“Wir sind Viele” ~ Teil 11 ~

“Hatten wir vorhin im Workshop zum Thema (Sekten- ) Ausstieg auch. “Sie müssen mit Täterintrojekten arbeiten”- der ganze Rest kam nicht zur Sprache”, sagte unser Mensch.
Wir saßen draußen in der Sonne, während Nickis noch Fragen zum Film und Viele sein beantworteten.

Wir überlegten, woran es lag, dass die Themen “Schwerbehinderung”, “ökonomische Unfreiheit”, “soziale Arbeit” und “Zukunft” so untergingen und bemühten uns beide nach Kräften, nicht die Köpfe zu schütteln und zu sagen: “Ach, ist doch immer das Gleiche”.
Denn das war es ja tatsächlich nicht. Das Tagungsprogramm enthielt mehr psychologieferne Programmpunkte, als andere, die ich mir mal angeschaut habe. Von den Elementen, die eine Überlebende mit einschließt und auch Kunst als Kommunikationsmittel, brauchen wir gar nicht erst anfangen- das halte ich für einen großartigen Schritt in Richtung Augenhöhe und Diversität.

Ich frage mich jedoch, was erwachsen kann. Wie Hilfe für alle hilfreich sein kann, auch jene, die als Fall, als Gesicht, als Lebensrealität so untergingen.
Da ist einfach diese Fragestellung: “Ausstieg- und dann?”, die so viel mehr mit sich zieht, als die Chance auf ein anderes Leben.

Wer länger als 6 Monate mit derselben Erkrankung in Behandlung ist, gilt als chronisch krank. Als schwerbehindert.
Keine Behandlung einer DIS dauert nur 6 Monate.
Menschen mit Behinderungen haben ein 4 fach erhöhtes Risiko zum Opfer von Gewalt zu werden. Im Falle einer DIS: _erneut_ oder auch: _zusätzlich_

Gewalt in Institutionen ist ein Tabuthema, weil sie in vielen Fällen immanent ist- Stichwort (geschlossene) Psychiatrie/ Heime.
Laut Prävalenzstudie sind ca. 5% aller PsychiatriepatientInnen, Menschen mit DIS.
Ich fand keine Prävalenzstudien dazu, wie viele Menschen mit DIS auf ambulante oder auch stationäre Betreuungen angewiesen sind- fast möchte ich sagen: War ja klar- wenn schon die Refinanzierung von sozialer Arbeit so derartig schwer ist, dann gibt es natürlich auch kein Interesse daran zu erfahren, wer diese Hilfen warum genau braucht.

Haben wir über diese Themen nicht gesprochen, weil das Stigma so vertraut ist?
Geht das? Kann man blind für das eigene ausschließende Denken sein, wenn man doch jeden Tag genau damit befasst ist und genau darüber doch schimpft und dagegen angehen will? Ist es das?
In mir drin ruft es laut “NEIN!” und doch weiß ich, dass es das auch tut, weil wir wissen, dass es unsere FürsprecherInnen sind, über die wir hier gerade sprechen.
Kann man loyal sein, verbündet und den gleichen Wunsch, die gleichen Ziele haben und trotzdem denken: “Also, hm, hier fehlt etwas, was durch die Bank weg fehlt und selbst in der Ausleuchtung von unfassbar mutigen und engagierten Menschen noch weiterhin unsichtbar bleibt.” ?

Oder haben wir nicht darüber gesprochen, weil man nicht sagen darf, dass Hilfe nicht von Gewaltdynamiken (ganz allgemein) befreit sein kann?
Ist das Thema “Gewalt” zu groß für Tagungen, wie diese?

Wie wird das bei der Tagung, die ich plane? Sollten wir sie reduzieren auf genau diese Frage: Was ist Gewalt und wie kann man sie durchbrechen?
Aber was ist dann mit der Frage: „Ausstieg/ Therapie- und dann?“? Was ist mit der Frage danach, was Hilfe wirklich ist und woran man das merken könnte- sowohl als Betroffene, als auch als HelferIn?

Im Verlauf der Tagung wurden diese Fragen übersprungen. Einfach so- zack- zum nächsten großen Ding “Anzeigen”, “Wehren”, “Traumabearbeitung”, sozialpolitische Schleifen, die um die TäterInnen kreisen, Debatten und Gedanken, die alle den Überlebenden dienen (sollen), letztlich aber doch immer wieder die TäterInnen, ihre Taten und Folgen an den Betroffenen im Zentrum haben- nicht ihre Lebensrealitäten, das “Drumrum”.

Ist das zu nah? Kommt man an der Stelle an zu viel Ohnmacht? Wird es eine schlechte Tagung, wenn man darüber redet und feststellt: “Verdammt, unsere Gesellschaft hat ein Gewaltzentrum und wir stehen an vielen Stellen ohnmächtig davor”?

Wir durften zwei Ausschnitte aus dem DIS- Kurs anschauen, in dem  Paula &  Co mit einer anderen Betroffenen ihre Erfahrungen mit Strafanzeige und OEG schilderten.
Sie sprachen da über strukturelle Gewalt, die ihnen nach all der Gewalt, die sie bereits überlebten, begegnete.
Ich saß da und hörte meinem Kopf zu.
Noch immer schwirrten die Jugendlichen dicht unter der Oberfläche herum.
”Früher, weißt du, da wusste ich, dass ich nichts zu sagen habe. Oder zu meinen oder zu denken. Da musste ich das auch gar nicht.”, ich spürte, wie sie ihren Kopf an meine Schulter legte und durch den Saal schaute. “Diese Menschen hier… es macht mir Angst, wie sie das von Menschen verlangen könnten, bei denen das Früher noch weniger lang her ist, als bei uns, weißte? Wie sie wollen, dass die TäterInnen bestraft werden, aber irgendwie vielleicht vergessen, dass viele Viele eigentlich mehr so Sachen wie Schlafen können oder sich in jemand verlieben können und dürfen oder selber ein Kind bekommen wollen oder weißte… so… einfach nur …”.

Inzwischen beschrieb ein Mensch Fälle, in denen Menschen mit DIS nach ritueller Gewalt mit der Polizei zusammenarbeiteten und was verhinderte, dass es zu Verurteilungen oder Festnahmen kam.
Wir beschlossen ein Mal mehr, keine Strafanzeige zu erstatten.
Erzählen, wie so eine Gewalt- und Ausbeutungsstruktur funktioniert; ein bisschen “Übersetzungshilfe” für HelferInnen, PolizistInnen, JuristInnen und BeraterInnen anbieten: Ja- immer gerne- so, wie wir das schaffen. Gar keine Frage. Das ist, was wir beitragen können und gerne tun.
Aber Strafanzeige erstatten, einem “Wehr dich doch” nachkommen und dann doch nur unzureichend helfen können, nein.

Ich dachte an die Betroffenen, die wir kennenlernen durften. Die wir beim Zerfallen unter dem Rechtfertigungs- dem Nachweisdruck ihrer eigenen Betroffenheit zuschauen mussten. Denen wir die Hand reichen und halten, wenn sie sich in Schleifen rund um Hilfebeschaffungsmaßnahmen finden.
Und ich schaute über uns hinweg.

Wir hatten gerade zwei Tage vorher, die erste Lücke in unserem Leben gelebt.
Zum ersten Mal in 27 Jahren, haben wir einen Raum, eine Zeit, ein Oben und und Unten, ganz mit uns allein im Zentrum, in den Händen gehabt, getragen und gelebt.
Es waren die 5 Stunden „Leben in Freiheit”, für das wir vor 13 Jahren geflohen sind.

Niemand für den wir ein Jemand oder ein Etwas sein mussten. Keine Umgebung, in der sich unsere vielen Leben ungeahnt oft überschnitten und nun wie eine Minenlandschaft vor uns ausgebreitet ist. Keine Erwartung. Autonomie in Anreise, Gestaltung, Nutzung.
Das- genau das- hatte uns damals angetrieben. Dieser Gedanke von: “Das was du jetzt noch hast, dieses bisschen Leben in dir drin, das musst du dir selbst nehmen, sonst nimmt ER sich das auch noch und du bist tot, ohne es jemals gespürt zu haben.”- damit sind wir
(er) damals weg.
Wir haben nicht daran gedacht, dass wir es “denen” schon noch zeigen. Oder, dass wir uns, weil wir so wertvoll sind, in Sicherheit bringen müssen, um uns dann von anderen Menschen erst mal schön das Leben neu beibringen zu lassen. Wir sind gegangen, weil wir der Gewalt nichts mehr in den Rachen werfen wollten und wenigstens so sterben wollten, wie wir das wollten.

Die Podiumsdiskussion begann und setzte wieder etliche Stufen nach “die Gewalt ist passiert” an.
Ich verstehe schon, was Frau Hahn, die Sektenbeauftragte vom Bistum Münster, meint, wenn sie von Sekten bzw. sektuösen Gruppierungen als demokratiefeindlich und gesellschaftsunterwandernd spricht und nicke dazu.
Kriege aber trotzdem jedes Mal Puls bis unters Dach, weil solche Aussagen implizieren, dass unsere Gesellschaft ohne Sekten und sektuöse Gruppierungen eine Umgebung voller Schmetterlinge und Einhorngetrappel wäre und das ist einfach falsch.
Das ist die Art falsches Versprechen, die AussteigerInnen gemacht wird und einen massiven Bruch auslösen können, wenn sich diese dann in einem Leben unter Hartz 4 (das gleichsam wie ihr nacktes Überleben unter TäterInnenhand, immer wieder erkämpft und gerechtfertigt werden muss!) und in gesellschaftlicher Randzone wiederfinden.
(Und was machen so enttäuschte Menschen unter Umständen? Sie suchen sich eine Gemeinschaft, die das auch so sieht…)

Ausstieg ist nicht das Ende. Es ist nicht die Rettung. Nicht die Heilung.
Ausstieg ist ein so umfassendes Aufgeben des eigenen Rahmens, das ein Krater entsteht, der nicht durch die Tatsache aufgefüllt wird, nicht mehr misshandelt und ausgebeutet zu werden.
Wie oft haben wir, sogar während wir betreut wurden, Therapie hatten und, ach, was weiß ich wie viel “Hilfe”, Aufträge von TäterInnen angenommen – und sogar aktiv darum gebeten, weil das Hartz 4 kein Sparen zulässt- das aber meine Waschmaschine, meine Kleidung, meinen Hunger nicht interessierte. (Ne, als unsere ambulante Psychotherapie nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt wurde… was war wohl der erste greifbare Gedanke?)
Wie oft haben wir uns an unsere Herkunftsfamilie gewandt, weil unsere BetreuerInnen Urlaub hatten und die Urlaubsvertretung krank war und die Ersatzkraft so verdammt überlastet, dass sie uns nicht (aus)halten konnte? Wie oft haben BetreuerInnen unsere Anonymität zerstört, weil sie es nicht besser wussten- weil die Betreuung von Überlebenden organisierter Gewalt einfach nicht Teil der Ausbildung ist?
In unserem späteren Täterkontakt, ging es nicht immer um geistige Nähe, Weltbilder oder Täterloyalität- da ging es um das platte Leben, das uns so massiv überfordert hat und wir- trotz vieler Menschen, die dafür bezahlt wurden, mit uns zu sein und uns zu unterstützen- verdammt noch mal allein am Rand einer Gesellschaft standen, die es nicht interessiert und auch nicht interessieren müssen DARF, was für einen Raubbau die Gewalt an uns betrieb.

