never a tale

Die wahlermächtigten Bürger_innen der USA haben jemanden zum Präsidenten gewählt, der die reproduktiven Rechte und Freiheiten von Menschen, die schwanger werden können, noch weiter beschneiden will.
In diesem Zusammenhang lese ich oft den Vergleich mit dem Titel „Handmaid’s Tale“. Außerdem eine Kritik an ebenjenem Titel, da dieser die Realität reproduktiver Ausbeutung und Diskriminierung nicht-weißer Menschen zur Grundlage von Unterhaltung weißer Menschen nimmt, die diese aufgrund ihrer Privilegien nur als Dystopie (also als „schlimme Vorstellung“) begreifen wollen – und können.

Viele Menschen meiner Generation und race hatten erst mit der Serienadaption dieser Geschichte überhaupt Kontakt mit der Idee davon, dass ihre Fähigkeit bzw. Potenz zur Schwangerschaft in irgendeiner Form über das bekannte Maß von bedingter Verhütungs- und Abbruchsfreiheit hinaus kontrolliert und ausgebeutet werden könnte.

Klar haben sie von Leihmutterschaft gewusst. Und Menschen, deren Einkommen von ihrer Leihmutterschaft abhängt. Von Eizellspenden. Und Menschen, die damit ihre Flucht und/oder den (Wieder)Aufbau eines Lebens finanzieren. Klar von künstlicher Befruchtung. Und Ärzten oder Samenspendern, die sich an dem tiefen Hoffen kinderwünschiger Menschen bereichern und/oder ideologische Motive für das anbringen, was Betroffenenorganisationen in den USA als „Fertility Fraud“ bezeichnen.

Doch dass diese Möglichkeiten in den Händen von (vorgeblich) religiös motivierten Terroristen und – wie nun passiert – hochgradig gefährlichen und dennoch demokratisch gewählten Machthabern ebenso verfügbar sind und zu umfassender Unfreiheit führen können, das wird für viele weiße Menschen erst jetzt mehr als bloßer Grusel vorm Schlafengehen.

Den nichtweißen Menschen, die von Ähnlichem berichten, hat man ja nicht zugehört. Nicht geglaubt. Ihre Erfahrungen rassistischen Ideen von Unziviliertheit und allgemeiner Rückständigkeit unterworfen.Den Menschen, die von (generationaler) organisierter sexueller Ausbeutung (in (pseudo)religiös begründeten Kontexten) berichten, wird ja gesagt, dass sie spinnen (weil Therapeut_innen ihnen was eingeredet haben). Ihre Erfahrungen werden saneistischen Ideen unterworfen und von egoistisch wie rücksichtslosen Menschen dazu missbraucht, sich als Fürsprecher_innen der Opfer zu gerieren und persönliche Anliegen zu verschleiern.

Den Menschen, die von (generationaler) organisierter sexueller Ausbeutung (in (pseudo)religiös begründeten Kontexten) berichten, wird ja gesagt, dass sie spinnen (weil Therapeut_innen ihnen was eingeredet haben). Ihre Erfahrungen werden saneistischen Ideen unterworfen und von egoistisch wie rücksichtslosen Menschen dazu missbraucht, sich als Fürsprecher_innen der Opfer zu gerieren und persönliche Anliegen zu verschleiern.

Entsprechend kritisch stehe also auch ich dem Vergleich gegenüber.„Handmaid’s Tale“ war nie eine ausgedachte Geschichte für sehr viele Menschen in so vielen Gemeinden, Kulturen, Staaten, Ländern. Lasst uns die Realität nicht zum abstrakten Schauder verklären, nur weil sich nun auch weiße, ungeschlagene Menschen mit der Not identifizieren können.

„Handmaid’s Tale“ war nie eine ausgedachte Geschichte für sehr viele Menschen in so vielen Gemeinden, Kulturen, Staaten, Ländern. Lasst uns die Realität nicht zum abstrakten Schauder verklären, nur weil sich nun auch weiße, ungeschlagene Menschen mit der Not identifizieren können.

Hinzufügen möchte ich meine Perspektive als weiße behinderte Person mit Kinderwunsch. Denn auch die reproduktiven Rechte behinderter Menschen, die schwanger werden können, sind bis heute nicht von allen Betroffenen anerkannt, gewährt und verteidigt.

Ich habe ein so gutes abled passing, dass mir konkret niemand im Weg steht, mir den Kinderwunsch zu erfüllen. Doch ermutigt oder darin begrüßt werde ich auch nicht. Im Gegenteil.
Der Umfang, in dem mein Wünschen hinterfragt wird, ist größer als bei nichtbehinderten Mitmenschen.
Mich hat noch nie jemand gefragt, ob und wann ich denn Kinder haben will. Aber jedes Gespräch über meinen Kinderwunsch enthält die Frage, ob ich mir das wirklich gut überlegt habe. Ob ich denn wirklich an alles gedacht habe. Ob ich mir das wirklich antun will. Und meinem Mann. Und den Leuten, die mir dann helfen müssen.
Dass jemand kommt und mir das Kind wegnimmt, war das Erste, was ich recherchiert habe, nachdem ich mich dafür entschied auf ein Leben hinzuarbeiten, in dem eine Familiengründung stattfinden kann.

Ich bezeuge in der bedingten Öffentlichkeit von Social-Media-Kommentaren, mit was für einer Selbstverständlichkeit eugenische Argumentation weiterhin eine Rolle spielt, wenn es um behinderte Elternschaft geht. Niemand denkt daran, dass auch behinderte Menschen diese Kommentare lesen. Niemand denkt daran, dass Eugenik ein menschenfeindliches Konzept wie Rassismus ist. Dass es dabei darum geht, dass es Menschen wie mich einfach nicht geben soll. Dass jedes Mal, wenn jemand sagt: „Also ein behindertes Kind würde ich abtreiben“, die Abwertung behinderten Lebens fester in das gesamtgesellschaftliche Nachdenken und Werten integriert wird.

Meine reproduktive Freiheit hängt zu 100 % an der ökonomischen Autonomie meines Ehemannes, weil ich als behinderte Person in Bildung, Arbeit und – down the Line auch als behinderte Frau, die ich vor dem Gesetz bin – Entlohnung nicht gleichgestellt bin.
Kondome, die Pille, IUD – er bezahlt. Kinderwunschpraxis, IUI, IVF – er bezahlt. Weil er will. Aber auch und vornehmlich, weil er kann. Und ich nicht.
Reproduktiv frei bin ich nur in meinem Kinderwunsch. Meiner persönlichen Einstellung und meinem Willen zur Schwangerschaft und Familiengründung. Und darin, mit dem ich darüber spreche. Wie viel oder wenig ich davon sichtbar mache.

Für jemanden wie mich ist es egal, ob das Land, in dem ich lebe, Schwangerschaft zur ersten Pflicht jedes Menschen erklärt, der eine haben kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass man mich darin inkludiert, ist gering.
Und was das bedeutet, ist so egal in unserer Gesellschaft, dass es dazu keine Serie geben wird.

note on: Missbrauch bei Germanys Next Topmodel

Auch dieses Jahr wird sich über das Dschungel Camp von Pro7 aufregt – „Germanys Next Topmodel“.
Diesmal ist es Rezo, der sich in einem Video [Link zu YouTube] mit der Sendung auseinandergesetzt hat und darin Bezug auf Videos von früheren Teilnehmerinnen nimmt. So far nichts Neues, aber vielleicht Lauteres. Jüngeres. Und aus der Zielgruppe.

