#1 „Melden Sie sich, wenn was ist.“

„Wenn was ist“ gehört für mich zu den schlimmsten Formulierungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Ich halte sie für gewaltvoll, schlecht und falsch. Will sie weder lesen noch hören. Will mit niemandem zu tun haben, der mir das sagt.
Leider haben wir sie alle schon gehört und sogar selbst in den Strom allgemeiner Alltagsgewaltätigkeiten gegeben. Diese Formulierung ist so üblich, dass viele Menschen sogar glauben, sie würden damit etwas sagen können. Für mich nur schwer nachvollziehbar.

„Wenn was ist“ wird verwendet, um der eigenen Annahme möglicher Abweichungen Ausdruck zu verleihen. „Melden Sie sich“, um ein Bindungsangebot zu machen, dass von_m Klient/Patient_in ausgeht.
„Im Fall einer Abweichung können wir in Kontakt gehen“, kommt also am Ende dabei heraus.

Problem: Mit professionell Begleitenden, Helfenden, Unterstützenden, Behandelnden ist man nie in Kontakt, weil „nichts ist“.
Die Grundlage professionellen Kontaktes ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich negativ definiert. Also über die Abwesenheit, das Fehlen von etwas bzw. die Anwesenheit eines Defizits. Sobald man also in einem Betreuungsverhältnis, einem therapeutischen Verhältnis, einem pflegerischen Verhältnis miteinander ist, hat man sich als Hilfe-/Unterstützungs-/Behandlungssuchende Person bereits gemeldet, weil ein ganz spezifisches „etwas“ ist. Nämlich Bedürfnisse, die vom familiären und sonstig näherem persönlichen Umfeld nicht erfüllt werden – also, weil „niemand (da) ist“.

Ich habe lange versucht zu entschlüsseln, was das gemeinte „Etwas“ von dem „Etwas“ unterscheidet, das mich mit Helfer_innen und Behandler_innen zusammenbrachte.
In betreuten Wohngruppen konnte das gemeinte „Etwas“ viele verschiedene Dinge bedeuten.
„Etwas war“, wenn ich eine Sache aus abgeschlossenen Räumen brauchte. „Etwas war“, wenn ich als Heimkind irgendwelche Elternzettelage in der Schule oder beim Amt einzureichen hatte. „Etwas war“, wenn meine seelische Not unerträglich für mich wurde. Mir erschloss sich nie, warum mir extra noch gesagt wurde, dass ich mich dann melden sollte, denn was sollte denn die Alternative sein? Ich bin nicht so aufgewachsen, dass ich nicht ständig und immer und immer die ganze Aufmerksamkeit bei den Leuten hatte, die am meisten über mich zu bestimmen hatten. So wirkte dieses sicherlich sinnvolle Bindungsangebot „dann melde dich“ als Erinnerung daran, dass meine ersten Gedanken zur Problemlösung oder Meinungsfindung auf gar keinen Fall bei meinen Kompetenzen und mir anfangen dürfen, sondern immer erst bei den Autoritäten in meinem Leben. – Und zwar in Bezug auf alles, was passiert, weil es „etwas“ ist.

Im ambulanten Betreuungskontext hat sich das etwas aufgelockert, weil ich im Alltag mehr Autonomie hatte und gestalten konnte. Hier wurde es dann allerdings kompliziert, weil ich kein eigenes Konzept und Übung darin hatte, in Autonomie und ihren Folgen zu leben. Ich war die Betreuung gekommen, weil meine schwere Symptomatik meine Möglichkeiten der Selbstbestimmung extrem begrenzten und teils auch verunmöglichten. Und weil ich als 18-jährige Person noch nie selbst über meinen Wohnraum und dessen Ausstattung bestimmt hatte. Ich wusste nicht, nach welchen Gesichtspunkten ein Haushalt zu führen, ein Finanzbudget einzuhalten, zukunftssichere Entscheidungen zu treffen sind. Ich hatte unerträgliche Panik und Kontrollverluste über mich, wenn ich diese Entscheidungen selbst treffen sollte und funktionierte mich durch die Aufgaben durch, wenn ich in Begleitung von und in Kontakt mit Autoritäten (meiner Betreuerin) war. Was letztlich der „akzeptierte Kontrollverlust“ über mich war, denn er wirkte sich nicht als dysfunktional aus. Dennoch war das ja „etwas, was war“. Und es passierte mir sowohl allein als auch, wenn ich mich bei jemandem gemeldet hatte.
Was also bewirkte es für mich, wenn ich mich meldet, weil „etwas war“? Es ergab sich für mich weiterhin kein Unterschied in der Auswirkung auf mich, wenngleich mir klar war, dass es ein Unterschied ist, allein oder in Kontakt mit jemandem diese Erfahrung zu machen.

Speziell in diesem Kontext war mir aber auch immer bewusst, dass der Kontakt etwas ist, worum ich dankbar sein musste – völlig unerheblich, ob er mir letztlich tatsächlich eine Hilfe oder Unterstützung ist. Denn schon der Umstand, dass man sich um mich, ein Opfer organisierter Gewalt mit komplexer, seltener, kontrovers diskutierter Traumafolge, sorgt kümmert fachlich fundiert auseinandersetzt, ist etwas, das mir spät erst als etwas klargemacht wurde, dass ich grundsätzlich verdient habe wie jeder andere Mensch auch.
Meine Betreuung, Behandlung und Begleitung wurde mir immer wieder als besonders herausfordernd, besondere Ausnahmen erfordernd und besonders viel (mehr) Ressourcen (als von anderen Klient/Patient_innen) abverlangend gerahmt. So habe ich mich oft selbst als das „etwas“ gefühlt, „das ist“ dessentwegen sich jemand bei jemandem melden muss, kann, darf. Es entstand der Eindruck, eine Belastung zu sein, die sich schöngeredet wird. „Interessant, was Psyche so kann.“, „Ich lerne so viel von dir“, „Du machst meinen Beruf spannend.“, „Das ist eine große Herausforderung – wir werden das aber schon hinkriegen (wenn du mithilfst)!“ Ich war zeitweilig vollkommen davon überzeugt, dass es Helfer_innen, Betreuenden, Unterstützenden unfassbar krass viel abverlangt, ihre Arbeit an mir zu machen. Dass sie sich gegen extreme Widerstände und über sämtliche Grenzen hinweg dafür entscheiden müssen, mit mir in Kontakt zu sein (– und ihren bezahlten, selbstbestimmt gewählten Job zu machen, der sie in einen Status erhebt, aus dem heraus sie aktiv über Leben wie meins bestimmen, urteilen und sprechen dürfen).
So kam unter anderem meine Wortmeldung auf der Tagung in Münster 2013 zustande. Mir war damals noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass man Bedarfe wie meine aus Gründen besonderisiert, die nichts mit mir zu tun haben. Dass man mein Überleben teilweise als Beweis für Dinge hernimmt, die anders nicht objektivistisch beweisbar sind.

Nie, in all den Jahren hat man mich in meinem Grundgefühl von und Wunsch nach Gleichheit mit anderen Betreuten/Behandelten/Geholfenen bestärkt. Niemand hat mir kontinuierlich vermittelt vermitteln können, dass meine Grundbedürfnisse, die gleichen sind, wie bei allen anderen Menschen auch. Vielleicht, weil das so ein basales Ding ist. Vielleicht, weil man nicht annahm, dass ich überhaupt darüber verunsichert bin. Vielleicht weil ich nie gefragt habe: „Hey, warum ist euer Verhalten über meine Bedürfniserfüllung so anders als bei den anderen Patient_innen/Mitbewohner_innen?“ Vielleicht weil man dachte, mir gefiele der Besonderheitsstatus und gebe mir damit ein gutes Gefühl von Beachtung und Wertschätzung nach einem (so angenommenen) Leben in Missachtung und Abwertung.
Am Ende hat es mich in Dankbarkeit und Angst vor dem Verlust aller Kontakte gezwungen und gehalten.