Wir konnten uns erst lösen, als wir uns auf unsere HelferInnen und Gemögten verlassen konnten. Erst nachdem sie uns geholfen haben, uns selbst zu helfen, funktionierte die Zusammenarbeit in Richtung Leben ohne diese Art Gewalt und Ausbeutung.(Hier schrieb ich schon darüber.) Sie haben unsere Schleifen ertragen, das ständige “von uns hinterfragt werden”. Sie setzten sich mit uns über die Gewalt auseinander und das nicht nur in einmal 50 Minuten pro Woche, sondern über Jahre bis heute, wann immer wir das brauchen.

Wir hatten so ein verdammt riesengroßes Glück, das viele andere Viele nicht haben.

Weder sind wir damals gestorben, obwohl wir schlimm verletzt waren und keine medizinische Hilfe hatten, noch wurden wir erst spät als Viele diagnostiziert.
Weder hatte Michaela Huber damals unsere Emails nicht beantwortet (und uns damit zu unseren späteren HelferInnen verholfen), noch hatten wir immer unzureichende Betreuungen. Weder haben wir so massive körperliche Folgeschäden, das wir für immer auf fremde Hilfe angewiesen sind, noch haben wir die Fähigkeit unsere Hoffnung auf ein Jenseits vom Tag jemals verloren.

Das haben wir nicht unserem Demokratieverständnis zu verdanken. Das kam nicht “tief aus uns heraus”. Da gibt es kein mysteriös wunderherrliches Geheimnis.
Nur Glück, die richtigen Menschen, zur richtigen Zeit, in der richtigen Umgebung zu treffen und in der Lage zu sein, weitermachen zu können. Trotz alle dem und alle dem.

 

Ich hätte den Menschen dort so gerne von unseren 5 Stunden erzählt.
Was es für uns bedeutet hat, dieses Namensschild tragen zu dürfen.
Was es für ein Schritt für uns war, den Besuch der Tagung nicht nur außen, sondern auch im Innen überhaupt in Erwägung zu ziehen.
Doch das sind genau diese “Popelsachen”. Dieses individuelle Schwafeldings, worüber weder empört noch reproduziert werden kann.

Das ist ein Teil eines Lebens von vielen.
Danach.

Ich merkte, wie sich mein Innenleben, ausgehungert an Schönem auf die Landschaft zwischen Mainz und Koblenz stürzte und später in der Freude von NakNak* badete, als die uns zu Hause in die Arme sprang.

Mainzzug2

 

 

~ Ende ~

“Wir sind Viele” ~ Teil 10 ~

TröpfchenaufBlüte “Ein Körper mit System” wurde gezeigt.
Ein Film von den Nickis, der ihre Lebensrealität beschreibt und versucht das Viele sein begreifbar zu machen.

Im Hinblick auf den Akt der Selbstermächtigung und der Kraft, die der Erstellung eines Filmes (Buches, Blogs oder anderen Medien) zu Grunde liegen, kann man so einen Film nur feiern. Kein Roman, kein “Profi” der über jemanden mit DIS spricht, sondern der Mensch selbst gewährt Eindrücke, die ihm wichtig erscheinen.

Für uns war der Film in Sachen “Hoffnung auf Zukunft” eine Katastrophe.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass wir einfach furchtbar übermüdet waren. Ob es an den von mir aufgenommenen Mechanismen im Workshop lag, die mich ganz subtil getriggert haben oder, ob mir in dem Moment klar wurde, dass dort gerade viele Menschen sitzen und hören, dass Viele sein ein Zustand für immer ist.

Es kommt ganz am Ende und sie sagen sinngemäß: “Ich kannte eine, die hat sich integriert und kam in die Geschlossene.”. Und die gefilmte Therapeutin sagt in etwa: “Ja klar, denn sie wurden Viele, weil eine allein, die Gewalt nicht ertragen hätte.”.

Wir hielten noch etwas aus. Hofften, dass sich der Abstand zu der Lebensrealität dieser Überlebenden wieder vergrößerte und gingen in den von Licht gefluteten Park, als die Tränen fast schon aus dem Kopf fielen.

Da waren sie wieder die Jugendlichen, die vor BetreuerInnen, Krankenschwestern, ÄrztInnen stehen und hören: “Du wirst die geschlossene Psychiatrie nie verlassen.”, die fixiert in einem leeren Raum liegen, während ein Pfleger um sie herum geht und ihnen sagt, wie unheilbar krank sie sind.
Da stand Sie und fragte sich, ob sie gerade sich selbst in 10 Jahren gesehen hatte und, ob es sich überhaupt lohnt in Therapie zu gehen, wenn sie “diese Missbrauchssache” nicht einmal wirklich richtig spürt, wenn “das mit den Anderen” doch nie “weggeht”.
Da war Frau Wüterich und schwenkte ihre Fäuste asynchron zum Kopfschütteln “soneveralteteKackscheißeverdammtkanndochnichseindassdiesowashierzeigenverfickterDreckskack…
GegengenausowasschreibenwiranverdammteScheiße… ORRRRRRRR”
Und mittendrin ein Kinderinnen, das seine Kugel aus Hoffnung in der Hand hielt und den dicken Sprung auf der Oberfläche betrachtete.

Wir hatten schon lange nicht mehr so einen Moment, in dem wir darüber zerfielen, was noch aus uns werden könnte.
Zum Team “ich bin Viele und das ist total okay für mich” gehören wir nicht.
Zum Einen, weil wir es immer wieder unfassbar bereichernd wahrnehmen, wenn eine Integration oder auch vorher schon mehr Nähe untereinander passiert und zum Anderen, weil wir diesen Schaden einfach nicht akzeptieren wollen.

Wir haben massive Gewalt ertragen und nicht nur in Abgründe sehen, sondern haben in ihnen leben müssen. Andere Menschen haben unseren Körper, unsere Seele und auch noch unser Denken an sich gerissen, manipuliert und ausgenutzt. Wir sind ein Mensch, der sich so oft von sich und seiner Umgebung abtrennen musste, dass er sein Selbst und Dasein bis heute als fremd wahrnimmt.
Ich fühle mich nie willkommen und okay. Nirgends, nie und bei niemandem. Nicht einmal in mir selbst. Nichts, aber auch gar nichts in meinem Leben ist einfach oder leicht. Jeder Aspekt meines Alltags wird in Definitionsdebatten zwischen früher und heute, an Wertmaßstäben jeder Couleur überprüft und in Frage gestellt. 24 Stunden am Tag und das schon seit Jahren. Was ich bin, ist ein Flickwerk, das mir mindestens einmal am Tag zusammenkracht, wieder aufgebaut wird, um dann vor Angst vor dem nächsten Krachen zu zittern.

Mein Leben ist nicht schön. Es ist zum Kotzen. Es besteht aus Angst vor der Angst, permanenten Todeserwartungen und Belastungssymptomen, die so tiefgreifend an den Kräften fressen, dass bloßes Dasein an manchen Tagen schon zu viel ist.
Mein Leben ist: Blümchen pflanzen, wo 21 Jahre lang Brandrodung betrieben wurde.
Ich lebe es, weil es das Einzige ist, das mir geschenkt wurde, ohne, dass ich darum gebeten habe.
Meine Existenz ist es, an der Raubbau betrieben wurde. Rücksichtslos, gierig, aus Lust am Sadismus. Sie haben mir das einzige Geschenk, das ich jemals einfach so haben durfte zerstört, verschoben und verknotet.
Und wenn es die Chance gibt, nämlich die Therapie, nämlich sich jedem Riss, jeder Delle, jedem abgeplatzten Fetzen zu widmen und ihn so, wie es sich für mich/uns allein gut anfühlt, zusammenzufügen, dann ist es das, was wir machen.

Auch wenn das heißt, dass wir vielleicht nie passen werden. Vielleicht nie in eine Arbeit kommen, die von der Gesellschaft akzeptiert wird. Vielleicht nie die Art der Familienplanung, die wir uns wünschen, machen können. Vielleicht heißt es, dass wir uns immer in Grauzonen bewegen müssen, die in den existierenden Strukturen unsichtbar sind.

Aber wir werden unser Leben bzw. die Arbeit daran, die wir tun können, nicht beenden, bevor es sich nicht wenigstens ein einziges Mal okay und zusammengehörig angefühlt hat.

“Das ist nicht mein Leben in dem Film”. Ich schüttelte meinen Kopf so sehr, wie ich konnte und strich mit der Fingerspitze über die Rinde eines Baumes neben mir. “Ich bin noch keine 30, wir haben endlich eine gute Therapeutin gefunden, haben Menschen um uns herum, die sich ehrlich an unseren Erfolgen und unserem Zusammenwachsen innen erfreuen. Das da ist nicht mein Leben gewesen. Ich will nicht Viele bleiben, also werde ich das nicht.”.
Ich atmete ein, schmirgelte die verlaufene Wimperntusche von der Haut unter den Augen ab und ging zurück in Richtung Tagung.

