der Thread zu sozialem Maskieren und Authentizität

Disclaimer: Ich arbeite seit einiger Zeit an einem Comic über Alexithymie. Darin beschreibe ich, was bei mir passiert, wenn ich versuche, ganz ohne Hilfe mit Überforderung im sozialen Kontext zurechtzukommen. Als ich die Skizzenseite schrieb, fiel mir auf, dass ich es in dem Comic nicht schaffen werde, in aller Tiefe über einzelne Dinge zu schreiben. Deshalb habe ich einen Thread geschrieben.
Damit er leichter lesbar ist und weniger Fehler enthält, teile ich ihn hier noch einmal in leicht überarbeiteter Form.

Ich möchte noch ein paar Worte zu einem Aspekt, den ich in meinem Comic aufgeschrieben habe, mit euch teilen.
Ein #Thread über soziales Maskieren als autistische Person und dessen Rezeption.

Ich kann nicht mehr sprechen wie ich selber. Dann benutze ich Wörter von Leuten aus dem Fernsehen oder aus Büchern oder meinen Gemögten.

Ich wurde als Jugendliche_r immer wieder als „falsche Schlange“, als manipulativ und hinterlistig bezeichnet, weil meine Strategie im Kontakt mit anderen Menschen daraus bestand, sie praktisch 1 zu 1 in Mimik, Gestik, Sprache und Inhalten zu spiegeln. Das wurde von manchen als Versuch mich aufzuwerten eingeordnet und von manchen einfach nur als unaufrichtig und nicht authentisch.
Ich selbst habe das nie absichtlich und überlegt gemacht, sondern reflexhaft aus der Überforderung heraus, die soziale Interaktion und Kommunikation bei mir (bis heute) auslöst
Als erwachsene Person ist von diesem „Spiegelverhalten aus Überforderung“ bei mir nur noch die Echolalie übrig. Das heißt: Ich wiederhole Gesagtes oder Phrasen, manchmal auch ohne, dass diese in den Gesprächsinhalt oder die emotionale Lage passen. Ich empfinde das in der Regel als Reflex wie Blinzeln, eher selten wie Brechreiz also mit etwas Kontrollrahmen.
Weil das negativ bewertet wird im schlimmsten und Besorgnis (die zu mehr Interaktion und Kommunikation führt, was mehr Belastung bedeutet) auslöst im besten Fall, ziehe ich mich eher zurück und vermeide inhaltlich profunde Unterhaltungen, wenn es mir nicht gut geht.

Ich kann mir ableiten, wann welche Probleme zu welchen Problemen, führen und wer wie viel Einblick und Begreifen meiner Kommunikationsprobleme hat. Fremde haben meist gar kein Begreifen – wollen aber in der Regel auch nicht mit mir sprechen, sondern mit dem Bild, das sie sich von mir gemacht haben. In so einem Kontakt kann ich skripten (also auf vorher überlegte Sätze/Unterhaltungen zurückgreifen, was auch echolalisches Verhalten ist) ohne jedes Problem und habe auch keine Angst davor, dann zu „papageien“. Deshalb wirke ich vor Fremden oft total entspannt, selbstsicher, stark, eloquent. Bei Menschen, mit denen ich mich aber verbinden will, will ich authentisch sein, will ich verstanden werden, will ich verstehen und gemocht werden.

Ich brauchte viel Traumaarbeit, um mir den Wunsch, das grundmenschliche Bedürfnis, nach Kontakt und Ver_Bindung zu anderen Menschen überhaupt zu erlauben und meine Angst davor zu regulieren. Ich gehe bis heute dennoch nie unbelastet und entspannt in Kontakt.
Das bedeutet, dass mein Stresspegel nie bei 0 ist, ich also immer irgendwie schon von Anfang an in der Kompensation, in der Maske, bin. Ich verberge meine Anspannung und damit auch mich selbst. Selbst vor meinen engsten Liebsten bin ich also gar nicht „authentisch“ und „echt“.

Als ich jung war, war das mein sozialer Tod unter Gleichaltrigen. Denn obwohl sie meine Behinderung nicht erkannt/gekannt haben, haben sie sie über dieses Ding sofort wahrgenommen und darauf reagiert – und würden das bis heute tun.
Heute hilft mir manchmal die Erinnerung daran, dass niemand anders ein Anrecht auf „mein wahres Selbst“ hat als ich.
Es ist in meinem Fall logisch und bei anderen Menschen – die vielleicht ähnlich maskieren, auch wenn sie nicht autistisch sind – möglicherweise der einzige Schutz vor unerwünschtem Zugriff von außen oder vielleicht auch ein Verhalten, das mit anderen Absichten aufgezwungen wurde.

Ich halte es für wichtig, sich den Anspruch an Authentizität vor allem an behinderte und anders marginalisierte Menschen genau anzuschauen. Weil ich zum Beispiel schon mehrfach erlebt habe, was die Folge meines ganz eigenen Selbstseins ist: sozialer Ausschluss, Ekel vor mir, Angst vor mir, allgemeine Besonderisierung, Unverständnis, Pathologisierung, Befremdung – und auch: Enttäuschung und Vertrauensverlust. Für manche Gemögte stellt sich die Frage, warum ich mich vor ihnen „verstelle“ oder Dinge nicht so ausdrücke, wie ich es intuitiv möchte. Sie fragen sich, ob ich ihnen nicht genug vertraue, ob ich ihnen nicht glaube, dass sie mir aufrichtig wohlgesonnen sind und und und.

Das Problem: Ich kann Menschen nur schwer lesen. Ich müsste rückhaltlos glauben, dass mir jemand wohlgesonnen ist und diese Fertigkeit ist mir kaputt traumatisiert worden. Ich kanns einfach nicht. Es hat mich zu oft schon fast um- oder in Lebensgefahr gebracht, das zu tun.
Und zweitens ist man nicht deshalb „ganz man selbst“, weil andere das gern so wollen, sondern weil man es einfach ist.
Es ist auch authentisch in mir drin, also Teil meines Selbst, eben nicht einmal vor sehr nahen Menschen nicht zu kompensieren.

Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob es für manche Menschen eine Bedrohung ist, die eigene Nichtauthentizität im sozialen Kontakt nicht zu problematisieren, sondern als logische Folge des Anspruchs an Authentizität bzw. an Verhalten, das der Norm entspricht, zu sehen. Aber das lässt sich in unserer Gesellschaft so nicht gut erfragen und herausfinden.
Und deshalb endet der Thread hier.

das Gegenteil von „behindert“

Es gibt eine ganze Reihe an sprachlichen Verrenkungen, die gemacht werden, um sich der Einsicht zu verweigern, dass man möglicherweise eine Perspektive auf behinderte Menschen hat, die sie zu etwas Außergewöhnlichem machen. Etwas Besonderem im negativen wie positiven Sinne. So werden Behinderungen zum Beispiel kategorisiert in „schwer“ oder „leicht“, in „körperlich“ oder „seelisch“ oder „kognitiv“, um sie zu etwas zu machen, das sich daran zeigt, wie eine Person mit ihrer Umwelt interagiert oder auch in ihr funktioniert. Sie werden also zu einem Merkmal einer Person.

Eine für mich besonders interessante Verrenkung in dem Zusammenhang ist die Kategorisierung von Behinderungen in „sichtbar“ und „unsichtbar“, weil sie mir im Kontext von Autismus häufig begegnet. Viele Menschen halten Autismus, besonders bei (erwachsenen) Personen, die gut (im Sinne von unauffällig) funktionieren, für eine „unsichtbare Behinderung“, weil sie die Kompensation der Behinderung anders als zum Beispiel kleine Menschen nicht mit physischen Hilfsmitteln vornehmen.
Das bedeutet: Viele Menschen halten den Umstand überhaupt kompensieren zu müssen für eine Behinderung – und nicht für eine logische Folge dessen, was die Behinderung ausmacht.

Das ist aber nicht alles, was für viele Menschen eine Behinderung „unsichtbar“ macht. Häufig haben Menschen über stereotype Darstellungen in verschiedenen Medien den ersten Berührungspunkt mit behinderten Menschen.
Medien aber haben bei der Darstellung von Eigenschaften immer das Problem, dass alles deutlich sichtbar und hörbar („allgemein erkennbar/verstehbar“) sein muss, um als Botschaft bei den Empfänger_innen anzukommen, weil diese nicht mit den Darsteller_innen interagieren können und so eine ganze Menge der zwischenmenschlichen Interaktion wegfällt, die üblicherweise dabei hilft, eine Person in vielen, wenn nicht den meisten ihrer Befähigungen wahrzunehmen.
Diese stereotypen Darstellungen werden vielfach kritisiert. Auch, weil für die Darstellung behinderter Menschen in der Regel Menschen engagiert werden, die gar nicht mit der darzustellenden Behinderung leben und so ein zwangsläufig von Stereotypen und (möglicherweise falschen) Vorstellungen eingefärbtes Spiel machen.
Ich persönlich finde es vor diesem Hintergrund eigentlich sogar ganz witzig zu verstehen, dass Medien mit ihrer stets und ständig völlig überzeichneten Darstellung behinderten Lebens ihrerseits eine Behinderung zu kompensieren versuchen und dafür von behinderten Menschen so aufs Dach bekommen, wie diese im Alltag oft für ihre Kompensationsmittel und -wege aufs Dach bekommen.

Was ist nun an der stereotypen Darstellung im Alltag problematisch? Sie bietet eine Art Stylesheet an, weil sie für viele Menschen, der einzige Referenzrahmen ist. Und viele Menschen, egal wie Medien-kompetent sie sind, können behinderte Menschen in der Folge nur an eben jenen sehr deutlich (und häufig nun einmal leider falsch dargestellten) Merkmalen er_kennen.
Sie halten entsprechend die Dinge, die sie nicht er_kennen für unsichtbar – und in Folge leider häufig auch für nicht real, nicht wahr, nicht sie selbst betreffend, fremd, gefährlich, besonders, anders. Das ist kein bewusster Prozess und das ist wichtig für mich als Person, die mit Autismus lebt, denn es bedeutet für mich, mein vielleicht nicht auch autistisches Gegenüber als in der Wahrnehmung meiner Person behindert einzuordnen.

Alle, die wegen dieses Satzes aus der Haut gefahren sind oder denen es die Schuhe ausgezogen hat, möchte ich nun bitten sich wieder anzuziehen, wir haben Ende November, nicht, dass sich hier jemand verkühlt.
Ja, ich gehöre zu den Menschen, für die eine Behinderung nichts ist, was man hat, sondern was man erlebt – egal wie man gewachsen ist, was man gut oder weniger gut oder vielleicht auch gar nicht kann. Ich halte die meisten Behinderungen für kompensierbar und alle Menschen immer irgendwann in ihrem Leben immer irgendwo und irgendwie behindert. Das bedeutet für mich nicht, dass die jeweils erfahrenen Behinderungen miteinander in ihren Auswirkungen vergleichbar sind, denn das sind sie nicht, und es bedeutet auch nicht, dass jede Behinderung zu jedem Zeitpunkt den gleichen Stellenwert im Leben einer Person hat.

Das bedeutet für mich, dass ich das Gegenteil von „behindert“ nicht in dem Begriff „nichtbehindert“ sehe.
Das Gegenteil von „behindert“ ist für mich „ermöglicht“ und deshalb im Weiteren auch „ermächtigt“.

Die konkrete Begegnung, die achtsame, respektvolle Interaktion mit anderen Menschen ist das wichtigste Werkzeug, das wir als Spezies zur Verfügung haben, um uns selbst zu erkennen, zu verstehen und zu erhalten. Stellt sich hier eine Problematik ein, sind wir darin, wodurch auch immer und in welchem Ausmaß auch immer, behindert, haben wir ein ernsthaftes Problem.
Und zwar eines, das sich meiner Ansicht nach eher verschärft, wenn man Raum für die Idee lässt, es gäbe so etwas wie „unsichtbare“ Behinderungen oder auch „nichtbehinderte Menschen“. Sie ist das Ergebnis einer Vermeidung der Erkenntnis, dass Behinderungen zum Leben gehören – und nicht zu den Menschen, die dieses lediglich verkörpern und also zwangsläufig sichtbar machen.

der behinderte Therapeut – von Kompensation und keinen Bock mehr haben

Gestern haben wir zum ersten Mal mit einem Psychotherapeuten zu tun gehabt, der eine Behinderung allgemein sichtbar kompensiert.
Das war für uns etwas Besonderes und hat viel bewegt, unter anderem gerade weil er ebenfalls mit einer Behinderung lebt.