Seit 2006 gibt es die Sendung, die sich vordergründig um Mode, Kunst und Schönheit dreht, in ihrer Basis aber nie etwas anderes als eine anhaltende Dauerwerbesendung war. Heidi Klum ist Unternehmerin, sie verdient ihr Geld mit ihrem Körper und mit dem Körper anderer Menschen. Sie produziert eine Sendung, die vorrangig Zuschauer_innen findet, deren Medienkompetenz entweder nicht ausreicht, um Werbung zu erkennen (und so einen gewissen Schutz vor sehr starker Identifikation mit den dargestellten Personen bietet) oder die nicht mit dem Alltagsverständnis verknüpft ist (sodass den Menschen (sehr unangenehm) bewusst ist, was sie sich da eigentlich ansehen und warum sie sich davon unterhalten fühlen).

In diesem Beitrag geht es mir nicht darum, Menschen darüber zu beschämen, was sie sich gern im Fernsehen anschauen.
Es gibt Genres, die sind verknüpft mit dem Alltagsbewusstsein, den Alltagswerten, die man so hat, der letzte Quark sind. Ich liebe zum Beispiel das Marvel-Universum. Das sind Action-Comedy-Fantasy-Superhelden-Comicverfilmungen. Sexistisch, platt, oftmals gewaltvoll, immer geht irgendwas kaputt und logisch zusammengeschnitten sind sie auch nicht immer. Aber sie machen mir Spaß. Ich komme oft total aufgepeitscht aus dem Kino, verarbeite tagelang die schnellen Kampfszenen, nerde total gerne über den großen story arc der Reihe ab.
Aber ich kann kritisch dabei sein. Mir ist klar, dass diese Filme mich unterhalten sollen. Gibt es darin Dinge, die mich nicht unterhalten, sondern kränken, abstoßen oder die ich einfach nicht in Ordnung in einem solchen Film finde, dann kann ich als Zuschauer_in diese Kritik äußern und alle verstehen, warum ich das tue. Das Ziel ist nämlich ausschließlich meine Unterhaltung. Der Film wird für Leute wie mich gemacht. Natürlich interessiert Disney einen Scheiß, wie ich persönlich die Filme finde – aber das Fandom selbst, also alle Menschen, die diese Filme gern anschauen, sind schon wichtig für Disney.

Das ist bei Sendungen wie Germanys Next Topmodel anders. Es geht nicht darum, wie Leute die Sendung finden. Es geht darum, dass sie angeschaut wird. Denn jeder Klick, jeder View, jedes Einschalten bestimmt den Wert der Werbung, die in den offiziellen Werbepausen gezeigt wird – aber auch den Wert der Kooperationen, die im Rahmen dieser Sendung gemacht werden.
GNTM war nie ein Wettbewerb um etwas, das nichts mit Werbung zu tun hatte und das ist wichtig zu verstehen. Auch für die Kritik daran. Denn die ist ja nun, nach 15, 16 Jahren auch einigermaßen ritualisiert und geht für mich inzwischen oft am Punkt vorbei.

Denn Fakt ist: Diese Sendung ist nicht illegal, sie ist einfach nur unmoralisch.
Das sind viele andere Sendungen aber auch. Frauentausch zum Beispiel. Das Dschungelcamp. Big Brother. Temptation Island. Sommerhaus der Stars. Und sie werden angeschaut. Sie beeinflussen zum Negativen, sie tragen nichts zum Alltag der Menschen bei, außer einem Zeitraum, in dem sie sich nicht aktiv um ihren sozialen Status kümmern müssen. Sie schauen durch die Glotze herab auf irgendwelche Trottel, die sich zum Klops machen – oder auch nicht, es ist total egal.

Das Fiese an GNTM ist der Griff aus dem Fernseher heraus nach Menschen, die oftmals zu jung, zu unerfahren, zu ungeschützt und unaufgeklärt darüber sind, wie Fernsehen im Allgemeinen und Werbung im Zusammenspiel mit Konsum im Speziellen funktioniert. Was das mit ihrer Körperlichkeit zu tun hat, mit ihrer Persönlichkeit, mit Ansprüchen Dritter an ihrem Körper, aber auch ihre Zeit und ihren emotionalen Kräften.
Ich höre seit Jahren diese mir tatsächlich sehr naiv erscheinende Frage oder vielleicht eher Feststellung, dass „die jungen Mädchen“ das ja auch noch freiwillig mitmachen – diesen unsinnigen Müll. Als jemand die_r einige Jahre sehr viel Müll hat „mit sich machen lassen“ – „~freiwillig~“ – werde ich darüber oft wütend. Über diese Naivität. Diese dumpfe Dummheit. Weil – bitte, wie einfach kann man es sich machen. „Ja, wenn die das freiwillig mitmachen …“ dann ist es ok? Kein Problem? Selber schuld, wenn die Freiwilligkeit ausgenutzt wird?

Und was machen die Menschen denn da mit?
GNTM wird häufig als Wettbewerb gerahmt. Genauso wie das Schrottformat „der Bachelor“. Es kann nur eine gewinnen. Hier geht es um was, trallalala. Aber um was geht es denn für wen? Was hat der Dschungelkönig oder die Dschungelkönigin gewonnen – außer einer Erfahrung mit öffentlichem Ekeltraining und 100.000 € zusätzlich zu einer Gage, die neben dem, was der Sender damit generiert, einfach nur lächerlich sein dürfte? Sie_r hat vor allem gewonnen, weil sie_r nicht verloren hat. Und das ist schon alles.
Seit Jahren ist bekannt, dass die Gewinner_innen von GNTM ein Werbepüppchen im Unternehmensuniversum von Heidi Klum sind und weiter nichts. Sie erhalten einen Vertrag, der sie in Einkaufsmalls und auf Popelbühnen bringt – aber nicht auf die Laufstege von Top Designer_innen. Das ist besser als nichts und wenn man wirklich als Model arbeiten will, muss man irgendwo anfangen – aber dafür muss man sich nicht im Fernsehen demütigen und sexualisieren lassen. Es ist ein Beruf und der Zugang dazu ist kein Wettbewerb, sondern Arbeit.

Die Sendung als Wettbewerb zu rahmen ist jedoch das Element, das viele Teilnehmer_innen letztlich verführt. Denn was ein Wettbewerb ist, erfordert Fähig- und Fertigkeiten, die einfach entwickelt und gezeigt werden können. Es liegt an den Teilnehmer_innen wer gewinnt. Nicht an den Produzent_innen, die ja als solche nie in Erscheinung treten und dementsprechend gar nicht in ihrer Machtposition überhaupt erkannt werden können.
Nachdem man vielleicht jahrelang gesehen hat, wie andere versagen – wie schwer ist dann der Sprung zu dem Gedanken: „Was die können, kann ich auch. Sogar noch besser. Ich hab jetzt alles gesehen, ich krieg das hin, ich kann das. Ich mach das. Ich werde gewinnen und besser sein.“ Und das machen sie freiwillig. Beweisen, dass sie es besser können. Und wenn sie zufällig in das Schema passen, dass die Produzent_innen in der Staffel bedienen wollen, dann schnappt die Falle zu.

Die gleiche Falle, die ihnen Mackertypen stellen, die gleiche Falle, die Täter_innen aufstellen, die gleiche Falle, die in verschiedenen Formen überall in unserer patriarchalen Gesellschaft benutzt werden. Es ist immer wieder der Rückwurf und die Reduktion auf die Person allein. Zeig, was du kannst – beweise, was du über dich sagst – erkämpfe dir meine Gunst – und dann bekommst du eine Chance dich dessen würdig zu erweisen. Vergiss nie, dass du meine Gunst brauchst – Heidi muss dich gut finden, Hajo muss dich geil finden, der Kunde muss dich ficken wollen, dann hast du es richtig gemacht, dann stimmt, was du über dich glaubst. Dann bist du würdig einen Supermarkt in Castrup Rauxel zu eröffnen oder die nächste Generation GNTM Meeedchen zu rekrutieren.

