachen, dass Kinder, die unter Umständen von Geburt an, gezielt, absichtsvoll, organisiert und wie auch immer begründet, verletzt und ausgebeutet werden, in vielen Fälle keine Erwachsenen werden(.) – die der normalisierten Mehrheit unserer Gesellschaft angehören können/sollen/dürfen. Diese Personengruppe ist zum großen Anteil nicht normalisiert in ihrem Er_Leben, ihren Möglichkeiten zur Interaktion und Kommunikation und dazu oft auch eher mehrfach diskriminiert denn privilegiert. In der Folge ist der gesamtgesellschaftliche Schaden sehr viel geringer, wenn man diesen Personen glaubt, als wenn man privilegierteren Menschen, die als Täter_innen benannt werden, glaubt.

Ein Beispiel dafür ist meiner Meinung nach der Fonds sexueller Missbrauch, der keine Prüfung der Schilderungen vorgenommen, sondern die in Deutschlands Bürokratie üblichen Wartezeiten und Nützlichkeitsprüfungen als Hürde aufgestellt hat. Wurde der in 2 Wochen leergesaugt? Nein. Wurde deutlich, dass ein großer Teil der Antragssteller_innen von dem Geld daraus Leistungen bezahlen, die ihnen ohnehin zustehen, aber nicht gewährt werden, weil das Krankenkassen- und Sozialsystem Menschen wie sie diskriminiert? Ja.

Wer Opferschaft an die Bedingungen einer normalisierten Mehrheitsgesellschaft knüpft, knüpft entsprechend ebenfalls ganz automatisch Bedürftigkeit benachteiligter Personen mit daran. Die Idee von Opfern, die aufgrund ihres Opferstatus (nicht allgemein legitimierte) Bedarfe erfüllt bekommen müssen, ist also komplett aus sich selbst heraus produziert und dient in der Folge als Argument für weitere Diskriminierung.

Um davon abzulenken, wird also von Wahrheit gesprochen. Davon, dass man denen eigenen Erinnerungen nicht glauben darf. Vor allem nicht, wenn irgendwas mit Missbrauch darin vorkommt. Rein zufällig, nachdem eine Kampagne nach der nächsten gegen die wenigen privilegierten und in Solidarität organisierten Institutionen und Fürsprecher_innen gefahren wird.

Es wird überstrahlt, dass es bereits Richtlinien dafür gibt, wie Psychotherapeut_innen Patient_innen, die Unbeweisbares schildern, begegnen müssen und sollen, um ihnen bestmöglich zu helfen. Es wird diffus vermischt, welches Faktenwissen worüber bereits gibt. Was die Gesellschaft den Menschen, die zu Opfern wurden eigentlich schuldet und so viel mehr, das ich in früheren Artikeln bereits benannte.

Und das alles nur, weil sich Gewalt und ihren Folgen anders als abwehrend zu widmen, einer privilegierten Personengruppe die Grundlage ihrer Macht entziehen und so viel mehr Auseinandersetzung erfordern würde.
Das muss sich einfach ändern, wenn man demokratische Grundwerte wenigstens in ihrer Basis ernst nimmt und umgesetzt leben will.

wennschon, dennschon #Coronatagebuch

Die Situation ist stabil. Das sage ich mir in jedes Angstloch hinein, das sich in den Nischen meiner Geschäftigkeit auftut.
Der Partner ist weiterhin positiv und kann deshalb nicht verlegt werden. Es ist schlimm und ja, um zwei, drei Ecken geht es auch um Leben und Tod, aber eben nicht so. Es ist viel mehr das „um Leben und Tod“, das in unserem gemeinsamen Leben einen eigenen Anteil hat. Schon längst überall eingewebt, mitgedacht und eingeplant, wie Wandfarbe und Bodenbelag, Luft und Wasser, Himmel und Erde. Kein Grund zur Panik. Kein Anlass zu Dramadramahopplahopp-Aktivismus, der 5 Hebel gleichzeitig zu bedienen erfordert.

Dass ich zwischendurch Angst habe, hat viel mehr mit der Neuheit der Situation zu tun, als mit der Situation selbst. Und damit, dass ich noch nicht fit genug bin, um mir so gutzutun, wie es mir sonst immer guttut. Ich kann noch nicht wieder schwimmen gehen. Kann den Garten noch nicht bearbeiten. Habe noch keine_n Hundesitter_in gefunden, damit ich zur Therapie fahren und meine Anspannung loslassen kann.
Im Moment kann ich nur arbeiten. Womit ich überwiegend Anfangsschwierigkeiten habe. Und Dranbleibeschwierigkeiten. Neben den üblichen Selbstorganisationsschwierigkeiten.

Aber ich bin nicht ungesehen darin. Das macht viel aus. Alle, mit denen ich spreche, trösten mich, bedauern den Partner und wünschen uns beiden, dass bald wieder alles gut wird. Mir gefällt das. Vor allem, weil wir so spürbar als Teil eines Ganzen, unseres gemeinsamen Ganzen gesehen werden. Es ist nicht nur der Wunsch, dass er wieder gesund wird, weil das einfach besser ist als krank zu sein, sondern auch, damit wir bald wieder zusammen sind. Als würden wir so richtig und wirklich zusammengehören und nicht nur in meinem Wünschen und Wollen.

