Umstellung #Coronatagebuch

Die Fahrt ins Krankenhaus war merkwürdig. Der Himmel blau, die Sonne so warm, als würde sie etwas mit dem Boden vorhaben.
Mein Partner fragte, ob er sich ein Taxi rufen sollte. Ich sagte nein. Und als ich ihn kurze Zeit später fragte, in welchem Krankenhaus er liegt, sagte er, er könne auch mit dem Taxi kommen. Da war ich schon über die Hälfte der Strecke gefahren, hatte meinen zweiten Weinüberfall des Tages kompensiert und war damit beschäftigt, nach meinen Freudengefühlen über seine Entlassung zu suchen.

Schwer atmend blinzelte er in die Sonne. Über sich das Dach des Krankenhauseingangs wirkte er klein und verschrumpelt. Der Weg zum Auto fiel ihm schwer, der Frust, die Angst der letzten beiden Wochen quollen Vorfall für Vorfall aus ihm heraus. Meine Annahme, dass ihn der Mangel töten würde, war richtig. Wäre er kein mittelalter, sondern ein alter Mann gewesen, wäre er gestorben. Wie unser Nachbar Ende letzte Woche. Ebenfalls Covid-19. Ebenfalls beidseitige Lungenentzündung.
Dass mein Partner die zusätzlich zu seinen Lungenembolien hatte, erfuhren wir erst durch den Bericht zur Entlassung. Denn es gab einfach keinen Informationsfluss. Niemand hatte einen umfassenden Überblick. Niemand hat die Verantwortung für das Leben meines wundervollen Partners übernommen. Alle haben sie nur für den eigenen kleinen Bereich funktioniert.

5 Rezepte mit der Aufschrift „Entlassungsmanagement“ an Bord fuhr ich zur Apotheke. Eine Strecke, die ich noch nie hin und zurück gefahren bin und erst herausfinden musste. Zeitweise war das, als wäre ich durch die Windowslandschaft gefahren. Völlig irre.
„Das ist jetzt sicher viel für Sie beide, hm? Eine große Umstellung.“ sagte die Apothekerin hinter dem Berg an Medikamenten und Gerätschaften hervor. Der Partner hat einen Covid-19bedingten Diabetes entwickelt.
Ja, das ist eine Umstellung. Eine, in der ich meine Rolle noch nicht kenne. Eine, aus der mich mein Partner raushalten will, wie er mich aus all seinen Krankheitssachen raushalten will. Eine, die mich einer ähnlichen psychischen Belastung aussetzt, wie in der Woche vor seiner Einweisung ins Klinikum. Sehen, hören, riechen, fühlen, wissen, dass da etwas nicht stimmt – aber Abstand halten. Nichts fühlen, nichts denken, not my monkeys, not my business.

Ich bin unserem Alltagsleben manchmal sehr nützlich, weil ich ein gutes Gehör habe. Ich höre seinem Atem an, ob es ein feuchter oder ein angestrengter Tag ist. Ob er schon inhaliert hat oder nicht. Als er in seine zweite Covid-Woche ging, war er schon längst zu schlapp und mental nicht mehr in der Lage, diesen Anlass meiner Todesangst um ihn zu verstehen. Und es war meine Unfähigkeit, der Arzthelferin in der Hausarztpraxis klarzumachen, dass hier etwas absolut nicht „typisch Covid“ läuft, die ihm nicht schon früher einen Arzt ans Bett gebracht hat.
Als er dann selbst um einen Arzt bat, habe ich in mir eine Tür zugemacht. In meiner Welt kam das viel zu spät. Ich war darauf eingestellt, dass er stirbt. Meine Umstellung in dieser Situation ist also eine ganz andere. Auch in mir selbst. Denn natürlich haben nicht alle wie ich gefühlt und gedacht. Aber was wissen die denn von meinem Alltag hier und heute? Und wie kohärent wissen sie das?

Die Apothekerin erklärte mir, was im Umgang mit den Lanzetten, den Pens, den Sticks zu beachten ist. Schrieb die Dosierung auf jede Schachtel und steckte sie in einen Stoffbeutel. Um mich herum einige andere Menschen.
Ich der einzige mit Maske auf.
Den Umgang damit werde ich weiter irgendwie allein hinkriegen müssen.

Mangel entgegenbeten #Coronatagebuch

Der erste Anruf war um 3 Uhr morgens herum. Mein Telefon: still. Ich: Im ersten leeren Schlaf seit Wochen.
Am Tag zuvor hatte er noch gesagt, es ginge ihm besser. Seine Gesichtsfarbe war von Mehlkreide zu Camembert gewechselt, der Husten seltener. Mir ging es schlecht, sobald es mir nicht mehr gut ging. Jeder Moment der Ruhe ist ein Dorn, der Erinnerungsblasen zum Platzen bringt. Meine körperliche Schwäche weiter keine Hilfe beim Umgang damit.