Er lebt mit einer Hörbehinderung und trotz Prothese muss er daneben noch viel selbst aktiv kompensieren, um andere Menschen gut zu hören. Für uns war es total gut das zu sehen.
Seine Kompensation ist mir überhaupt nur aufgefallen, weil ich mich davon bedrängt gefühlt habe, dass er immer wieder mein Gesicht bzw. mein Mundbild gesucht hat. Wir können es nicht gut haben, wenn Menschen uns mit ihrem Gesicht den Eingangsbereich in die Welt verstellen oder generell viel Bewegung in den Blickbereich reinbringen, weil es uns überreizt und überanstrengt. Er aber muss das ja machen. Obwohl er die Unterstützung durch ein Cochlea-Implantat hat.

Er war mir in der Situation ein gutes Vor_Bild davon, dass Behinderungen zu kompensieren nicht damit aufhört, dass man die beste™ Unterstützung hat, die möglich ist, um sich an die Menschen anzupassen, die diese Unterstützung nicht brauchen.
Und sein Verhalten hat mir deutlich gemacht, dass Kompensation ein aktiver Prozess ist.

Außer dem Begleitermenschen sagt mir niemand, was ich eigentlich immer übernehme, um meine Schwierigkeiten zu kompensieren. Und dass das einigermaßen viel und in aller Regel sehr viel mehr ist als andere Menschen machen müssen. Alle sagen mir immer nur, wie toll ich sie kompensiere. Wie viel ich so ganz toll schaffe und bliblablö. Was für mich eigentlich irrelevant ist, weil ich in der Regel froh bin, Dinge überhaupt verstanden und dann auch noch geschafft zu haben. Das ist in gewisser Weise das Einserschüler_in-Problem. Man strengt sich unfassbar an, wird aber für die 1 gelobt – nicht für die Anstrengung und auch nicht dafür, dass man sich diese Anstrengung überhaupt gegeben hat. Sie wird einfach als gegeben angenommen. Wie Luft. Oder Bäume. Einfach so da. Ganz selbstverständlich.

Meine eigenen Anstrengungen sind für das Außermir gleichermaßen unsichtbar. Und ich selbst denke oft, dass ich mich erst dann wirklich und richtig aufrichtig angestrengt habe, wenn ich in einem Kontakt in Dissoziation und danach vor Erschöpfung in Tränen zerfalle.
Meine eigene Aktivität, die aktive Kompensation der Behinderung, ist mir selbst nicht als außerordentliche Aktivität bewusst, denn ich kann mich dabei nicht beobachten und die Menschen, mit denen ich zu tun habe, müssen nicht kompensieren, was ich kompensiere. Was bedeutet, dass ich bei niemandem beobachten kann, was ich selbst immer mache.
Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht da ist. Und auch nicht, dass sie selbstverständlich ist.

Bei dem Termin mit dem Therapeuten ging es darum abzuklopfen, ob wir miteinander arbeiten könnten.
Ich sagte ihm, dass ich schon sehr viele Therapeut_innen hatte und keine Haut mehr dafür habe, jemanden an mir lernen zu lassen. Mich als Anstoß für eine eigene berufliche Weiterentwicklung zu benutzen.
Ich habe das vor 8 Jahren auch unserer Therapeutin gesagt und musste in dem Moment daran denken. Wie ich das damals gesagt habe und doch damit okay war, dass sie sich selbst nicht als Expertin bezeichnen würde, aber versicherte, sie würde dafür sorgen, mir nicht zu schaden.
Wie ich damals den Schrei im Kopf und diesmal den Kloß im Hals hatte, als würde er gleich rauskommen und als alles zerstörende Bestie durch das Zimmer fahren. Nein, es ist echt nicht mehr drin. Nein, da ist keine Haut mehr. Da ist ein Ende, eine Grenze. Ein StoppAusEnde.

„Ja, das kann ich verstehen. Also dass man irgendwann keinen Bock mehr hat alles zu erklären und was das bedeutet“, hat er darauf geantwortet. Und ich hab mich verbunden gefühlt. Dass er das kennt, glaub ich. Sofort. Obwohl ich glaube, dass alle Menschen das kennen. Aber behinderte und chronisch kranke Leute kennen es einfach wie ich. Und er.
Für einen Moment war das wie damals in der Wohngruppe mit den ganzen anderen behinderten Mitbewohner_innen, in der wir kurz gewohnt haben. Als würden wir auf dem Sofa sitzen, rauchen und über die Welt, an deren Rand wir leben, reden. Weit weg. Als hätte das nichts mit uns zu tun, dass wir keinen Bock mehr haben uns erklären zu müssen. Als bliebe unsere Verweigerung folgenlos, weil sie nichts bedeutet.

In den letzten Wochen habe ich einen Brief an unsere Therapeutin formuliert. Am Ende, auf Seite 8, schreibe ich ihr, dass ich gemerkt habe, was das eigentlich für eine Aussage ist, wenn ich sage, dass ich keinen Bock mehr habe, mich zu erklären. Ich habe erkannt, dass ich das nur zu anderen Leuten mit meinen Anstrengungen im Leben sagen kann, um ernsthaft darin verstanden zu werden – und alle anderen das als vorübergehende Motivationslosigkeit verstehen. Verstehen müssen, denn sie sehen die Anstrengung ja nicht. Sie begreifen ja auch gar nicht, was ich ihnen damit offenbare. Sie begreifen nicht, dass ich ihnen damit sage, dass ich mich ihnen nicht zeige, mich vor ihren Augen verstecke. Mich ihnen und ihrer Einsicht entziehe. Aus dem Kontakt gehe und ihnen nichts weiter als einen reflexhaft Phrasen und Satzteile ausspuckenden Fleischsack zur Interaktion verfügbar mache, in den sie m.eine Persönlichkeit hineinprojizieren, um ihrem eigenen Handeln Sinn und Raum zu geben. Niemand begreift diese Art von Suizid.

Meine Verweigerung ergibt sich nicht daraus, dass die Kompensation in der Kommunikation, in der Erklärung, zu anstrengend ist. Sie ergibt sich daraus, dass sie nicht dazu führt, dass ich verstanden werde. Daraus, dass sie so oft vergeblich ist.
Und man doch nie umhinkommt, denn ohne Kommunikation keine Ver_Bindung.

Diskriminierung – Diskrimination – Inklusion

Als Diskriminierung wird die Benachteiligung und Abwertung von Individuen aber auch Gruppen bezeichnet, die sich aus bestimmten Wertvorstellungen ergeben, die wiederum durch bestimmtes Verhalten, Urteilen und unbewusste Verknüpfungen (und auch das Herstellen solcher Verknüpfungen) ausgedrückt werden.

Diskrimination ist ein altes Wort für Differenzierung. Man hat es verwendet, um die Absonderung, den Ausschluss, die negative Diskriminierung zu benennen.