Der Gedanke an eine Richtigkeit wie diese gibt mir gerade viel Ruhe und Kraft.
Ich habe ganz stark das Gefühl, dass er nicht sterben wird. Nicht nur, weil die Situation gerade stabil ist, sondern einfach so. Vielleicht ist das eine Selbstschutzverarschung. Kann sein. Aber sie fühlt sich richtig an und das hilft gerade auch. Wenn ich schon Tag für Tag klarkommen muss, dann doch gerne so.

Mangel entgegenbeten #Coronatagebuch

Der erste Anruf war um 3 Uhr morgens herum. Mein Telefon: still. Ich: Im ersten leeren Schlaf seit Wochen.
Am Tag zuvor hatte er noch gesagt, es ginge ihm besser. Seine Gesichtsfarbe war von Mehlkreide zu Camembert gewechselt, der Husten seltener. Mir ging es schlecht, sobald es mir nicht mehr gut ging. Jeder Moment der Ruhe ist ein Dorn, der Erinnerungsblasen zum Platzen bringt. Meine körperliche Schwäche weiter keine Hilfe beim Umgang damit.

Kurz vor 8 schaffte er es die Hunde zu wecken, die mich dann aus meiner weichweißen Betäubung rissen.
Er bat mich, ihm eine Tasche zu packen. Fürs Krankenhaus. Das Sprechen undeutlich, angestrengt und umständlich aus dem Oberkörper gepresst.
Ich sammelte seine Sachen zusammen, fütterte die Hunde, begann das Gespräch mit der Rettungsstelle zu üben. Dachte kurz darüber nach, ob ich ihn gewissermaßen umgebracht habe, weil ich ihn nicht früher gehört habe. Schob sein Telefon in den Rucksack und fand mich daran erinnert, dass ich nicht der einzige erreichbare Mensch in dieser Nacht gewesen war.

Der Anruf bei der Rettungsstelle klappte gut. Es lief sehr anders als vor 20 Jahren, heute wird man die Wichtig-Ws konkret abgefragt. Das ist eine gute Hilfestellung.
Der Rest wie im Film. Zwei Rettungsmenschen in Maske und Papierleibchen, ein piependes Fingerdingsi, ein anstrengendes Gespräch zur Vermittlung der Grunderkrankung und der aktuellen Situation mit Covid zusätzlich. Davor der Akt, in dem sich der Partner frische Sachen anzog, spürbar an der Grenze dessen, was ihm möglich ist.
Sie steigen ein, er hinterher. Sie testen ihn und suchen ein freies Bett. Ich denke grimmig, dass er mit einem freien Bett nichts anfangen kann. Er braucht kein Bett, er braucht Versorgung und Pflege. Ein Bett hat er. Hier. Bei mir. Wo wir beide wohnen und uns über Witze totlachen und über Nazis erheben und einen Maulwurf haben und Kinder großziehen werden.

Der Rettungsmensch ruft mir zu, wo sie fündig wurden, dann fahren sie los. Ich schließe die Tür und denke: „So, jetzt wird hier endlich mal aufgeräumt.“ Tatsächlich aber schreibe ich Messengernachrichten und trinke Kaffee. Streichle Bubi, der mir seinen ganzen Körper gegen das Bein drückt. Spreche mit der Nachbarin, die den Krankenwagen gesehen hat und ihre Hilfe anbietet. Bis ich nicht mehr sprechen kann, weil ich keine Wörter mehr denke.

Ich spiele Sims 4, gehe mit den Hunden raus. Lasse mein Gesicht von den frühlingswarmen Böen streicheln, die sich kräftig über die zartgrünen Felder schieben.

Wir sind in einem AG-Treffen der Initiative Phoenix als der Partner anruft. Er hat eine Lungenembolie. Sollte erst in eine andere Klinik verlegt werden, dort ist aber kein Platz frei. Er bleibt in der Klinik, wo das CT ausgefallen ist, während er in einem untersucht werden soll. Jemand weint an mir vorbei, ich hake eine weitere erfüllte Befürchtung ab. Weiß, dass ich das in der nächsten Zeit nirgendwo sagen kann, weil das Gesundbeten unserer Zeit erfordert, immer positiv über solche Dinge zu denken. Aber: Es wird nicht seine Krankheit sein, die ihn umbringt. Es wird Scheiß wie dieser sein. Die Ärzt_innen, die seltene Krankheiten nicht kennen und keine Zeit für fundierte individuell nötige Zusammenarbeit haben. Die Pfleger_innen, die einfach nicht arbeiten können, wie sie wollen und sollen. Technisches Gerät, das es nur ein Mal pro Haus mit hunderten Anwendungsfällen gibt. Es wird Mangel sein, der ihn tötet. Mangel in einem der reichsten Länder auf der Welt. Egal, wie positiv ich jetzt denke. Wie sehr ich hoffe und wünsche, dass alles gut geht. Das kann ich machen, um mich selbst besser zu fühlen. Aber die Realität ist eine andere und die kann ich im Moment nur bezeugen.

