der behinderte Therapeut – von Kompensation und keinen Bock mehr haben

Gestern haben wir zum ersten Mal mit einem Psychotherapeuten zu tun gehabt, der eine Behinderung allgemein sichtbar kompensiert.
Das war für uns etwas Besonderes und hat viel bewegt, unter anderem gerade weil er ebenfalls mit einer Behinderung lebt.

Er lebt mit einer Hörbehinderung und trotz Prothese muss er daneben noch viel selbst aktiv kompensieren, um andere Menschen gut zu hören. Für uns war es total gut das zu sehen.
Seine Kompensation ist mir überhaupt nur aufgefallen, weil ich mich davon bedrängt gefühlt habe, dass er immer wieder mein Gesicht bzw. mein Mundbild gesucht hat. Wir können es nicht gut haben, wenn Menschen uns mit ihrem Gesicht den Eingangsbereich in die Welt verstellen oder generell viel Bewegung in den Blickbereich reinbringen, weil es uns überreizt und überanstrengt. Er aber muss das ja machen. Obwohl er die Unterstützung durch ein Cochlea-Implantat hat.

Er war mir in der Situation ein gutes Vor_Bild davon, dass Behinderungen zu kompensieren nicht damit aufhört, dass man die beste™ Unterstützung hat, die möglich ist, um sich an die Menschen anzupassen, die diese Unterstützung nicht brauchen.
Und sein Verhalten hat mir deutlich gemacht, dass Kompensation ein aktiver Prozess ist.

Außer dem Begleitermenschen sagt mir niemand, was ich eigentlich immer übernehme, um meine Schwierigkeiten zu kompensieren. Und dass das einigermaßen viel und in aller Regel sehr viel mehr ist als andere Menschen machen müssen. Alle sagen mir immer nur, wie toll ich sie kompensiere. Wie viel ich so ganz toll schaffe und bliblablö. Was für mich eigentlich irrelevant ist, weil ich in der Regel froh bin, Dinge überhaupt verstanden und dann auch noch geschafft zu haben. Das ist in gewisser Weise das Einserschüler_in-Problem. Man strengt sich unfassbar an, wird aber für die 1 gelobt – nicht für die Anstrengung und auch nicht dafür, dass man sich diese Anstrengung überhaupt gegeben hat. Sie wird einfach als gegeben angenommen. Wie Luft. Oder Bäume. Einfach so da. Ganz selbstverständlich.

Meine eigenen Anstrengungen sind für das Außermir gleichermaßen unsichtbar. Und ich selbst denke oft, dass ich mich erst dann wirklich und richtig aufrichtig angestrengt habe, wenn ich in einem Kontakt in Dissoziation und danach vor Erschöpfung in Tränen zerfalle.
Meine eigene Aktivität, die aktive Kompensation der Behinderung, ist mir selbst nicht als außerordentliche Aktivität bewusst, denn ich kann mich dabei nicht beobachten und die Menschen, mit denen ich zu tun habe, müssen nicht kompensieren, was ich kompensiere. Was bedeutet, dass ich bei niemandem beobachten kann, was ich selbst immer mache.
Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht da ist. Und auch nicht, dass sie selbstverständlich ist.

Bei dem Termin mit dem Therapeuten ging es darum abzuklopfen, ob wir miteinander arbeiten könnten.
Ich sagte ihm, dass ich schon sehr viele Therapeut_innen hatte und keine Haut mehr dafür habe, jemanden an mir lernen zu lassen. Mich als Anstoß für eine eigene berufliche Weiterentwicklung zu benutzen.
Ich habe das vor 8 Jahren auch unserer Therapeutin gesagt und musste in dem Moment daran denken. Wie ich das damals gesagt habe und doch damit okay war, dass sie sich selbst nicht als Expertin bezeichnen würde, aber versicherte, sie würde dafür sorgen, mir nicht zu schaden.
Wie ich damals den Schrei im Kopf und diesmal den Kloß im Hals hatte, als würde er gleich rauskommen und als alles zerstörende Bestie durch das Zimmer fahren. Nein, es ist echt nicht mehr drin. Nein, da ist keine Haut mehr. Da ist ein Ende, eine Grenze. Ein StoppAusEnde.