Sendungen wie diese sind nur deshalb anschlussfähig, weil speziell Mädchen und Frauen und als Mädchen und Frauen behandelte/gedachte Menschen genau das immer und immer und überall erleben. Es gilt einfach nie, was sie im ersten Moment über sich sagen oder was sie von sich halten. Der Blick von außen auf sie ist immer noch wichtiger als ihr eigener auf sich.
Und das gilt für jede Fernsehsendung mit diesem Prinzip. Die Zuschauer_innen werden missbraucht, um eine Instanz des Außens zu erschaffen, das im Sendungsgeschehen selber überhaupt keine Rolle spielt – zumindest so lange nicht, bis es die Zuschauer_innen sind, die mit ihrem Anrufverhalten bestimmen, wer sich länger von Unsympathen wie Dieter Bohlen beleidigen lassen oder irgendwelche gefährlichen Challenges bestehen soll darf muss. Bei GNTM wird darüber gelogen, wer das Außen ist. Denn Heidi allein und ihre Jury ist es nicht. Und um die Teilnehmer_innen als Person geht es auch nicht. Deshalb können sie die Verantwortung dafür von sich weisen. Deshalb können sie so tun, als verstünden sie die Kritik nicht. Denn sie sind ja nur Vermittler_innen in die Welt des Modelns.

Das macht die Sendung unmoralisch und die Ausbeutung, die Sexualisierung von Minderjährigen und auch die Legitimation dieses Geschehens überhaupt erst möglich.
Entsprechend ist es unsinnig, sich darüber zu unterhalten, wie sich das Fernsehen verändern muss. Ob die Heidi das darf oder nicht. Ob und wenn ja, wie freiwillig die Teilnahme ist oder nicht. Solange Menschen Medien nutzen, um sich über andere zu erheben; solange Werbung die Haupteinnahmequelle für die Produktion von Medien ist und wir uns auf Einzelpersonen statt Gesamtzusammenhänge konzentrieren, werden wir reproduzieren, was diese Sendungen legitimiert: Gewalt und Macht.

Gastbeitrag: „Alles Verschwörungstheorie? Plädoyer für solide Information zwischen zwei Extremen“

Transparenzhinweis:
2017 haben wir ein Interview mit Claudia Fischer zum Infoportal Rituelle Gewalt aufgenommen. 
Wir arbeiten am Infoportal mit.

 

Eine gemeinsame Stellungnahme von der Emanuelstiftung (Bonn), von Lichtstrahlen Oldenburg e.V. und Mosaik gegen Gewalt e.V., Bielefeld. Alle drei betreiben das Infoportal Rituelle Gewalt. (Veröffentlicht am 18.4.2020)

Die öffentliche Diskussion um das Thema Rituelle bzw. organisierte sexualisierte Gewalt bewegt sich seit längerem in einem Umfeld, in dem

  • auf der einen Seite verschiedenste „Weltverschwörungs“-Narrative Verbreitung finden, die die Ausbeutung von Kindern durch pädokriminelle Täter*innen mit irgendwelchen „weltumspannenden Netzwerken“ verbinden und häufig noch mit anderen kruden, zum Teil sogar antisemitischen oder rechtsextremen Thesen oder Fantasien kombinieren, wobei der Boden jeder nüchternen, sachlichen Betrachtung längst verlassen wurde.
  • Auf der anderen Seite leugnen manche Einzelpersonen und Institutionen immer noch rundweg, dass es in Deutschland, Europa oder weltweit überhaupt zu solch schweren Straftaten kommt, wie Überlebende von organisierter Ritueller Gewalt sie berichten. Hier wird häufig argumentiert, das sei „alles nur von gut vernetzten Therapeut*innen eingeredet“ – eine nicht minder absurde Verschwörungsphantasie.

Beide Unwahrheiten enthalten, wie so oft, wahre Elemente: Natürlich kommt es in Einzelfällen vor, dass Menschen unter dem Einfluss unseriös arbeitender Therapeutinnen zu fehlerhaften Erinnerungen gelangen. Gleichzeitig ist auch immer wieder festzustellen, dass Täterinnen in diesem Bereich der Kriminalität sehr gut miteinander vernetzt sind und zudem individuell relevante gesellschaftliche Positionen einnehmen.

Wer daraus Pauschalaussagen bastelt, kommt aber zwangsläufig zu einer pauschalen Verdrängung oder Übertreibung. Richtig ist nach unseren jahrelangen Recherchen und Erfahrungen:

Weder haben es alle diejenigen, die sich als Betroffene zu erkennen geben, mit unfähigen/böswilligen Therapeut*innen zu tun (viele haben nicht zuletzt bereits Erinnerungen an traumatisch Erlebtes, bevor sie eine Psychotherapie beginnen), noch steht hinter dem, was da an Verbrechen immer wieder in sehr plausibler Form geschildert wird, logischerweise eine einzige große „Weltverschwörung“.

Beide Extreme werden der Realität, bzw. dem, was inzwischen an wissenschaftlichen und empirischen/klinischen Befunden zum Thema existiert, nicht gerecht. Sie führen schlicht zur Desinformation und schaden denen, die wir schützen müssen – nämlich denjenigen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die tatsächlich in schwer zu ertragender und schwer zu vermittelnder Form ausgebeutet und misshandelt werden.

Das eine Extrem: Weltverschwörung
Seit Jahren beobachten wir mit Sorge, dass das Thema Rituelle Gewalt, mitunter vermischt mit rechtsextremen und antisemitischen Aussagen, politisch instrumentalisiert und genutzt wird, um Endzeitgefühle zu erzeugen und Angst zu verbreiten. Entsprechende Websites sprechen dann häufig auch noch die Chemtrail-Gläubigen, Impfgegnerinnen oder Reichsbürgerinnen an oder geben Prepping-Hinweise.

Hiervon grenzen wir uns ganz klar ab und betonen: Von organisierter sexualisierter bzw. ritueller Gewalt haben inzwischen Hunderte von Betroffenen auch in Deutschland glaubhaft berichtet (u.a. in Anträgen beim Fonds Sexueller Missbrauch [1], bei Anhörungen der Aufarbeitungskommission [2], am berta-Telefon oder im Rahmen von wissenschaftlichen Studien [3]). Die damit verbundenen Straftaten tauchen auch im Rahmen von Strafverfahren immer wieder auf [4], und sie haben nichts, aber auch gar nichts zu tun mit einer sogenannten satanischen, jüdischen oder sonstwie gearteten „Weltverschwörung“, die „heimlich die Geschicke unserer Regierungen und Gesellschaften lenkt“. Wir grenzen uns auch ab von der Annahme, es gäbe irgendwelche „Eliten“, die in pauschaler Form in solche Taten verstrickt sein sollen, bzw. von „Pizzagate“ [5], „QAnon“ [6] und ähnlichen plakativen Konstrukten.

Wir sehen die Gefahr, dass derlei Verschwörungsgedanken und die politische Instrumentalisierung den wirklich Betroffenen massiv schaden, weil man sie für „Spinnerinnen“ hält und ihnen die dringend benötigten Hilfen verweigert. Weil Ermittlungen niedergeschlagen werden und weil sich damit die typische Drohung der Täterinnen
bewahrheitet: „Und wenn Du jemals darüber sprichst, wird Dir niemand glauben.“

Unsere Bitte: Wenn Sie helfen wollen, bleiben Sie skeptisch gegenüber solchen Verschwörungstheorien!
Eine Liste seriöser Quellen zum Thema finden Sie auf der Linkseite der Emanuelstiftung [7].

Das andere Extrem: Komplette Leugnung
Gleichzeitig nehmen wir immer wieder Bestrebungen wahr, das Thema Rituelle Gewalt in sehr bemühter Form unter den Tisch zu kehren. Hierzu verweisen wir gern auf die sehr fundierte Stellungnahme des Betroffenenrates beim UBSKM [8] und möchten auf folgende Erkenntnisse aus unserer Arbeit hinweisen:

Wir erleben in großer Zahl Menschen, die sich bei uns melden, weil sie in körperlicher, psychischer und/oder finanzieller Not sind, weil sie von pädokriminellen Straftäter*innen in extremer Form, langfristig, organisiert und/oder rituell sexuell ausgebeutet wurden und werden.