In der Abenddämmerung fahre ich zum Krötenzaun. Sammle Erd- und Kreuzkröten ein, als meine Betreuerin anruft. Sie ist als Bevollmächtigte eingetragen in der Patientenverfügung des Partners und schon lange mit ihm befreundet. Ihre Stimme wackelt und ich höre ihr dabei zu, wie sie sie mit positiven Annahmen stützt.
Eine letzte Kröte im Eimer verabschiede ich mich von ihr. „Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung scannen und mailen, nicht vergessen. Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung.“ Ich wiederhole es im Kopf, bis es keinen Sinn mehr ergibt. Fahre im großen Bogen wieder nach Hause, fotografiere einen Regenbogen.

Zu Hause scanne die Dokumente ein und lese nach, was er sich wünscht. Bin ihm dankbar dafür, dass ich nicht entscheiden soll, sondern seine Freundin. Freue mich für ihn, dass er nicht nur mich in seinem Leben hat.

Später im Einschlafen denke ich mir aus, wie er wieder nach Hause kommt. Wie der Garten dann aussieht. Wie aufgeräumt und sauber seine Wohnung ist. Wie wir wieder draußen sitzen und uns die Bäuche hart lachen.

Rekonvaleszenz #Coronatagebuch

Wie kleine Sterne leuchten die Narzissen auf der dunkelgrünen Wiese. Weicher Wind streift mich. Doch das wohlige Räkeln in den Frühling hinein fällt mir schwer. Zu viele Baustellen im Garten, im Haus, bei der Arbeit, in mir selbst. Gleichzeitig ist es still um mich herum. So wie ich hier stehe, ist von diesen Baustellen keine wirklich wichtig. Alles ist irgendwie zu lösen und auszuhalten. Es dauert einfach. Das ist schon alles.

Aus dem Schlafzimmer des Partners höre ich das angestrengte Atmen, das noch angestrengtere Husten. Ihm geht es immer noch sehr schlecht. Die Frage, ob wir einen Not_Arzt kommen lassen sollen, verneint er weiter.
Wenn ich ihm deshalb nicht böse bin oder mich mit der Angst verrückt mache, dass ich verpassen könnte, dass er stirbt, frage ich mich, ob etwas in ihm wie seine Autoimmunerkrankung funktioniert. Nämlich gleichzeitig für und gegen sich selbst.
Er hat Angst vor der Intensivstation, deshalb vermeidet er eine Behandlung. Auch jetzt, am 9. Tag seiner Covid19-Erkrankung. Mit Schleimblubberlunge, dickem Hals und Druck im Kopf.
Was sagt es über unser Verhältnis zur medizinischen Versorgung, wenn es zum nötigen Selbstschutz chronisch kranker Patient_innen gehört, sich nicht behandeln zu lassen? Nichts Gutes, das kann man wohl festhalten.

Ich selbst konnte nach wenigen Tagen schon wieder umschalten. Aus dem Traumasumpf in den Kampf um Arbeitsfähigkeit, Kontrolle und Überblick. Aus der Ohnmacht in die Traumareaktion. Mir gehts gut. Alles fein. Außer, wenn ich merke, dass mein Puls unnötig schnell geht, ich meine Müdigkeit zu spüren zulasse, ich kurz fühle, dass die Situation gerade ganz und gar nicht okay ist.
Ich muss eigentlich in die Schwimmhalle. In die Bewegung. Meine Routinen. Meine übersichtlichen Aufgaben. Meine Ablaufpläne und Ordnungen. Dieses passive Rekonvaleszieren tut mir nicht gut. Macht mir Angst. Triggert allen möglichen Kram hoch, den ich nicht in Aktivität ersticken beruhigen kann.

Deshalb konzentriere ich mich gerade auf alle Aktivität, die ich schaffe.
Eine kleine Krötenschicht am Tag. Eine moderate Hunderunde. Kochen. Sims 4 spielen. Unauffällige Checks auf Lebenszeichen beim Partner. Elaborierte Baupläne für das Grundstück des Nachwachshauses bis in den Schlaf. Und immer wieder die Erinnerung: Langsamkeit ist etwas anderes als Stillstand.