„Ja, das kann ich verstehen. Also dass man irgendwann keinen Bock mehr hat alles zu erklären und was das bedeutet“, hat er darauf geantwortet. Und ich hab mich verbunden gefühlt. Dass er das kennt, glaub ich. Sofort. Obwohl ich glaube, dass alle Menschen das kennen. Aber behinderte und chronisch kranke Leute kennen es einfach wie ich. Und er.
Für einen Moment war das wie damals in der Wohngruppe mit den ganzen anderen behinderten Mitbewohner_innen, in der wir kurz gewohnt haben. Als würden wir auf dem Sofa sitzen, rauchen und über die Welt, an deren Rand wir leben, reden. Weit weg. Als hätte das nichts mit uns zu tun, dass wir keinen Bock mehr haben uns erklären zu müssen. Als bliebe unsere Verweigerung folgenlos, weil sie nichts bedeutet.

In den letzten Wochen habe ich einen Brief an unsere Therapeutin formuliert. Am Ende, auf Seite 8, schreibe ich ihr, dass ich gemerkt habe, was das eigentlich für eine Aussage ist, wenn ich sage, dass ich keinen Bock mehr habe, mich zu erklären. Ich habe erkannt, dass ich das nur zu anderen Leuten mit meinen Anstrengungen im Leben sagen kann, um ernsthaft darin verstanden zu werden – und alle anderen das als vorübergehende Motivationslosigkeit verstehen. Verstehen müssen, denn sie sehen die Anstrengung ja nicht. Sie begreifen ja auch gar nicht, was ich ihnen damit offenbare. Sie begreifen nicht, dass ich ihnen damit sage, dass ich mich ihnen nicht zeige, mich vor ihren Augen verstecke. Mich ihnen und ihrer Einsicht entziehe. Aus dem Kontakt gehe und ihnen nichts weiter als einen reflexhaft Phrasen und Satzteile ausspuckenden Fleischsack zur Interaktion verfügbar mache, in den sie m.eine Persönlichkeit hineinprojizieren, um ihrem eigenen Handeln Sinn und Raum zu geben. Niemand begreift diese Art von Suizid.

Meine Verweigerung ergibt sich nicht daraus, dass die Kompensation in der Kommunikation, in der Erklärung, zu anstrengend ist. Sie ergibt sich daraus, dass sie nicht dazu führt, dass ich verstanden werde. Daraus, dass sie so oft vergeblich ist.
Und man doch nie umhinkommt, denn ohne Kommunikation keine Ver_Bindung.

einen anderen Topf bewachen

Kassenfinanzierung die x-te.
Wir kommen aus einer Therapiestunde, die ehrlich war, vielleicht zu ehrlich. Ein bisschen was tut weh, ein bisschen was ängstelt. Es gibt ein Problem, über das ich hier im Blog nicht näher schreiben, allein in meinem Kopf nicht nachdenken will. Ich schreibe eine Liste, die sich anfühlt wie die Anbahnung eines Urteils über den Rest meines Lebens. Mit Traumalogik zum Schafott in zwei Gedankensprüngen, ich kanns einfach immer noch.

Meine Liste klopft meine Therapiemotivation ab. Meine Möglichkeiten, meine Fähig- und Fertigkeiten. Die Frage, wie lange noch und wie lange noch mit unserer Therapeutin. Aber auch was noch und wie, damit es nicht länger der lose Haufen bleibt, der nicht mehr unbewusst, aber noch lange nicht sortiert und eingeordnet ist.

Mir wird warm, mein Kopf ist eng, irgendwann weine ich und denke, wie unfair das ist, dass ich schon so viel Zeit hatte und doch nicht genug, um alles zu sagen, was ich sagen wollte.
Dabei fällt mir eine Episode der Serie „Kyle XY“ ein. Darin sind zwei künstlich erzeugte Jugendliche eine Art Biocomputer, in deren Gehirn unfassbare Datenmengen versteckt wurden. Als der einen Person durch eine Aktion all diese Daten ins Bewusstsein geschwemmt werden, versucht sie verzweifelt und unter Schmerzen alles aus sich herauszubekommen und schreibt in winziger Schrift auf die Wände um sich herum.
Mein Leben lang habe ich Angst vor so einem Zustand. Vor einem Moment, in dem ich der Informationsmasse in meinem Kopf hilflos ausgeliefert bin, weil es keinen schnellen Download gibt. Das Schreiben hilft, die Möglichkeit zu sprechen auch – egal, ob in der Therapie oder woanders – aber wie bei jedem nötigen Datentransfer ist es am besten, wenn man lediglich die Daten übertragen muss, die wirklich gebraucht werden und nicht alle, die möglicherweise auch noch sinnvoll sind.