Mit jedem Schritt das Kraftmantra:
Ich will das
Ich kann das
Ich mach das

Dem Kinderinnen dabei zuschauend, wie es mit meiner Energie den Riss in seiner Hoffnung kittete.

“Wir sind Viele” ~ Teil 9 ~

Ich wollte mich spontan auf den Raumboden fallen lassen, als das Wort “Cybermobbing” fiel.
Wir saßen im Workshop mit dem Titel “Tatort Kinderseele – Die gesellschaftspolitische Dimension der Verleugnung sexualisierter Gewalt”. Ein Workshop über dessen Teilnahme ich lange, allein schon wegen der Überschrift, gründlich nachgedacht hatte.

Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die Gesellschaft ™  gar nicht mal so viel Gewalt verleugnet, wie das bis heute gerne in den Medien ™ die Runde macht, sondern viel eher einfach gar kein einheitliches Verständnis davon hat, was Gewalt ist, welche Formen wann und wo auftreten und – dass sie einen so alltäglichen Stellenwert in sowohl unserer Gesellschaft, als auch unseren Vorstellungen von Moral und allgemeinen Umgang hat, dass die Auseinandersetzung damit einfach immer schwierig und an vielen Stellen undifferenziert ist- obwohl das allgemeine Framing ist: “Gewalt ist schlecht/ böse/ schlimm/ darf nicht sein”

Wir hatten nur eine Tasse Kaffee, viel zu wenig Schlaf und dann auch noch diese Themen. Und dann war ich wiederholt live dabei als über “dieses Internet” gesprochen wurde, als wäre es einzig das Darknet in dem sowohl “Silk Road” als auch andere illegale Plattformen zu Hause sind und auf kleine unschuldige Kinderseelchen, die doch nur ein bisschen unschuldigen Spaß mit dem Smartphone machen, warten, um sie sich einzuverleiben und ihnen Gewalt anzutun.

Ich dachte wieder darüber nach, ob es ein Thema der Generationen ist. Ob man mit dem Internet irgendwie groß geworden sein muss, um nicht nur in Sorge oder mit einem moralischen Zeigefinger in der Höhe damit zu interagieren.
In der ganzen Tagung war ganz oft die “Internet als Raum”- Metapher und so auch der Faden “dort drin in diesem Internet, da sitzen auch TäterInnen und dort lassen Menschen ihre Kinder rein”, obwohl das Internet nichts weiter ist (und auch nie mehr war) als ein Kommunikationsmittel bzw. korrekter ausgedrückt ein Datentransfermittel.

“Cybermobbing” ließ mich wieder an die 90 er Jahre denken. Der Begriff dafür ist heute “virtuelle Gewalt” und dieser ist in meinem persönlichen Empfinden einerseits besser, weil er alle Formen von Gewalt, die via Internet passieren, unter einen Hut bringt (vom unaufgefordert geschickten Pimmelfoto bis zur Hassmail mit Morddrohung) andererseits aber auch schwierig, weil die Gewalt nicht virtuell ist, sondern nur virtuell transportiert wird. Die Einschläge, die sie hinterlässt, sind genau die gleichen, wie es analog/ direkt/ physikalisch transportierte Gewalt tut, was man zum Beispiel am Leidensweg der Amanda Todd sehr gut nachzeichnen kann.

Alles in allem hat mir in der gesamten Tagung, wenn das Thema Internet zur Sprache kam (und das kam es oft), sehr der, für mich persönlich auch sehr wichtige, Leitsatz gefehlt, dass es Menschen sind die Gewalt ausüben und das Internet als Mittel dazu benutzen- und zwar a) Menschen jeden Alters b) in jedem über das Internet verfügbaren Medium und c) mit jeder Intension, die Gewalt haben kann- das Internet als solches, aber weder Brutstätte noch Ursache für Gewalt und ihre Folgen sind.

Wir sprachen über das “Sexting” und darüber, dass das wirklich schlimm ist.

Das Thema hatten wir auch schon im Workshop mit Claudia Fischer am Vortag und mir ist dabei diese Haltung gegenüber den Jugendlichen aufgefallen, bei der ich immer wieder denke: “und genau deshalb kommen sie dann nicht zu Erwachsenen, wenn sie mit sexualisierten Inhalten konfrontiert sind, sie selbst produzieren und verteilen oder jemanden sie sogar nötigt dies zu tun”.
Das war für mich sehr von der Verleugnung getragen, dass Kinder und Jugendliche eine Sexualität haben und natürlich auch leben. Irgendwo darunter war für mich die Kette: “Kinder sind immer unschuldig, rein, sauber und unantastbar wertvoll- aus ihnen selbst heraus kann nichts “Schlimmes” (moralisch Falsches/ Böses) kommen- schon gar nicht, wenn das Umfeld gut ist.”

Dass dieses Umfeld aber mehr beinhaltet, als die Kernfamilie und den Pausenhof, und, dass Medienkompetenz nicht meint “da ist der Knopf zum An- und Ausmachen”, fehlt mir oft, wenn ich mit dem Thema “Sexting”, sexualisierte Gewalt & Internet & Jugendliche zu tun habe.
Für mich persönlich ist Sexting die logische Folge aus (weiblicher) Sexualität als Mittel zum Zweck, die gerade unter Jugendlichen, die in ihrer Entwicklungsphase sehr klar mit den Themen der Außenwirkung und (sexueller) Identität befasst sind, gar nicht Halt machen kann und im Zuge der massiven Konsumkultur mit all ihren Mitbringseln auch gar keinen Platz mehr zur Kritik haben kann. So denke ich, liegt das Entsetzen (?) Erwachsener nicht im Sexting selbst, sondern in der Selbstverständlichkeit und eher positiven Belegung der Jugendlichen, beim Hergeben ihrer Intimität.
Als gäbe es die Option im Internet (wieder die Raummetapher) wirklich intim, geheim, anonym zu agieren. Die Währung des Internet sind Daten und diese Daten sind immer personenbezogen. Wir bezahlen unsere Vernetzung über das Internet immer und immer mehr mit Teilen von uns selbst. Und Jugendliche tun das schon ihr ganzes Leben lang so massiv, wie wir heute, die wir das im Verlauf beobachten.
Privatsphäre ist, wie auch persönliche Intimität ein Mittel zum Zweck und hat mit Selbstwert eher später etwas zu tun. Nämlich dann, wenn auffällt, dass man “im Internet” nur ist, was man produziert, teilt und am Ende für andere Menschen als sich selbst darstellt- was cool ist, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung kongruent sind- nicht aber, wenn dem nicht so ist und eine Abwertung passiert.

Und dann- die Scham, die trotzdem noch irgendwo da ist.
Darf man sich heute noch unverblümt für Sex oder noch eine Stufe darunter: Körperlichkeit schämen, ohne pathologisiert oder aus anderen Gründen darin nicht respektiert zu werden? Was für eine soziale Rolle blüht Menschen, die sagen: “Der letzte Unterwäscheclip von C & A hat mich grad näher an Sex herangeführt, als es der Mitternachtserotikfilm bei Kabel 1 vor 10- 15 Jahren tat.”.
Es ist das Eine als Jugendliche/r da zu stehen und zu sagen: “Ich habe über das Internet Kontakte mit der ganzen Welt und einer von denen, hat mir ein Bild von seinem Penis geschickt und hört nicht auf, mich damit zu ekeln” – das erfordert Mut und ein gutes Verhältnis.
Das Andere ist es aber, Eltern/ Erwachsene/ ein soziales Umfeld auszuhalten, das dann nicht etwa sagt: “Das ist Gewalt und es tut mir leid, dass du diese Erfahrung machen musstest. Hast du das Bild und den Kontakt gespeichert? Ja?- dann komm zack!- wir gehen zur Polizei und blocken dann den Kontakt in deinem Netzwerk (oder reagieren sonstwie irgendwie konstruktiv und gehen in eine Diskussion, wie Netzwerke sicherer nutzbar sind/ werden könnten)” sondern mit höherer Wahrscheinlichkeit sagen: “Mit was für Leuten treibst du dich rum? Was hast DU getan, damit der das macht? Handyverbot- Internet gestrichen… weil ich muss dich schützen.”.

An der Stelle beginnt für mich auch der konstruktive Ansatz in Sachen Strafverfolgung und Verantwortung der DienstleisterInnen und BetreiberInnen von Netzwerken, Diensten, Programmen und Portalen. Wenn man heute zur Polizei geht und solche Dinge anzeigt, dann kann man Glück haben und eben nicht zu hören bekommen: “Ja, du hast es provoziert/ du hast dich unvorsichtig verhalten/ ihr Jugendlichen mit eurer Dummheit- war doch klar… “; man kann aber auch Pech haben und genau dieser Glanzvorführung von “rape culture” zuschauen, um dann aber am Ende immer gleich vor einer Ohnmacht der Justiz zu stehen, die schlicht nicht in der Lage ist, auf diese Art der sexualisierten Gewalt/ sexuellen Belästigung etc. einzugehen, weil die Handhabe fehlt oder die (technischen) Möglichkeiten fehlen, um zum Beispiel zu beweisen, dass der Inhaber des PC dessen IP- Adresse nachweisbar ist, auch derjenige ist, der die Gewalt verübte.