PLURV im Spiegelmagazin

„Im Wahn der Therapeuten“ war schon eine problematische Überschrift, als Felix Kuballa seinen gleichnamigen Film veröffentlichte. Das war 2003.
Nun, Anfang 2023 die gleiche Suppe also noch einmal. In einem Spiegelartikel mit dem gleichen Titel für die Onlineversion und der gleichen Strickart:
Eine Person, die behauptet, eine Psychotherapeutin hätte ihr eingeredet, sie sei Opfer Ritueller Gewalt geworden, sei in Lebensgefahr, wie ihr Kind auch.
Neu ist, dass das Jugendamt hinzukommt. Auch eine Gefährdung erkennt. Eine Richterin entscheidet: Ja, hier ist Gefahr für das Kind in Verzug. Das Kind wird woanders untergebracht.
Ebenfalls neu: Der direkte Angriff auf Michaela Huber und Brigitte Bosse, dargestellt als Hauptvertreterinnen eines verschwörungsgläubigen Therapeutennetzwerkes, mit der Mission möglichst vielen Psychotherapeut_innen einzureden, dass es Rituelle Gewalt gibt.
Nicht neu: False Memory Deutschland e. V. hats durchschaut. Weiß zu verbreiten, dass psychische Krankheit und Autosuggestion zu falschen Erinnerungen führen.
Außerdem wie üblich in solchen Artikeln: Die Polizei hätte nie irgendwas gefunden. Es gäbe noch mehr Patient_innen als Malin Weber, die Soldaten und echten Folteropfern die begrenzten Traumatherapieressourcen von Deutschland wegnehmen. Die dissoziative Identitätsstörung sei eine Glaubensfrage.

Ein ermüdend schlecht recherchierter Text, der dennoch zieht. Natürlich. Er bietet Grusel durch die Illustration und Gewaltbeispiele, man fühlt sich informiert durch die Zahlen und Expert_innenkommentare, ein bisschen traurig für die Patientin und ein bisschen empört über das Geld, das das Familienministerium verteilt hat für Forschung, die laut Text möglicherweise Unsinn als Prämisse hat. Textarchitektonisch ist das Umami. Journalistisch richtig schlecht.

So meldete sich Brigitte Bosse am Montag mit Anmerkungen zu dem Artikel. Stellt klar, dass der Journalist ein Seminar zum Umgang mit DIS besucht habe, um diesen Artikel zu schreiben und sie dazu interviewt hat. Nichts davon im Text.
Ebenfalls nicht im Text: der lange Arbeitsweg zu einer fachlichen Definition des Begriffs „organisierte Rituelle Gewalt“. Allein im „Infoportal Rituelle Gewalt“ sind 19 Definitionen aufgelistet. Die erste von 1991, die letzte von 2019. So wird nicht klar, wonach das Autor_innen-Duo eigentlich gesucht hat. Was seine Prämisse ist. Was die Prämisse von False Memory Deutschland e. V. ist, wenn der Verein sich dazu äußert. Oder die Polizei. Es erwähnt die amerikanische „satanic panic“, die es in Deutschland so nie gegeben hat, wirft ein Buch aus den Achtzigern mit rein und rührt Alison Miller, eine kanadische Psychotherapeutin dazu. Dann eine Prise von der Skandalisierung des Themas in der Schweiz, die ebenfalls journalistisch bemerkenswert schlecht bearbeitet, aber populistisch maximal wirksam ist.

Und mehr sollte dieser Text vermutlich nicht sein. Populismus.
Bisschen Stimmung gegen Psychotherapie, bevor hier alle glauben, sie hätten ein Trauma. Oder könnten sich an Psychotherapeut_innen wenden, wenn sie doch eins haben.
Ein Mal mehr am Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Kompetenz des Familienministeriums und damit den Staat sägen. Zeile für Zeile dafür sorgen, dass man glaubt, alles sei eine Glaubensfrage – selbst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt und letztlich auch die Hilfen für Gewaltüberlebende. Nebenbei noch ein paar unliebsame und seit Jahren hart arbeitende Therapeutinnen schreddern. Wenn man schon dabei ist.

Der Text hätte ohne Konsequenzen bleiben können, wäre es in den letzten 20 Jahren gelungen, den wissenschaftlichen, fachlichen Diskurs um organisierte Rituelle Gewalt transparenter und für die breite Masse verständlich zu kommunizieren. Dann würde das Bistum Münster beispielsweise nicht behaupten können, es gäbe keine Beweise für diese Form der Gewalt und eine Kontroverse, die sich um die Realität der Gewalt dreht, um die Beratungsstelle für Opfer von organisierter und Ritueller Gewalt zu schließen. Das Bistum hätte sein, für die katholische Kirche nun wirklich nicht mehr überraschendes, Desinteresse an der Hilfe für Gewaltopfer auf andere Art begründen müssen. Schade, das wird jetzt wieder einmal verdeckt. Von dem Medienzirkus, den Leute machen, die sich vorgeblich für die Opfer, die Wahrheit, die wirklich nötige Hilfe einsetzen. Was doch bemerkenswert ist.

Der Spiegel präsentiert sich derweil als „aufdeckend“. Was aufdeckend? Das bleibt mehr oder weniger im Dunkeln, denn es gibt ja nichts weiter aufzudecken als eine Erzählung, die der breiten Öffentlichkeit als moderne Gruselgeschichte des christlich fundamentalistischen US-Amerikas bekannt ist. Und zwar so bekannt, dass sie ein Meme ist. Ein Witz. Ein Theme.
Perfekt, um Gewalt lächerlich zu machen. Religiosität jeder Art, mit Dummheit, Wissenschaftsfeindlichkeit und Machtwillen, wo beides nicht zutrifft, zu erklären.