Eines meiner größten Probleme ist, dass ich nie weiß, wer was wissen muss, um mich zu verstehen. Ich fühle mich permanent dazu gezwungen, einen großen Download zu schaffen, während ich den Upload von der anderen Person in mir prozessieren soll – während aber gleichzeitig nur Zeit und Verarbeitungskapazität für insgesamt sehr viel weniger Datenmenge und ihren Transfer ist.
Die Mengen, mit denen ich hantiere, sind überfordernd für die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe. Ich muss oft warten, nachlegen, abgleichen, Verständnis aufbringen und von irgendwo aus mir herausquetschen, dass das okay so ist, wenn das was in mir ist, einfach nicht so herausgeschossen kommen kann, ganz egal, wie sehr mich das frustriert, nervt, hibbelt. Es hilft ja nichts. Mehr ist mehr und wo mehr nicht reinpasst, da ist mehr bloß Verschwendung oder Überstimulation.

Ich habe früher immer gedacht, dass diese Geduld und das Okaysein mit dem permanenten Warten auf anderer Leute Verarbeitungsprozesse eine Erwachsenenfertigkeit sei. Ich komme mir noch heute wie ein gemaßregeltes Kind vor, wenn mir jemand sagt, ich sei zu schnell, man könne nicht verstehen, man brauche mehr Zeit, mehr Ressourcen, mehr Kapazitäten, um mir im gemeinsamen Austausch gerecht zu werden. Wie ein Kind in Hurrikangestalt. Ein Wirbelwind – nur nerviger. Zerstörerischer. Notwendigerweise zu kontrollieren, kleinzuhalten, in einen stilleren Stand zu bringen.

Auf meine Verarbeitungsprozesse hat noch nie jemand gewartet. Bis jetzt.
Die Therapeutin nennt es einen „Knoten“, den sie noch nicht richtig versteht oder nachvollziehen kann, der Psychiater, der die ASS bei uns bestätigt hat, nennt es eine typische Problematik von hochbegabten Menschen mit Autismus, ich nenne es g’ttverdammte Kackscheiße. Will nicht, kann nicht, schaffe nicht, weiß doch auch nicht.

Ich frage mich, ob unsere Therapeutin manchmal über unserem Kram gesessen hat und wie ich gerade einfach keinen Bock mehr hat. Weil es anstrengt, weil es über_fordert und so selten leicht ist. Weil es dankbarere Arbeiten gibt, weil es für sie leichter ginge, würde sie sich nur dafür entscheiden.
Ich schreibe wieder die Frage auf meine Liste, ob meine Kapazität erreicht ist und mehr einfach nicht erreichbar ist. Wir haben viel erarbeitet, sehr viel, obwohl nie genug Zeit war, obwohl nie genug Aufnahme- und Verarbeitungskapazität da war, obwohl manches Wissen immer noch nicht da ist. Vielleicht geht mehr nicht. Mit ihr. Mit mir. In diesem System, zu diesem Zeitpunkt.
Dann fällt mir auf, wie ruhig ich da sitze und darüber nachdenke.
In der Küche wird das Abendessen warm, draußen rauscht die Straßenbahn lang, ich bewege diese große Thematik in mir und bin immer noch da. Bedrängt von Kinderinnens und Jugendlichen, die den Beziehungsabbruch fürchten, sichmichuns hassen, weil wir so sind und nicht anders, aber doch klar. Erwachsen, voll da.

„Ein bewachter Topf kocht nicht“, hatte der Psychiater zu mir gesagt und damit gemeint, dass man manche Prozesse nicht sieht, wenn man sie dringend sehen will. Da ist wohl was dran.
Ich falte meine Listen zusammen und verstaue sie im Kalender. Der nächste Therapietermin ist erst in zwei Wochen, der mit dem Psychiater in knapp 2 Monaten. Im Moment ist der wichtige Topf sowieso der mit meinem Abendbrot drin.

was es macht, wenn man behinderte Menschen zu Menschen mit Behinderung macht

Manchmal ist es für Freund_innen und Bekannte, für Lehrer_innen und Behandler_innen, die mit mir zu tun haben, gut und wichtig, dass ich ein Mensch mit Behinderung bin. Dann bin ich nämlich einfach da und die Behinderung, die ist nur eine Beigabe. Ein Merkmal wie ein T-Shirt, das man manchmal trägt, das grundsätzlich aber keine weitere Bedeutung hat. Man muss sich nicht darum kümmern. Es ist nicht weiter relevant. Man ist ja so frei. Man muss sich nicht auch noch all den unangenehmen, anstrengenden Implikationen widmen, die mit der Thematik einhergehen.