Es gab Betreuungskontexte, in denen immer „etwas sein“ musste, damit ich überhaupt Kontakt haben konnte, während ich gleichzeitig in Therapiekontexten behandelt wurde, in denen ich mich – egal womit – nicht außerhalb der Therapiestunden melden sollte. Was für mich bedeutete, dass „nichts“, also auch ich selbst nicht „sein“ durfte.

Mein Ausweg aus diesen Widersprüchen und impliziten Sozialzwängen war, aus der Betreuung auszusteigen und meine Wünsche an die Traumatherapie, die ich in der Zeit gerade neu begann, so exakt wie nur irgend möglich zu formulieren. Ich habe mich außerdem innerlich so umfassend wie möglich davon emanzipiert, ein_e „DIS-Patient/Klient_in“ zu sein und begonnen mich als Mensch mit komplexer Traumafolge zu verstehen und zu erforschen, welche Aspekte meiner Existenz warum und in welchen Kontexten, mit welchen Auswirkungen auf mich in unserer Gesellschaft als abweichend gedacht und behandelt werden.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit meinem Autismus, habe ich dann verstanden, wie es zu meiner Verwirrung und meinem Missverstehen der so gut gemeinten Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ kam und auch heute noch immer wieder kommt.
Durch dieses Verständnis konnte ich mir dann erarbeiten, was „etwas ist“ in Bezug auf meinen Kontakt mit meiner Traumatherapeutin bedeutet.

„Etwas ist“:

  • Wenn ich suizidal bin und glaube, dass ein Kontakt mit meiner Therapeutin dazu beiträgt, dass ich eine gute, richtige, selbstbestimmte Entscheidung zum Umgang mit meiner Suizidalität treffen kann
  • Wenn ich in traumareaktiven Gedanken- oder Gefühlsschleifen feststecke und glaube, dass mich der Kontakt zu meiner Therapeutin, in einen Zustand bringt, der mich dazu befähigt, meine eigenen Orientierungsfähig- und -fertigkeiten zu aktivieren
  • Wenn ich mich in einer Situation befinde, in der meine Traumatherapeutin formal als meine Behandlerin auftreten muss, um mich vor Schaden (im Sinne einer Falschbehandlung oder Fehleinordnung) zu bewahren
  • Wenn ich mir über Termine und andere gemeinsame Absprachen unsicher bin und glaube, dass meine Therapeutin mich darüber aufklären bzw. daran erinnern kann

„Etwas“ ist nicht:

  • Wenn ich Angst habe und Versicherung auch durch andere Kontakte und Aktivitäten herstellen kann
  • Wenn ich nicht weiß, „was ich habe“, fühle, denke und will – und sich das (außerordentlich) unangenehm anfühlt
  • Wenn Kinderinnens oder innere Jugendliche eine Situation im Außen kompensieren/regulieren/managen/übernehmen
  • Wenn andere Personen zuständig sind (etwa meine gesetzliche Betreuerin oder Behörden)
  • Wenn ich keine Idee habe, wozu ich den Kontakt brauche oder nutzen kann (will)
  • Wenn ich meine Therapeutin in irgendeiner Form als Autorität über mich haben will (Zum Beispiel, damit sie mir Dinge erlaubt oder verbietet, die ich mir selbst nicht erlauben oder verbieten kann/soll)

Es war hilfreich für mich zu verstehen, dass Psychotherapie nie für Menschen konzipiert wurde, die niemanden im Leben haben (und/oder arm, behindert/chronisch krank und nicht weiß sind).
Der Grundgedanke bei Psychotherapie ist der eines Werkzeuges von vielen. Der Kontakt soll ergänzen, was man eh schon in sich hat. Die neu etablierten Methoden sollen neu überdenken lassen und vervollkommnen, was bereits genutzt und aktiv eingesetzt wird.
Der Kontakt zur_m Behandler_in ist kein Ersatz für ein soziales Umfeld im Privatraum, das sich respektvoll und bedarfsgerecht verhält. Und auch wenn Behandler_innen jeder Profession eine gewisse Autorität über die Einordnung des Zustandes ihrer Klient/Patient_innen zugesprochen wird, so sind sie nicht autorisiert über den Wert, die Gestaltung und diverse Entscheidungen diesbezüglich zu urteilen. Selbst wenn die Klient/Patient_innen diese Autorität über sich selbst (noch) nicht selbstbestimmt ausagieren können.

Hätte ich das schon als Jugendliche_r verstanden, wären mir viele Wunden im Hilfe- und Betreuungskontext nicht geschlagen worden und meine Ansprüche an meine Therapie sowie meine Therapeut_innen erfüllbarer gewesen. Und dementsprechend viel weniger Quelle für Re_Inszenierung und Re_Traumatisierung, als dem Kontakt bereits immanent ist.

Denn er ist nie bedingungslos. Er entsteht immer nach und durch verschiedene Akte der Gewalt – und wird immer durch und nach dem Üb.Er_leben von Gewalt nötig.
Die Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ bestätigt, legitimiert und reproduziert diesen Umstand. Es gibt Bedingungen, die für den Kontakt erfüllt sein müssen. Generell, um einander überhaupt kennenzulernen und eine Zusammenarbeit zu beginnen, aber auch spezifisch, wenn es um die Ausgestaltung dieser Arbeit geht.

Damit ich die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Begleitung bei der Heilung von Gewalthandlungen an mir im professionellen Kontext ertragen kann, fordere ich, dass sie mir nicht gesagt wird.

Fragmente einer Ausnahmesituation

In den Quetschfalten der letzten Wochen hat es mich manchmal überrollt.
Ja, mein Partner ist nicht gestorben – aber es hätte passieren können und
Meine liebe kleine alte NakNak* mit ihrem Krumpelfuß und dem leisen Stöhnen beim Aufstehen und Hinlegen – auch noch nicht tot, aber
Traumafachtag in München, warum ist das alles so kompliziert, achso achso aha, hmm, naja, aber da kann man ja was machen – einfach nur
Mein Buch ist veröffentlicht, jetzt
Buchmesse, hoppla ich bin Teil von etwas und
Oh, wir sind eine Gruppe mit Gruppenthings, da kann
Münster, Spiegel, False Memory, Wahrheit, Wissen, Wichtigtuer, was für ein Karussell oh man, oh man. Alles auf die Leseliste, das ist
Buchmesse, oh, ah, hui mit Aufzeichnung – obwohl ich so
Gruppenthings gonna always Gruppenthing aua uff oje oje oje

All die Dinge der letzten Monate, die außerhalb von mir passiert sind.
Über nichts konnte ich wirklich zu Ende nachdenken oder eine emotionale Verbindung entwickeln. Ich kenne das schon – es gibt einfach Phasen im Leben, da hat man viel im Zwischenspeicher und rumpelt in der eigenen Außenschale umher. Dass das ein Ausnahmezustand ist, habe ich erst am Sonntag begriffen. Nachdem es einen Konflikt gab, den ein jugendliches, aggressives Innen begann und durchzog bis ich die Kontrolle wieder übernehmen konnte. Solche Wechsel sind mir zuletzt vor 12–13 Jahren passiert. Als mein Leben eine endlose Kette von Ausnahmen, eine ganze Existenz im Zwischenspeicher war.
Diese Zeiten sind vorbei. Solche Wirrungen nicht mehr irrelevant. Ich erlebe meine Ausnahmesituation eingebettet in die Alltage und Er_Leben.srealitäten anderer Menschen. Deshalb geht es auch um Anpassungsleistungen. Also darum zu maskieren, zu funktionieren, während mir meine Grundlagen für die Kraft dazu fehlen und über Extrameilen beschafft werden müssen.