Wenn manche Menschen heute versuchen Inklusion zu machen, dann fangen sie meistens beim Ausschluss an. Das ist das einfachste, weil es eindeutig negativ ist. Es geht um Diskrimination. Darum, dass Menschen etwas nicht bekommen oder nicht haben, was andere bekommen und haben. Da ist ein Loch, ein negativer Bereich, wenn man so will und viele Menschen denken, dass, wenn dieses Loch gestopft ist, die Inklusion passiert ist.

Diskriminierung hingegen ist etwas, das durch soziales Miteinander entsteht. Durch soziale Not_wendigkeiten. Durch Prozesse von Kultur, Zivilisation, aufwachsen in einer Gesellschaft, die ableistisch ist und bleibt, weil sie von Ableismus und anderen Formen der Gewalt geprägt ist. Und „geprägt“ meint hier so viel wie „direkt, wie indirekt, wie by proxy davon traumatisiert“.
Niemand steht morgens auf und denkt: „So, heute diskriminier ich mal n paar Leute mit Epilepsie, heute kommt die Flatterbeleuchtung in die Bushaltestelle umme Ecke.“ und reibt sich die Hände vor Vorfreude aufs Leid anderer.
Aber mit jedem Busticket, das man kauft, bezahlt man Leute, die dafür Verantwortung tragen, was für eine Beleuchtung in die Haltestellen kommt. Leute, die zur Schule konnten, weil sie das Recht dazu hatten, die eine Ausbildung, ein Studium machen konnten, weil sie sich an die Bedingungen anpassen konnten, die zu keinem Zeitpunkt auf die Idee kommen mussten und konnten, dass sie vielleicht aktiv Dinge tun, die auch Menschen betreffen, die in mehr als Haarfarbe, Musikgeschmack und Konfliktfähigkeit anders sind, als sie selbst.

Für diese, für die meisten, Leute, die in ihrem Leben nie diskriminiert wurden, sind die Leben behinderter Menschen insgesamt ein negativer Bereich. Es gibt sie einfach nicht. Nicht wirklich. Es gibt ~die Behinderten~ „die Anderen“, die man von sich selbst differenzieren, diskriminieren kann, aber, weil an der Stelle eine Diskrimination passiert, wird da zwischen „Ist“ (oder auch „echter Mensch“, oder „so wie ich/mir gleich“) und „Nichtist“ (also „eigentlich nicht so richtig Mensch“ oder „nicht so wie ich/mir fremd“) unterschieden – und eben nicht nur diskriminiert, wie man das heute so gerne eingrenzt, weil man sich mehr Pragmatismus im Inklusionsgeschehen wünscht, als ginge es um eine Baustelle, die man nur mal richtig glattziehen muss und dann läuft das schon.

Sorry, nee.
Es ist einen Tucken schwieriger als miteinander lieb zu sein. Positiv auf Behinderung und Menschenleben zu gucken. Nicht alles immer so schwer zu nehmen, so persönlich, so kompliziert. Inklusion ist nicht das gute Leben für alle. Es ist Leben für alle. Die anerkennende, beachtende, as in „achtsame“ Differenzierung von Leben in all seinen Formen und Ausgestaltungen.
Inklusion muss Platz haben für Hässlichkeit, für Ekligkeit, für Awkwardness, für nervtötende Klugscheißerei, für kritische Spitzen, für Zähneknirschen und Unzufriedenheit. Für Unterschiede und auch für Unterscheidung. Sonst ist es keine Inklusion.

Man braucht Diskrimination, man braucht Diskriminierung, um zu ordnen. Nicht, um zu hierarchisieren, nicht um zu bewerten, sondern um zu strukturieren, um effizient sein zu können und so das eigene und das Leben anderer Menschen zu sichern.
In unserer Gesellschaft wird aber diskriminiert, um Werte zu kommunizieren und zu legitimieren. Um Macht zu erhalten, auszubauen und zu stabilisieren.

Es ist nicht damit getan Ausschluss zu verhindern. Menschlichkeit zu feiern. Sich gegenseitig immer wieder zu erzählen, alle seien Mensch und ultrawertvoll, einfach, weil man da ist.
Das stimmt so einfach nicht. Man ist wertvoll, sobald man für wertig erklärt wird. Und damit beginnt das ganze Problem schon. Ganz random. Völlig alltäglich. Absolut fest in jede einzelne soziale Geste, die man macht eingebunden – auch in die, die niemandem aktiv, offensichtlich schaden oder Rechte verwehren.

der Thread, in dem Hannah aufschrieb, dass Inklusionsaktivismus nur wie ein Serviervorschlag funktioniert