Was ist denn eine Behinderung? – Was hast du denn? – Ich sehe nur dich, du kommst mir so normal vor – du bist doch nicht behindert. – Was ist in unserem Kontakt gut und was nicht? – Behindere ich dich etwa? Ich oder etwas, das ich tue, kann doch unmöglich eine Behinderung sein! Behinderungen sind doch hier … äh sabbern und schaukeln oder hm, naja, irgendwie so körperlich nicht so ganz …

Schon so lange versuche ich, andere Menschen nicht als meine Behinderung wahrzunehmen. Ich versuche unverständliche, unkonkrete Kommunikation als ein Add-on zu sehen, das nichts mit ihnen zu tun hat. Ihre Kommunikation und Interaktion sind nicht sie, ist nichts was etwas zu bedeuten hat. Ich versuche immer nur sie zu sehen und mir alles andere zu erarbeiten, mit aller Anstrengung, die das für mich bedeutet.
Aber ohne gegenseitige Verständigung und gegenseitiges Verstehen ist alles nichts. Denn was bleibt denn von jemandem außer der verkörperte Wert, den ich zuschreibe, weil ich nur sie_ihn sehe? Das ist nicht genug und wird der Komplexität und Fülle des Am und im Leben-Seins der Person nicht gerecht. Es ist unfair, jemanden nur als Mensch zu sehen, weil es das ist, was am nächsten an einem oder einer selbst dran ist. Was am ehesten nachvollziehbar ist. Was man wenigsten Versteh.arbeit bedeutet.

Aber manchmal ist das nötig. Manchmal kann man nicht anders. Manchmal muss man auch nicht anders wollen dürfen. Nicht immer schadet man damit sofort.
Und manchmal ist das so – und es verletzt mich, die behinderte Person, trotzdem. Trotz aller Bereitschaft dafür, die Notwendigkeiten, Bedarfe und Sachzwänge anderer Menschen anzuerkennen.
Und das schadet.

Unsere Podcastepisode über Behinderungen in Viele-Sein.

der Fake*

Neulich hatte ich den Eindruck, jemand denkt Autismus als etwas Übernatürliches, irgendwie Cooles, Besonderes, aber für alle Fremdes. Gleiche Faszination wie bei DIS-Faker_innen, gleicher Anklang der „Vielesein ist spannend = Leute, die Viele sind, sind spannend“- Logik, gleiche Aufmerksamkeitsdynamik. „Guck mal, wie spannend ich bin, ich bin Viele – mach was, tun was mit mir, ich bin Viele“ – so in der Richtung.

Schwierig das zu bewerten. Heute. Früher war ich da eindeutiger, weil es mich beleidigt hat, wie jemand aus meinen Problemen etwas macht, das ihm_ihr nutzt. Und weil es mich verunsichert hat – egal, ob gespielt oder nicht, warum kriegt so jemand es hin, dem ganzen etwas Cooles abzugewinnen und ich nicht?
Heute bin ich mehr davon vereinnahmt, darüber hinweg auf die Person zu schauen und mich auf das zu konzentrieren, was sie an mich heranträgt – um eine gute Entscheidung zu treffen, ob ich dem nachgebe oder nicht. Mir hilft dabei im Kopf zu behalten, dass alle Menschen immer ihre Grundbedürfnisse formulieren oder aufgrund von Grundbedürfnissen mit mir sprechen. Niemand will je etwas, dass wahrhaft unnachvollziehbar, unnatürlich oder unmenschlich ist. Menschen wollen Aufmerksamkeit von anderen Menschen, weil sie sie brauchen. Ganz existenziell. Die Mittel, die sie dafür wählen, können mich beleidigen oder kränken, aber am Ende ist da ein dringendes Bedürfnis, dem man begegnen kann und das ist wichtig. Ich kann mich allein um meine Kränkungsgefühle kümmern – Kränkung ist nichts, das mein Überleben in irgendeiner Form bedroht – Einsamkeit, das Gefühl nicht gesehen oder (für) wahr.genommen zu werden jedoch schon.