Das ist eine Krux, doch nichts, wovor man weiter ohnmächtig bleiben muss.
Bleiben wir mal beim Sexting, sehe ich schon Möglichkeiten des Umgangs und zwar die, dass den Kindern und Jugendlichen klar gemacht wird, dass ihre Fotos, vielleicht nicht sofort hier in Deutschland aber in den Staaten, in denen die Server stehen, über die ihre Fotos wandern und weitergesendet werden, als illegales pornografisches Material gelten und dies eine Straftat ist. Das ist die Sachebene in der ich mir viel mehr Medienkompetenz in der breiten Masse wünsche, die über: “Ebay, Amazon, große böse Täterlandschaft = Internet” hinausgeht. Die Jugendlichen wissen um ihre Reichweite, sie wissen, was sie damit erreichen wollen und in der Regel wissen sie auch um das Risiko, das sie eingehen. Sie wissen es aber nicht auf allen Ebenen und können in der Regel noch keine so umfassenden Abwägungen anstellen, wie Erwachsene. Das heißt nicht, dass man sie davon entbinden muss- das heißt, dass sie Vorbilder brauchen.

Dann ist da die individuelle Ebene in der es darum gehen muss, Kindern und Jugendlichen eine Sicherheit in Bezug auf sich selbst zu vermitteln. “Du bist deine Daten, aber du bist nicht, was ein Algorhythmus oder sonst irgendjemand aus deinen Daten macht!”.
Damit meine ich nicht “Du musst deine Kinder zu Selbstbewusstsein erziehen” sondern “Es ist wichtig sich seiner selbst bewusst zu sein und genau den Blick dafür zu stärken und als ausschließlich von und für sich selbst als wertig zu schätzen.”.

Generation “Wehr dich doch”, will, dass die Politik alles richtet. Will die Vorratsdatenspeicherung, will Internetpolizei; will, dass wem etwas passiert ist, sich auch wehrt und zur Not auf die VerursacherInnen draufhaut und donnert empört seine rechtschaffende Faust auf den Tisch, wenn das nichts bringt.
Ohne sich zu fragen, ob das einfach vielleicht auch daran liegt, dass Gewalt nicht mit Gewalt zu bekämpfen ist.
Auch nicht in Sachen Internet.

Ich glaube daran, dass wir die gesamtgesellschaftliche Aufgabe haben, Gewalt als solche zu benennen; die Betroffenen zu schützen und zu stärken; die Taten zu ächten und die TäterInnen zur Verantwortung zu ziehen und in Sachen Internet dafür zu sorgen haben, dass jedes Unternehmen sich geschlossen gegen Gewalt und Ausbeutung zu stellen hat- sowohl in der Unternehmensstruktur, als auch im Hinblick darauf, welche Inhalte mit ihrer Hilfe geteilt und so verbreitet werden.
Die Anbieter hinter Internetdiensten und Co. sind in meinen Augen bis heute und auf sehr vielen Ebenen die unsichtbaren MittäterInnen in jedem Fall von Kinderfolterdokumentation und ihrer Verteilung über das Internet, in jedem Fall von Selbstmord eines Menschen nach einem Shitstorm und an jeder Gefährdung eines Menschen, der sich zur Ware macht/ zur Ware gemacht wird (machen lässt), weil er analog keine andere Chance sieht bzw. leben kann, etwas zu erreichen.

Es ist unser Internet und wir haben die Verantwortung es so zu gestalten, dass Gewalt darin keinen Platz hat.
Dazu müssen wir lernen, was genau Gewalt ist und wann wir selbst gewalttätig agieren- egal, über welchen Kanal wir gerade miteinander zu tun haben.

 

Ich war so froh um den Kaffee, den es nach dem Workshop gab und so stolz auf mich, dass ich nicht still geblieben bin.
Aber so langsam breiteten sich auch unangenehme Gefühle in mir aus.

“Wir sind Viele” ~ Teil 8 ~

GänseblümchenSchlossWaldthausen Wir mussten los. Schnell, denn um 22 Uhr würde niemand mehr in der Jugendherberge sein, unseren Koffer freigeben und uns den Schlüssel zum anderen Zimmer, dem Mehrbettzimmer, geben.

Wir stiegen in das beheizte Taxi, hörten “diamonds are a girls best friend” nach Musik zum französischen Heimatfilm, der Sonnenschein und kleine Dörfer zeigt, als wir durch die Kulissen dazu hindurchglitten. Mitten in der Nacht.

Ich ging in das Zimmer hinein und legte die Sachen ab. Obwohl es im Gebäude brummte und summte, war es seltsam still und ein hohes Fiepsen irrte in meinem Hören umher, wie eine Ratte im Labyrinth.

“Wir brauchen ein Minilaptop – eins von diesen ganz winzigen Dingern- ich muss schreiben- ich muss das loswerden- ich will das nicht in mir drin behalten, da krieg ich Verstopfung und blärg. Mir ist jetzt schon so schlecht ihgitt ba ich muss gleich kotzen, alter the fuck- wieso siehts hier aus wie bei Hempels unnerm Sofa verdammter Dreckskack- ich will- gib her ich muss schreiben- ich will- muss das- ich muss das aufschreiben the fuck verdammter Scheiß raus damit” sie wühlte den Koffer durch, kramte im Rucksack und versuchte zu schreiben, statt den Stift zu zerstören.
Wenn sie so in Fahrt ist, muss ich an eine Szene in die Schöne und das Biest denken, in der das Biest sein Gesicht im Suppenteller versenkt, während Belle einen klitzekleinen Löffel in ihrer klitzekleinen Mädchenhand hält. Dann stimme ich ihr zu. Mit weniger Konzentration auf die Mechanik des Schreibens Assoziationen, Erinnerungen, Gedanken und Gefühle aus sich heraus zu holen und woanders als in sich zu stapeln, ist in solchen Momenten genauso erlösend, wie ein Finger im Hals oder eine Ohnmacht in Panik.

Sie krickelte drauf los und endete frustriert. Die Hand kam nicht mit ihrem Tempo mit. Die Mine des Stifts brach, die Erschöpfung des Tages riss alles in seinen Abgrund. Sie legte die Sachen beiseite.
“Es ist Shabbat…” wisperte es von irgendwo und schon standen die Teelichter angezündet auf dem Tisch.
Durchatmen, sich dem Licht widmen, sich in der Schöpfung, dem Sein zentrieren, auch das in dem Moment eine Er- vielleicht auch Loslösung.
Eine Pause auf dieser rasanten Fahrt durch Gedanken, Lebensrealitäten, Meinungen und Weltbilder, Erinnerungen und Trauer, die unter Gefühlen aller Art zu ersticken drohte.

Gerade hatten wir die Kerzen gelöscht und Besinnung (und Sinne) in uns verteilt, öffnete eine Mitschläferin die Tür zum Zimmer.
Eine Stunde später, trat die zweite fremde Person hinein.

Wir versuchten bis halb 3 Uhr morgens unseren Angstpuls an den Schnarchrhythmus eines der Menschen im Zimmer anzupassen. Dann ging die mit dem Charme eines mittleren Eisenbahnunglücks vor die Haustür und fragte die dort lautstark trinkenden Jugendlichen, ob sie noch alle Latten am Zaun hätten.
Wir versuchten uns irgendwie in der Waage zu halten und wenigstens körperlich etwas zu ruhen.

“Alter, das machn wir nie wieder, damit das klar is- ich will son Minilaptopdings zum ordentlich schreiben und ich will entweder auch was zu trinken oder n Zimmer alleine verdammte Scheiße und jetzt hier Fresse maaaaan ich will schlafen- krieg dich ein mal jetzt hier is bald Aufstehzeit verfickter Kackscheißdreck verdammter- kanndochwohlnichwahrseinverdammtnochmal … “

Frisch wie der junge Morgen, flanierten wir wenige Stunden später auf dem Gelände des Schloss Waldthausen herum.
Natürlich.

“Wir sind Viele” ~ Teil 7 ~

P1010139 (2) “Heute, am Donnerstag, würden wir unsere erste Lücke leben- ein Nachmittag ganz für uns allein”, so steht es da und erscheint mir, wie eine Leuchtreklame. Eine Lücke, ein Nichtanspruch, ein Sein ohne Ver-Bindung in einem Loch in der Zeit. Einer Falte, einer Lücke zwischen Hier und Da, zwischen Richtung und Ziel, inmitten von Optionen, die von uns allein zu wählen sind.

Wir leben kein Leben, in dem Lücken entstehen und wenn doch, dann schließen wir die Käfigtür hinter uns und warten auf ein Bald, ein Morgen, eine Zeit, in der uns das Außen wieder zwischen oben und unten, Himmel und Hölle festkettet. Irgendwo da auf dem Spektrum inmitten des Hier und Heute, des Jetzt und Da.

Das Theaterstück “Jenseits vom Tag” von und mit Beate Albrecht, beginnt im Fluss, verfolgt eine Richtung und fast höre ich das Rasseln der Kette am Fuß des dargestellten Menschen, der inmitten seiner Arbeit steht, schnattert und sich leertanzt.
Bis zur Lücke. Einem Stopp, einen Still, einem Warten, einer Leere- dem Moment, in dem nichts getan werden muss und die Verbindungen ins Außen dünn und durchscheinend werden. Da ist der Raum und wir hören und sehen, ja fast fühlen wir im flirrenden Zittern unter dem Lachen, die bodenlose Panik vor dem, was hinter dem Zeit verlieren, dem was dort spürbar ist, wenn plötzlich das Frei im Ich erblüht.

Wir schauen ihm zu, wie er Phrase an Phrase, habituelle Floskeln und kleinhaltende Laute aneinander reiht, um sich am ewig klingelnden Telefon, dem Chef, der Arbeit… all den Dingen, die das Umsichherum vervollstopfen festzuklammern.
Der Mensch erzählt, worum es geht.

Sie, Nielsen, Nils so sollte sie eigentlich mal heißen, hatte Kontakt mit dem Thema des “sexuellen Missbrauch”. Sie will erklären, erzählen, das Thema begreifbar machen. 4 Kapitel sollen es sein, 4 Personen erfindet sie dafür: Franz, Fränzi, Franziska und Franzi.