Und ebenfalls ganz fantastisch dazu geeignet, Gewaltdarstellung zu verkaufen. Weil – bisschen gruselig ist die Vorstellung ja schon. Kickt halt doch irgendwie. Und wer daran interessiert ist, möglichst lange, möglichst viel, möglichst immer brutaleres Material zu produzieren, kommt, seit es das Internet für alle, große Speicherkapazitäten und easy Access für wenig Geld fast überall auf der Welt gibt, kaum um die Inszenierung der Taten herum. Das – diese „systematische Anwendung schwerer körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt in Gruppierungen mit einer (schein-)ideologischen oder religiös geprägten Sinngebung oder Rechtfertigung für ihr kriminelles Handeln.“ (Definition der Aufarbeitungskommission) – ist, womit sich seit Jahrzehnten befasst wird, um den Überlebenden zu helfen. Dafür gibt es Beispiele, die auch in den ganz normalen Medien behandelt wurden und zu mehr oder weniger Anteilnahme geführt haben. Stichwort „Colonia Dignidad“ (Spiegelartikel), „die Sektenkinder“ (YouTube-Upload) aus dieser 37° Sendung, Lebensrealitäten in (Neo) Nazi-Familien siehe „kleine Germanen“ (Webseite zum Film).
Fachlich, wissenschaftlich fundiert, redet kein Mensch, der sich mit organisierter Ritueller Gewalt befasst, von satanistischen Großkulten, die die Gesellschaft infiltrieren und es ist unfassbar, wie immer wieder versucht wird, das zu unterstellen. Offenbar ausschließlich, um Gewalt(folgen)forschung und Einzelpersonen zu delegitimieren.

Wäre die Thematik eine andere, würde der Spiegelartikel als desinformierend überdeutlich sichtbar.
Es ist alles da: Pseudoexperten, Logikfehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen. „Im Wahn der Therapeuten“/„Im Teufelskreis“ ist ein PLURV -Text.
Und so sollte auch die Reaktion darauf sein.

Damit möchte ich jetzt alle ansprechen, die sich von dem ganzen Geschehen verunsichert fühlen.
Lest euch das Handbuch „Widerlegen, aber richtig“ (dt. Übersetzung des australischen „debunking handbook“ 2020) durch, bevor ihr aufklärende Texte schreibt oder in Gespräche mit Menschen geht, die Desinformationen verbreiten oder glauben.
Prüft euch und eure Argumentation darauf, ob ihr selbst in die „PLURV-Falle“ tappt, weil euch das Thema so wichtig ist oder es euch sogar selbst betrifft. In dieser Grafik von klimafakten.de könnt ihr euch anschauen, wie die „Desinformationsmaschine“ arbeitet. Auf der Webseite „sceptical science“ findet ihr noch mehr Taktiken, auf die ihr achten könnt.

Wir leben im Jahr 2023. Es gibt Fakten, es gibt Daten, es gibt eine Öffentlichkeit, die weiß, dass Kinder schwer ausgebeutet und misshandelt werden – und von der man erwarten kann, dass sie versteht, dass aus Kindern irgendwann Erwachsene werden. Gewalt ist kein gruseliges Schauertabu mehr und doch ist es offenbar noch sehr nötig, aktiv daran zu arbeiten, damit das so bleibt.
Der Spiegelartikel soll verunsichern. Er soll verwirren. Er soll ablenken.

Aber es gibt Wichtigeres zu tun.

Extrameilen

„So ist das also, wenn man so einen Anruf bekommt“, dachte ich.
Am Freitagabend hatte ich mir noch vorgestellt, wie das wohl ist, wenn am nächsten Morgen die Polizei anruft oder an unserer Tür steht.
„Guten Tag, sind sie Frau M.?“
– „Nein, Herr M. und ich sind nicht-ehelich verpartnert.“
„Oh, dann dürfen wir ihnen keine Auskunft geben.“
Und ich müsste umständlich über meine Betreuerin erstreiten zu erfahren, dass er im Schneetreiben von der Fahrbahn ab und in eine Leitplanke reingekommen ist. Und dabei schwer verletzt oder getötet wurde. Wie würde es mir dann gehen? Was würde ich dann machen? Was müsste ich dann machen? Mit einem Blick über die Zettellage von der Lebenssortage des Partners dachte ich, dass ich mir wenigstens darüber keine Sorgen machen müsste. Testament, Beerdigung, Versicherungen und bliblablö, das ist alles in trockenen Tüchern, die ich im Fall des Falls vollweinen dürfte.
Aber wie würde es mir dann gehen? Würde ich reagieren wie er, als er hörte, dass sein Vater gestorben ist? Nickend weinen, mich zusammenziehen und in Tränen auseinanderfallen? Würde ich überhaupt verstehen? Was, wenn ich, wie damals vor knapp 20 Jahren, dauerhaft nicht sprechen kann? Was, wenn ich nur Angst fühle, weil ich Trauer noch nicht gelernt habe?