Ich habe gestern diese Grafik von @PacingPixie bei Instagram entdeckt und sie bei Twitter ausformuliert. Lief nicht. War klar. Ist trotzdem wichtig, deshalb hier nochmal. Für mich, für euch, for whom it may concern. Mit weniger Fehlern und einigen Ergänzungen.
3 Kreise, die sich alle überschneiden und 4 Flächen ergeben1. Does not confront ableism2. Productive under capitalism3. Appearance aligns with beauty standardsergibt 4. Palatable disabled people
Für uns zeigt dieses Bild die deutsche Inklusionsbubble.
Wir haben sie oft kritisiert, aber nie mit den Worten „konfrontiert Ableism nicht“. Aber es ist so wahr! Aufklärung darüber, was Ableism ist; reverse „Witzigkeit“
über ableistische Praxis; sarkastisch-zynische Antworten auf ableistische Diskriminierung sind keine Konfrontation. Das ist Aufzeigen, aufklären, erklären. Und ja, das kann für Leute, die leugnen oder vermeiden wollen, konfrontierend wirken, hat am Ende aber doch immer eher die Wirkung wie der Hinweis „Serviervorschlag“ auf Fertigessen: Man formuliert das Offensichtliche (nämlich, dass Dinge anders sein könnten, als sie es sind, wenn man nichts damit macht), weiter nichts.
Ableism im Grundsatz zu konfrontieren ist etwas, dass (sich) die meisten behinderten (rassistisch, klassistisch … diskriminierten) Leute gar nicht leisten können, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der praktisch jede Infrastruktur, jede Interaktion auf dem basiert, was Diskriminierung bewirkt: Ein globales Ungleichgewicht der Macht und also Einflussbereiche und also Kapital, das diese Position sowohl etabliert als auch stabilisiert und sichert (und also auch erweitern hilft). Sich dagegenzustellen, kann jede Lebens- und Schutzgrundlage entziehen und also Lebensgefahr bedeuten.
>Ich weiß, dass das, was ich hier gerade aufschreibe 0 anschlussfähig ist. 0 Mainstream. 0 Komma 000 einfach verständlich, aber genau das ist, was Ableism ist und für behinderte Menschen bedeutet. Das muss konfrontiert werden – da muss der Kampf, wenn man findet, dass es einen braucht – hin. Weg von individuellen Umgängen damit, wie es ist, man zum tausendsten Mal erklärt hat, dass man XY nicht kann oder AB braucht, um Zugang zu bekommen. Weg davon, sich möglichst edgy auszudrücken, wenn jemand übergriffig war oder wenn man nicht zeigen will, dass die Briefe vom Sozialamt richtig krass weh tun oder nerven oder unsinnig sind – gerade, weil man weiß, dass sie eine_n da entmenschlichen.
Wir müssen dahin kommen, zu sagen: „Ich werde ohnmächtig gemacht – ich werde entmachtet, weil ich behindert/chronisch erkrankt bin – mir werden Menschenrechte nicht
gewährt, weil mächtige Menschen etwas davon haben, dass ich behindert bin.“ Als Beispiel. <
Zweiter Punkt: Ist euch aufgefallen, dass die behinderten Aktivist_innen, die ihr im Fernsehen oder im Netz total oft seht, einen Job haben oder ihren Aktivismus zum Beruf gemacht haben (machen mussten)? Ist ein Privileg. Eins, das die wenigsten behinderten Leute haben und das, worüber man aber noch am ehesten relatable für Leute ist, die Behinderungen leicht und einfach kompensieren können. So genannte „Nichtbehinderte“, die DER Maßstab sind. Immer noch. Bei allem. Auch für Sender und Sponsoren. Zum Beispiel.
>Ich halte es für wichtig das aufzuzeigen, weil es bedeutet, dass das eine Achse ist, über die behinderte Leute benutzt werden, während sie für ihre Sache eintreten und dass es also vermutlich total egal ist, ob man in der Rolle über Inklusion und Menschenrechte redet oder eine Erklärfunktion hat oder als Diversity-Marker platziert ist. Jede wie auch immer gestaltete Öffentlichkeit ist in erster Linie von und für das „nicht behinderte“ Publikum gemacht und ja, nein, man wird nicht öffentlich, prominent, berühmt, Publikumsliebling oder eine Stimme, auf die alle hören, wenn man dieser Öffentlichkeit sagt, dass sie 24/7 Unrecht tut (obwohl sie das in der Regel gar nicht will und bewusst bemerkt) und praktisch alles, worauf ihr Welt- und Wertbild fußt sich ändern muss, um das zu beenden.<
Der dritte Punkt: Schönheit. Der Freund hat mir das neulich ganz selbstverständlich aufgezeigt, als ich mich darüber aufgeregt habe, wieso so viele Leute, einer unangenehmen Inklusionsbubbleperson folgen. „Ja, guck sie dir doch an.“
Soziales Kapital über Style zu generieren, geht in Zeiten der Hyperindividualisierung total einfach. Klar hilft es, wenn dein Körper normschön ist, aber wer, wenn nicht behinderte Leute können völlig logisch legitimiert ihren ganz eigenen Style fahren und damit anziehen?
>Ja, viel davon kommt aus der Not und ist keine freie Entscheidung, aber das war auch noch nie anders. Looking at Schwarze Leute, at arme Leute etc. deren Styles sich auch so entwickeln bis sie von mächtigen (weißen, reichen) Leuten übernommen werden, weil es das ist, was sie tun und nur so legitimieren können, dass die deren Style sie übernohmmen und verzerrt haben, überhaupt so aussehen dürfen, wie sie es tun. Bedeutet: Ja, du hast vielleicht keine 90-60-90 mit thigh-gap und Zähne wie ein Gartenzaun, aber deine bunten Haare und die Exzentrik deiner Musterwahl ist für viele Leute einfach nachzumachen – sie können dich spiegeln und dir deshalb nachsehen, dass du behindert bist. So können sie dich als Mensch annehmen und denken – und eben nicht einfach, weil du tatsächlich einer bist.<
Und so, dieser Gemengelage entstehen tatsächlich die „palatable disabled people“ – die angenehmen behinderten Leute, die den Leuten, die an ihrer Diskriminierung aktiv wie passiv beteiligt sind, schmackhafte Inklusionshäppchen servieren. Kostenlos. 24/7. Ohne Kante, ohne Aua, ohne den Gesichtsverlust, der damit einhergeht, wenn man anerkennt, dass man mit behinderten Menschen umgeht als wären sie eigentlich, ja so richtig wirklich, keine Menschen.
Keine Ermächtigung entsteht durch Einsicht der Mächtigen in ihre Privilegien und Verfehlungen. Niemand wird kommen und sagen: „Aah, ja, jetzt hab ich verstanden, wir müssen alles von Grund auf ummodeln und anders denken, damit alle teilhaben können und gleiche Möglichkeiten haben, alles zu machen, was sie wann wie wo wollen – ja dann mal los.“
Won’t happen.
Ich will mit dem Thread sagen, dass wir wegen der Unkonfrontierbarkeit nicht vorankommen mit unseren Forderungen als Aktivist_innen für Inklusion. Seid schön, arbeitet, macht mit ~“Nichtbehinderten“~, was ihr wollt, aber tut nicht so, als würdet ihr damit voll was gegen Ableism machen.
Ableistische Diskriminierung entsteht nicht aus einem Bildungsdefizit darüber, dass es Ableismus gibt oder welche Formen er hat oder mit welchen Worten er kommuniziert wird, sondern aus der ganz alltäglichen Erfahrung, dass jede_r in den Arsch gebissen ist, wenn sie_r irgendetwas (noch) (niemals) so kann, wie es erwartet wird – und dass das niemanden schert außer alle anderen Gebissenen.
Man kann immer nur etwas gegen den Ableismus machen, den man selber hat und den man selber ausübt. Niemand wird etwas gegen Ableismus machen, solange man so viel davon hat. Egal, ob behindert oder (vermeintlich) nicht.
Und ja, so leid es mir tut: Die deutsche Inklusionsbubble, der ganze „Wir machen hier Inklusionsaufklärung, guck der Rollifahrer da ist unser Moderator und der erzählt uns was über seine Arbeit für die Gesellschaft“-Apparat, hat ebenfalls voll was davon, dass es Ableismus gibt.
Und das ist ein Problem.