Sie reden und leben, erleben neu, kommentieren aus dem Nachhinein und Stück für Stück, ganz subtil, ist das Hier und Heute, das Oben und Unten, das Früher… vielleicht die Zeit als Konstante in Richtung ewiger Unendlichkeit, eine letzte, eigentlich doch irrelevante, Definitionsfrage.
Die Struktur, die bleibt, ist die Dynamik von Annäherung und Erlösung durch einen Schrei, der den Körper herum wirbelt und allen Schrecken, alle Not mit sich verdünnt und im Sand versickern lässt.
Noch nie habe ich eine künstlerische Umsetzung der Erlösung gesehen, die meinem Empfinden so nah kam.
Wir saßen dort im Publikum und hörten, sahen den Schrecken des Menschen in unseren Kopf hineinrollen. Irgendwie dann doch, trotz der klaren Möglichkeit immer gehen können, eingesperrt zwischen den Menschen links und rechts neben uns. Mit jedem Satz näher am ES, die Füße in den Boden drückend und in den Äther sendend: “Bitte nicht- ich will das nicht hören- bitte jetzt … jetzt”
und dann der Schrei, die Drehung, Scheibenwischer im Außen, Scheibenwischer im Innen.

So einen Grenztanz an den Nervenenden gespielt zu sehen und gleichzeitig selbst zu vollführen, das ist neu für uns. Je öfter diese Situation kam, desto weniger schlimm erschien sie. Ich bemerkte irgendwo am Rand, wie sich in uns die kaum durchsichtige Scheibe vor jede weitere Spitze schob.
“Wir dissen”, ranzte jemand zwischen uns.
– “Ja, aber geh mal davon aus, das wir grad zum ersten Mal passend mit dem Außen sind, eben WEIL wir dissen- halt einfach weiter das Wasser fest und trink was, wenns wieder geht.”.

Auf der Bühne tippt der Mensch auf eine Liste. Eine von denen, die wir bis heute mit uns herumtragen, egal wo und wann wir sind. “Ich habe mir alles aufgeschrieben. Mein Name, wo ich wohne…” und fährt zur Mutter. Gibt sie zurück, inmitten all dem vertrauten Leben, das früher wie heute gleich, vorhersehbar unvorhersehbar ist… war… sein wird?

Der Mensch fährt weiter in ein Jenseits vom Tag. Umgeben von Gedanken und Fetzen, die ohne klar umrissenen äußeren Bezug schwirren.
Es ist nicht klar was ist und was nicht, doch es ist nicht relevant. Ein Schritt ist getan.
Der Rest ist Bewegung.
Es geht weiter, obwohl sich der Rahmen aufgelöst hat.

“Wir sind Viele” ~ Teil 6 ~

Immergrün Herbst 2008
“multiple Persönlichkeit… das ist doch dieses Ding mit den Satanisten. Bist du eine von denen?”, er schaute mich groß an.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich mit dem Erklären anfangen sollte.
Also begann ich von meinem Leben zu schreiben. Damals noch in Form eines “Internet- Tagebuches”. Ich hatte zwei Follower und verwandte den Großteil meiner Kraft darauf, überhaupt dort hinein zu schreiben, das Geschriebene stehen zu lassen und nicht weiter darüber nachzudenken, was das, was ich schreibe irgendwo anders als bei meinem damaligen Freund bewirken könnte.
Die Beziehung endete, das Blog nicht.

Als ich Jahre später in einem anderen Kontext als Autorin des Blogs geoutet und dann wegen des multipel seins massiv verletzt und bloßgestellt wurde, löschte ich das alte Blog und nahm mir vor, besser aufzuklären.
Ich war fest davon überzeugt, dass mich keine/r der damals 15 verschiedenen AutorInnen der Hass- und Pöbelmails genau so auch angemacht hätten, hätten sie ein vernünftiges Verständnis von DIS und Gewalt, neben dem, was Filme wie “Höllenleben” und Bücher wie “Vater unser in der Hölle” hinterlassen können, wenn man sich ansonsten gar nicht mit der Thematik befasst.

Ich zog zu WordPress und krempelte die Ärmel hoch.
Wir schrieben 2012.

Wir sind Viele und schreiben in einem System, das ich nach der Lektüre des “Rhizom” im letzten Jahr auch endlich sicher benennen kann: das System der Vielheit.
Hier gilt nicht “Wie kriege ich meine Vielheit in ein System?” sondern: “die Vielheit ist das System”.
Das ist alles andere als einfach zu lesen- aber mein Leben wird eben nicht einfach gelebt und die Gewalt früher wurde auch nicht einfach überlebt. Und – Knüller – meine Lebensrealität ist kein Einzelfall.
Gewalt passiert vielen, Gewalt hat viele Formen, Gewalt hat vielfältige Folgen. Viele werden Viele, viele brauchen viel Hilfe und so vieles muss noch passieren, bis das auch wirklich möglich ist.
So wurde aus dem Wortspiel “ein Blog von Vielen” nicht nur ein Titel, sondern auch ein Leitbild, das so viel mehr bereits im Titel sagt, als es ein einzelner Artikel kann.

Wir schrieben also los und begannen nach und nach Ebenen hinzuzufügen und in den Strang des Blogs einzuflechten, um sowohl für uns herauszufinden, wie viele Innens ein Blog, ein Beschreiben, ein Erzählen über unsere Lebensrealität überhaupt verträgt und wo die meisten Reibungspunkte in der Auseinandersetzung sind. Irgendwann hatte unser Schreiben hier mehr Konsistenz, als ein Tagebuch und die Reichweite nahm zu.
Trotzdem ist der “Blog von Vielen” ein sogenannter Nischenblog.

Die Texte sind nichts, was ohne Mitdenken zu konsumieren ist und wir sind als Person niemand, den man sich einfach nehmen kann (um ihn in irgendeine Schublade zu stecken).
Nun ist es aber so, dass wir genau das doch eigentlich wollen: Verstanden werden und die eigenen Themen in die Welt hinaus tragen, um Diskussionen anzuregen, die am Ende vielleicht Blüten und Früchte in Veränderungen zu einem Umgang mit Gewalt treiben, die eine Überlebensgeschichte wie unsere, verhindert.

Als wir lasen, dass es bei der Tagung einen Workshop mit dem Titel “sadistische Gewalt in der Berichterstattung” geben würde, waren wir natürlich Feuer und Flamme
– und erst einmal enttäuscht, als sich herausstellte, dass es sich um einen Vortrag über Berichterstattung im Fernsehen und – badabumms – Satanismus* im Thema handelte.

Fernsehen funktioniert anders als das Bloggen.
Bloggen funktioniert ja auch anders, als Bücher schreiben und Bücher zu schreiben, ist auch wieder etwas anderes als Printmedien zu füllen. Bisher ist das Blog das einzige Medium, das ich kenne, in dem meine Vielheit nicht stört, sondern eher als Bereicherung wahrgenommen wird.
Aber, es hat schon seinen Grund, weshalb mir die LiteraturagentInnen alle durch die Bank zu einer Autobiographie raten werden, Filme über meine Lebensrealität alle etwa gleich aussehen würden und auch Zeitschriftenartikel mit dem Thema DIS alle fast gleich (unrund) wirken – es geht um Einfachheit.
Einfach gemacht = einfach verkauft = einfaches Bild in den Köpfen der Menschen = nicht einfache Themen und mit ihnen die Menschen, die Viele sind bleiben unsichtbar = Einfalt als Norm

Ich empfand den Workshop dann aber doch als interessant und auch hilfreich für mein Verständnis der Medien ™ zu denen ich mein Blog nicht zähle.
Die Referentin Claudia Fischer schilderte, wie es ihr gelang ein krasses Thema, wie das der rituellen Gewalt in die WDR Lokalzeit zu bringen.
Wir schauen schon seit inzwischen fast 10 Jahren kein Fernsehen mehr und wussten nicht, dass die Überlebende “Nickis” vom WDR nach der Ausstrahlung von “Höllenleben” begleitet wurde und immer wieder eine Berichterstattung passierte. Um so beeindruckender finde ich es, dass dieses Thema inmitten von Entenfamilie im Glück und Kuchenwettessen im Altersheim platziert wurde.

Es fasziniert mich, dass die Probleme in der Berichterstattung selbst; die Fragen um Jugendschutz; die Frage nach der Verantwortung für das, was man dort produziert; die Schwierigkeiten mit Ohnmacht an verschiedenen Stellen und auch die Problematik um die Rezeption des Publikums, ziemlich genau die Gleichen, wie bei mir sind- obwohl das Medium unterschiedlich ist.

Im Zuhören, dachte ich ein paar Mal, dass ich verdammt froh darum bin, alles hier in Eigenregie zu machen. Auch wenn es mich frustriert, dass ich für meine Arbeit nicht bezahlt werde, nicht von denen wahrgenommen werde, von denen ich mir das wünschen würde und so manches Mal hinter den Blogkulissen sitze und überfordert bin, weil einfach wirklich alles allein an mir/ uns hängt und auch getragen werden will.
Von ekelhaften Hassmails bis verzweifelten Hilferufen aus dem Ausland, ist schon alles in meinem Mailpostfach angekommen und ich habe weder immer den realen Beistand, der meine Tränen trocknet, noch die professionelle Ausbildung, die mich in meiner Reaktion auf die Not fremder Menschen versichert.
Aber ich muss meine Arbeit nicht von anderen absegnen lassen. Ob ich mitten in der Nacht veröffentliche oder mitten am Tag; egal, wo der Schwerpunkt des Textes liegt; ob eine direkte, indirekte oder nur schwach beleuchtete Intension erkennbar ist- oder überhaupt von mir assoziiert ist, oder nicht; ob ich Kommentare freischalte, lösche, bearbeite oder auch LeserInnenmails beantworte oder nicht: ich brauche das nur vor dem Gesetz, das für alle gleich gilt, zu rechtfertigen.
Meine LeserInnenschaft wird mir schon zurückmelden, ob sie etwas (ver)stört oder nicht und sei es mit einem dezenten Abwandern in Blogs anderer BloggerInnen.

Als ich mich in die Kantine setzte um zu Abend zu essen, tastete ich das Namensschild an meiner Brust erneut ab.
Hannah Rosenblatt

… freie …

Autorin

“Schmeckt schon süß, wa?”.
Wir grinsten uns an und bissen in unser Butterbrot.