Dann dachte ich darüber nach, dass es manchmal total hilft für anders behindert oder krank gehalten zu werden als man ist.
Zum Beispiel glaubt eine der Edeka-Mitarbeiter_innen im Nachbardorf anscheinend, dass wir ertaubt oder gehörlos sind, wegen unserer sichtbaren Otoplastiken im Ohr. Sie macht uns mit ihrem Verhalten (eindeutige Gesten, sehr deutliche Mimik, keine Lautsprache zur Kommunikation) total angenehm und viel einfacher dort einkaufen zu gehen. Und weil das so ist, habe ich ihre Annahme auch noch nicht korrigiert, unter anderem, weil ich mit dem Gehörschutz tatsächlich nur sehr wenig höre. Würde sie mich aber fragen oder ein Gespräch darauf kommen, würde ich ihr sagen, dass ich ohne Gehörschutz super hören kann – mein Gehirn diese Eindrücke nur nicht filtert. Ich würde ihr keine Geschichte von speziellem Hören oder ganz außergewöhnlichen Fähigkeiten erzählen, weil das Besondere ja ist, dass sie mich so toll unterstützt. Ich erlebe meine Wahrnehmung einfach nicht als etwas besonderes – ich lebe ja jeden Tag damit schon seit immer. Aber, dass mich jemand einfach so unterstützt ist etwas Besonderes für mich, denn die Regel ist eine andere.

In dem Gespräch, in dem eine Person mir ihre (von sich als solche eingeordnete) autistische Wahrnehmung beschrieb, hatte ich den Eindruck, sie glaube, als Autist_in lebe man in einer fremden fernen Welt jenseits aller physikalischen Logiken und körperlichen Grenzen. Das war eine bunte Welt voller Besonderheiten und spezieller Spezialdinge, die diese Person in meiner Welt entweder in 24/7 Betreuung oder in intensivmedizinische Behandlung gebracht hätte.
Ich wusste nicht, was ich ihr dazu sagen sollte.
Einerseits bin ich nicht in der Position zu diagnostizieren und das Konzept Diagnose ist eh total kritikwürdig, andererseits würde ich, wenn ich darauf eingehe, um das Grundbedürfnis nach verständnisvollem Kontakt zu erfüllen, die mich – quasi „außererseits“ – total kränkt und verletzt, diese falsche Ansicht bestätigen oder durch mein Beispiel verfeinern. Also dazu beitragen, dass die Person immer besser faken kann, sollte sie gerade faken, und sich so immer weiter verkomplizieren im Ausdruck ihrer Bedürfnisse.

Wenn ich daran denke, wie lange es mich gekostet hat, mich der Welt zuzuordnen und so etwas wie Zugehörigkeitsgefühle zu ihr zu entwickeln, weil es eben genau diese Welt ist, die Menschen wie mich oft gar nicht als zugehörig behandelt oder einordnet, bekomme ich einen Knoten im Bauch vor der Vorstellung das aus diesem Stereotyp noch jemand etwas für sich herauszieht.
Aber was soll ich dagegen machen? Das Problem ist ja nicht, dass die Person das macht, sondern, dass sie es machen muss oder sich dafür entscheiden wollte. Das eigentliche Problem kann ich ja nicht lösen – auch, wenn es mir die Person konkret sagen würde, vielleicht nicht. Aber warum benutzt, missbraucht, sie mich dann für ihren Vermeidungstanz, nur weil ich ihr eigentliches Problem nicht lösen kann? Ich könnte doch bei der Lösungsfindung helfen. Oder einfach so für sie da sein. Das ist doch auch schon viel, wenn man einfach so gesehen wird.

Schwierig.

*möglicherweise

zum Weltautismustag 2020

Weltautismustag.
Wir gehen ins fünfte Diagnosejahr. In der letzten Podcastfolge „Viele-Sein“ haben wir erzählt, was sich alles für uns geändert hat, seit wir dem ersten Verdacht nachgingen.
Wir haben gesagt, dass es uns vorkam, als hätten wir unser Leben lang versucht, mit einem Hammer zu schaffen, was alle mit einem Hammer schaffen, obwohl wir einen Schraubenschlüssel brauchten. In Bezug auf den Weltautismustag erscheint es uns inzwischen, als würde auch in Sachen „Öffentlichkeitsarbeit zu Autismus“ mit den falschen Werkzeugen gearbeitet.

Schon einen einzelnen Tag im Jahr für die Thematik freizumachen ist absurd. Das wirkt wie ein Gedenktag, an Autismus wird aber nicht gestorben, sondern an dem Ableismus, dem Saneismus und der damit begründeten Gewalt, die autistischen Menschen angetan wird. Damit meine ich nicht nur Eltern, die ihren Kindern Bleichmittel einflößen, sie mangelhaft und einseitig ernähren oder direkt töten, sondern auch Konversionstherapien, der Zwang zu Anpassungsleistungen, die weit über die jeweiligen Kompensationsfähig- und -fertigkeitsoptionen gehen und das Verwehren von Teilhabe und Selbstvertretung.