Bei allem Frohsein darum, dass ich jetzt nicht mehr allein im Bullergeddo wohne, eine Arbeit habe und viele Menschen kenne, mit denen mich viel verbindet, wäre ich jetzt gerne wieder an genau dem Punkt. Denn von da aus konnte ich mich immer fallen lassen. Wusste immer: „Ob ich mich jetzt aufreiße oder später oder ganz oder gar nicht, es ist im Grunde egal.“ Niemand hat nach mir gefragt, niemand auf mich gewartet, niemand etwas von mir gewollt.
Menschen sind in mein Leben gekommen, weil ich gegeben habe. Obwohl niemand darum gebeten oder darauf gewartet hat.
Das war insgesamt einfacher für mich.
Auch weil es selten vorkam, dass explizit mehr von mir verlangt wurde, als ich sowieso gegeben habe.

Ich wollte immer mehr von mir. Und habe das auch Stück für Stück geschafft.
Jetzt bin ich daran gewöhnt, viel geben zu können.
Und mein Umfeld in Teilen auch.
Sich jetzt an ein niedrigeres Niveau zu adaptieren, fällt mir schwer.

Es sind gerade tatsächlich nur 3 Stunden Konzentration, die ich aufbringen kann. Es ist gerade tatsächlich so, dass ich nicht die ganze Zeit um die möglichen Gefühle und Gedanken anderer Menschen kreise. Sondern darum, meine eigenen überhaupt mal zu empfinden und erkennen zu können. Wenn mir etwas nicht angetragen wird, denke ich nicht darüber nach. Wenn mich niemand anspricht, spreche ich nicht. Ich denke nicht in Wörtern für den Fall, dass ich jemandem davon erzählen will oder muss oder möchte, sondern in dem mir eigenen Irgendwie so.

Früher hätte ich das gemacht und mich dafür bestraft. Denn ich wollte ja mehr – weil ich sollte. Einfach nur arbeitsunfähig sein, einfach nur chronisch erkrankt sein, dafür muss es echte Anlässe geben – die habe ich mir nie an.erkannt, weil sie mein Umfeld nicht an.erkannt hat.
Heute erkennt mein Umfeld das an – und ist zuweilen verunsichert, mich so zu erleben. Freund*innenschaften werden in Frage gestellt, gemeinsame Pläne ob ihrer Umsetzbarkeit generell bezweifelt, meine gesteckten Ziele hinterfragt. Es wird bedauert, wenn ich unter einen Instagrampost schreibe, dass ich viel geschafft und wenig ganz und gar miterlebt habe in der letzten Zeit. Während ich denke: „Leute! Was denkt ihr denn, wie ich gerade durchs Leben gehe? – Mir ist vor wenigen Wochen der Partner – mein von mir geliebter, mein in mein Leben reingebackener Mitmensch – fast gestorben. Ich habe genau in der Zeit eine Retraumatisierung erlebt, die ich jetzt noch mit viel Kraftaufwand aufarbeite. Meine in den letzten 15 Jahren immer da gewesene Assistenzhündin knabbert ihr letztes Stück Lebenszeit. Seit 3 Jahren leben wir in einer Pandemie, die unsere Teilhabe- und Teilgabemöglichkeiten begrenzt – worüber unser Umfeld nur noch aus Höflichkeit nachdenkt. Was denkt ihr denn, wie viel Raum noch in mir drin ist? Wie viel von mir gerade irgendwo anders drin sein kann?“

Ich denke, dass ich viel gebe, wenn ich mich aus dem Rückzug reiße und Pläne oder Vorhaben nicht aufgebe. Wenn ich weiter ehrenamtlich arbeite. Wenn ich mich nicht krankschreiben lasse.
Gleichzeitig merke ich, dass ich mich auch dazu zwinge. Die Angst zu fallen und nie wieder aufstehen zu können – dieses Traumafragment, aus dem ich meine ganze Überlebenskraft, meinen ständigen Antrieb, ziehe – die wirkt unfassbar stark im Moment.
Manchmal rede ich auch mir ein, besonders jetzt aktiv zu bleiben, würde helfen. War ja schließlich das, was sie in der Psychiatrie mit mir gemacht haben: Wenig schlafen, viel Programm. Sinnvolles tun. Sich selber hinter irgendein aktives Handeln stellen.

Tatsächlich will ich aber nur schlafen oder liegen und mein Gesicht in den Bauchflausch von NakNak* halten, während ich Bubi die Öhrchen streichle. So wäre es gerade gut.
Aber wenn es so ist, ist es schon nach 2 Minuten nicht mehr auszuhalten.
Und die Dissoziation fängt mich auf.
Meistens passend.
Und nun auch mal total schwierig für andere.

Aber wäre das nicht passiert, hätte ich es nicht verstanden.
Ist das der Preis?

Aufgaben im System überdenken

Und wieder eine Sprachfalle.
Meine Aufgabe im System. Jemand, ein Anteil von mir – nicht ich, aber nun mal ja doch ich irgendwie – soll mal über die Aufgabe im System nachdenken. Natürlich ohne Angabe, von welchem System die Rede ist. Selbstverständlich ohne Antwort auf die Frage, wer die Aufgabe vergibt.

Es ist schwierig für mich das zur Seite zu stellen.
Obwohl ich weiß, dass das vermutlich ✨nur so✨ gesagt ist. Gemeint ist sehr wahrscheinlich keine vergebene Aufgabe. Nicht: „Überleg mal, was du hier eigentlich für wen machst.“
Sondern: Dein Empfinden, Denken und Handeln, dein Sein, erfüllt eine oder viele Funktionen. Welche sind das? Bist du zufrieden damit? Wie wirkt es sich auf andere Aspekte deines Lebens als Einsmensch aus?
Aber es bleibt Unsicherheit. Denn es ist eine Übersetzung. Meine Annahme darüber, was meine Therapeutin mit der größten Wahrscheinlichkeit gemeint haben könnte. Ich habe gerade keine Möglichkeit, mich darin zu versichern und bin abgelenkt von den Ängsten, die das bei mir auslöst. Alle schon tausendmal durchlebt und überstanden. Reflektiert, geprüft, bewusst aufgelöst, orientiert, aber weiter da wie ein abgefräster Baumstumpf.

Ich bin mir meiner Funktion bewusst. Weiß, dass ich so wie ich damit umgehe, schon alles genau richtig mache für mein Alltagssystem. Ich kaue das einfach nur so Gesagte durch, übersetze mir die diffuse Masse in feste Formen und arbeite damit weiter, obwohl ich jagende Angst habe, weil ich praktisch nie sicher sein kann, ob das so gut geht. Ob ich richtig liege. Ob das nicht doch irgendwie falsch ist. Ich etwas vergessen oder übersehen habe. Ob ich nicht doch etwas ignoriert oder fälschlicherweise außer Acht gelassen habe. Ich habe Angst, weil ich Fehler machen könnte – um weniger Fehler zu machen. Um mir den Stoff zu liefern, den ich brauche, um meine exekutiven Dysfunktionen zu kompensieren: Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Die Stresshormone, die mich zu einem „guten Opfer“ machen, weil es den Arsch hochkriegt, statt für immer malad dem Siechtum anheimzufallen.

Was ich höre, wenn mir jemand sagt, dass ich mal über meine Aufgabe Funktion nachdenken soll, ist oft: „Das ist so schlimm/nicht okay/krank/falsch/schlecht. Lass das mal. Hör mal auf damit. Ist doch krass anstrengend. Mach mal weniger – Mir egal wie – du wirst das schon rausfinden. Du bist kompetent, das seh ich ja. Du bist aktiv und kriegst alles irgendwie hin – Wenn du es nicht packst, würd mich das schon sehr wundern, also ich hab da schon andere Erwartungen an dich – Die Konsequenzen – dein Ding. Da bin ich raus, das ist ja nicht meine Verantwortung.“
Ich erlebe es also nicht wirklich als Anreiz, ergebnisoffen darüber nachzudenken, was ich eigentlich finde oder möchte oder will. Sondern viel mehr als offene Ansage darüber wie ich sein soll oder in welche Richtung ich mich entwickeln oder verändern dürfte, wenn ich wollte.
Und könnte.