Dann saß ich gestern bei meiner Freundin im Büro, besprach die populistische Kackesuppe im Spiegel und die Shitshow, die ihr folgt. Fühlte ab und an nach, ob die Stelle, wo keine Stunde vorher die harten Wundnahtfäden waren, noch blutete. Und mein Partner rief an, um mir zu sagen, was ich nie hören wollte: „Ich hab Covid.“

Seit drei Jahren haben wir das in unseren Alltag eingebettet. Das Wissen, dass es ihn nicht erwischen darf, weil er eine Autoimmunerkrankung hat, die unter anderem seine Lunge betrifft. Eine Autoimmunerkrankung, die es selten gibt und noch seltener in der Form, die er hat. Wir haben immer alles gemacht, um uns nicht anzustecken. Immer, immer, immer. Ich habe nie die Abkürzung genommen – „Ach komm, schnell mal die Maske lupfen, um was zu trinken/zu essen/für alle gut hörbar im Raum zu sprechen.“, die Maske vorne anfassen, die Maske mehrfach verwenden, mich von Blicken, Sprüchen, Pseudowissen und Halbwahrheiten schuckig machen lassen und gar nicht erst eine aufsetzen.
Ich habe meine Kollektivis in den vergangenen drei Jahren fünf oder sechs Mal getroffen. Im Hochsommer. Draußen. Getestet. Mit Maske, wenn Zweifel waren.
Jeder Außentermin, jede Reise war sehr gut vorbereitet. Immer getestet, immer maskiert, wo es nötig war. Immer sind wir diese teure, und vor allem im letzten halben Jahr oft auch herablassend belächelte Extrameile gelaufen.

„Ist es jetzt also soweit?“, dachte ich abends im Bett, die Hunde wie eine Flauschbastion an meinem Körper entlang liegend. „Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Sollte ich mich anstecken, damit ich wenigstens ohne Tüddelüt bei ihm sein kann, wenn es ihm nicht gut geht? Was, wenn er nicht aushalten kann, dass ich mich um ihn kümmere? Kann ich das verpacken? Was, wenn er über Nacht erstickt und ich finde ihn? Was, wenn wir die letzten drei Jahre mit diesem ganzen Extrashit verbracht haben, aber uns eigentlich hätten noch mehr lieben müssen? Noch mehr ineinander verflechten, miteinander verwachsen müssen?“
NakNak*, deren Demenz nun nicht mehr zu übersehen ist, hob zum tausendsten Mal an dem Abend den Kopf, um ins Leere zu starren und den Versuch zu machen, ihren arthritischen Körper aufzurichten. Die nächste Konfrontation mit Sterblichkeit. Die nächste Erinnerung daran, dass es keine Extrameile um den Tod herum gibt.

Eine lange schwierige Nacht später bin ich auch positiv.
Meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann ich in der Praxis abholen. Die ist 14 km von hier. Ich habe Fieber und dicht unter der Oberfläche brodelnde Kinderinnens, wegen des triggernden Druckgefühls in der Brust und der Lage im Mund-Rachenbereich. Einen Scheiß werde ich irgendwo, irgendwas abholen.
Ich habe gerade ganz andere Extrameilen vor mir.

und langsam auch Freude

Am Mittwoch war das Paket angekommen. Die ersten Rezensionsexemplare meines Buches. Kurzer Schnack mit „unserem“ Postboten, Werbung auf den Küchentisch, hoch ins Büro. Die Hunde hoben ihre Köpfe, beobachteten mich beim Öffnen.

Ich hatte mich enorm unter Druck gesetzt. Wollte, dass sie am Montag ankommen, damit ich sie sofort an die Menschen weiterschicken kann, die eine Rezension schreiben möchten. Obwohl ich am Montagmorgen noch voller Dormicum von der kleinen Kiefer-Op war. Dem Montag nach dem 4 Tage-Trip nach München, bei dem ich meine Arbeit vor und nach der Veranstaltung machte.
Drei Tage warten zu müssen, hat mich umgetrieben. Meine Pufferzeit für eventuelle Eventualitäten fies zusammengeschrumpft. Denn natürlich ist die ganze Buchsache von allen möglichen Katastrophen bedroht. Druckfehler, Satzfehler, inhaltliche Fehler, Produktionsmängel … jemandem könnte auffallen, dass ich das aufgeschrieben habe und mich deshalb beschämen, abwerten, hassen …

Dabei ist das alles Lauf der Dinge und ich hätte mich ausruhen können. Nichts tun. Verarbeiten. Vertrauen. Aber dann hätte ich meine Müdigkeit gespürt. Und die Kontrolle über meine Gedanken schleifen lassen. Ich hasse es, müde zu sein. Und ich hasse es, wenn meine Gedanken ohne mich weiterziehen, weil ich weiß, dass ich sie nur selten wiederfinde.

Mein Buch in den Händen begriff ich, dass ich noch etwas hasse: Den Umstand, nie on track zu sein mit der Kommunikation meiner Gedanken. Dass da immer etwas fehlt. Etwas nicht mit erwähnt ist. Ich irgendein Detail zurückhalten muss, weil etwas anderes mehr Raum braucht oder erfahrungsgemäß mehr Aufmerksamkeit bindet. Schön blöd, dann Bücher zu schreiben. Kleiner, beengter und umständlicher geht es heute eigentlich nur noch im direkten Gespräch.