Ironischerweise steht der diesjährige Weltautismustag für Autismus Deutschland e. V. unter dem Motto „I can learn I can work“. Für mich sieht es nicht so aus, als würden große Organisationen, die sich zu den Leben autistischer Menschen äußern, lernen. Denn eigentlich sollte nun, nach so vielen Beiträgen von autistischen Selbstvertreter_innen im Netz, wie auch in Funk und Fernsehen, endlich klar sein, dass auch in Sachen Autismus nichts über uns ohne uns geht.
Doch wie man heute wieder vielfach sieht: Da wurde nichts gelernt.
Immer noch sieht man Puzzleteile, immer noch stehen Erziehungs- und Förderungskonzepte im Vordergrund, nach wie vor geht es überwiegend um autistische Kinder.
Die Lebensrealität autistischer Erwachsener wird unter Aspekten der Produktivität und Anpassungserfolge dargestellt, wiederum oft nur um Spenden zu sammeln oder ins Leere zu klagen – nicht, um zu mobilisieren oder gar politische Bewegungen anzutreiben.

Stichwort politische Bewegung – wir werden oft über den Autismus vereinzelt, wie wir über die DIS vereinzelt werden.
Unsere Erfahrungen werden individualisiert, also zu etwas gemacht, dass allein uns betrifft und nicht auch den Rest der Welt. Die Folge dessen ist, dass unserer Stimme weniger politisches Gewicht gegeben wird. Da heißt es: „Ja, für dich ist XY eine Barriere, aber für die meisten Leute nicht, deshalb ändern wir das nicht. Wir ändern nichts nur wegen einer Einzelperson.“ Der Schritt zu dem Bewusstsein, dass beim Vorliegen einer oder vieler Barrieren nichts wegen einer Einzelperson, sondern wegen der Grundrechte auf freie Entfaltung und Teilhabe für alle Menschen gleich, etwas verändert werden muss, der wird deshalb oft gar nicht möglich.

Auch an der Stelle versagt der Weltautismustag. Dieses Problem kann in einem Tag nicht einmal vollständig erklärt werden, geschweige denn Lösungsprozesse anstoßen – was also soll dieser Tag machen?
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Und zwar nicht für neue interessante Projekte, die (erwachsene) Autist_innen im Lauf des letzten Jahres auf die Beine gestellt haben (so wie „Neuro(r)evolution“ zum Beispiel) oder so etwas, sondern für Organisationen, die ableistische Menschenbilder und saneistische Wohlfahrtsgedanken weiterhin für sich ausnutzen. Und zwar nicht nur auf Kosten der autistischen Menschen, sondern auch deren Familien, Freund_innen und Verbündete. Letztlich also alle Menschen.

Wir entziehen uns dem, was uns in folge von Kritik oft begegnet, nämlich der Anspruch, eine Alternative vorzuschlagen oder es besser zu machen.
Es geht uns nicht um Alternativen zu ableistischer Gewalt oder saneistischen Haltungen – es geht um Ableismus und Saneismus an sich. Es geht darum, dass autistische Menschen nach wie vor nicht als Menschen (wie andere auch) angenommen und akzeptiert werden, einfach nur, weil sie autistisch sind.
Wir glauben nicht, dass es unsere Aufgabe sein muss, Menschen ~der Öffentlichkeit~ zu erklären oder zu zeigen, wie vielfältig Menschen sind. Auch diesem Take liegt ein schlimmes Menschenbild zugrunde, das uns sehr fern liegt.

Wir glauben, dass wir klarmachen müssen, was Menschenrechte sind und was Gleichheit in allen Rechten bedeutet.
Schlimm genug, dass wir annehmen müssen, dass den meisten Menschen nicht ganz und gar klar ist, was das bedeutet und wir jedes Jahr im April ganz besonders daran erinnert werden.

diese Tage, an denen man fürs Leben lernt

Es gibt Tage und es gibt Tage. Und “diese Tage”.