Mein Alltagssystem ist ein Angst-Kompensier-und-Nutz-System. Kein Aus-Angst-irgendetwas-anderes-mach-System. Mein Rahmen daran etwas zu ändern ist von meinem System begrenzt. Dem System, das mich in meiner Funktionalität entwickelt hat.
Das heißt nicht, dass ich nie etwas ändern kann – ich kann es aber nicht über meine Systemfunktion hinaus.
Alle Schritte aus dem traumareaktivem Angstfunktionieren heraus habe ich zum Beispiel nur machen können, weil ich kompatible Beruhigungsmechanismen angeboten bekommen habe. Die ich unterstützt ausprobieren konnte. Die anzupassen mir gezeigt wurde. Die kleinen Inseln, in denen ich heute ohne übermäßige Angst funktionieren kann, habe ich entdeckt, weil andere Menschen mir vorgemacht haben, wie das geht. Wie ich das machen muss. Womit ich rechnen muss. Wie ich damit umgehe, wenn es nicht klappt. Weil ich nicht damit alleingelassen wurde, herauszufinden, wie und wer ich bin, wenn ich nicht permanent im größten Angststress bin – obwohl ich Angst habe.

Im Moment geht es in meiner Therapie nicht um mein System und mich, sondern um Wut und ein jugendliches System.
Meine Funktion für uns als Einmensch-System ist es, Systeme wie dieses zu kompensieren, genauer gesagt zu unterdrücken. Wut ist saugefährlich in unserer Gesellschaft. Vor allem in Kontexten wie unserer Herkunftsfamilie, aber auch den Hilfesystemen, in denen wir jugendlich waren und erwachsen wurden. Da gab es nie eine andere Möglichkeit als Angst vor der eigenen Wut – völlig egal wie gerechtfertigt oder rational begründet sie war – zu entwickeln. Sie war immer genauso lebensgefährlich wie die falschen Fragen, die falschen Worte zu den falschen Menschen.
Und sie war oft ein unterstelltes Empfinden oder eine angenommene Empfindung, um Melt- und Shutdowns mit der Annahme eines nicht-autistischen Erlebens verknüpfen zu können. Mir wurde also vielfach auch dann Wut unterstellt, wenn ich schon jenseits jeder Emotionswahrnehmung war – was dazu führte, dass ich mich selbst oft als wütend dachte, obwohl ich es nicht war. Was meine Angst vor Gefühlen ins Extrem generalisiert hat. Ich bin so schon nicht gut darin zu wissen, was ich fühle, wenn es um mehr als Grundemotionen geht – mein Außen hat das aber nicht gewusst und teils auch nicht glauben wollen. Wie mir gespiegelt wurde, was man an mir für Gefühle sieht und annimmt, konnte entsprechend nur selten nicht verwirren und verunsichern – und ist auch heute noch kein Feld, auf dem ich mich sicher fühlen kann. Wer Angst hat, kann halt schlecht nochmal genau über den Anlass drüberfühlen, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
Was das angeht, muss ich immer schneller sein als meine Angstkurve. Immer immer immer. Bei egal was. Im Laden, auf einer Veranstaltung, im Gespräch mit Freund_innen, in der Therapie. Folgerichtig habe ich im Leben auch immer Angst vor der Angst – obwohl und wahrscheinlich gerade weil ich anders überhaupt nicht funktionsfähig (und also ich selbst, Hannah) bin.

Wie ich nun also eine nicht kompensierende Verbindung zu diesem wütenden jugendlichen Innen und seinem System herstellen soll, weiß ich noch nicht sicher. Es hilft zu merken, dass sie nicht mehr die Gefahr wie früher darstellen. Es hilft auch zu merken, dass es im Kontakt mit der Therapeutin zu Zustandsveränderungen kommt, die ihr System ähnlich destabilisieren wie sich meins destabilisiert (und verändert) hat, als ich in Kontakt mit ihr ging und bleiben konnte. Es ist leichter zu erkennen, wer was wie aus.macht, wenn ein System nicht mehr perfekt funktioniert. Ich kann jetzt also leichter anfangen zu schauen, welche Funktion dieses wütende Innen für sein System hat und dann überlegen, ob ich diese Information für etwas nutzen kann, das Verbindung herzustellen hilft.

Also, wenn ich fertig bin mit der Angst vor dem Falschmachen, weil ich nicht über eine Aufgabe nachdenke, sondern eine Funktion.

Rückzug

Vor 4 Wochen ist mir etwas passiert.

So wie dieser Satz ist, fühlt es sich an. Banal und undefiniert konkret.
Ich glaube nicht, dass ich je öffentlich darüber schreibe oder spreche. Aber es ist passiert, es wirkt und auch das schreibe ich hier auf.
Auch, weil es zeigt, dass viel über Trauma und seine Folgen zu wissen im Fall einer erneuten Traumatisierung bzw. einer Re-Traumatisierung wenig zu Entlastung beiträgt einerseits und andererseits eine Reflexion ermöglicht, die eine Kontextualisierung erleichtert. Also dann doch – irgendwie – entlastet.

Zum Beispiel war mir schon in der Situation klar, dass ich traumareaktiv reagiere.
Dass ich auf Ressourcen zugreife, die mich geistig („frontalhirnig“) an meine gegenwärtige soziale Umgebung binden, weil sie eine gewisse Identität (im Sinne einer Übereinstimmung) haben. Ich habe mich absolut darauf konzentriert, dass ich erwachsen bin, weil ich weiß, dass die Menschen in meiner Umgebung daran keinen Zweifel haben. Ich wusste ganz genau, dass ich, wenn ich mich daran halte und dementsprechend erwartungsgemäß re.agiere, mit mehr Empathie, Hilfsbereitschaft und Fürsorge rechnen kann, als wenn ich re.agiere, wie ich kongruent mit meinem Selbstgefühl bin.

Mir war aber auch klar: Wenn ich „erwachsen re.agiere“ können andere Menschen nicht mehr erkennen, dass ich in Bezug auf die Erfassung der Situation, die Einordnung und die Anbahnung eines Handlungsablaufs hilflos bin.
Sie sprechen mich nicht an, als hätte ich eine wie auch immer gelagerte Verletzung. Sie bieten mir keine Unterstützung an, sondern fragen mich, warum ich welche von ihnen brauche. Wenn es vorbei ist, bietet mir niemand Fürsorge für mich an. Wund_Pflege.

Nun war mein Partner zu dem Zeitpunkt noch auf der Intensivstation und erlebte einen ganz eigenen verletzenden, todes.ängstigenden Horror. Keine_r meiner Freund_innen oder Gemögten konnte zu mir kommen. Nicht allen konnte ich überhaupt davon schreiben. Meine Therapeutin war im Urlaub – und krank. Sie telefonierte kurz mit mir, das ging fürchterlich schief und schon beim Auflegen war ich innerlich absolut blank.

Die nächste Traumareaktion.
Ich habe mich nicht mehr nach außen orientiert. Keine Kongruenz mehr gesucht, kein Trauen und auch keine Kraft mehr für die Angleichung gehabt.
Ich wurde von traumatischen Erinnerungen geflutet und das war die Kongruenz, die ich in mir selbst haben konnte. Gewissermaßen hat in der Situation also die Tatsache, dass ich nicht zum ersten Mal so unversorgt verletzt geblieben bin, mehr zu innerem Zusammenhalt (Assoziation) beigetragen als alle Skills, alles empowernde Wissen, auf das ich zugreifen hätte können.
Weird.

