Extrameilen

„So ist das also, wenn man so einen Anruf bekommt“, dachte ich.
Am Freitagabend hatte ich mir noch vorgestellt, wie das wohl ist, wenn am nächsten Morgen die Polizei anruft oder an unserer Tür steht.
„Guten Tag, sind sie Frau M.?“
– „Nein, Herr M. und ich sind nicht-ehelich verpartnert.“
„Oh, dann dürfen wir ihnen keine Auskunft geben.“
Und ich müsste umständlich über meine Betreuerin erstreiten zu erfahren, dass er im Schneetreiben von der Fahrbahn ab und in eine Leitplanke reingekommen ist. Und dabei schwer verletzt oder getötet wurde. Wie würde es mir dann gehen? Was würde ich dann machen? Was müsste ich dann machen? Mit einem Blick über die Zettellage von der Lebenssortage des Partners dachte ich, dass ich mir wenigstens darüber keine Sorgen machen müsste. Testament, Beerdigung, Versicherungen und bliblablö, das ist alles in trockenen Tüchern, die ich im Fall des Falls vollweinen dürfte.
Aber wie würde es mir dann gehen? Würde ich reagieren wie er, als er hörte, dass sein Vater gestorben ist? Nickend weinen, mich zusammenziehen und in Tränen auseinanderfallen? Würde ich überhaupt verstehen? Was, wenn ich, wie damals vor knapp 20 Jahren, dauerhaft nicht sprechen kann? Was, wenn ich nur Angst fühle, weil ich Trauer noch nicht gelernt habe?

Dann saß ich gestern bei meiner Freundin im Büro, besprach die populistische Kackesuppe im Spiegel und die Shitshow, die ihr folgt. Fühlte ab und an nach, ob die Stelle, wo keine Stunde vorher die harten Wundnahtfäden waren, noch blutete. Und mein Partner rief an, um mir zu sagen, was ich nie hören wollte: „Ich hab Covid.“

Seit drei Jahren haben wir das in unseren Alltag eingebettet. Das Wissen, dass es ihn nicht erwischen darf, weil er eine Autoimmunerkrankung hat, die unter anderem seine Lunge betrifft. Eine Autoimmunerkrankung, die es selten gibt und noch seltener in der Form, die er hat. Wir haben immer alles gemacht, um uns nicht anzustecken. Immer, immer, immer. Ich habe nie die Abkürzung genommen – „Ach komm, schnell mal die Maske lupfen, um was zu trinken/zu essen/für alle gut hörbar im Raum zu sprechen.“, die Maske vorne anfassen, die Maske mehrfach verwenden, mich von Blicken, Sprüchen, Pseudowissen und Halbwahrheiten schuckig machen lassen und gar nicht erst eine aufsetzen.
Ich habe meine Kollektivis in den vergangenen drei Jahren fünf oder sechs Mal getroffen. Im Hochsommer. Draußen. Getestet. Mit Maske, wenn Zweifel waren.
Jeder Außentermin, jede Reise war sehr gut vorbereitet. Immer getestet, immer maskiert, wo es nötig war. Immer sind wir diese teure, und vor allem im letzten halben Jahr oft auch herablassend belächelte Extrameile gelaufen.

„Ist es jetzt also soweit?“, dachte ich abends im Bett, die Hunde wie eine Flauschbastion an meinem Körper entlang liegend. „Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Sollte ich mich anstecken, damit ich wenigstens ohne Tüddelüt bei ihm sein kann, wenn es ihm nicht gut geht? Was, wenn er nicht aushalten kann, dass ich mich um ihn kümmere? Kann ich das verpacken? Was, wenn er über Nacht erstickt und ich finde ihn? Was, wenn wir die letzten drei Jahre mit diesem ganzen Extrashit verbracht haben, aber uns eigentlich hätten noch mehr lieben müssen? Noch mehr ineinander verflechten, miteinander verwachsen müssen?“
NakNak*, deren Demenz nun nicht mehr zu übersehen ist, hob zum tausendsten Mal an dem Abend den Kopf, um ins Leere zu starren und den Versuch zu machen, ihren arthritischen Körper aufzurichten. Die nächste Konfrontation mit Sterblichkeit. Die nächste Erinnerung daran, dass es keine Extrameile um den Tod herum gibt.

Eine lange schwierige Nacht später bin ich auch positiv.
Meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann ich in der Praxis abholen. Die ist 14 km von hier. Ich habe Fieber und dicht unter der Oberfläche brodelnde Kinderinnens, wegen des triggernden Druckgefühls in der Brust und der Lage im Mund-Rachenbereich. Einen Scheiß werde ich irgendwo, irgendwas abholen.
Ich habe gerade ganz andere Extrameilen vor mir.