der elektronische Schwangerschaftstest, die Barrieren, das Gleiche – #AbleismTellsMe

Kurz nach der #AbleismTellsMe-Welle, hatte ich den Thread einer Person in der Timeline, die elektronische Schwangerschaftstest auseinander genommen hat und zeigte: In diesen Dingern ist nur ein Papierstreifen drin, der von einem Sensor gescannt wird, der je nach Ergebnis ein Wort ins Display gibt.
Für alle Personen, die sich so einen Test kaufen, weil sie als genauer (statt eindeutiger) vermarktet werden, wirkt das natürlich wie Betrug. Man bezahlt zwischen 10 und 20 € für so ein Ding und dann ist da genau der gleiche 50 Cent-Streifen drin, den man* auch selbst ablesen kann.
Ich schrieb daraufhin diesen Tweet:

https://twitter.com/theRosenblatts/status/1301792012321148928?s=20

Es entwickelte sich einige Reaktion darauf, in der ich wieder einmal bemerkte, dass manche Menschen, wirklich kaum einen Schimmer davon haben, wie es ist, sich schwanger zu wähnen und in welchen sozialen, seelischen, ökonomischen Lagen man als Person, die schwanger werden kann, einen Schwangerschaftstest macht. Und, dass das wirklich nicht vergleichbar ist mit einem Blutzucker- oder Alkoholtest.
Und, dass Menschen, deren Alltag nicht zu einem großen oder größeren Teil, als bei der Mehrheit der Menschen, daraus besteht über Be.Hindernisse bzw. Barrieren und ihren Abbau nachzudenken, wirklich immer den kompliziertesten Weg suchen, um das Gleiche zu ermöglichen.

Im Fall eines Schwangerschaftstestes würde es völlig reichen, die Testflüssigkeit nicht als dünnen Streifen, sondern als Worte aufzubringen und sie nicht in blassrosa zu färben, sondern in kontrastreicherer Farbe. Menschen, die gar nichts sehen können, wären dann vermutlich zwar nach wie vor auf eine Lesehilfe angewiesen, wie etwa die Apps, die Text auf Fotos vorlesen können, aber auch die können sie selbst bedienen und darum geht es ja am Ende. Etwas selbst und selbstbestimmt tun können. Privat. Für sich allein. Ohne große finanzielle Belastung.

In den folgenden Stunden kam ich zu dem Schluss, dass dies der Kerngedanke ist, den die meisten Menschen wohl einfach nicht haben, wenn es um Barrieren im Leben behinderter Menschen geht. Selbstbestimmung, Privatsphäre, Unabhängigkeit, Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten – und nicht „alles was Nichtbehinderte haben“ oder „alles wie Nichtbehinderte machen“.

Erstens mal ist es schon ein Vermeidungsmärchen, in „behinderte“ und „nicht behinderte“ Menschen einzuteilen, weil alle Menschen immer in irgendwelchen Lebensbereichen behindert werden. Es sind die (sozial, strukturell, institutionell) gegebenen Möglichkeiten im Zusammenspiel mit den individuellen Fähig- und Fertigkeiten Be.Hindernisse kompensieren zu können, die am Ende zu dem werden, was mit der für mich unbefriedigend schwammigen Bezeichnung „Behinderung“ benannt wird.
Zweitens sind Menschen, die keine oder wenig Schwierigkeiten haben, selbstbestimmt zu leben und Barrieren mit wenig Kraft_Aufwand kompensieren zu können, nur aus einem Grund überhaupt der Maßstab für Menschen, denen es anders geht: Gewalt – abstrahiert aus der Macht der Mehrheit.

Dieser Maßstab, diese „abled supremacy“, führt dazu, dass man bei behinderten Menschen vor allem die Potenziale der Gleichheit zeigt und hervorhebt, um eine Rechtfertigung für Barrierenabbau oder generellen Strukturwandel zu generieren. Letztlich geht es dabei aber nur um Zugang und Einpassung (in die Idee von „Nichtbehinderung“) – also Integration. Grundlegend verändert sich dadurch aber kaum etwas.
Ein Beispiel dafür sind Rampen zu Geschäften in der Altstadt. Die Häuser, in denen diese Geschäfte sind, wurden schon zum Zeitpunkt ihrer Erbauung nicht für Rollstuhl/Rollator/Kinderwagennutzer_innen und auch nicht für dicke oder kleine Leute oder Leute, die bestimmte Abstandsregeln einhalten müssen, konzipiert. Deshalb haben sie einen Einstieg. Deshalb sind sie so schnucklig klein und winkelig. Deshalb helfen Rampen zwar beim Einstieg, sind aber am Ende doch oft nur ein teures kompliziertes Hinweisschild auf den Umstand, dass mehr als rein, aus der Mitte des Ladens gucken, mit Hilfe einer anderen Person finden, wählen, kaufen und rückwärts wieder raus, gar nicht drin ist. Es wird nur die gewünschte Funktion ermöglicht.
Solange eine Person, die einen Rollstuhl oder Rollator benutzt, in einem Laden nicht auch was mitgehen lassen kann, ist er nicht barrierefrei. Punkt.

Der Maßstab muss sein, dass das alle Menschen die gleichen Ziele erreichen können.
Das meint Selbstbestimmung, Privatsphäre, Unabhängigkeit, Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten und bedeutet, dass es viele neue Maßstäbe braucht, die in ihrer Unterschiedlichkeit legitimiert und überall ganz selbstverständlich inkludiert werden – und zwar von Anfang an.
Das Erbe der „abled supremacy“ wird natürlich noch viele Jahre bestehen und sich überall zeigen, aber wir können heute andere Entscheidungen treffen. Das bedeutet: Wenn wir finden, dass Wegwerfelektronik ein Problem ist, dann erfinden wir keine Alternativen, die (in ihren Möglichkeiten) behinderte Menschen als Nutzer_innen gar nicht mitdenken, sondern überlegen uns, was wir von Produkten/Gebäuden/Menschen/Institutionen/Strukturen wollen und überlegen, wie alle das auch bekommen können – egal, wie gleich oder ungleich wir sind.
Wir sind alle ungleich. Wir alle sind „die Anderen“.
Aber wir wollen alle das Gleiche.

was es macht, wenn man behinderte Menschen zu Menschen mit Behinderung macht

Manchmal ist es für Freund_innen und Bekannte, für Lehrer_innen und Behandler_innen, die mit mir zu tun haben, gut und wichtig, dass ich ein Mensch mit Behinderung bin. Dann bin ich nämlich einfach da und die Behinderung, die ist nur eine Beigabe. Ein Merkmal wie ein T-Shirt, das man manchmal trägt, das grundsätzlich aber keine weitere Bedeutung hat. Man muss sich nicht darum kümmern. Es ist nicht weiter relevant. Man ist ja so frei. Man muss sich nicht auch noch all den unangenehmen, anstrengenden Implikationen widmen, die mit der Thematik einhergehen.