“Wir sind Viele” ~ Teil 5 ~

Blumenbeet Sie sprang von einem Bein aufs andere, während ich die Flyer der Initiative Phönix verteilte: “Schreibst du auch auf, dass die Menschen so bedürftig sind? Schreibst du das auch auf, ja?”.
Bis mir klar wurde, welche Menschen sie meinte und was für sie so wichtig daran sein könnte, dass ich auch darüber schreibe, dauerte es nur noch einen Workshop und ich konnte auch das fedrige Gefühl unter meiner Haut endlich einsortieren.

Die Rechtsanwältin Barbara Wüsten bot einen Workshop zum Opferentschädigungsgesetz (kurz: OEG) an.
Es ist schwierig über ein Gesetz einen Workshop zu machen, zumal die Hauptprobleme in Sachen Opferentschädigung gar nicht an dem Gesetz selbst liegen, sondern mitten im System der Versorgungsämter und der kranken Kassen.
Es wurde mit jeder Wortmeldung der TeilnehmerInnen klarer, wie oft und an welchen Stellen immer wieder die Behördenwillkür, Falschinterpretationen und auch etwas, dass gut als Ausläufer der “
rape culture” in der wir leben zu bezeichnen ist: “Wenn das Opfer was will, dann soll es sich halt drum bemühen”, wirken.

“Jemand muss die doch mal trösten, oder?”, die kleine Neugierige hopste immer noch um mich herum und ließ ihre Satellitenschüsselohren im Raum herumkreiseln, als wir uns aus der Kaffeeschlange herauslösten und direkt an den Tisch mit den Kannen gingen. “Ich find, es ist nicht gut, wenn die HelferInnen so traurig sind und so… weißt, als wenns die gaaaar nix machen können.”. Ich nickte und lief nach draußen in den Sonnenschein, stolz auf mich nur minimal gekleckert zu haben und froh über die frische Luft.

“Glaubste eigentlich, die haben hier ne grobe Peilung, dass die genauso von der Gewalt ihrer KlientInnen betroffen sind, wie die KlientInnen selber? Ich mein jetzt so wegen der strukturellen Gewalt und so…”, er streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen, “Ich glaub, über kurz oder lang kann man davon irgendwie auch ne Art PTBS kriegen. Zumindest haste dann halt irgendwann so richtig geil ne Vermeidungsperformance drauf und nennst das “Abgrenzung” und dann haste da so Perlen wie Frau Doktor, die das nicht trennen- also so “Ohnmacht vor Strukturen” und “Ohnmacht vor Leiden der KlientInnen” und badabäng! wieder jemand weniger, der eigentlich voll helfen kann.”.

Sie seufzte und beobachtete die kleinen Käfer, die vor unseren Füßen über den Kies kletterten.
Sie ist uns passiert, als wir struktureller Gewalt unterliegen mussten und was das für uns in Sachen OEG bedeutet, fiel mir in dem Moment auf.

Ihr Sein ist angepasst daran ein “Nicht viel mehr als eine Nummer” zu sein. Ein Sein, dessen Grundbedürfnisse von positiven Anträgen legitimiert werden- nicht von gütigen Menschen oder eigener Hände Wirken. Sie hat noch nie auch nur irgendeinen Widerspruch an kranke Kassen oder Jobcenter verfasst, wenn ihr (uns) Leistungen gestrichen, gekürzt, zu knapp zugeteilt oder gar von Vornherein verwehrt wurden. In all der Ohnmacht und dem Raub der Menschenwürde, war am Wichtigsten vor sich selbst ein Sein, ein Jemandsein mit Namen zu bewahren- nicht dies zu erkämpfen oder zu bestätigen oder vom Außen als zu wahren einzufordern.
Unsere Idee war, einen Antrag auf OEG zu stellen und sie das machen zu lassen. Ihr ist die Gewalt früher nicht passiert und sie empfindet das auch nicht so.  Sie wird uns nicht abschmieren, weil sie von Erinnerungen überschwemmt wird oder Ähnliches.
Aber sie wird auch nicht um unser Recht auf eine Entschädigung vom Staat kämpfen können, geschweige denn unsere Anwältin antreiben, das zu tun.

Wir werden aber genau das tun müssen. Kämpfen. Für uns eintreten. Einen Wert, den wir sogar vor uns selbst nicht durch unsere schlichte Existenz definieren, verteidigen und darauf aufbauend Forderungen stellen. WIR werden das tun müssen.
Diese Sache mit dem OEG…

“Wisst ihr, was uns fehlt?”, ich schaute meine MitautorInnen an, “internalisiertes Empörungstum und diese komische Blindheit für rape culture.”.
– “Und etwa 20-30-40 Jahre Lebenserfahrung, mein Herz. Viele Menschen hier sind in ganz anderen Zeiten und Verhältnissen aufgewachsen, als du und ich und wir alle.”
– “Und hier Dings, nä- die kenn das bestimmt auch so mit hier “kriegen, was man will und schaffen, wenn man sich anstrengt” und so weil Dings nä- die sind nicht arm und so. Also jedenfalls nich wie wir. Wenn wir EMPÖRUNG brüllen kommt weniger, als bei so Leuten rum.”.

Dumpfe, brütende Stille.
“Und nu?”.
Ich spürte, wie sie ihre kleinen eisigen Hände auf meine Wangen legte und ihre Forderung in mein Denken hineinschüttete: “Schreibs auf!”
Mir fallen zig “Ja, abers” ein. Ich will einen verkaufbaren Artikel machen. Ich will die Artikel an das Herz hinter der Tagung, Brigitte Bosse schicken. Ich will Artikel schreiben, die einfacher lesbar sind. Ich will … ja und aber… die haben doch schon eine Stimme!
“Die” sollen doch “den” Betroffenen helfen. Ich will das nicht unterstützen, dieses Verantwortungsgeschiebe auf die Opfer, die “sich einfach nicht genug bemühen”; die “sich nicht fallen lassen dürfen, weil wo kämen wir denn da hin?”; die Opfer die Opfer die Opfer die OPFER die ja aber nicht “Opfer” sind, wenn die Gewalt vorbei ist, aber die wir der Einfachheit Opfer nennen, damit jede/r das Gekreisel überhaupt versteht- die Opfer, denen man doch HELFEN muss- die man doch retten muss, weil OPFER!; die Opfer, die sich nicht wehren konnten, als sie ein Kind waren- die sich aber heute wehren MÜSSEN, weil WEHR DICH DOCH (aber bitte nicht gegen meine Perpetuierung von Gewaltmythen- das geht nicht- da muss ich mich abgrenzen, sonst muss ich ja die ganze Zeit weinen, weil OHNMACHT)

Das will ich nicht. Ich finde es zum Kotzen, wie viele HelferInnen sich als RetterInnen präsentieren und auch selbst so definieren- ohne von irgendjemandem mal zu hören, dass genau das auch eine Unterdrückung ist. Ein Kleinhalten und Absprechen von Fähigkeiten und Ressourcen, von Kraft und Lebenswillen.
Ich finde es zum Kotzen, wie viele HelferInnen Gewaltmythen unhinterfragt lassen und Normierungszwänge ausüben, auf ihrer Mission der Opfererrettung und “Traumaheilung”.
Ich finde es schlimm, dass die Tagung und das Klima in ihr so sehr in den 90 er Jahren hing und nicht im Jahre 2014, wo man nicht mehr “multiple Persönlichkeit” sagt und diese verklärende Beschreibung der DIS mit “da war Gewalt und die anderen Innenpersonen, sind dann gekommen” inzwischen sogar wissenschaftlich und mit, ich sag mal, “naturgegebenen” psychophysiologischen Strukturen besser erklärt werden können. Ich finde das richtig schlimm, denn mit einem kurzen Blick in die späten 80 er Jahre von Amerika und dem, was genau diese “Ver”- Erklärung dort gemacht hat, nämlich eine Welle der “moral panic” (“empört euch- da gibts Satanisten und die sind überall und wollen unsere Gesellschaft aufessen!”), kann ich nur hoffen, dass es hier bitte konstruktiver zugehen kann.

Wo hakt es? Ist es das Tagungsprogramm gewesen? Die RednerInnen?
Wir hätten die Tagung nicht besucht, wenn dem so gewesen wäre oder wir den Eindruck gehabt hätten, dass es zwangsläufig so abdriftet.

„Es ist vielleicht die Not, mein Herz. Die Not vor der Gewalt zu stehen und keine Erfahrungen zu haben, wie zu reagieren sein kann. Es hat nicht die gleiche Norm, wie für uns. Da ist Angst, da ist Unsicherheit, da ist Trauer um eine Welt und… ich glaube, zumindest spüre ich das bei ein paar Menschen hier, eigene Erfahrungen, die weggedrückt gehalten werden müssen.”. Während der Schwan sich wieder zurückzog, um sich dem schrillen Schreien auf seinem Rücken zu widmen, dachte ich darüber nach, wie ich das nun in einen Artikel hinein bekomme.

Wie macht man anderen Menschen klar, dass sie ihre Normalität um Grauenhaftes erweitern müssen, zeitgleich aber nicht darauf allein hocken bleiben dürfen, weil die Konstruktivität ihrer Arbeit darunter leiden könnte? Wie kann ich über diese Dinge schreiben, ohne Gefühle und Selbstbilder zu verletzen?
Wie kann eine Annäherung an Gewalt als schreckliche Alltäglichkeit aussehen, ohne sie in pseudoliberale Formulierungen entgleiten zu lassen?
Wie kann es aussehen, wenn ich Menschen erklären möchte, dass es nicht die Gewalt selbst ist unter der ich leide; dass es nicht das multipel/ Viele sein ist, unter dem ich leide, sondern die Tatsache, dass Gewalt die Grundlage meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung ist, die heute dysfunktional erscheint- sowohl vor dem Anspruch einer Gesellschaft in der nur eine Dimension- eine Perspektive allein geduldet wird, als auch vor einem Leben, das keine Ausbeutung und Gewalt mehr in der Form wie früher beinhaltet?

Ich verspeiste ein Stück Streuselkuchen und hoffte im Workshop mit Claudia Fischer “sadistische Gewalt in der Berichterstattung” die eine oder andere Antwort darauf zu erhalten.