An “diesen Tagen” wartet man schon seit einer Ewigkeit darauf, dass die Menstruation jetzt endlich einsetzt, damit sich das schäbige Allgemeinbefinden endlich verändert. Man hält  beim Duschen die Luft an, weil die vielen kleinen Wasserstrahlen auf der Haut so exorbitant mehr weh tun als sonst. Man heult das erste Mal, wenn man sich daran erinnert, dass die alltime-favorite-Bekleidung aus Rock und Strumpfhose nachwievor unmöglich ist und schluckt das zweite Geheul herunter, als einem auf dem Weg zur Straßenbahn der Grünflächenpflege-Rasenmäher-Horrorschwadron entgegen kommt.
Man quetscht sich Small Talk aus dem Wörterpansen direkt hinter den Rachenmandeln, um der Person, die eine_n freundlich anquatscht, ebenso freundlich zu begegnen.
Und man weiß, dass ab jetzt absolut nichts mehr passieren darf, weil sonst das gesamte Kartenhaus des Hier und Jetzt in sich zusammenkracht.

Murphys Law sei Dank, passieren aber natürlich Dinge.
In der Schule riecht es heute nach Waffeln, wir warten lange auf den Lehrer und stehen in der Einflugschneise des Kellerganges. Hunderte Schüler schlurfstöckelschlappen an uns vorbei und niemand von ihnen versucht, wenigstens eine der zwei Türen nicht in den Rahmen knallen zu lassen.
Meine Mitschüler_innen schaffen es zu reden, zu lachen, ein bisschen dösend zu warten. Ich bin froh NakNak* unter meinen Finger zu spüren und so zu wissen, wie groß ich tatsächlich bin. In meinem Gefühl gibt es meinen Körper nicht mehr. In meinem Gefühl, bin ich ein Wesen ohne Haut über den bloßen Nervenenden.
In mir drin schreit ein Kleinkind in Todesangst.
Ich merke, wie die Ankunft des Lehrers für mich zu etwas wird, das mich retten soll. Alles aufhören lassen soll. Wie ich das Warten mit jeder Minute mehr nur deshalb durchhalte, weil ich mehr und mehr davon überzeugt bin, dass dann alles gut werden würde.

Es ist eine bittere Enttäuschung, als er dann da ist und doch nicht genau das passiert.
Es wird erschreckend und schlimmschlimmschlimm als wir, wie er auch, anerkennen müssen, dass auch heute unser Unterricht nicht wie geplant passieren kann, weil die Internetverbindung in der Schule gestört ist.
Für mich verschwindet die Schule als Struktur. Als greifbares Element, dass mich halten kann. Aushalten kann. Mich und den Puls, der über mein Sein hinwegrauscht, wie ein Wasserfall.

An “diesen Tagen” nähere ich mich einer Verständnisebene für das Leiden in unserem Leben und einer Idee von dem Leiden, mit dem wir früher unser Leben gestaltet haben werden.

Wir haben Unterricht im Rechnerraum. Dort stehen etwa 25 PC’s mit Knubbeltastatur und Hartplastikmäusen. Von der Decke leuchten ca. 12 Leuchtstoffröhren auf die LCD-Bildschirme und den Tafelersatzbeamer. Es rauscht vom Boden nach oben, tickt asynchron von der gesamten Decke nach unten. Dazwischen zucken die Mausklicks und versuchen sich durch das dichte Murmeln aus den Menschenmündern zu bewegen. Drehstühle knacken. Kleidung raschelt. NakNak* kratzt sich. Auf meiner Haut wird es feucht und kalt.
Das Unterrichtsthema interessiert mich. Ich würde mich gern mit einem Buch darüber in meine Flauschhöhle verkriechen und mich damit befassen. Aber ich sitze hier und versuche mich damit zu trösten, dass ich das ja nur 90 Minuten aushalten muss und dann nochmal was Interessantes für 90 Minuten erfahre und wir uns dann überlegen können, ob wir uns ein Buch über dieses Thema besorgen.

Ich spüre, wie der Schwan etwas aus meinem Träumen vom Lesen in der Flauschhöhle nimmt, um das Kleine einzuwickeln und wie ein Teil meiner Kraft an seine Stelle verschoben wird.
Die Störung kann nicht behoben werden und wir sitzen in einem zunehmend weißer werdendem Rauschen. Ich kann nicht mehr denken. Meine Gedanken sind die Geräusche um mich herum und ein mehr und mehr nach mir greifender Gefühlsstrudel. Ich gehe raus. Ertrage Schüler um Schüler, der durch den Flur an uns vorbei läuft, anguckt und dann durch die Tür geht, um sie hinter sich zuknallen zu lassen.
Ich gehe rein, packe meine Sachen, melde mich beim Lehrer ab.