Ähnlich häufig erleben wir Menschen, die sich bei uns melden, weil sie direkt betroffene Personen begleiten. Das sind Ärztinnen, gesetzliche Betreuerinnen, Anwältinnen, Fachleute aus Sozialämtern, Sektenberatungen, Therapie, Krankenhäusern, Kirchen und Politik, aber auch Familienmitglieder von Betroffenen, Nachbarinnen, Freundinnen,
Arbeitskolleg
innen, Arbeitgeber*innen. Und auch das sind viele.

Viele dieser Berichte sind nachvollziehbar, ordentlich belegt und plausibel, auch wenn dies z.B. nicht zur Strafverfolgung oder zu Urteilen geführt hat. Ähnliches gilt für diverse Fälle von Bedrohung und Erpressung, mit denen sich insbesondere Kliniken und Therapeutinnen konfrontiert sehen, die Überlebende behandeln. Viele berichten von entsprechenden Übergriffen (z. B. von Bedrohung und Stalking von Klientinnen selbst bei Klinikaufenthalten). Meist reichen die Erlebnisse aber nicht aus für eine Strafverfolgung oder es gibt gute Gründe
(z. B. Klientinnenschutz oder die Sorge um die Existenz der Klinik), um damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Unsere Erfahrung: Täterinnen wissen sehr gut, wie weit sie gehen können. Zu diesem Schluss kommen wir nach solchen Gesprächen immer wieder.

Wir wissen, dass es gut vernetzte pädokriminelle Netzwerke gibt, die Kinder misshandeln, foltern und vergewaltigen (Beispiel aus neuester Zeit: Bergisch-Gladbach).

Wir wissen, dass diese Netzwerke Kinder und Erwachsene untereinander austauschen, anbieten, ausbeuten und vermarkten [9]. Und dass es „Kunden“ dafür gibt, bei diesen Folterungen auch töten zu wollen (s. Staufen [10]). Das ist keine Verschwörung, sondern ein fürchterliches, monströses, reales Geschäftsmodell.

Wir wissen, dass es im Kontext vieler Religionen, Sekten und Ideologien immer wieder auch zu sexualisierter Gewalt kommt und manche extrem gläubige Menschen bereit sind, für ihre Ideologie zu töten. Gerichtsbekannte Fälle dazu finden sich im Infoportal Rituelle Gewalt (infoportal-rg.de). Ob die Religion oder Ideologie dabei Ursache oder Tarnung der ausgeübten Gewalt ist, können wir nicht beurteilen. [11]

Wir wissen, dass kaum einer der gerichtsbekannten Fälle nur auf ein Land beschränkt war. Fast immer gibt es Verbindungen ins Ausland. Auch das ist keine Verschwörung, sondern schlicht und ergreifend eine Täterstrategie, um die Polizei auszutricksen, denn internationale Ermittlungen sind ungleich schwieriger, nicht zuletzt wegen unterschiedlicher behördlicher Strukturen und Ermächtigungen. Das ist häufig schon zwischen Bundesländern innerhalb Deutschlands zu beobachten (siehe Lügde, der Haupttäter hat das Zuständigkeitsvakuum zwischen den Jugendämtern in Hameln-Pyrmont und Lippe geschickt ausgenutzt) [12].

Wir wissen, dass Pädokriminalität und sexuelle Ausbeutung in unterschiedlichen Ausprägungen auch unter Prominenten längst nachgewiesen wurde (Weinstein [13], Epstein [14], Edathy [15] etc.).

Wir wissen von vielen Fällen, in denen Polizei und Justiz den Betroffenen nicht geholfen haben – im Gegenteil: Die Betroffenen selbst und ihre Unterstützer*innen sahen und sehen sich teilweise selbst plötzlich mit Ermittlungen konfrontiert.

Wir wissen nicht, wann es aufhört, dass Rituelle Gewalt als Thema immer wieder heruntergespielt wird – und worin das Interesse bestehen kann, einen besseren Kinderschutz abzulehnen, wie die Fachleute ihn fordern, und Hunderte von Überlebenden per se für unglaubwürdig zu erklären.

Ähnliche Marginalisierungen gab es in jüngerer Vergangenheit bei ähnlichen Themen, z. B. bei der sexualisierten Gewalt gegen Kinder in Familien und Institutionen sowie der rechten Gewalt. Ebenso verhält es sich mit der Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung, die lange Zeit erst ignoriert und dann nicht als typische Folge komplexer, frühkindlicher Traumatisierung anerkannt wurde. Inzwischen hat sich diese Erkenntnis durchgesetzt und wurde durch Einträge der Diagnose in DSM und ICD und die Arbeiten vieler Hirn- und Traumaforscher*innen bestätigt.

Für die betroffenen Kinder und Erwachsenen ist es verheerend, wenn nicht hingeschaut wird.
Auch hier wiederum gilt daher unsere große Bitte: Wenn Sie helfen wollen, sei es als Privat- oder auch als Fachperson, bleiben Sie bitte offen für das, was aus seriöser Quelle (etwa die Website des UBSKM [16]) über die Situation von Betroffenen veröffentlicht wird!

Fazit
Es scheint besonders schwierig zu sein für eine „zivilisierte“ Gesellschaft, in die Abgründe menschlich verursachter Gewalt zu schauen. Weder Übertreibung noch Leugnung bringen uns in der Bekämpfung dieser Gewalt weiter – und vor allem helfen beide Extreme den Betroffenen in keiner Weise. Bleiben Sie nüchtern, empathisch und offen für solide Aufklärung und sachliche Informationen. Damit helfen Sie – gerne an unserer Seite – den Überlebenden am meisten.

Danke dafür!


Quellen:
[1] Alleine von Mai 2013 bis 15.1.2018 haben 476 Antragsteller.innen beim Ergänzenden Hilfesystem Fonds Sexueller Missbrauch in ihren Anträgen „Ritueller/sektenmäßiger Missbrauch“ angegeben. Das ist die Angabe aus den Empfehlungen des Fachkreises „Sexualisierte Gewalt in rituellen und organisierten Gewaltstrukturen“ beim Bundesfamilienministerium (Seite 4): http://ecpat.de/wp-content/uploads/2018/04/Fachkreis_Empfehlungen_2018_web-2.pdf

[2] Zahlen zu Ritueller Gewalt im Bilanzbericht der Aufarbeitungskommission auf Seite 130:
https://www.aufarbeitungskommission.de/bilanzbericht_2019/

[3] An einem Forschungsprojekt des Universitätsklinikums Eppendorf haben zu ritueller
Gewalt haben sich 165 Menschen beteiligt: https://elibrary.klett-cotta.de/article/10.21706/tg-12-3-244

[4] Wir sammeln entsprechende Urteile auf unserer Website https://www.infoportal-rg.de

[5] Unter dem Begriff „Pizzagate“ wurde während des Wahlkampfs von Donald Trump 2016 eine Verleumdungskampagne gegen die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton in die Welt gesetzt: https://www.sueddeutsche.de/politik/neuer-us-praesident-wie-trumps-teamfake-news-streut-1.3283617 und https://www.nytimes.com/2016/11/21/technology/factcheck-this-pizzeria-is-not-a-child-trafficking-site.html

[6] Artikel des Redaktionsnetzwerks Deutschland vom 11.4.2020:
https://www.rnd.de/politik/qanon-der-aufstieg-einer-gefahrlichen-verschworungstheorie-ORTPE4D5YRFRZKVTMJBTFADJTY.html

[7] Linkseite der Emanuelstiftung mit seriösen Quellen zu Ritueller Gewalt:
http://www.emanuelstiftung.info/links/

