Oberflächenpsychoscheiß

Es ist weit nach Mitternacht. Ich kann nicht einschlafen. Hab schon geweint, mastubiert, getrunken, in 5 einhalb Stunden klingelt der Wecker zum anstrengensten Tag der Woche.
Bei Twitter retweetet @NetKlar Katrin Weßling und fragt: „Was tut ihr alles trotz Angst-/Angststörung?“. Und ich antworte „weiterleben“ und „Und: Tweets wie diesen stehen lassen“.

In der Küche piept die Spülmaschine. Das Geschirr ist fertig gebacken. Meine Kopfhaut juckt. Noch 5 Stunden bis zum Startschuss. Ich denke, dass mich dieser Oberflächenpsychoscheiß bei Twitter nervt. Bei Twitter und in den Blogs. Bei Instagram, bei YouTube. Symptom-Theater. Nichts weiter. Was machst du trotz deiner Angst? Die 5 peinlichsten Dinge, die mich meine Essstörung hat machen lassen. 10 Dinge, die mir bei der Selbstfindung geholfen haben. Der ultimative Tipp gegen Depressionen und Sucht. Meine Flashbacks sind so schlimm, aber ich bin ein starkes Opfer – meine Top 10 Skills.

Ich denke darüber nach, was ich alles trotz meiner Angst mache und denke, dass ich morgen zur Therapie gehe und etwas sage, das ich letztes Mal nicht gesagt habe. Obwohl ich weiß, dass ich das jedes Mal denke und dann doch nicht tue. Noch nie getan habe. Ich sage nie irgendwas.

Ich habe Angst und lebe weiter. Ganz absichtlich. Und niemandem kann ich begreiflich machen, was das bedeutet, weil es über Überwindung, Mut, Kraft oder Ambitionen und Ziele hinausgeht. Meine Ängste sind nicht meine Ängste allein. Sie sind auch meine Identität. Mein Ichwieichbin. Sie zu übergehen, ist mein ganz alltäglicher Selbsthass. Meine ganz alltägliche Gewaltanwendung mir selbst gegenüber. Das selbstverletzende Verhalten, das ich nie thematisieren kann, ohne eine Ohnmacht zu erzeugen, die unaushaltbar für die Menschen um mich herum ist.

Ich habe Angst und schreibe das hier auf. Hier. Und nicht in einer privaten Heimlichschublade, die ich bewachen und verteidigen müsste, damit sie privatheimlich bleibt. Weil es geht. Weil es eine Spur ist. Weil es zeigt, dass es mich gibt.

Noch 4 Stunden und 45 Minuten.
Was ich alles trotz der Angst mache. Das ist die falsche Frage, wenn man nichts ohne Angst macht.
Es ist eine Frage nach Funktionalität. Es ist Oberflächenpsychoscheiß. Warum hab ich drauf geantwortet.

4 Stunden 38 Minuten.
Damits jemand be.merkt. Irgendjemand.
Vielleicht schreibt irgendwann irgendjemand ja mal einen Instapost darüber. Hashtag mentalhealth staystrong keeponfighting

9 thoughts on “Oberflächenpsychoscheiß

  1. „Sie zu übergehen, ist mein ganz alltäglicher Selbsthass.“

    Mittenrein treffen mich solche Sätze. So verdammt wahr.
    Danke, dass du ausformuliert hast, wofür ich noch keine Worte hatte.

      1. Huhuse , jetz versteh ich was die blöde be.amer matte für mich tun konnte… ich habe etwas be merkt aber das es mich auch bemerkte ist für uns beide katastrophal, auch wenn eins immer so aussieht als wäre es nun heiler als vorher^^ vllt. Kannst du damit etwas anfangen… seid ich deinen bloc vorhin gefunden habe sagt mein Kopf ständig das Gottes Mühlen echt gerecht mahlen und viel zu langsam sind, sein müssen. Ich damit also bestimmt doch okay bin. Lebensärger kommt wohl zusätzlich daher, das irgendwie versucht wird das ganze zu beschleunigen , damit man hinterher sagen kann, siehste… doch alles falsch… schon in dritter Generation, dabei war das wohl eine der ehrlichsten Etappen seit vielen Zeiten. Du hast keine Vorstellung (doch hast du natürlich) davon, mit welcher Zärtlichkeit dein Text mein verstörte innerstes berührt. So wichtig wie Licht für Wachstum… Danke mit Verbeugung …. und das is viel zu oberflächlich.

        Das lesen war so erleichternd, wie wenn der Schmerz kurz nachlässt.

        Grüße von einer Brandenburger Göre gestrandet auf der Insel Berlin , völlig deplatziert im Hier… (F)Alleinerziehend ausgemustert

  2. Habe den Tweet auch gelesen. Was ich daran nicht mag: Dass so oft Geschichten vom Gelingen erzählt werden. Ich fühlte mich ertappt, als ich das las, weil ich viele Dinge davon eben nicht oder nur mit großen Einschränkungen machen kann. Heißt das jetzt, dass ich immer auf meine Angst höre? Dass meine Grenzen anderswo liegen? In Social Media darf man gern über psychische Erkrankungen sprechen, aber bitte nur, wenn es irgendwo auch eine Erfolgsgeschichte ist und man möglichst nicht so viel von den Momenten mitbekommt, in denen es nicht klappt. Dann wirds (emotional) anstrengend und die Leute wollen es nicht mehr sehen …

  3. Und dann fühlt man sich nicht allein, wenn man das bei Euch liest. Nicht mehr ganz so unfähig, verquer, verkopft, verfühlt, ver-vielt… Weil man ständig im Außen auf die eigene Unfähigkeit stößt. Und man trotzdem… Ja trotzdem weiter macht. Weil man ja verdammt nochmal keine große Wahl hat!!! Und man muss mit dem Schmerz und der Angst…Aber kann das bitte jemand mit berücksichtigen, wenn er uns beurteilt und in Schubladen steckt. Wären lieber gern neben dieser Schublade. Da, wo die Schokolade drin ist.

  4. Und manchmal ist es nicht ganz klar, ob man sich selbst übergeht oder andere oder wo die Schnittmenge von beiden ist. Aber is ja auch egal. Überlatscht ist Überlatscht…

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