Dieses traumabedingte „nur in sich selbst zu Hause sein“ ist die Schnittstelle, die viele Menschen mit Autismus in Verbindung bringen, weil man über autistische Menschen bis heute noch denkt, sie wären in ihrem Körper oder einer inneren Welt gefangen.
Ich habe da eine Grenze.

Nach traumatisierenden Erfahrungen ist der Rückzug eine bio.logisch absolut perfekte Strategie. Das gesamte System „Körper“ war mehr oder weniger lange überfordert und wurde verletzt. Die Energiereserven sind aufgebraucht. Alle. Sich auszuruhen, ist zwingend notwendig. Es ist wichtig, dass man im Anschluss mehr von allem bekommt als sonst. Mehr Zuwendung, mehr Nahrung, mehr Schutz, mehr Unterstützung. Kein Körper kann aus „nichts“ „etwas“ machen. Er braucht das Außen, er braucht den Input, um Output zu generieren. Gefühle und Gedanken sind Output. Sie sind Körperprodukte. Lebenszeichen.

In einer Gesellschaft, in der das unversorgte Verletztsein die Norm ist, wird Rückzug oft nicht mehr intuitiv als Marker für Fürsorgebedarf verstanden. Also als ein Hinweis darauf, dass eine Person andere Personen zum Überleben braucht. Viel häufiger wird er als Abgrenzung verstanden. Als Akt der Individualisierung, der Betonung des Selbst oder auch der Konzentration auf sich selbst.
Deshalb erscheint es logisch in so einer Phase zu sagen: „Komm erstmal klar – du musst nicht zur Arbeit kommen, du musst nicht zum gemeinsamen Hobby kommen, du musst nicht zum üblichen Treffen kommen – sei unbesorgt, krieg dich erstmal auf die Reihe, wenn was ist, melde dich.“ Was man sagen will ist: „Wir verstehen, dass du im Ausnahmezustand bist – wir warten hier auf dich, bis wieder alles in Ordnung ist.“ Was man aber miteinander macht ist, die Wiederherstellungsarbeit zu verwalten. Die soll der verletzte Körper aus sich selbst heraus schaffen. In vollem Bewusstsein dafür, dass andere Körper erreichbar sind, wenn sie denn erreicht werden können. Mit den richtigen Worten, zur richtigen Zeit, der richtigen Ressourcenlage. Man kann also die Fürsorge bekommen, die man braucht – aber nicht sicher und schon gar nicht bedingungslos.

Vor allem nicht als autistische Person.
Meine autistische Isolation begann schon 2 Minuten nach der Realisation, dass ich gerade von etwas verletzt wurde. Nämlich in dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich jetzt etwas tun musste, das ich noch nie getan hatte. Ich war noch nie in der Situation. Ich habe noch nie gefühlt, gedacht, gemacht, was in dem Moment alles da war. In dieser Konstellation. Der Partner im Krankenhaus, ich alleine mit den Hunden, auf dem Land, zig Kilometer von allen entfernt, zu denen mir der Kontakt nicht so schwerfällt. Ich hatte kein Skript dafür. Und das einzige Skript, das mir einfiel, wurde quasi sofort niedergeschlagen. Und als ich es dann doch anbahnen konnte, nicht erfolgreich im Sinne von wie erwartet, erwünscht und erhofft, abarbeiten. Was zu einer ganzen Reihe von Unklarheiten führt, die meine Rolle in der Situation, meine Pflichten, meine Verantwortungen betreffen und dem nicht-autistischen Außen jetzt mühsam vermittelt werden müssen. Ohne in Gänze geklärt werden zu können.
Es bleibt gewissermaßen ein offener Topf, eine unfertige Sache, wie das unfertig abgearbeitete Skript. Für mich ist auch das ein Stück „offene Wunde“. Denn ich weiß, dass ich mit bestimmten offenen Stellen immer übrig bleibe. Dass ich damit allein klarkommen muss, obwohl ich nicht kann. Und in Bezug auf manche Aspekte auch nicht will.

Die oft fast romantisierte autistische Isolation ist die spezielle Hölle des Minderheitenstresses. Der sich in traumatischen Situationen vervielfacht. Zum Erleben der traumatischen Situation selbst kommt die stets potenziell traumatisierende Interaktion und Kommunikation mit nicht-autistischen Menschen, die ohnehin schon tendenziell nicht erkennen können, was für Bedarfe bestehen. Auch deshalb habe ich in der Situation „erwachsen“ gehandelt. Und nicht „ich (in einer überfordernden Situation, die Unterstützung von Außen nötig macht)“. Ich brauchte die größtmögliche Annäherung an die Erwartungen und Lesbarkeiten der nicht-autistischen Umwelt. Und wie schon im Supermarkt, bei der Arbeit, beim Hobby, im Ehrenamt habe ich also umgeschaltet. Ich habe mich rausgeschnitten. Dissoziiert und in mir selbst isoliert. Nur krasser. Dringlicher. Todes_Ängstlicher. Kontakt_Unterstützungs_Hilfe_Bedürftiger.

Ich habe mich zurückgezogen in den letzten Wochen. Obwohl ich im Kontakt mit anderen Menschen war. Gearbeitet habe. Spaß hatte. Kurzkettenproduktiv war. Mich auf eine Reihe gekriegt habe. Nämlich die, in der diese Erfahrung keine Rolle spielt. Nichts weiter bedeutet. Und auch nichts weiter bedeuten muss, denn so leben wir ja schließlich alle irgendwie – weshalb es für mich gerade auch Kongruenz herstellt. Obwohl es mir überhaupt nicht guttut. Und auch nicht richtig ist. Es ist nur normal.

Bücher von früher

Leipziger Buchmesse. Riesending.
Für uns als kleiner unabhängiger Verlag ist eine Präsenz dort eine Herausforderung. Finanziell, organisatorisch, personell.
Für mich als behinderte Autor_in und Mediengestalter_in ebenfalls. Die Logistik eines solchen Unterfangens ist kaum barrierefrei zu gestalten und die Arbeit schwierig zu benennen. Denn am Ende steht man als Aussteller_in ab 10 Uhr durchgehend am Stand und lädt interessierte Besucher_innen ein, näherzutreten, uns anzusprechen, ein Buch zu kaufen, wenn gewünscht. Man steht dort in einer Bucht, umgeben von anderen Buchten, umspült von Menschenströmen und kommt schnell in das Gefühl, mit den eigenen Büchern vielleicht völlig unterzugehen in der schieren Masse. Aber egal ist die Präsenz deshalb nicht. Gerade sie ist es ja, worum es in unserer Arbeit geht. Aber es wird diffus, wenn man Präsenz präsentieren will. In einem Setting, in dem Präsenz an sich weniger Ergebnis der Arbeit, sondern Verkaufsobligation ist.

Ich nehme gerade ein Medikament, das mich dämpft und kognitiv verlangsamt. So betäubt und mit meinem Gehörschutz ausgestattet, kann ich Unternehmungen wie diese gut mitmachen. Ich kann mich auf meine Aufgabe konzentrieren, mit fremden Kolleg_innen sprechen und oft „einfach ziehen lassen“, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Meine Dauerbegleitung „Angst“ ist momentan keine Beifahrerin, die mir ständig ins Lenkrad greift, am Radio rumspielt und sich nicht entscheiden kann, ob sie das Fenster auf oder zu – oder doch lieber die Lüftung anhaben will. Sie sitzt auf der Rückbank und fragt höflich, ob es gerade passt. So gehts.