Dann bemerkte ich das Pochen im Hals, das sich zu meiner Wunde im Oberkiefer hochwand und mein Zittern. Freudestahlender Egostolz war das nicht. Aber gleichzeitige Aufregung und Erleichterung. Und dem folgend natürlich: Angst.
Klar. When in doubt …

Ich lenkte mich damit ab, ein Foto zu machen und es bei Instagram zu teilen. Es wurde das erfolgreichste Bild seit meinem ersten Maskenselfie und damit nicht wirklich so richtig ganz hilfreich gegen die Angstgefühle.
Was geholfen hat, war wie immer: Banalität.
Das Lektorat mit Deadline bei der Arbeit, die Hunderunde im Modder von Niedersachsen, die Projektbaustellen von „Viele Stimmen“, die Doppelfolge „Viele Leben“ im April. Der Abwasch, die Wäsche, die halbe Stunde zwischen Pantoprazol und Ibuprofen. Die Tatsache, dass es nur ein Buch ist. 144 Seiten, die niemand braucht, aber vielleicht manche wollen. Nichts weiter.

Inzwischen habe ich eine Örtlichkeit in Bielefeld gefunden, wo ich lesen werde. Im Mai. Mehr dazu bald.
Jetzt kommt langsam auch Freude auf. Dass es geschafft ist. Der Pflichtteil. Und dass es ab jetzt vor allem Spaß machen und insgesamt auch etwas für mich sein darf.

Worum es geht“ erscheint am 15. März.
Ihr könnt es im analogen Buchhandel oder im Onlineshop des veganen Kollektivs „roots of compassion“ vorbestellen.

Wer eine Rezension schreiben möchte, kann sich bei mir melden und bekommt ein Exemplar zugeschickt.

die interne Fachveranstaltung

Nun gab es also eine interne Fachveranstaltung. Wir fuhren nach München, trafen uns und sprachen zwei Tage miteinander.
Die Absage wurde nicht diskutiert, die Zeit lieber für konstruktiven Austausch genutzt.

Ich habe mich oft an meine Arbeit erinnert gefühlt. Das Plenum, das Ringen um den roten, den gelben und den eigenen Faden. Das stetige Mit- und Ausschwingen, was ist wichtig und was erscheint nur so. Der Wunsch nach Harmonie, Einigkeit und Verbundenheit, der sich an Vorbehalten, Unsicherheiten und kritischen Positionen vorbeischiebt und das Vorwärtskommen zu einem zuweilen belastend langsamen Prozess macht.
Doch es hat mich auch gefreut. Sehr sogar, denn so finde ich, muss es weitergehen. Plenum, Arbeitsgruppen, Plenum, Ergebnisse mit.teilen, vertreten und weiter zum nächsten Plenum.

Ich glaube nicht, dass es hilft, einander in Gruppen und Grüppchen über den deutschen Sprachraum verstreut zu kennen, aber nicht regelmäßig auch zu kontaktieren und interagieren. Gruppen und Grüppchen, die aus Gründen geschlossen und deshalb argwöhnisch betrachtbar sind. Es ist nicht nachhaltig, einander nur auf Tagungen und Konferenzen zu treffen und ein einigermaßen halbgares „Weiter so!“ zuzustecken. Vor allem, wenn wir Kritikpunkte haben. Haltungen nicht nachvollziehen können. Un- oder Halbwissen erkennen. Gefahren sehen. Und einfach mehr voneinander wünschen und wollen. Vielleicht auch brauchen.

In den beiden Tagen habe ich mich nicht als „Konferenz-Betroffene_r“ gefühlt und das hat mir sehr gutgetan. Ich war nicht als Stellvertreter_in da und auch nicht als jemand, die_r dafür sorgt, dass „die“ „uns“ nicht vergessen. Ich wollte bestimmte Aspekte nachvollziehen können und schauen, wie ich in all dem hilfreich sein könnte. Nun bin ich zurück und frage mich, ob diese Rolle, diese Position okay so war. Hätte ich mehr von der Verwirrung, den traumareaktiven Mails an mich erzählen sollen? Doch so etwas sagen sollen wie: „Wir dürfen nicht vergessen, dass das jetzt gerade weiter passiert“? War ich zu sachbezogen und damit nicht hilfreich für die Betroffenen, die nicht eingeladen waren? Hätte ich etwas von dem diffusen Druck erzählen sollen, mit dem ich umgehe, weil ich schon so lange in der Bubble unterwegs, aber kaum so richtig wirklich und in echt hands on, jetzt machen wir was zusammen, dabei bin?

Ich hatte Gründe das nicht zu tun und rechtfertige mich auch nicht dafür. Dazu sitze ich hier einfach schon viel zu lange, viel zu allein und exponiert in der Öffentlichkeit. Meine Unabhängigkeit ist mein Privileg. Meine Stigmatisierung als zu krank, um glaubhaft zu sein, meine Freiheit. Aber um als hilfreiche_r und vertrauenswürdige_r Arbeitspartner_in gedacht zu werden, ist das nicht sonderlich hilfreich.
Und auch, um in Kontakt und kritischen Austausch mit anderen Betroffenen (die Öffentlichkeitsarbeit machen (wollen)) zu kommen, nicht.