Kurz vor 8 schaffte er es die Hunde zu wecken, die mich dann aus meiner weichweißen Betäubung rissen.
Er bat mich, ihm eine Tasche zu packen. Fürs Krankenhaus. Das Sprechen undeutlich, angestrengt und umständlich aus dem Oberkörper gepresst.
Ich sammelte seine Sachen zusammen, fütterte die Hunde, begann das Gespräch mit der Rettungsstelle zu üben. Dachte kurz darüber nach, ob ich ihn gewissermaßen umgebracht habe, weil ich ihn nicht früher gehört habe. Schob sein Telefon in den Rucksack und fand mich daran erinnert, dass ich nicht der einzige erreichbare Mensch in dieser Nacht gewesen war.

Der Anruf bei der Rettungsstelle klappte gut. Es lief sehr anders als vor 20 Jahren, heute wird man die Wichtig-Ws konkret abgefragt. Das ist eine gute Hilfestellung.
Der Rest wie im Film. Zwei Rettungsmenschen in Maske und Papierleibchen, ein piependes Fingerdingsi, ein anstrengendes Gespräch zur Vermittlung der Grunderkrankung und der aktuellen Situation mit Covid zusätzlich. Davor der Akt, in dem sich der Partner frische Sachen anzog, spürbar an der Grenze dessen, was ihm möglich ist.
Sie steigen ein, er hinterher. Sie testen ihn und suchen ein freies Bett. Ich denke grimmig, dass er mit einem freien Bett nichts anfangen kann. Er braucht kein Bett, er braucht Versorgung und Pflege. Ein Bett hat er. Hier. Bei mir. Wo wir beide wohnen und uns über Witze totlachen und über Nazis erheben und einen Maulwurf haben und Kinder großziehen werden.

Der Rettungsmensch ruft mir zu, wo sie fündig wurden, dann fahren sie los. Ich schließe die Tür und denke: „So, jetzt wird hier endlich mal aufgeräumt.“ Tatsächlich aber schreibe ich Messengernachrichten und trinke Kaffee. Streichle Bubi, der mir seinen ganzen Körper gegen das Bein drückt. Spreche mit der Nachbarin, die den Krankenwagen gesehen hat und ihre Hilfe anbietet. Bis ich nicht mehr sprechen kann, weil ich keine Wörter mehr denke.

Ich spiele Sims 4, gehe mit den Hunden raus. Lasse mein Gesicht von den frühlingswarmen Böen streicheln, die sich kräftig über die zartgrünen Felder schieben.

Wir sind in einem AG-Treffen der Initiative Phoenix als der Partner anruft. Er hat eine Lungenembolie. Sollte erst in eine andere Klinik verlegt werden, dort ist aber kein Platz frei. Er bleibt in der Klinik, wo das CT ausgefallen ist, während er in einem untersucht werden soll. Jemand weint an mir vorbei, ich hake eine weitere erfüllte Befürchtung ab. Weiß, dass ich das in der nächsten Zeit nirgendwo sagen kann, weil das Gesundbeten unserer Zeit erfordert, immer positiv über solche Dinge zu denken. Aber: Es wird nicht seine Krankheit sein, die ihn umbringt. Es wird Scheiß wie dieser sein. Die Ärzt_innen, die seltene Krankheiten nicht kennen und keine Zeit für fundierte individuell nötige Zusammenarbeit haben. Die Pfleger_innen, die einfach nicht arbeiten können, wie sie wollen und sollen. Technisches Gerät, das es nur ein Mal pro Haus mit hunderten Anwendungsfällen gibt. Es wird Mangel sein, der ihn tötet. Mangel in einem der reichsten Länder auf der Welt. Egal, wie positiv ich jetzt denke. Wie sehr ich hoffe und wünsche, dass alles gut geht. Das kann ich machen, um mich selbst besser zu fühlen. Aber die Realität ist eine andere und die kann ich im Moment nur bezeugen.

In der Abenddämmerung fahre ich zum Krötenzaun. Sammle Erd- und Kreuzkröten ein, als meine Betreuerin anruft. Sie ist als Bevollmächtigte eingetragen in der Patientenverfügung des Partners und schon lange mit ihm befreundet. Ihre Stimme wackelt und ich höre ihr dabei zu, wie sie sie mit positiven Annahmen stützt.
Eine letzte Kröte im Eimer verabschiede ich mich von ihr. „Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung scannen und mailen, nicht vergessen. Verfügungsvollmacht und Patientenverfügung.“ Ich wiederhole es im Kopf, bis es keinen Sinn mehr ergibt. Fahre im großen Bogen wieder nach Hause, fotografiere einen Regenbogen.

Zu Hause scanne die Dokumente ein und lese nach, was er sich wünscht. Bin ihm dankbar dafür, dass ich nicht entscheiden soll, sondern seine Freundin. Freue mich für ihn, dass er nicht nur mich in seinem Leben hat.

Später im Einschlafen denke ich mir aus, wie er wieder nach Hause kommt. Wie der Garten dann aussieht. Wie aufgeräumt und sauber seine Wohnung ist. Wie wir wieder draußen sitzen und uns die Bäuche hart lachen.