das Heile und der Virus

Seit Tagen habe ich meine Gedanken unter Quarantäne. Schreibe sie hier nicht rein, aus Sorge, aus Furcht, aus Gedanken um Privatsphäre und auch, weil ich nicht verpackt kriege, was gerade in der Welt passiert. Hier auf dem Land kommt mir das alles noch absurder, krasser, unwirklicher vor.
Hier gibt es keine leeren Regale, keine Leute mit Schutzmasken vor dem Gesicht. Hier gibts den Acker vor der Tür, dem langsam ein grüner Pelz wächst, die Sperlingsgang, unseren Garten und die Frage, wo wir heute mit den Hunden spazieren gehen. Es ist nicht alles in Ordnung und heil, aber es sieht nicht aus, als lebten wir in einer Zeit, in der auf Geflüchtete geschossen und eine Seuchenschutzmaßnahme nach der anderen beschlossen wird.

Wir wachen morgens auf, trinken Kaffee und beobachten die Wellenbewegung auf den Pfützen neben der Straße, auf der diese Woche schon wieder mehr Traktoren und Laster als letzte Woche langfahren. Ich mache meine Arbeit und in den Pausen mache ich mir Gedanken. Einfach so, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, wandern sie zum Thema Kinderkriegen. Als wäre alles heil und in Ordnung, während doch praktisch alles gerade schwierig, gefährlich, unfassbar traurig, unfair und gewaltvoll ist.
Als würde das Husten des Freundes von unten nichts weiter bedeuten. Als wäre unsere Konstitution aus Stein und Stahl. Als wäre alles möglich, obwohl gerade alles so ist, wie es ist.

Ich möchte diesen gesunden Kern in uns feiern. Will mich ihm hingeben und genauso handeln und sein, wie die Menschen, die nicht mit unseren Erfahrungen und ihren Auswirkungen leben. Vielleicht erliege ich aber auch nur der naturalistischen Erzählung vom Urinstinkt der Menschen, die schwanger werden können. Halte das alles für heil und gesund, weil das Kinderkriegen als Zeichen von Heil- und Gesundheit gilt. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt und alles im Grunde eine hochkomplexe Wenn-Dann-Maschine ist, deren Funktionieren nicht davon abhängt, wie gesund oder krank man ist. Wie bereit oder nicht bereit. Wie ideal oder katastrophal die Umstände sind.

Ich wünsche mir die Gedanken- und Sorglosigkeit der Gesunden und Heilen. Denke manchmal: “Hey, jetzt hab ich hier so was Heiles, was in mir wirkt und greift und irgendwie einfach so nur da ist – wieso kriegt das nicht einfach allen Raum in meinem Leben. Das ist doch sowas Gutes! Hallo Welt – Ich hab hier mal was Gutes von mir und aus mir heraus – wo kann ich damit hin?” und die Welt antwortet darauf “Ach hier neben der Erkrankung deines Freundes, deiner Armut, deinen Erkrankungen und den Behinderungen, mit denen du umgehst, da kann du dir was zwischen Seuchenschutz, Klimakatastrophe und Krieg rund um den Globus einrichten.”

Vielleicht sagt die Welt das aber auch gar nicht. Vielleicht höre ich das nur. Vielleicht sagt die Welt auch, dass immer alles kommt, wie es kommt und das Leben einfach nichts ist, das für irgendetwas mehr als sich selbst ideal ist. Und ich will das nicht hören, weil ich vielleicht inzwischen doch auch zu denen gehöre, die sagen, dass sie jetzt auch mal einfach nur was Gutes im Leben haben wollen. Dass sie die Schnauze voll haben von Traumascheiße, von Ämterbullshit, von Last und Sorge wegen Dingen, die längst vorbei sind, von Lebens_Angst und aktivem Bewusstsein für alles Schlimme in der Welt.
Vielleicht habe ich inzwischen auch einen verdrehten Opferstolz entwickelt, in dem ich denke, ich hätte doch jetzt langsam mal ein Anrecht auf Sorglosigkeit und gedankenloses EinfachnuramLebensein und Leben machen. Als ob das weniger anmaßend wäre, als der Gedanke um Anrechte durch Erfahrungen selbst.

Die Sonne scheint. Unten hustet der Freund. Die Sperlinge knispeln im Dachspalt. Gleich besuche ich die Nachbarn, um etwas Erde für unsere Kartoffelpyramide zu holen. Danach werde ich den letzten Heckenschnitt häckseln, eine Hunderunde machen. Vielleicht gucken wir heute Abend einen Film. Vor mir liegen etwa 4 Tage PMS, drei Zugfahrten zu wichtigen Terminen und die Sorge, bei einer davon den Virus mit nach Hause zu schleppen, der den Freund mit hoher Wahrscheinlichkeit tötet.