Alles läuft immer so „fastheimlich“. Mit unfassbar langen Zähnen, mit extrem sensibilisierten Vorfühlerchen, so viel Angst vor … ja was eigentlich? Manchmal weiß ich das einfach nicht und ausgesprochen wird es nie. Auch aus Gründen vermutlich. Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur: Es ist schwierig. Und es wird nicht leichter, wenn man nicht darüber spricht.

Ich hoffe, dass wir das in Zukunft tun. Alle.
Miteinander.

k.eine Lawine

Es ist Jahre her, dass mich mein Shampoo zum Kotzen gebracht hat. Und wie lange Jahre vorbei fühlt es sich an, dass ich zuletzt unter so einer massiven Lawine von Erinnerungen begraben wurde. Vorbei ist mein eitler Höhenflug, bald wäre ich durch. Nicht mehr lange. Bald bin ich fertig mit der Therapie. In Kürze nur noch little fires everywhere und ich wie Fiona Feuerwehr kompetent und alltagsnormal am Start.
Jetzt saß ich am Fenster, mein Telefon noch in der Hand. Meine schwere Decke auf den Beinen, müde, das Nachgespräch mit meiner Therapeutin prozessierend.
Ich kam mir so dumm vor, dass ich nicht damit gerechnet habe. Das Prinzip, dass man irgendwo rüttelt und aus dem Unsichtbaren fällt etwas runter, so unbemerkt ist meine Angst davor geschrumpft.

Aber „Lawine“ ist eigentlich das falsche Wort. Das Problem mit Lawinen ist, dass sie viele wichtige Dinge begraben. Sie rollen sich aus und die Arbeit danach ist restaurativ. Man verliert Dinge, die man kennt und bekommt jede Menge Material dazu, aus dem man sie sich nicht wiederherstellen kann.
Bei Erinnerungen an Erlebnisse in meiner Kindheit ist es eher so, dass ich ganz vorsichtig an einem Stück Erinnerung zupfe und dann durch den Boden breche. Tausend Jahre falle und in einer Dimension lande, über die mir niemand etwas sagen kann. Ich kann nicht wissen, ob das echt ist, nur ob es sich echt anfühlt. Ich kann nicht wissen, wie die Abläufe sind, nur wie ich sie verstehe. Keiner meiner üblichen Maßstäbe wird meinem Erleben gerecht, die Orientierung ist praktisch unmöglich. Es geht nur vorwärts oder weg. Bis man raus hat, wie man im Übergang stehen kann. Wenn es einen Übergang gibt.

Und dann das Material. Ich kann nichts damit anfangen. Vielleicht kam ich deshalb auf das Bild der Lawine.
Eine Bemerkung der Therapeutin war, dass niemand von uns Mitgefühl mit ihnen hat. Ihnen, Kindern, die wir nicht wie Kinder erleben, nicht wie Kinder fühlen, nicht wie Kinder denken. Die sie aber als Kinder identifiziert. Das ist die schwierige Ebene. Ich habe Erinnerungen bekommen. In Form von Traumascheißekonfetti. Wild umherwirbelnd, verwirrend in seiner Mischung der Emotionen, Impulse und Gedanken_reste_stücke_anfänge. Das ist etwas, was diese so eingeordneten Kinderinnens betrifft, aber nicht sie selbst sind. Das ist etwas, was ich wahrnehme, aber nicht ich bin.
Identität vs. Erfahrungshintergrund. Hat beides miteinander zu tun, ist aber nicht das Gleiche. Mitgefühl erfordert ein Miteinander, in dem man einander fühlt und das ist nicht da. Auch jetzt nicht. Ich kann die Gefühle nicht benennen und einordnen, ich kann die Gedankenfitzel nicht sinnig mit dem Erlebnis verbinden, fühle mich elend, verlassen und hilflos, wenn ich versuche Ordnung hineinzubringen und es nicht schaffe. Fühle mich von der Therapeutin abhängig, wenn ich denke, dass ich das lieber nur noch versuchen will, wenn sie dabei ist. Bekomme Angst während der Überlegung, wie ich das in einer Therapiestunde machen will, wenn sie immer wieder Fokus auf die Kinderinnens legt, während ich versuche deren Erinnerungen zu etwas zu ordnen, das Sinn ergibt und Bedeutung hat. Beides ist wichtig, ich weiß. Aber gleichzeitig? Das ist zu viel.

Zum Glück war es keine Lawine. Mein Alltag läuft weiter, praktisch unberührt von all dem. Manchmal flackert eine Geräuscherinnerung bis zu mir. Manchmal ein Bild. In der nächsten Zeit benutze ich wieder festes Shampoo. Mein nächster Therapietermin ist in 3 Wochen.
Vielleicht ist es eher eine Welle gewesen.