[8] Statement des Betroffenenrates zum Umgang mit Ritueller Gewalt vom 3.7.2018:
https://beauftragter-missbrauch.de/betroffenenrat/aktuelles/detail/statement-des-betroffenenrates-zum-umgang-mit-ritueller-gewalt

[9] Eine Liste von veröffentlichten Fahndungserfolgen gegen Internet-Netzwerke zur Vermarktung von Kindesmissbrauch führen wir im Infoportal Rituelle Gewalt:
https://www.infoportal-rg.de/2020/02/18/news-kinderporno-ringe-gesprengt-einechronologie/#more-835

[10] Einer der verurteilten Täter aus dem Tatkomplex „Staufen“ hatte aktiv nach einem Kind gesucht, dass er nach dem Missbrauch töten dürfe:
https://www.sueddeutsche.de/panorama/prozesse-karlsruhe-urteil-mann-wegen-geplanter-vergewaltigung-in-psychiatrie-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200108-99-397783

[11] Rubrik „Religiöse und ideologische Hintergründe“ im Infoportal Rituelle Gewalt:
https://www.infoportal-rg.de/motive-und-hintergruende/religioeseideologische-hintergruende/

[12] Der Haupttäter aus Lügde im Kreis Lippe/NRW betreute ein Pflegekind (Mädchen), dessen Mutter in niedersächsischen Kreis Hameln-Pyrmont lebte. Den Behörden lagen Hinweise auf pädokriminelle Neigungen des Täters vor, durch Abstimmungsprobleme und Unklarheiten in den Zuständigkeiten wurde aber erst sehr spät reagiert. Es gibt diverse Analysen dieser Situation, z. B.:
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/behoerdenversagen-im-missbrauchsfall-luegde-16370504.html

[13] Urteil gegen den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein:
https://www.tagesschau.de/ausland/harvey-weinstein-urteil-haftstrafe-101.html

[14] Einer von vielen Berichten über die Netzwerke des Multimillionärs Jeffrey Epstein, in denen minderjährige junge Frauen sexuell ausgebeutet wurden und an denen viele Prominente beteiligt gewesen sein sollen:
https://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article136257539/Prinz-Andrews-Kumpel-und-seine-Schwaeche-fuer-Girls.html

[15] Der Ex-SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy hat zugegeben, Fotos und Videos von nackten Jungen aus dem Internet geladen zu haben. Das Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Verden wurde daraufhin gegen Zahlung einer Geldbuße von 5000 Euro an den Kinderschutzbund eingestellt: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sebastian-edathy-edathy-raeumt-schuld-ein-a-1021263.html

[16] Definition und Einordnung Ritueller Gewalt vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in Berlin: https://beauftragter-missbrauch.de/praevention/was-ist-sexueller-missbrauch/organisierte-sexualisierte-und-rituelle-gewalt

snap

“Sie sind viel zu aktiv für ihre Krankheit”, resümiert meine gesetzliche Betreuerin, nachdem wir gemeinsam festgestellt haben, dass mein Leben eine ökonomische und bürokratische Katastrophe ist, die man nicht mit Arbeit entsprechend unserer Kräfte und bestem Willen verändern kann.

“Und was sagt ihre gesetzliche Betreuerin dazu, dass Sie von – wieviel waren das? 150? 100? Euro leben und arbeiten?”, fragt meine Therapeutin 28 Stunden später und statt mir die Kleider vom Leib zu reißen und in einem weißglühenden Atompilz die ganze Welt zu sprengen, antworte ich: “Sie sagt: “Sie sind viel zu aktiv für ihre Krankheit.”, dabei ist es das Logischste, was man mit meiner “Krankheit” tut.”.

Ich sage ihr, dass meine Tage damit beginnen mich zu spüren und es Stunden dauert bis mir das nicht mehr weh tut. Ich kläre sie darüber auf, dass das Muster, das der Mensch mit Autismus assoziiert und sie mit einem inneren System, etwas ist, dass wir alle haben.
Ich sitze da mit dem Rücken an der Heizung und reiße von mir runter, was mir der Blick anderer Menschen auf mich draufklebt. Zwischendurch bemerke ich den Stich des Absurden, weil ich weiß, dass wir eigentlich die Verabredung haben, dass wir uns in ihrem Raum nicht selbst verletzen oder zerstören.

Es ist absurd, weil ich merke, wie unsichtbar mein Leiden tatsächlich ist. Unsichtbar und fern der Welt, weil es in mir und an meinem Sein passiert.
Im Innen rastet etwas ein, dass mich in der Annahme versichert, jederzeit verschwinden zu können ohne, dass auch nur irgendjemand verstanden hat warum.

Was bliebe sind Fragen wie: “Was ist denn passiert?”
und Antworten wie: “Sie hatte Behördenschulden und kein gutes Leben.”

Und nicht das Begreifen der Tragweite, die das Aushalten der eigenen Seins, des Nichtwissens um ein eigenes Selbst, das Tragen der Gewalt- und Traumafolgen an sich und schon gar nicht die stetige Inkompatibilität und die permanente Unverbindbarkeit mit der Welt darstellt.
Man würde von uns als eine Person sprechen. Als eine Frau, die sich für viele hielt. Man würde uns misgendern, man würde uns falsch zitieren. Man würde sich uns nehmen und so zurecht reißen, wie es selbst am Besten tröstet.

Obwohl wir seit Jahren hier schreiben. Obwohl wir seit Jahren immer wieder das Gleiche sagen. Obwohl wir seit Jahren so ein special Sonderfallproblemrotz an der Schuhsohle von Sozialsystem und Rettungslobby sind. Nervig, aber da. Anstrengend, aber doch das perfekte Beispiel für die Notwendigkeit von spezifischem Engagement und by the way die Ressource, die man verpassen könnte, obwohl sie doch gut zu be_nutzen sein könnte.

Wir sind immer gut zu wissen. Es lohnt sich uns zu kennen, weil es erschütternd und beinahe unerträglich die eigene Comfortzone berührend ist. Leider ist es genauso unerträglich sich mit uns zu verbinden, denn so richtig integrierbar ist es dann doch nicht. Spätestens bei der Frage, wie das denn gehen soll, ist das zu spüren.
Aber wir sind ja da und das ist ja immer gut zu wissen, denn wer weiß, wozu es mal noch gut ist, uns zu kennen.
Vielleicht braucht man mal jemanden, der einem was zeichnet, was aufschreibt, was erklärt, ein Tier rettet oder eine Wohnungseinrichtung zusammenzimmert. Vielleicht braucht man irgendwann mal wieder so einen erfrischenden Schock, der einem das Weltbild zurechtrückt und die eigenen Privilegien ins Bewusstsein ruft.

Ich weiß nicht, ob irgendjemandem klar ist, dass wir leiden und genau deshalb irgendwie relevant für Menschen in bestimmten Situationen, Lebenslagen und Weltbildern sind.
Ich weiß nicht, ob meiner gesetzlichen Betreuerin klar ist, dass sie mir auf eine Art gesagt hat: “Es wäre besser, wenn sie sterben, weil das System mit ihrem Tod besser umgehen kann.”.

“Wir sehen uns am Donnerstag”, sagt die Therapeutin und ich antworte noch im Verbrennen “Okay.”.

Kinderrechte in der Kinderarbeit

DSC_1595 Heute ist internationaler Tag gegen Kinderarbeit.
Für die KinderarbeiterInnen dieser Welt also ein besonders
gewalt-voller Tag.

Auch in diesem Jahr erleben die jungen Menschen, die mit ihrem oft erbärmlich mickerigen Lohn für oft erbärmlich niedere, körperlich oft nicht altersgerecht belastende, oft lebensverkürzende Arbeiten, manchmal ihre ganze Familie, mindestens doch sich selbst ernähren, dass das, was sie tun verboten ist.
Nicht etwa die Armut in der sie leben. Nicht etwa das niedrige Gehalt. Nicht etwa der fehlende Arbeitsschutz. Nicht etwa, dass ihnen ihr Recht auf Unversehrtheit, ihr Recht auf Wahrung ihrer Würde verwehrt wird.