Was ist denn eine Behinderung? – Was hast du denn? – Ich sehe nur dich, du kommst mir so normal vor – du bist doch nicht behindert. – Was ist in unserem Kontakt gut und was nicht? – Behindere ich dich etwa? Ich oder etwas, das ich tue, kann doch unmöglich eine Behinderung sein! Behinderungen sind doch hier … äh sabbern und schaukeln oder hm, naja, irgendwie so körperlich nicht so ganz …

Schon so lange versuche ich, andere Menschen nicht als meine Behinderung wahrzunehmen. Ich versuche unverständliche, unkonkrete Kommunikation als ein Add-on zu sehen, das nichts mit ihnen zu tun hat. Ihre Kommunikation und Interaktion sind nicht sie, ist nichts was etwas zu bedeuten hat. Ich versuche immer nur sie zu sehen und mir alles andere zu erarbeiten, mit aller Anstrengung, die das für mich bedeutet.
Aber ohne gegenseitige Verständigung und gegenseitiges Verstehen ist alles nichts. Denn was bleibt denn von jemandem außer der verkörperte Wert, den ich zuschreibe, weil ich nur sie_ihn sehe? Das ist nicht genug und wird der Komplexität und Fülle des Am und im Leben-Seins der Person nicht gerecht. Es ist unfair, jemanden nur als Mensch zu sehen, weil es das ist, was am nächsten an einem oder einer selbst dran ist. Was am ehesten nachvollziehbar ist. Was man wenigsten Versteh.arbeit bedeutet.

Aber manchmal ist das nötig. Manchmal kann man nicht anders. Manchmal muss man auch nicht anders wollen dürfen. Nicht immer schadet man damit sofort.
Und manchmal ist das so – und es verletzt mich, die behinderte Person, trotzdem. Trotz aller Bereitschaft dafür, die Notwendigkeiten, Bedarfe und Sachzwänge anderer Menschen anzuerkennen.
Und das schadet.

Unsere Podcastepisode über Behinderungen in Viele-Sein.

31072020 – Ernte

Als wir noch in der Stadt gewohnt haben, war unsere Wohnung eine Insel. Manchmal auch ein Bunker.
Ja, wir haben den Nachbarn telefonieren gehört und wenn das Müllauto durch unsere Straße fuhr, hat alles gewackelt, aber es war ruhig. Ja, die Grünflächenpflege wurde nie angekündigt und deshalb kam das stundenlange Dröhnen der Aufsitzrasenmäher und Laubpuster stets unvermittelt – ja, das war auch da.
Aber dort wurde nie geernet. Nie mit Gülle gearbeitet. Nie hat dort jemand illegale Minimotorradselbstbauten gebastelt und Testfahrten gemacht. Um halb 8 am Abend ohne Sinn und Verstand. Keiner unserer Nachbarn war Truckfahrer. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich im Bullergeddo mal 3 Tage hintereinander immer wieder dröhnenden Krach über länger als 20 Minuten ertragen musste.

Die Ernte gerade verlangt uns wirklich viel ab. Die Nachbarn auch.
Und wir noch oben drauf. Logisch. Trauma_logisch.

Wir verlangen von uns, den Schmerz wegzudrücken. Wir verlangen uns Atemübungen ab, zählen uns runter. Aktivieren unsere Rationalität und halten sie aktiv so weit es geht. Wir tragen unseren Gehörschutz unter den noise cancelling Kopfhörern, um im Büro arbeiten zu können. Lassen nicht zu, dass uns die Motorik komplett entgleist, während links von uns eine Maschine so groß wie ein Einfamilienhaus und rechts eine kleinere Roggen ernten, direkt am Weg jemand Steine schneidet, während wir telefonieren und die Hunde links und rechts an all dem so schnell wie möglich vorbeidrängen. Mein Gang wird dennoch staksig, mein Verständnis für das, was ich sehe, verzögert sich immer weiter, wir stolpern den Weg so weit es geht, nur um zu merken, das da noch eine dritte Maschine unterwegs ist und die Welt einen Moment lang eine ausweglose Hölle. Und wir atmen, staksen, sind Kopf, Wort, Gespräch, stolz nicht zu weinen, nicht gefallen zu sein, nicht in Traumashit zu rutschen. Die Hunde noch fröhlich schnuppernd an den Leinen zu haben.

Wir gehen weiter. Da vorne ist ein Miniwäldchen. Schatten. Entfernung zu dem Krach. Endlich. Wir erwarten von uns, uns nicht zu bemitleiden, nicht zu bedauern, dass wir jetzt hier sind und nicht im Teutoburger Wald, wo durchgehend Schatten und überwiegend Waldstille ist. Wir erwarten von uns, dass wir akzeptieren, dass es so ist wie es ist und immer wieder so sein wird.

Wir haben früher schon ländlich gelebt. Da haben wir in solchen Zeiten Paracetamol überdosiert. Später Ibuprofen, weil Paracetamol ja so schlecht für die Leber ist. Damals haben wir nicht von uns verlangt, den Schmerz, der mit dauerhafter Überreizung einhergeht, einfach so zu ertragen. Da haben wir uns dazu geäußert und die Menschen haben uns gesagt, man könne da nichts dran ändern, nur damit leben. Es nervt ja alle. Von „Schmerz“ zu sprechen sei völlig übertrieben und reparaturbedürftiger Fehler in uns. Und dann haben wir angefangen uns aufzuschneiden, um den Schmerz echt zu machen. Einen Schmerz zu erleben, gegen den man etwas machen kann. Mit dem uns niemand zu leben wünscht. Den alle sehen und anerkennen. Der die Erwartungen an uns weniger statt mehr werden lässt.

Heute sind die Erwartungen an uns nicht mehr formuliert. Wir enttäuschen sie in der Regel ohne jedes Vorzeichen. Erwarten von uns, nicht so viel darüber nachzudenken, weil Erwartungen mehr mit Gewohnheit zu tun haben als damit, dass sie berechtigt sind.