Ich fühle mich verrückt und habe Angst davor, vielleicht, ohne es zu merken bereits eine Grenze überschritten zu haben, die eingehalten werden muss, um einen Ausbruch chaotischen Seins zu verhindern.
Jemand schreit mich an “Warte nur bist du zu Hause bist!” und ich denke zum x-ten Mal in den letzten Monaten, wie schön das wäre, kämen wir nach Hause und würden von jemandem erwartet. Ich kommentiere so ausführlich, wie ich es noch schaffe, was ich tue. In welcher Stadt ich gerade in die Straßenbahn steige, in welche Linie und von wo bis wo sie fährt und alles, was ich aus dem Fenster erkennen kann.

Wir fahren an dem Wohnort einer Gemögten vorbei, am Arbeitsort des Begleitermenschen, an der Praxis der Therapeutin, an dem Wohnort einer Freundin und ich halte mich daran fest, wie uns jede_r Einzelne_r dieser Menschen sagen würde, dass es okay ist zu gehen, wenn es nicht mehr geht, oder nötig ist, um schwerwiegendere Probleme zu vermeiden.
Merke, dass es etwas macht, daran zu denken.

Ich steige aus der Bahn und fühle mich schwindelig. Es ist warm und der Zug von NakNak*s Leine wabert im Grenzbereich eines Schmerzempfindens.
Mein Trinkwasser ist fast leer und beinahe rutsche ich schon wieder in meinen Ärger darüber, ständig irgendwas irgendwie zu brauchen. Doch dann ärgere ich mich über meinen Ärger.
Weil die Energie gerade sowieso da ist und es mir leichter fällt aus einem Ärger über mich heraus, etwas zu verändern.

Vielleicht drehe ich deshalb um und laufe in die Stadt.
In ein Fachgeschäft für gutes Hören.

Ich trete in den Laden wie ein Cowboy in den Salon und ziehe meine ganze Kraft aus dem Boden unter mir.
Die Person sagt, man müsse immer erst mal beim HNO prüfen lassen, ob mit den Ohren alles in Ordnung sei und ich bekomme von hinten rechts die Bilder von Ärzten mit Stirnspiegel, die unfassbar schmerzhaftes Licht in Ohren bündeln; der Mutterfrau, die sich über das Kind, das nicht normal auf Ansprache reagiert bekla.sor.gt, die fingerdicken Tabletten, die es zu jedem Ohrenschmerz gab…
Mich für diese Erinnerung bedankend drehe ich mich aus den Bildern heraus und antworte: “Das Problem sind nicht meine Ohren.” und strahle sie an. “Das Problem ist mein autistisches Gehirn!”.

Die Person nickt und sagt, sie verstünde das Problem. Dann greift sie nach einem Katalog und zeigt uns verschiedene Ohrstöpsel und Gehörschutzkopfhörer.
Hinter mir steht ein murmelndes Innenhäufchen und schwankt zwischen der Aufnahme der Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten und Materialien und Fassungslosigkeit darüber, wie nicht schlimm war, dass ich gesagt habe, was ich gesagt habe.

Wir kaufen ein Paar “PartyPlug” von Alpine und lassen uns zeigen, wie man sie einsetzt, entfernt und reinigt. Als wir den Laden verlassen, fühlt es sich an, als hätten wir eine Unterrichtsstunde gehabt. Vielleicht in “Mut zur Selbstfürsorge lohnt” und “Mut zur Offenheit lohnt” und “Es ist okay”.
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Einen Tag später tragen wir die Ohrenstöpsel mit Schulbeginn.
5 Zeitstunden später, hatten wir noch keine Angstmomente, kein Gefühl der unaushaltbaren Überreizung und kamen zu Hause mit genug Kraft für einen Blogartikel an.
Sie jucken ein bisschen in den Ohren, aber nicht durchgehend. Sie sind weich und damit gut tragbar für uns– absolut kein Vergleich zu den Oropax, die wir früher schon ausprobiert haben.

Es ist eine Erfahrung, die Mut macht.
Mut zur Hoffnung, dass es vielleicht doch gar nicht so schwer schaffbar ist.

Dieses Dings und alles.

 

P.S. : Kostenpunkt für die Ohrstöpsel: 13,10€
Es ist möglich diesen Gehörschutz individuell an den Gehörgang angepasst zu bekommen
– das kostet ca. 125€.
Es gibt sie auch noch für andere Frequenzbereiche.