Kaum ein Themenbereich zeigt so eine Mehrfachbelastung von Diskriminierungen und Kriminalisierungen durch strukturelle Gewalt und weiße Rettungsmoral, wie Kinderarbeit.
In diesem Fall ist der Kapitalismus als treibende Kraft zu nennen, der den Kindern im eigenen Land sowohl die Notwendigkeit, als auch die Möglichkeiten abzwingt zu arbeiten, statt zur Schule zu gehen und mittels höherer Bildung in der Zukunft selbst Arbeitsplätze zu schaffen.
Kinder sind, in vielen Ländern, nach wie vor ohne Rechte und selbst wenn es Rechte gibt, fehlen Verbote, die diese Rechte stärken. So zum Beispiel gibt es in Deutschland das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, der Anwalt bzw. die Anwältin, der ohne Erwachsenen jederzeit und jeder Orts überhaupt für jedes Kind aufsuchbar ist, fehlt jedoch.

2010 hatte die erste Kinderarbeiter Gewerkschaft “Union arbeitender Kinder und Jugendlichen Boliviens” nach einer Verfassungsänderung des Landes, die ausdrücklich jede Gewalt gegen Kinder sowohl in der Familie als auch der Gesellschaft verbietet, einen Gesetztesentwurf zur Kinderarbeit veröffentlicht. In dem Entwurf geht es nicht um die Legitimierung von Kinderarbeit, sondern um einen Versuch neue Normen gegen die Entrechtung und Ausbeutung von Kindern, die arbeiten müssen, zu formulieren.
In einer Gesellschaft bzw. einem Land, dessen Verfassung Kinderrechte an eine Haltung von Mündigkeit und Autonomie geknüpft ist, kann so ein Gesetzesentwurf sogar aktiv gegen die Armut im eigenen Land beitragen.

Wer gut bezahlt wird, braucht nicht viel arbeiten und kann sowohl die Schule besuchen, als auch die Familie ernähren. Wer sich Medikamente, (Kondome), Reinigungsutensilien und Nahrungsmittel kaufen kann, kann von einer höheren Lebenserwartung und einer höheren Lebensqualität sprechen.

Es ist bei aller Fortschrittlichkeit der Kindergewerkschaft Boliviens durchaus kritisch zu betrachten, dass eine Anerkennung von Mündigkeit und Autonomie in Bezug auf kapitalistische Verwertungsdynamiken passiert, die als Ursache für Armut und damit der Arbeitsnotwendigkeit zu stehen hat.
Andererseits ist zu bedenken, dass in gesellschaftlichen Strukturen ohne gesellschaftliche Verbundenheit durch Anerkennung der Unantastbarkeit von Würde, Recht und Gesetz für alle Menschen gleich, so wie allgemeiner (Versorgungs-) Autonomie aller Individuen, auch kein Raum zur Veränderung entstehen kann.

Kinderarbeit ist genau dort ein Problem, wo Kinder ohne Rechte sind.
Kinder als so schützens- und achtenswert wahrzunehmen, wie es im weißen (christlichen) Kulturraum üblich und etabliert ist, hat mit Luxus zu tun, der genau dort erwirtschaftet wird, wo kein Luxus herrscht.
Dies weder zu benennen noch als Ursache zu bezeichnen, gerade an einem Tag, der sich mit Kindernot auseinandersetzt, ist ein Versäumnis, wie Marker der Rettungsmoral westlicher Kulturen, die ebenfalls mindestens indirekt (wirtschaftlich) davon abhängig ist, dass Kinder keine Rechte haben.

So bleibt bei allem positiven Charakter sich der komplexen, kaum einseitig abbildbaren Thematik zu widmen, die Fragen, warum Kinderarbeit immer wieder und immer noch so isoliert von kapitalistischer Ausbeutung auf Kosten “armer” Länder und von der Mehrfachdiskriminierung betrachtet wird, der Kinder sowohl in armen, als auch in reichen Ländern ausgesetzt sind.

Sexismus und Politik?

Antje Schrupp hat in ihrem Blog über #Aufschrei geschrieben und formuliert ihren Wunsch, das Thema „Sexismus“ weiter in den Bereich des Politischen zu bringen.

Diesen Wunsch teile ich. Den teile ich in Bezug auf viele Dinge. Doch meine Überlegungen verknoteten sich, als ich mich fragte, wie so eine Politisierung aussähe.

Politik lebt von der Masse der Gleichheit.
Wer als Einzelorgan, eine Masse von Menschen von seinem politischen Handeln überzeugen möchte, der greift alle Gemeinsamkeiten auf und streicht den Rest heraus. Will er sich besonders für die Umwelt einsetzen, spricht er den Wunsch von Menschen auf umweltfreundlich leben zu wollen an und setzt sich dafür ein, soweit seine ihm zugesprochene Macht in Bezug darauf greift. Gleichzeitig vernachlässigt er aber vielleicht andere- weniger stark vertretene Ansprüche. Vielleicht den Bereich der Wirtschaft oder den Bereich des Sozialen.

Demokratie sehe ich als ein Dreieck der Macht durch Vertretung. Unten ganz viele verschiedene Individuen mit jeweiligen Bedürfnissen und oben eine Einzelperson, in der sich die Macht bündelt und für alle gleich sorgen soll.
Es ist wie der Monotheismus: Unten viele Menschen- Oben der eine jenige welche, der über alle wacht, sie begleitet und schützt.

Nun ist es aber nun einmal so, dass auf dem Weg nach oben einiges verloren geht.
So vielleicht besonders bei Themen, bei denen es mehr Gewinner am Verlust des Selbigen gibt, als Verlierer. So ist es nicht schlimm, wenn sich das Thema nicht bis ganz oben durchsetzen kann.

So, glaube ich, ist es auch mit dem Themenkreis des Sexismus.
Es ist eine Dynamik, die mit Ausbeutung, Machtgewinn und Unfreiheit einher geht. Ähnlich wie Sklaverei und Menschenhandel.

Wir leben in einer Grundstruktur, die von Ausbeutung, Machtgewinn und Unfreiheit lebt und gänzlich ohne, nicht weiter funktionieren wird. Hätten alle Menschen gleich viel Macht- würden alle Verantwortung allein tragen, so gäbe es ein Chaos. Angeblich.
Ich mag so etwas nicht glauben, auch wenn ich natürlich sehe, dass ein Kind nicht gleich viel Verantwortung tragen kann, wie ein Erwachsener zum Beispiel. Mein Gegenargument dazu ist aber auch, dass ein Kind nicht so viele Dinge tun kann (weil er sie noch nicht gelernt hat oder weil es körperlich noch nicht reif genug ist).
Doch dies ist nur ein Nebengedanke, den ich hier vorerst anhalte.

Beim Thema des Sexismus denke ich, sollte man sich fragen, was genau er bedeutet.
Wir haben unterschiedliche Geschlechter in unserer Biologie angelegt. Das ist Fakt. Sexismus beinhaltet also für mich eine Benennung eines Unterschieds, die nötig ist. Zum Beispiel in der Medizin, in der Forschung und auch in der Art wie man den Körper belastet. Es gibt diese Unterschiede und sie haben berücksichtigt zu werden. Ohne Wertung! (Eigentlich etwas, dass der Wissenschaft inne liegt, doch von der sozialen Achse meiner Meinung nach viel zu oft missbraucht wird)

Dann haben wir die soziale Achse und da knirscht es gewaltig. Hier und nur hier ist eine Neukonstruktion meiner Meinung nach nötig. Doch wir sprechen hier von einer sozialen Achse- keiner direkt politischen.
Das soziale Miteinander verursacht meiner Meinung nach, die Politik und auch das Gesellschaftsklima, das wir haben.