Heute ist Krachtag 3. Ich habe beinahe einen Nachbarschaftskrieg angefangen, den der Freund noch rechtzeitig verhindert hat.
Er kann bei offenem Fenster schlafen, während die Erntemaschinen dröhnen und der Nachbar seinen 10 Quadratmeter-Rasen mit seinem Aufsitzmäher von 5 Millimeter Höhe auf 2 Millimeter Höhe schneidet.

Ich weiß, dass niemand von uns erwartet, mit etwas zurechtzukommen, das sich für uns zuweilen als nicht vereinbar mit dem Leben darstellt. Ich weiß das, weil ich weiß, dass es sich für die meisten nicht so anfühlt, sondern einfach nur laut. Wenn überhaupt.

25072020 – nie „wirklich“ arbeiten

Vor uns liegen 5 Wochen ohne Therapietermine. Davon haben wir 3 Wochen Urlaub geplant.
Zeiten wie diese möchte ich gern als Auszeiten sehen. Der erste Tag beginnt, ein Schalter kippt, alles auf Pause. Stopp. In unseren drei Urlaubswochen wollen wir in Ruhe arbeiten. Am neuen Buch, an so etwas wie täglicher Routine, unzerschossen von Fahrten nach Bielefeld, von Terminen und der Vielzahl der Prozesse, die wir am Tag so durchmachen, um alles ein bisschen zu schaffen, statt eine Sache ganz.

Vor ein paar Tagen kam die Ablehnung eines Antrags auf eine geförderte Stelle vom Jobcenter. Die Stelle sei nicht geeignet, ich sei nicht geeignet, das Gebot der Wirtschaftlichkeit dies das. So ein Brief in einem Monat mit zwei Buchsätzen, einer selbst strukturierten Weiterbildung und 12 Texten, die nicht mit verbundenen Augen und wahllos in die Tasten hauend entstanden sind, mehreren Teamgesprächen und Korrespondenzen, an denen durchaus auch Verantwortung hängt, während wir durch einen erheblichen Konflikt mit der Therapeutin und der Therapie an sich gingen.

Das wars im Grunde mit der Aussicht auf einen Stopp und in Ruhe arbeiten ohne Mailprogramm im Hintergrund, ohne Erreichbarkeit, ohne vollständiges Eintauchen in das, womit ich mich beschäftigen will.
Mein hoffentlich zukünftiger Arbeitgeber wird einen Widerspruch schreiben und wir werden eine Stellungnahme schreiben. Wir wussten schon, dass das kommen könnte, hatten befürchtet, dass es so kommen würde. Das Jobcenter möchte mich einfach super gern stabilisieren. Offenbar vor allem in meinen als „Arbeitslosigkeit“ eingeordneten Zustand.

Ich konnte leider nicht herausfinden, wie viele Menschen im Leistungsbezug des Jobcenters auch mit einer Behinderung leben und wie ich seit Jahren mit solchen Begründungen weder Fördermaßnahmen, noch Weiterbildungen, noch Kleinststellen, wie die, die wir versuchen gefördert zu bekommen, erhalten. Es werden viele sein und viele werden auch auf die eine oder andere Art arbeiten wie ich. Nämlich nie „wirklich“ und deshalb auch wie ich, nie „wirklich“ mal Urlaub haben.

21072020

„Ey voll behindert Alter“ Die Straßenbahn fährt ab. Ohne die drei jungen Leute mit den Masken unterm Kinn, bunten Turnschuhen an den Füßen und einem Gebaren als gehöre ihnen die gesamte Haltestelle. In meinem Kopf gehe ich hin, halte meinen Schwerbehindertenausweis neben mein Gesicht und sage: „Ich bin voll behindert – dass ihr die Bahn nicht gekriegt habt, ist nur scheiße.“ und dann gehe ich und sie sagen nie wieder „behindert“ statt „kacke“, „scheiße“, „schlecht“, „nervig“, „ärgerlich“.

Tatsächlich tue ich nichts. Schaue weg, mache meine Musik lauter und bleibe in meiner Maske. Meinem Abled-Passing. Der oft als so bezeichneten „Unsichtbarkeit“ m.einer Behinderung. So wie sie sich verhalten, wird eine_r von ihnen mal krass auf die Fresse kriegen, einen Unfall mit einem völlig übertriebenem Auto haben oder so viel zu spät mit einer schweren Krankheit zum_zur Arzt_ Ärztin gehen, sodass das Thema „Behinderung“ irgendwann auch in ihrem Leben eine andere Rolle spielt als heute.

Wir werden alle behindert geboren und sterben behindert. Behindert zu sein, behindert zu werden, das ist Teil jedes Lebens und es hat nur einen Sinn, Unterschiede zu kreieren, indem man aus Leuten, die ihr Leben lang behindert sind und werden, zu einer homogenen Gruppe zusammenfasst. Ausschluss. Abschluss. Grenzen. Die Verstärkung und dadurch so wahrgenommene Bestärkung der Eigenschaften der Gruppierung, als ginge es um unumstößliche Eigenschaften. Feste Zustände. Unveränderlichkeiten.

Behinderung ist kein schlechtes Wort. Es ist ein notwendiges Wort. Jede Person, die ausrückt, wenn es Behinderungen auf der Fahrbahn gibt; jede Person, die damit beschäftigt ist, Lösungen zu entwickeln, wann immer es zu Behinderungen im Betriebsablauf kommt; alle, die auf Assistenzen angewiesen sind und beim Amt Anträge ausfüllen, um die Finanzierung dessen zu ermöglichen … – sie alle wissen, wie wichtig dieses Wort ist. Und was es bedeutet. Dass es nichts weiter beschreibt als einen Umstand. Dass es nichts mit persönlichen Eigenschaften zu tun hat. Alle wissen, dass „Behinderung“ niemals auf etwas deutet, das in einer Person liegt, sondern immer in dem Zusammenspiel mit ihrer direkten und indirekten Umgebung.

Auch, dass das Wort als Beschimpfung oder negative Bewertung verwendet wird, hat etwas mit diesem Zusammenspiel zu tun.
Behinderungen stören. Auf der Autobahn, im Betrieb, im Leben von Menschen.
Und Menschen funktionieren so, dass sie sich störendes, negatives deutlicher einprägen als reibungslos ablaufendes. Die Frage ist, was es für das Miteinander der Menschen bedeutet, wenn Begriffe, die von so hoher Relevanz für viele Menschen sind, für andere als Beleidigung oder Fluch verwendet wird.

Ist es ein Ausdruck von Behinderten – und damit Menschenfeindlichkeit?
Oder Ausdruck von Behinderungsfeindlichkeit und damit etwas logisch nachvollziehbares?