“Wir sind Viele” ~ Teil 4 ~

 ent-wicklung Karl Heinz Brisch war akut verhindert, so dass sein Vortrag “Täter oder bindungsgestörte Kinder?” leider entfiel.
Für ihn trat Michaela Huber auf das Podium mit ihrem Beitrag “Viele im Netz der Pädokriminalität”.

Ich nehme die Vorträge von Michaela Huber immer sehr klar und rund wahr. Es ist gut zu unterscheiden, wann sie Perlen und Edelsteine aus ihrem 30 jährigen Erfahrungsschatz in der Behandlung und Auseinandersetzung mit dem Themenbereich der Folgen schwerer Traumatisierungen beschreibt und wann sie diese mit Sachinformationen, auch anderer ForscherInnen und BehandlerInnen zusammenfügt, um ein wenig starres Bild entstehen zu lassen.

Sie setzt nicht auf dramatische Schilderungen, um große Gefühle zu erzeugen, sondern benennt, was andere nicht zu benennen wagen.
Für mich persönlich, bildet genau dies den wertvollen Kern auch dieses Vortrages, der wie viele ihrer Vorträge auf ihrer Homepage zu finden sein wird.

 

Nach einer Kaffeepause referierte Prof. Dr. Plassmann, Leiter der Kitzbergklinik, Bad Mergentheim, über die “stationäre Therapie bei Komplextrauma”.
Es wurde ein Vortrag dem zu folgen war, dem aber meiner Meinung nach, einige Stichworte und Schemata auf Folie wirklich gut getan hätten.

Er benannte eine Form der Dissoziation, die seiner Auffassung nach, noch nicht genug aufgegriffen wird und zwar die Dissoziation, die mit kompensatorischen Verhaltensweisen wie zum Beispiel Süchten hervorgerufen und aufrecht erhalten wird.
Ein spannender Ansatz, den ich persönlich gerne weiter verfolgt hätte, der aber in seinem losen Faden irgendwo mitten im Vortrag endete und nicht mehr aufgegriffen wurde. Er beschrieb das Konzept “seiner” Klinik zur Behandlung dissoziativer Störungen und Traumafolgestörungen allgemein.
Ernüchterung bei mir: 4 Phasen- Modell und Protokolle zur Symptomassoziation.

Das 4 Phasen- Modell klingt für mich im Grundsatz hilfreich und als logische Konsequenz aus dem, was posttraumatische Belastungsstörungen mit sich bringen. So wird in Phase 1 stabilisiert; in Phase 2 Ressourcen in den Überlebenden (wieder)entdeckt und als Hilfe zur Selbsthilfe etabliert; während in Phase 3 die Traumaexposition ansteht und in Phase 4 die Reorientierung in den Alltag und innere Neukonstruktion Thema wird.
Schöne, wirklich wunderschöne Theorie – die Praxis raucht vor der Eingangstür und lacht, dass ihr Bauch wackelt.
Letztes Jahr erst, sprach die Psychologin Sabine Drebes in einem Vortrag zur stationären Behandlung bei komplexen Traumatisierungen (dort die Klinik für Psychotherapie und psychosomatischer Medizin des evangelischen Johanneskrankenhaus Bielefeld) an, dass durch die begrenzten Finanzierungen der Kassen derzeit nur etwa 30% der PatientInnen überhaupt die Phase 3 durchlaufen. Sie werden entlassen und zu einem späteren Zeitpunkt (aktuell allgemein Wartezeit zwischen zwei Aufnahmen 1 bis 1,5 Jahre!) zur eben jener Behandlung nach Phase 3 wieder aufgenommen – wo sie sich in welchem Zustand befinden? Richtig- mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem, der eher eine Behandlung nach Phase 1 oder 2, als Phase 3 oder 4 nötig macht.
Ich bin nach meinen Aufenthalten in der Bielefelder Klinik immer halbwegs stabil und wach für meine eigenen Ressourcen entlassen worden- doch in der Zeit zwischen Behandlungen erforderte das nachwievor bestehende Trauma in all seiner Toxizität neue oder neuaufgelegte Anpassungsmechanismen, die sich zu immer komplexeren (chronifizierten) Süchten und anderen destruktiven Verhaltensweisen entwickelten. Wenn die Wartezeit um war, mussten immer wieder erst ein mal diese Symptome wieder runterreguliert werden- bis zur nächsten Entlassung. Und ich bin eine von Vielen und immer mehr werdenden- doch dazu später mehr.

Punkt zwei: Symptomprotokolle
Ich dachte, dass inzwischen allgemein bekannt sei, dass DBT mehr Dressurinstrument als Integrationshilfe von Verhalten als Symptom sei.
Hab ich wohl falsch gedacht.
Wenn ich Herrn Plassmann richtig verstanden habe, werden die Protokolle geführt, mit der/ dem behandelnden Psychotherapeuten durchgesprochen und dann Strategien erarbeitet, diesen anbei zu kommen. Was sich bei lauten Verhaltensweisen (für mich “offenem Dissoziieren”) wie selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen, Süchten oder riskantem (Bindungs) Verhalten noch gut funktionieren kann (und sicherlich wird), stelle ich mir für leises Verhalten (“verborgenem Dissoziieren” bzw. bei Menschen mit “systemimmanenter Überlebensstrategie”) mindestens schwierig- allein von den PatientInnen durchgeführt- unmöglich vor.

Würde ich jedes Mal merken, wann ich dissoziiere, dann hätte ich keine dissoziative Störung im Sinne einer DIS.
Ich behandle natürlich keine Menschen mit dissoziativen Störungen und kann nicht auf 30 Jahre Erfahrungen zurückblicken, denn ich bin nicht einmal so alt. Aber ich bin schon kaputt gegangen an solchen Protokollen als einziges Mittel die Dissoziation meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung für mich begreifbar zu machen. Einfach, weil ich ihnen nie entsprechen konnte. Meine Symptome haben verhindert, dass ich meine Symptome hübsch in eine Liste schreiben konnte. Ich (und andere Viele, die ich inzwischen kennenlernen durfte) brauch(t)en intensive Begleitung und viele Rückmeldung von außen, um dissoziative Symptome überhaupt erst einmal dokumentieren zu können.

Mit der Einführung von Fallpauschalen in Krankenhäusern, kam es zum verschärften ökomischen Wandel in unserem Gesundheitssystem und mit ihm wurden auch die Betreuungschlüssel in Kliniken verändert. Konzeptionelle Anpassungen daran heißen vollmundig “Wir fördern die Eigenverantwortung unserer PatientInnen”.
Praktisch heißt das, dass 10- 15 PatientInnen, zum Beispiel in der Psychiatrie, von 2 KrankenpflegerInnen betreut werden. Prima Voraussetzungen um Patienten sorgfältig zu beobachten, (dissoziierte Brüche wahrzunehmen und rückzumelden)- selbstverständlich zum Hungerlohn und neben dem bürokratischen Aufwand und anderen Verpflichtungen.

Diese strukturellen Bedingungen, die in psychosomatischen Kliniken nicht viel anders sind bzw. heute sein werden, wurden in dem Vortrag von Prof. Dr. Plassmann, kurz streifend erwähnt, um sich dann thematisch nicht näher beschriebenen Hilfen zur Symptombewältigung zu widmen. Immer wieder mit den Begrifflichkeiten “normal” und “krank” (wer hier öfter liest, wird sich vorstellen können, wo in dem Raum Frau Rosenblatt Teil der Deckendekoration war…)

Am Ende gab es die Möglichkeit Fragen zu stellen und einzelne Punkte weiter auszuführen.
Ich meldete mich und fragte, wie auf das traumareaktive Muster der Vermeidung in der Klinik bzw. dem Konzept reagiert wird. Wenn in den Protokollen also eigentlich etwas stehen müsste, aber nicht steht, zum Beispiel, weil der/ die PatientIn die Angst vor der Angst mit Dissoziation vermeidet.
Eine fundamentale Frage, wie ich finde- haben wir doch gerade in dem Vortrag vorher gehört, dass sogenannte ANP’s (Alltagsnahe, (rein) funktionale Persönlichkeitsanteile/Innens/Innenpersonen/ etc. ) genau dieses Muster in sich tragen, um die Vermeidung der Annäherung an EP’s (Emotionen und Traumamaterial tragende Anteile/etc.) aufrecht zu erhalten (also strukturell zu dissoziieren, was man dann DIS nennt, was wiederum eine Folge von komplexer Traumatisierung ist, die dort in der Klinik behandelt wird).
Ich empfand die Antwort als ignorant und kann das auch jetzt, 4 Tage später, nicht anders nennen.
“Wir können nur mit dem arbeiten, was da ist”.
Meine Entgegnung jetzt: Ja, kann man- muss man aber nicht! Zumindest nicht, wenn man sich vielleicht mal fragen möchte, wem man eigentlich hilft und wem nicht. Wenn man sich mal kurz de Frage stellt, welche Menschen man allein lässt. Wieder. Nach all dem, was sie bereits allein durchstehen mussten.

So komme ich zu meinem eigenen “Vortrag”.

Ich persönlich, habe überhaupt gar keine Zweifel daran, dass solche Klinikonzeptionen Menschen helfen können und von Menschen auch als hilfreich wahrgenommen werden, selbst wenn keine Traumaexposition im stationären Rahmen passieren kann. Ich bin davon überzeugt, dass diese Konzepte keine Luftschlösser sind und sicherlich auch ausführlich evaluiert wurden – allerdings nur mit PatientInnen, die da waren.

Die PatientInnen, die sich von vornherein gegen dieses Konzept entscheiden, nach Vorgesprächen gegen eine Aufnahme entscheiden und auch die PatientInnen, die an den Bedingungen zur Aufnahme scheitern (ihr erinnert euch an diesen Artikel? Das ist Bad Mergentheim gewesen), stehen für solche Erhebungen nicht zur Verfügung und ganz offensichtlich besteht auch kein Interesse daran, sich diesen zu widmen, zu befragen und Klinikkonzepte für komplex traumatisierte Menschen zu entwickeln, die auch mit (oder trotz?) kranker Kassenbegrenzung von einem stationären Rahmen der Psychotherapie bzw. psychosomatischer Medizin profitieren könnten.