Für mich ist in Leipzig zu sein auch ein Ding. Nicht riesig, aber doch, nun ja, ein Ding. Ich wurde in der DDR geboren, in diesem Bundesland. Der Dialekt, der für so viele Menschen auf Nazi-Dumpfheit, gekränkte Ehre oder armselige Überheblichkeit deutet, ist für mich das, was einem emotionalen Angekommen sein am nächsten kommt. Eine weiche Wolke, die mich einfach einnimmt und in meiner Zugehörigkeit versichert.
Meine Mutter hat den Dialekt schon kurz nach der Wende weitgehend abgelegt, aufgewachsen bin ich nicht Sachsen, es gibt keinen echten Grund für diese Verbundenheitsgefühle. Aber sie sind da und gehören zu den Erinnerungsnuggets meiner Kindheit, die nicht von Gewalt und Schmerz dominiert sind.

Als ich den Bahnhof verlasse und in die Straßenbahn steige, werden weitere Krümel freigeschwemmt. Die Weite, die Ordnung, die Architektur. Die Straßenlaternen. Die alten Straßenbahnen mit ihrem Zielortsnamen-Rollo vorne drauf. Das leichte Schwanken der Wagen, als Menschen einsteigen. Es kommt mir alles einfach richtig vor und macht mich glücklich. Obwohl über 30 Jahre vergangen sind und natürlich tausend andere Einflüsse gewirkt haben und auch jetzt noch wirken.

Während dieser Tage habe ich immer wieder kurz gedacht, dass es auch das ist, was wir zurückgelassen haben, als wir weggingen. Ich bemühe mich dennoch sehr, nicht zu denken, dass ich etwas verloren habe, weil es eine Trauer in mir aufweckt, die mich in den ersten Jahren nach dem Weggehen sehr belastet hat. Heute kann ich mir viel von diesem Verlust selbst ausgleichen. Nicht oft, nie viel, selten von Dauer und noch seltener zeitrein, aber doch in Teilen. Oft unerwartet.

Gestern hatte ich keine Standschicht und Zeit umherzulaufen. Da kam ich an den Stand einer Frau, die Handpuppen verkauft. Unsere alten Kindergarten/Hort-Handpuppen. Alle. Die Oma, der Kasper, der Teufel, der König … die Prinzessin und der Bär.
Vor sich auf dem Tisch hatte sie einen Stapel alter Kinderbücher. Zu verschenken. Sie hat im Kindergarten gearbeitet, der Kindergarten ist aufgelöst. Die Bücher frei. Darunter zwei meiner liebsten. „Das Bäumchen“ und „Der Ausflug“.

die Bilderbücher "der Ausflug" und "das Bäumchen"

Wieder war ich dankbar um meinen betäubten Zustand. Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht geweint oder geflattert oder Unsinn geredet. So konnte ich jetzt einfach mit der Frau sprechen. Über die Handpuppen, die Bücher, den Verlust, den viele in meinem Alter fühlen, aber die oft nicht anerkannt bekommen. Ich bin Mitte 30, was hab ich denn noch mitbekommen von der DDR? Von der DDR nichts, das ist so. Aber von diesen kleinen Alltagsinseln alles. Auch noch nach der Wende. Das Spielzeug, die Kinderbücher, die Kinderlieder, die Spiele. Der Geruch von Plaste, die Haptik bestimmter Stoffe und Gummis. Die tiefgelbe Flüssigseife, die Sportgeräte, die Gebäude, in denen wir betreut wurden. Die Schulmilch, das Hortessen. Das war in meiner Schulkindheit noch lange nicht weg und für das Kind, das ich damals war, immer ein Marker für: „Hier gibt es klare Regeln und jeder Ort hat eine klare Funktion. Es gibt eine echte Chance auf Richtigkeit.“ Für viele heute ein Albtraum. Die Kindererziehung der DDR wird heute zu Recht kritisiert, vielen Menschen wurde sehr wehgetan, viele wurden darin zerstört, verformt und fürs Leben gezeichnet.
Ich nicht. Ich konnte darin sehr gut funktionieren. War oft richtig. Fühlte mich gut, umgeben von Büchern aus der Rüssel-Reihe und anderen Pappbilderbüchern, neben mir der Ständer mit den Handpuppen drauf, eingetaucht in die Pechsträhne von Alfons Zitterbacke oder die Schallplatten mit den Geschichten von Pitti Platsch und Schnatterinchen.

„Ostalgie“ wird das heute genannt. Und oft als unsinnig belächelt. Ist doch alles schon kaputt. Nichts mehr wert. Wozu denn festhalten an dem ganzen Müll. Gibt doch so viel Besseres heute. Alles schicker. Billiger. Einfacher.
Mir geht es nicht darum. Was heute Ostalgie genannt wird, ist mein häufig erfolgreicher Versuch, mir etwas zurückzuholen, das ich liegenlassen und über weite Strecken meines Lebens verdrängen musste, weil es anders nicht ging. Denn wenn man gewaltvolle Kontexte verlässt, verlässt man eben nicht nur die schlimmen Menschen in der Hoffnung, die schlimmen Erfahrungen blieben auch gleich da. Man verlässt alles. Auch das Gute, das Schöne und alles, was mal wichtig war. Das meiste davon unwiederbringlich.

Außer, jemand kümmert sich.
Später am Tag kam ich am leiv Verlag vorbei. Sie legen alte Titel neu auf. Die komplette Rüssel-Reihe. Alfons Zitterbacke, Ottokar Domma, die fröhliche Grille, die lustigen Geschichten von Sutejew … alles da. Wieder. Und auch bei Beltz, dem Kinderbuchverlag, wurde ich fündig. Sie verlegen die Titel illustriert von Elizabeth Shaw, aber auch einige Sammelbände der schönsten Kindergeschichten der DDR.

das Bilderbuch "Rüssel im Garten" und das Buch "Alfons Zitterbacke, Geschichten eines Pechvogels"

Die Bücher "lustige Geschichten" und "Zilli, Billi und Willi"

Verlegerisch weiß ich, dass ich so punktgenau wie selten die Zielgruppe dieser Titel bin. Persönlich fühle ich, dass mir damit etwas heilgemacht wird, weil ich jetzt ganz konkret etwas weitergeben kann, das vorher einfach nicht herstellbar war. Ich kann dem kindlichen Erinnern in mir etwas Reales von Außen hinzufügen. Meine kleine nicht schmerzhafte Insel im Früher auch im Heute herstellen. Einen Kreis schließen.

Für mich ist das ein Geschenk. Es macht mich sehr glücklich.
Und die ganze Anstrengung um die Buchmesse nicht nur für mein Heute in der Verlagsarbeit, sondern auch das Früher in mir drin außerordentlich wert.

decisions

Zu dick, zu komisch geformt, falsch, falsch, falsch hielt ich im Laden inne. Vor mir ein rosa Pulli mit dem Schriftzug „made from good decisions“ drauf.
In mir noch immer Geheule. Kampf um Kontrolle. Wut. Ohnmacht. Das Gefühl nur noch ein letztes diffuses Stückchen Hoffnung berühren zu können. Obwohl die Therapiestunde über eine Stunde her war. Und die Entscheidung schon klar. Nicht mehr dran denken. Nicht wichtig. Weg damit. Tür zu, Augen zu, Kopf zu. Tot, weg, nichts mehr da. Weiße Fläche wird durchsichtig und löst sich auf.

„Ja, ‚good decisions’“, dachte ich. „Was ich hier gemacht hab, war keine gute decision. Warum stehe ich in diesem kack Laden. Bin eh zu dick für alles das hier. Ja, ich hätte online bestellen sollen. Was denke ich eigentlich immer, was außerhalb meines Wohn- und Hunderundenraumes auch für mich wäre. Wie blöd kann man eigentlich sein.“ Wieder werde ich direkt von jemandem angeguckt. „Ja, ihr dämlichen Arschlöcher, ich trage eine dieser kackscheißemistigen Drecksmasken. Verpisst euch mit eurer keimigen Virusausatmung. Unsere Leben kriegt ihr nicht.“

Wieder knackt etwas in meinem Rücken. Als ich danach greife, überschwemmt mich der Loslassschmerz meiner Faust. „Ja, ist ja auch egal“, denke ich und verlasse das Geschäft.
Draußen bin ich Hannah im Wunderland. Alles und alle wirken übermäßig groß. Unvorhersehbar. Chaotisch.
No good decisions.
Zonk!
Eins, zwei oder drei, letzte Chance schon längst vorbei.