Antje schrieb in ihrem Artikel, dass sie die zugrunde liegenden Strukturen verändert haben will.
Ich sage, dass die Strukturen zwar sozialen Sexismus stützen, doch nicht verursachen. Die Strukturen sind meiner Meinung nach die Folge dessen, was wir leben.
Wenn man so will, eine Art sich selbst immer wieder in den Schwanz beißende Katze, die das Dreieck der Macht am Rand herunterkullert.

Ich denke, der kleine beschreibende Einschub, den Antje in ihrem Posting machte: „gesellschaftlich(-strukturelles) Problem“, ist es, auf den man sich konzentrieren könnte.
Die Erkenntnis, dass es uns hier in Deutschland so verdammt gut geht, weil wir Stellvertreterkriege im Ausland führen, weil wir Ausbeutung sowohl im eigenen Land, als auch in anderen forcieren, dulden und (in Bezug aufs Ausland) fördern und nähren. Das Wissen um die eigene Unfreiheit, weil wir alle durch die Bank weg, eine Vertretung unserer Interessen und Bedürfnisse auf einzelne Menschen in von uns akzeptierten Machtpositionen diffundieren lassen. Das Wissen, dass es Profiteure von Gewalt gibt und, dass diese Profiteure letztlich wir alle selbst sind- obwohl wir als Personen sie gar nicht ausüben.

Diese Dinge sind, so erscheint es mir manchmal, noch längst nicht überall angekommen und genau deshalb ist es, meiner Meinung nach, erst einmal dran diese zu verinnerlichen und zu vermitteln.

Das Machtspiel unserer Strukturen funktioniert abschneidend nach oben und die Kosten, die der Verlust des Abschnitts verursacht, wird nach unten individualisiert (klar- sind ja auch mehr Köpfe da, als oben).
Es ist kein Kreislauf, zumindest nicht im Kleinen, in dem alles, bei jedem gleich ankommt, jeder mitbestimmen kann, wo es einzig Verlust an dem gibt, was dem Kreislauf als solchem nicht dienlich ist.

Ich will mich nicht in Kapitalismuskritik ergehen, weil auch andere (mir bekannte) Formen, auf ihre Art von Ausbeutung und Unfreiheit profitieren und auch lediglich die Schnittmenge der Gesamtinteressen einer Menschengruppe vertritt.
Wir hier unten sind alle individuell. Es ist nur legitim unsere Probleme, Wünsche und Bedürfnisse auch individuell erfüllt haben zu wollen.

In Bezug auf die negativ sozial- sexistischen Erfahrungen, die uns Menschen begegnen, halte ich ergo auch eine individualisierte Aufnahme für legitim.
Nehmen wir an, dieses Erleben würde politisch aufgegriffen werden. Worum würde es dabei gehen? Würde es um die Folgeschäden in den Menschen dabei gehen? Was genau würde sich verändern, wenn die Politik Gesetze hervorbrächte, die Männer und Frauen gleichstellen würde? (Hint: So ein Gesetz haben wir schon!)

Was genau soll politisch passieren? Sollen uns die Politiker sagen: „Nun haltet euch aber mal hier an das Grundgesetz! Geht respektvoll miteinander um!“?
Welche Strukturen genau soll die Politik verändern, ist doch selbst sie zusammengesetzt aus Menschen, die von sozialen Sexismus profitieren.

Ich glaube, dass der Schlüssel hier einfach die stetige Diskussion ist. Sich auch unbeliebt zu machen, wenn man immer wieder mit dem Sexismusschild um die Ecke kommt.
Umdenken fördern, diskutieren, aufzeigen, zur Veränderung des eigenen Verhaltens ermutigen, für einander eintreten, wenn jemand aufgrund sexistischer Aussagen oder sexistisch motivierter Gewalt in Not gerät. Immer und immer wieder.
Je mehr wir das tun, desto größer wird die Schnittmenge der Gesamtinteressen.
(Mich habt ihr doch auch so gekriegt! 😉 )

Die sonst sich selbst in den Schwanz beißende Katze, die am Rand herunterkullert, wäre irgendwann zu dick um ihren Schwanz überhaupt zu sehen und würde sich, wie Katzen das eben so machen, irgendwann in voller Pracht auf dem Schreibtisch derer ausbreiten, die wir für unsere Vertretung eingesetzt haben, weil uns gerade noch nichts Besseres einfällt, als das Machtdreieck.

Unterm Strich also: Ich glaube, es ist noch zu früh, um jetzt das Thema sozialen Sexismus in die Politik zu bringen, weil es noch zu viel unreflektiertes und auch unbewusstes Nutznießen dieser Dynamik gibt.

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Heim, Klapse, Knast

Wir haben einen interessanten Menschen kennengelernt.
Als er uns zum ersten Mal bei uns besuchte, freuten wir uns sehr, weil wir damals gerade wieder eine dieser stummen Kurzphasen hatten. Wir hatten bereits wieder 4 Tage kein Wort gesagt

„Seltsam,“ dachte ich, „dass mir diese Sprachlosigkeit erst unangenehm auffällt, wo ich die direkte Möglichkeit zu sprechen habe.“
Im Laufe der folgenden Stunden sollte sich das Sprechen sogar richtig auswachsen. In ein Reden, Kommunizieren… in ein Aussagen.
Es wurde mein erstes richtiges Gespräch über die Psychiatrie und meine Zeit darinnen seit 2005.

Nicht in die Tasten gedonnert oder durch die Feder meines Füllers gedrückt. Sondern richtig gesprochen und gehört, während ich selbst hörte.
Hörend- da spricht jemand von Kasernierung- wo ich immer von Internierung gesprochen hatte.
Hörend- da kann jemand meinen Gedanken zur Verstärkung einer Essstörung durch Esspläne und Strafsysteme drum rum, ohne Wenn und Aber unterstreichen und ergänzen.
Spürend- da ist soviel Unausgesprochenes, das vermutlich noch nicht einmal vor sich selbst aussprechbar ist- genau wie für mich.

Dass ich nicht allein bin mit meiner Psychiatriekritik, weiß ich schon eine ganze Weile.
Dass ich nicht die Einzige bin die Dinge twittert wie: „Liebe Ethik, könntest du mal im Gesundheitssystem vorbei kommen und mit deiner Anwesenheit glänzen? Du fehlst. Liebe Grüße, die Patienten.“ ist auch klar.
Aber wache, produktiv- reflektierte Bitterkeit habe ich lange nicht mehr gesehen.

Bitterkeit begegnet mir oft. Resignation. Ohnmacht. Wut. Natürlich. Gerade bei anderen Psychiatrieüberlebenden und deren Verbündeten.
Doch Wachheit nicht. Bewusstsein. Ungetrübte Wahrnehmung. Die Möglichkeit ein zwei Gedanken mehr als: „Ist halt ein Scheißsystem das da abgeht“ zu haben.

Ich treffe auch oft auf Alternativforderungen.
Und bin dann doch wieder mit Absonderungsideen konfrontiert. Sei es, dass man sich komplett von dem bestehenden Wissen und allen Erfahrungen der Psychiatrie als medizinischer (und sozio-kultureller) Zweig abwendet, oder doch wieder klassifiziert in „behandelbar“ und „unbehandelbar“.

Im ICD- Rosenblatt gibt es keine Krankheiten.
Da gibt es den chronischen Flauschmangel, die überbordenden (und belastenden) Ideen und die kreativ gewachsenen Gehirne und Körper. Also nichts, was in irgendeiner Form Absonderung und Dressur erforderlich macht, sondern Zuwendung, Austausch, Abklärung und Neukonstruktion der Lebensumgebung.

Also irgendwie: ein Zuhause mit offenen Ansprechpartnern.

Und da ist der Haken. Wir haben noch kein gesellschaftliches Klima in dem solche Räume Usus sind. Wenn es uns schlecht geht, sind wir privilegiert, wenn wir Verbündete haben. Eine Familie, die uns bedingungslos um- und versorgen will/kann/ darf, wenn wir auf Unterstützung, Nähe, Wärme, Zeit und Raum angewiesen sind.