„Man könnte sagen, dir ist ein Unfall passiert, ja. Das ist einfach passiert, du hast es gesehen und du musst das jetzt irgendwie verknusen.“
Ich habe Bubis warmen Bauch am Bauch, streiche über sein raues Fell. Der Partner spricht mit mir die verquer gelaufene Therapiestunde weiter. Drei vier Schichten hinter mir totale Durchdrehung. Schwammig brockiges, wirres, diffuses Fühlen. So heiß, dass es kalt ist. So konkret, dass es keine Bedeutung hat. So bedürftig, dass nichts aushaltbar ist. 
Ich freue mich auf meine Nachtmedikation. Das Leer vorm endgültigen Einschlafen, das lange Leer nach dem Aufwachen.
Blödeste Kackdecision seit Jahren, damit wieder anzufangen.
Best decision possible at the moment.

Umstellung #Coronatagebuch

Die Fahrt ins Krankenhaus war merkwürdig. Der Himmel blau, die Sonne so warm, als würde sie etwas mit dem Boden vorhaben.
Mein Partner fragte, ob er sich ein Taxi rufen sollte. Ich sagte nein. Und als ich ihn kurze Zeit später fragte, in welchem Krankenhaus er liegt, sagte er, er könne auch mit dem Taxi kommen. Da war ich schon über die Hälfte der Strecke gefahren, hatte meinen zweiten Weinüberfall des Tages kompensiert und war damit beschäftigt, nach meinen Freudengefühlen über seine Entlassung zu suchen.

Schwer atmend blinzelte er in die Sonne. Über sich das Dach des Krankenhauseingangs wirkte er klein und verschrumpelt. Der Weg zum Auto fiel ihm schwer, der Frust, die Angst der letzten beiden Wochen quollen Vorfall für Vorfall aus ihm heraus. Meine Annahme, dass ihn der Mangel töten würde, war richtig. Wäre er kein mittelalter, sondern ein alter Mann gewesen, wäre er gestorben. Wie unser Nachbar Ende letzte Woche. Ebenfalls Covid-19. Ebenfalls beidseitige Lungenentzündung.
Dass mein Partner die zusätzlich zu seinen Lungenembolien hatte, erfuhren wir erst durch den Bericht zur Entlassung. Denn es gab einfach keinen Informationsfluss. Niemand hatte einen umfassenden Überblick. Niemand hat die Verantwortung für das Leben meines wundervollen Partners übernommen. Alle haben sie nur für den eigenen kleinen Bereich funktioniert.

5 Rezepte mit der Aufschrift „Entlassungsmanagement“ an Bord fuhr ich zur Apotheke. Eine Strecke, die ich noch nie hin und zurück gefahren bin und erst herausfinden musste. Zeitweise war das, als wäre ich durch die Windowslandschaft gefahren. Völlig irre.
„Das ist jetzt sicher viel für Sie beide, hm? Eine große Umstellung.“ sagte die Apothekerin hinter dem Berg an Medikamenten und Gerätschaften hervor. Der Partner hat einen Covid-19bedingten Diabetes entwickelt.
Ja, das ist eine Umstellung. Eine, in der ich meine Rolle noch nicht kenne. Eine, aus der mich mein Partner raushalten will, wie er mich aus all seinen Krankheitssachen raushalten will. Eine, die mich einer ähnlichen psychischen Belastung aussetzt, wie in der Woche vor seiner Einweisung ins Klinikum. Sehen, hören, riechen, fühlen, wissen, dass da etwas nicht stimmt – aber Abstand halten. Nichts fühlen, nichts denken, not my monkeys, not my business.

Ich bin unserem Alltagsleben manchmal sehr nützlich, weil ich ein gutes Gehör habe. Ich höre seinem Atem an, ob es ein feuchter oder ein angestrengter Tag ist. Ob er schon inhaliert hat oder nicht. Als er in seine zweite Covid-Woche ging, war er schon längst zu schlapp und mental nicht mehr in der Lage, diesen Anlass meiner Todesangst um ihn zu verstehen. Und es war meine Unfähigkeit, der Arzthelferin in der Hausarztpraxis klarzumachen, dass hier etwas absolut nicht „typisch Covid“ läuft, die ihm nicht schon früher einen Arzt ans Bett gebracht hat.
Als er dann selbst um einen Arzt bat, habe ich in mir eine Tür zugemacht. In meiner Welt kam das viel zu spät. Ich war darauf eingestellt, dass er stirbt. Meine Umstellung in dieser Situation ist also eine ganz andere. Auch in mir selbst. Denn natürlich haben nicht alle wie ich gefühlt und gedacht. Aber was wissen die denn von meinem Alltag hier und heute? Und wie kohärent wissen sie das?

Die Apothekerin erklärte mir, was im Umgang mit den Lanzetten, den Pens, den Sticks zu beachten ist. Schrieb die Dosierung auf jede Schachtel und steckte sie in einen Stoffbeutel. Um mich herum einige andere Menschen.
Ich der einzige mit Maske auf.
Den Umgang damit werde ich weiter irgendwie allein hinkriegen müssen.

wennschon, dennschon #Coronatagebuch

Die Situation ist stabil. Das sage ich mir in jedes Angstloch hinein, das sich in den Nischen meiner Geschäftigkeit auftut.
Der Partner ist weiterhin positiv und kann deshalb nicht verlegt werden. Es ist schlimm und ja, um zwei, drei Ecken geht es auch um Leben und Tod, aber eben nicht so. Es ist viel mehr das „um Leben und Tod“, das in unserem gemeinsamen Leben einen eigenen Anteil hat. Schon längst überall eingewebt, mitgedacht und eingeplant, wie Wandfarbe und Bodenbelag, Luft und Wasser, Himmel und Erde. Kein Grund zur Panik. Kein Anlass zu Dramadramahopplahopp-Aktivismus, der 5 Hebel gleichzeitig zu bedienen erfordert.

Dass ich zwischendurch Angst habe, hat viel mehr mit der Neuheit der Situation zu tun, als mit der Situation selbst. Und damit, dass ich noch nicht fit genug bin, um mir so gutzutun, wie es mir sonst immer guttut. Ich kann noch nicht wieder schwimmen gehen. Kann den Garten noch nicht bearbeiten. Habe noch keine_n Hundesitter_in gefunden, damit ich zur Therapie fahren und meine Anspannung loslassen kann.
Im Moment kann ich nur arbeiten. Womit ich überwiegend Anfangsschwierigkeiten habe. Und Dranbleibeschwierigkeiten. Neben den üblichen Selbstorganisationsschwierigkeiten.

Aber ich bin nicht ungesehen darin. Das macht viel aus. Alle, mit denen ich spreche, trösten mich, bedauern den Partner und wünschen uns beiden, dass bald wieder alles gut wird. Mir gefällt das. Vor allem, weil wir so spürbar als Teil eines Ganzen, unseres gemeinsamen Ganzen gesehen werden. Es ist nicht nur der Wunsch, dass er wieder gesund wird, weil das einfach besser ist als krank zu sein, sondern auch, damit wir bald wieder zusammen sind. Als würden wir so richtig und wirklich zusammengehören und nicht nur in meinem Wünschen und Wollen.

Der Gedanke an eine Richtigkeit wie diese gibt mir gerade viel Ruhe und Kraft.
Ich habe ganz stark das Gefühl, dass er nicht sterben wird. Nicht nur, weil die Situation gerade stabil ist, sondern einfach so. Vielleicht ist das eine Selbstschutzverarschung. Kann sein. Aber sie fühlt sich richtig an und das hilft gerade auch. Wenn ich schon Tag für Tag klarkommen muss, dann doch gerne so.

Rekonvaleszenz #Coronatagebuch

Wie kleine Sterne leuchten die Narzissen auf der dunkelgrünen Wiese. Weicher Wind streift mich. Doch das wohlige Räkeln in den Frühling hinein fällt mir schwer. Zu viele Baustellen im Garten, im Haus, bei der Arbeit, in mir selbst. Gleichzeitig ist es still um mich herum. So wie ich hier stehe, ist von diesen Baustellen keine wirklich wichtig. Alles ist irgendwie zu lösen und auszuhalten. Es dauert einfach. Das ist schon alles.

Aus dem Schlafzimmer des Partners höre ich das angestrengte Atmen, das noch angestrengtere Husten. Ihm geht es immer noch sehr schlecht. Die Frage, ob wir einen Not_Arzt kommen lassen sollen, verneint er weiter.
Wenn ich ihm deshalb nicht böse bin oder mich mit der Angst verrückt mache, dass ich verpassen könnte, dass er stirbt, frage ich mich, ob etwas in ihm wie seine Autoimmunerkrankung funktioniert. Nämlich gleichzeitig für und gegen sich selbst.
Er hat Angst vor der Intensivstation, deshalb vermeidet er eine Behandlung. Auch jetzt, am 9. Tag seiner Covid19-Erkrankung. Mit Schleimblubberlunge, dickem Hals und Druck im Kopf.
Was sagt es über unser Verhältnis zur medizinischen Versorgung, wenn es zum nötigen Selbstschutz chronisch kranker Patient_innen gehört, sich nicht behandeln zu lassen? Nichts Gutes, das kann man wohl festhalten.

Ich selbst konnte nach wenigen Tagen schon wieder umschalten. Aus dem Traumasumpf in den Kampf um Arbeitsfähigkeit, Kontrolle und Überblick. Aus der Ohnmacht in die Traumareaktion. Mir gehts gut. Alles fein. Außer, wenn ich merke, dass mein Puls unnötig schnell geht, ich meine Müdigkeit zu spüren zulasse, ich kurz fühle, dass die Situation gerade ganz und gar nicht okay ist.
Ich muss eigentlich in die Schwimmhalle. In die Bewegung. Meine Routinen. Meine übersichtlichen Aufgaben. Meine Ablaufpläne und Ordnungen. Dieses passive Rekonvaleszieren tut mir nicht gut. Macht mir Angst. Triggert allen möglichen Kram hoch, den ich nicht in Aktivität ersticken beruhigen kann.

Deshalb konzentriere ich mich gerade auf alle Aktivität, die ich schaffe.
Eine kleine Krötenschicht am Tag. Eine moderate Hunderunde. Kochen. Sims 4 spielen. Unauffällige Checks auf Lebenszeichen beim Partner. Elaborierte Baupläne für das Grundstück des Nachwachshauses bis in den Schlaf. Und immer wieder die Erinnerung: Langsamkeit ist etwas anderes als Stillstand.

Extrameilen

„So ist das also, wenn man so einen Anruf bekommt“, dachte ich.
Am Freitagabend hatte ich mir noch vorgestellt, wie das wohl ist, wenn am nächsten Morgen die Polizei anruft oder an unserer Tür steht.
„Guten Tag, sind sie Frau M.?“
– „Nein, Herr M. und ich sind nicht-ehelich verpartnert.“
„Oh, dann dürfen wir ihnen keine Auskunft geben.“
Und ich müsste umständlich über meine Betreuerin erstreiten zu erfahren, dass er im Schneetreiben von der Fahrbahn ab und in eine Leitplanke reingekommen ist. Und dabei schwer verletzt oder getötet wurde. Wie würde es mir dann gehen? Was würde ich dann machen? Was müsste ich dann machen? Mit einem Blick über die Zettellage von der Lebenssortage des Partners dachte ich, dass ich mir wenigstens darüber keine Sorgen machen müsste. Testament, Beerdigung, Versicherungen und bliblablö, das ist alles in trockenen Tüchern, die ich im Fall des Falls vollweinen dürfte.
Aber wie würde es mir dann gehen? Würde ich reagieren wie er, als er hörte, dass sein Vater gestorben ist? Nickend weinen, mich zusammenziehen und in Tränen auseinanderfallen? Würde ich überhaupt verstehen? Was, wenn ich, wie damals vor knapp 20 Jahren, dauerhaft nicht sprechen kann? Was, wenn ich nur Angst fühle, weil ich Trauer noch nicht gelernt habe?

Dann saß ich gestern bei meiner Freundin im Büro, besprach die populistische Kackesuppe im Spiegel und die Shitshow, die ihr folgt. Fühlte ab und an nach, ob die Stelle, wo keine Stunde vorher die harten Wundnahtfäden waren, noch blutete. Und mein Partner rief an, um mir zu sagen, was ich nie hören wollte: „Ich hab Covid.“

Seit drei Jahren haben wir das in unseren Alltag eingebettet. Das Wissen, dass es ihn nicht erwischen darf, weil er eine Autoimmunerkrankung hat, die unter anderem seine Lunge betrifft. Eine Autoimmunerkrankung, die es selten gibt und noch seltener in der Form, die er hat. Wir haben immer alles gemacht, um uns nicht anzustecken. Immer, immer, immer. Ich habe nie die Abkürzung genommen – „Ach komm, schnell mal die Maske lupfen, um was zu trinken/zu essen/für alle gut hörbar im Raum zu sprechen.“, die Maske vorne anfassen, die Maske mehrfach verwenden, mich von Blicken, Sprüchen, Pseudowissen und Halbwahrheiten schuckig machen lassen und gar nicht erst eine aufsetzen.
Ich habe meine Kollektivis in den vergangenen drei Jahren fünf oder sechs Mal getroffen. Im Hochsommer. Draußen. Getestet. Mit Maske, wenn Zweifel waren.
Jeder Außentermin, jede Reise war sehr gut vorbereitet. Immer getestet, immer maskiert, wo es nötig war. Immer sind wir diese teure, und vor allem im letzten halben Jahr oft auch herablassend belächelte Extrameile gelaufen.

„Ist es jetzt also soweit?“, dachte ich abends im Bett, die Hunde wie eine Flauschbastion an meinem Körper entlang liegend. „Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Sollte ich mich anstecken, damit ich wenigstens ohne Tüddelüt bei ihm sein kann, wenn es ihm nicht gut geht? Was, wenn er nicht aushalten kann, dass ich mich um ihn kümmere? Kann ich das verpacken? Was, wenn er über Nacht erstickt und ich finde ihn? Was, wenn wir die letzten drei Jahre mit diesem ganzen Extrashit verbracht haben, aber uns eigentlich hätten noch mehr lieben müssen? Noch mehr ineinander verflechten, miteinander verwachsen müssen?“
NakNak*, deren Demenz nun nicht mehr zu übersehen ist, hob zum tausendsten Mal an dem Abend den Kopf, um ins Leere zu starren und den Versuch zu machen, ihren arthritischen Körper aufzurichten. Die nächste Konfrontation mit Sterblichkeit. Die nächste Erinnerung daran, dass es keine Extrameile um den Tod herum gibt.

Eine lange schwierige Nacht später bin ich auch positiv.
Meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann ich in der Praxis abholen. Die ist 14 km von hier. Ich habe Fieber und dicht unter der Oberfläche brodelnde Kinderinnens, wegen des triggernden Druckgefühls in der Brust und der Lage im Mund-Rachenbereich. Einen Scheiß werde ich irgendwo, irgendwas abholen.
Ich habe gerade ganz andere Extrameilen vor mir.