Die Blüten die meine oben erwähnten „Krankheiten“ treiben, haben sowohl ihre Wurzeln in der Abwesenheit von Selbigem oder verursachen keine feste Anbindung an solche sozialen Kontakte.

Wer irre ist, ist einsam. Abhängig und doch haltlos.
Es ist, als sei man falsch gepolt- im wahrsten Sinne des Wortes. Man ist ein Plus-Pol in einer Masse von Plus-Polen und nicht in der Lage von sich aus zu einem anziehenden Minus zu werden. Das ist die „Krankheit“. Das fehlen der Kraft aus sich heraus andere Pole an sich anzuziehen.

Die Lösung dieses Problems war einen einheitlichen Minuspol zu gestalten, der bedingungslos anzieht. Und anzieht und anzieht und anzieht. Alles was auch nur einen Hauch Plus in sich trägt (oder vorgibt), wird unter Umständen angezogen und festgehalten.
Was Plus ist und was Minus, ist immer wieder im Wandel.
Doch immer immer immer wird „das Andere“- das was in einer Masse, als „anders“, „unpassend“, „unangepasst“, „unvereinbar“ bezeichnet wird,  abgestoßen. Es passiert keine Integration des „Anderen“ in seiner Mitte, sondern eine Absonderung, um die eigene Konformität, seine Normen und Werte zu zementieren.

Wir haben gestern Abend über Bethel gesprochen.
Bethel ist ein Stadtteil von Bielefeld, der bekannt ist für seine Epilepsieforschung, seine Hilfseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen, für seine sozialpsychiatrischen Betreuungs- und Behandlungsangebote.
Ich hatte mich ein bisschen in meiner Kritik verrannt und es als abgeschlossenes Ghetto für alle die arm, alt, krank, hilflos bzw. hilfsbedürftig, behindert und schwach gelten, bezeichnet. Das stimmt auch. Bethel schaltet und waltet nach Kirchenrecht. Alles was dort passiert, bleibt dort. Die Bedürftigen haben nicht Kraft zu streiken und Mitarbeiter haben kein Streikrecht.
Aber es ist auch ein Beispiel für die Art Integration „des Anderen“ die heute passiert.

Die Menschen, die diese Menschen versorgen und behandeln sind ein Minuspol und sind einzig durch ihre Fähigkeit ohne Hilfe eine Selbstversorgung zu schaffen (und entsprechend in der Lage auch von dort wegzugehen) überlegen. Sie brauchen ihre „Patienten“/ Klienten, weil sie ihren Arbeitsplatz stellen und gehen so in eine Symbiose.
Das ist der Grund, weshalb es so einfach ist, in den Bereichen, der Pflege und Medizin von Wirtschaftlichkeit zu sprechen. Die Hilfsbedürftigkeit der Menschen wird zum Werkzeug, um dessen Nachschub man sich keine Sorgen machen muss. Man beutet also im Grunde die „Irren“, die Kranken, die Schwachen, die Armen und jene, die sich nicht selbst versorgen können aus, ohne dass ein Widerstand von irgendeiner Seite kommt.

„Wieso denn auch- ist doch gut, wenn sich einer um „die da“ kümmert. Die müssen ja nun mal irgendwo hin.“

Nein! Müssen sie nicht! Sie müssen versorgt werden bzw. Hilfe bei der Selbstversorgung (im Falle von Gefängnissen, Hilfe die Gründe für ihre Straffälligkeit zu verstehen und „draußen“ verändern/ verhindern/ regulieren/ abschaffen zu können) haben- mehr nicht.
Es sind nicht sie, die sich hergeben müssen oder die sich anpassen müssen, obwohl sie genau das noch nicht- oder auch nie können.
Das was jemand lernen muss um massekonform zu leben, lernt er nicht in einer Masse, die „anders“ ist, wie er selbst. Und so, wie der Kapitalismus auf diese Symbiose einwirkt, reicht der Einfluss der „Minusse“ (in Form der HelferInnen, PflegerInnen, TherapeutInnen, ÄrztInnen) nicht aus. So ergibt sich ein gewisser Masseerhalt „der Anderen“ und das Rad dreht sich weiter wie bisher. Kapitalismus funktioniert nur mit der Billigung von Ausbeutung.

Was wäre, wenn wir die Bedürftigen unter uns hätten? Wenn wir unsere Kraft aufwendeten und selbst zum Minus würden?
Wir müssten neu lernen. Neue Werte und Normen konstruieren, vielleicht auf Konformität verzichten.
Ja, vielleicht stünde dann öfter mal jemand auf der Straße und brüllt uns an.
Ja, vielleicht hätten wir viel mehr Kontakt mit Körperflüssigkeiten, als uns lieb ist.
Ja, vielleicht würden wir sogar Käfige für unsichtbare Tiger bauen.
Aber was ist denn daran so schlimm? Wer hat denn einen Schaden davon?
Was davon bleibt für immer? Einer der brüllt, ist irgendwann auch fertig. Einer der sabbert, kann lernen sich auch selbst den Mund abzuwischen oder kann einfach auch immer trocken gewischt werden- das machen wir doch bei Babys auch.
Wen stört ein Käfig in der Wohnzimmerecke oder in der Innenstadt? Wir stellen doch auch hässliche Kunstgerüste in die Landschaft.

Es ist ein hinderndes „Kosten-Nutzen-Rechnen“ und die eigene Unwilligkeit, die uns hier im Weg steht und über viele hundert Jahre in Form von Heimbauten und der Institution Psychiatrie bedient wurde.
Wir müssten uns umstellen für eine Gruppe von Menschen, die uns nichts geben kann, womit wir unsere Familie ernähren können.
Streng biologisch betrachtet, also Ballast sind, dessen man sich zum Wohle des eigenen Fortbestands entledigen muss. Würden wir noch in Höhlen leben, wären diese Einrichtungen also etwas, das zum Wohle aller beiträgt. Doch nie war es so einfach seinen Fortbestand zu sichern und zu nähren, wie heute.

Heute sind wir einfach nur unwillig neu zu konstruieren und zu integrieren. Als sei dies etwas, das unseren Fortbestand und unsere Lebensqualität in den Grundfesten unsicher macht. Dabei ist das Einzige was berechtigt Gefühle von Unsicherheit oder auch richtiger Angst hervorrufen könnte, die vor dem uns Unbekanntem.

Wir sollten also alle anfangen uns einander bekannt zu machen. Ohne Stereotype, ohne Wertung, ohne die eigene Lebensrealität im Anderen zu erwarten oder zu suchen.
Doch das gelingt aus freiwilligem Bemühen einzelner Menschen nicht. So lange es Abschiebeinstitutionen gibt, wird abgeschoben.
Heim, Klapse, Knast- übrigens alles Einrichtungen, die von Menschenrechtlern regelmäßig besucht und beanstandet werden. In Deutschland macht dies zum Beispiel die „nationale Stelle„.
Zuhause oder im Sportverein braucht es solche Begutachtungen nicht. Dort ist man Mensch, dort darf man sein. Dort wird man nicht zwangsweise hingebracht. Dort gilt das Grundgesetz.

Es ist nötig den Menschen im „Anderen“ zu erkennen.
Wären unsere Abschiebemöglichkeiten jetzt plötzlich weg, so glaube ich, würden wir das endlich tun. Es wäre krass, es wäre hart, es würde uns oft und an vielen Stellen über unsere Grenzen hinaus belasten. Doch es könnte gehen. Ich glaube, dass das möglich ist.
Ich glaube, wir hätten darin eine Chance, uns mit allen die uns umgebenden Gewalten auseinanderzusetzen und ein Miteinander zu erschaffen, in dem es Ausgewogenheit auf vielen Ebenen gibt.
Wir müssen uns nur trauen.