Ich habe den Verdacht – oder vielleicht sollte ich von einer These, einer Idee sprechen, dass hier an diesem Vortrag sichtbar wurde, wie versucht wird, als unnormal definierter Dissoziation mit als normal definierter Assoziation zu begegnen.
Aufgegriffen wird, was der/ die PatientIn assoziiert und äußert – nicht was er/sie dissoziiert und ergo nicht konkret äußern/ benennen kann. Hilfreich ist, was da gewesene PatientInnen belegen- nicht das, was nicht dort behandelte PatientInnen als fehlend bezeichnen würden.

Wir haben ein Existenzproblem in unserer Gesellschaft. Ein Problem damit Minderheiten als sichtbar und existent und genauso wichtig, wertvoll, gewichtig wahrzunehmen und anzuerkennen, wie Mehrheiten. Es reicht nicht zu sagen: “Wir können nicht allen helfen.” um sich dann zu seinem Schreibtisch zu drehen und sich den Problemen, die seit Jahren als die Gleichen bestehen zu widmen. Ja, das wichtig. Ja, da muss auch etwas passieren und ja, es prima, dass es Menschen gibt, die das mit viel Kraftaufwand, Zeit und Herzblut tun. Vielen Menschen wurden so schon Leben gerettet, ermöglicht und/ oder verbessert.

Der Anspruch muss aber sein, dass tatsächlich alle Menschen die gleiche Chance auf Hilfe haben. Auch wenn es sich um eine – ausschließlich im Vergleich! – kleine Gruppe von Menschen handelt. An der Stelle beginnt moralische Verantwortung, der alle Menschen, meiner Meinung nach, nachzukommen haben, wenn das Ziel ein lebenswürdiges, lebenswertes Leben für alle Menschen gleich ist.

Es kann und darf nicht sein, dass wer nicht sichtbar ist, als inexistent gilt und zu bleiben verdonnert ist, weil es sich so leicht gemacht und nur Sichtbares aufgegriffen wird.
Es kann nicht sein, dass von hochdissoziativen Menschen gefordert wird, hochassoziativ zu agieren, wenn sie dieses als massiv lebensbedrohlich wahrnehmen (müssen- denn sonst hätten sie diese Struktur nicht entwickelt). Es kann nicht sein, dass Todesangst zum immanenten Teil des Heilungsbemühens in der Psychotherapie für auch nur einen einzigen Menschen gehört.

Ich will das vorgestellte Konzept wirklich nicht schlechtreden. Wirklich nicht.
Es wird Menschen helfen und so hatte es seine Berechtigung dort auf der Tagung gehört zu werden. Es wird aber den vielen die Viele sind und massive (von DBT- Elementen und Stabilisierungs-Intervalltherapiekreiseln in psychosomatischen Kliniken massiv verstärkten) Vermeidungsmustern der Persönlichkeitsstruktur nicht helfen. Und das nicht mindestens traurig zu nennen und zu Veränderungen in der konzeptionellen Gestaltung und auch der Kassenfinanzierungsgegebenheiten aufzurufen, ist ein Versäumnis, das ich in gar keinem Fall so stehen lassen will.

Vielleicht kann der Herr Prof. Dr. Plassmann in seiner Klinik nicht allen helfen.
Andere aber könnten das wollen.
Und genau diese Menschen sollten, meiner Meinung nach, gestärkt aus solchen Vorträgen heraus gehen.

Ich bin nur ernüchtert und wütend aus der Aula gegangen.

“Wir sind Viele” ~ Teil 3 ~

Es war halb 6, als das Handy über den Boden unseres Zimmers rappelte, um uns zu wecken.
Sie öffnete die Augen und sah sich um. Atmete ein und studierte unsere Liste für den Tag.
“Ich will das. Ich kann das. Ich mach das.”, dachte sie, während wir einen Punkt nach dem anderen durch sie hindurch abhakten.

“So Herzi- weinen und diverse andere Aktivitäten, bei denen vermehrter Tränenfluss üblich ist, sind ab jetzt mit dem Risiko verbunden ein Waschbärengesicht zu bekommen.”, tönte es von innen, als ihr eine Frontgängerin klebrige Schwärze auf die Wimpern legte. Sie betrachtete das Innen durch diese so vertraute innere Wand aus Glas im Spiegel. “Und wo bin ich?”, strich wie ein Hauch durch sie. Wie immer, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Blitzlicht:
Wer bin ich und welche Rolle wartet auf mich? Wie muss ich sein, um anwesend… existent sein zu dürfen? Wer darf ich, muss ich, soll ich für das Gegenüber sein?
Für uns sind das zentrale Fragen. Bis heute hängt an der Antwort auf jede einzelne ab, wer von uns da ist und wie wir sortiert sind.
Natürlich haben wir uns vor der Tagung überlegt, wo es Schutz braucht; von wo die Signale zu erwarten sind, wenn Grenzen berührt werden und natürlich gibt es grobe Muster, auf die aufbauend wir planen und uns in Reihe schalten können, doch das Außen kann man schwer bis gar nicht beeinflussen. Noch immer gibt die Umgebung bzw. unsere Fähigkeit den von ihr ausgelösten Stress zu verarbeiten, maßgeblich vor, wer von uns “da” ist und die Möglichkeiten im Außen, diesen Stress adäquat zu regulieren, wer wieder “geht”.
Als wir begannen für die Tagung zu sparen, kämpften wir bereits mit diesen Fragen.
“Du bist eine Betroffene- komm was willst du da? Da werden PsychologInnen, PsychiaterInnen, PsychotherapeutInnen und sonstige Menschen sitzen, die einen Beruf, ein Sein vorweisen können und wir? Wir sind wir und waren nie mehr. Was willst du in die Anmeldung schreiben, hm? “Guten Tag, mein Name ist Hannah Rosenblatt- Berufsmulti seit 2007 in eigener Praxis für Lebenserforschung, diagnoseerfahren seit 2002, oder was?”.

Dann veröffentlichten wir den Artikel “Warum sich die Sprachführung über sexualisierte Gewalt verändern muss”. Inzwischen wurde dieser Artikel 181 Mal auf Facebook geteilt, bei der Mädchenmannschaft erneut veröffentlicht und mit einem Namen in Verbindung gebracht: Hannah C. Rosenblatt
”Okay, das ist schräg- aber hey- ich bin ein random Internetjemand- komm, das muss reichen- anmelden und zack jetzt hier- Bäng!”, brubbelte es vor sich hin, als wir die Anmeldungsmaske zur Tagung ausfüllten.

Was uns dann in die Hand gegeben wurde, als wir uns am Freitagmorgen anmeldeten, war dann aber doch unerwartet mächtig:
Namensschild

Sie schwebte wie ein Irrlicht in sich selbst herum, als wir zur Begrüßungsrede in die Aula eintraten. Obwohl es nicht ihre Brust war, an der das Namensschild baumelte.

 

~Fortsetzung folgt~

 

 

Vorschau: Wir werden in den folgenden Artikeln Vorträge und Workshops kommentieren bzw. die Dinge formulieren, die wir gerne formuliert hätten.

“Wir sind Viele” ~ Teil 2 ~

Die Reise begann und noch während sie sich in ihrem Platz einrichtete, beugten wir uns über die Architektur der folgenden Tage.

Im letzten Jahr haben wir viele Reisen unternommen und trotz vieler kleiner Inseln, in denen wir Kraft tanken konnten, gemögte Menschen besuchten und unsere Sinne wie Saugnäpfe an die Umgebungen hefteten, gab es immer die klare Linie: Hingehen, machen, wieder weggehen.
Wir riskieren keine Lücken, wenn wir wissen, dass wir zu arbeiten haben oder Arbeitsrelevantes tun. Freizeit ist die Fahrtzeit. Das Stück zwischen: “Ist es wirklich der richtige Zug, aus der richtigen Stadt, in der richtigen Zeit?” und “Komme ich zur richtigen Zeit, in der richtigen Stadt an?”.

Donnerstag, heute, würden wir unsere erste Lücke leben. Einen Nachmittag nur für uns allein. Ohne hundische Assistenz, dafür ohne Druck von außen.

Sie saß dort und dachte ihre Gedanken, die keine sind.
Wir schauten aus dem Fenster und lenkten uns von der Angst vor Menschen ab.
Ich liebe die Zugstrecke zwischen Koblenz und Mainz.
Wie sich der Fluss in den Schoß der Weinberge schmiegt und die Schiffe auf sich trägt.
Wie kurz vor kitschig, die kleinen Häuser am Ufer stehen, wenn die Sonne auf sie scheint. Und immer wieder die Frage, ob es schlossartige Gutshäuser oder guthausartige Schlösser sind, die dort, wie von einem riesenhaften Kind auf die Berge geklebt, erscheinen.

Mainzzug
Ich nahm so viel dieser ruhigen Idylle in mir auf, wie ich tragen konnte und steckte sie in kleine Säckchen, als emotionale Wegzehrung bis wir am Samstag Abend wieder hier entlang fahren würden.

In Mainz angekommen, wartete die erste Anforderung an unsere, sich vorsichtshalber unterm Tisch versteckende, Alltagskompetenz: “Finde den richtigen Bus, der dich zur richtigen Jugendherberge bringt und kaufe dafür das richtige Ticket.”
Vielleicht ist jetzt ein guter Moment einmal zu beschreiben, was genau NakNak* in solchen Momenten für uns tut, wenn sie bei uns ist.
Gleich zuerst einmal drückt sie sich ins Geschirr hinein und spannt die Leine. So spüren wir sie und uns gleichzeitig und das Wissen einen Körper zu haben, wird eine feste Konstante. Wer einen menschlichen Körper hat, der hat meistens zwei Beine mit Füßen dran, die auf einem festen Boden in einem Hier und Jetzt stehen.
An Orten wie Bahnhöfen oder offenen Plätzen, läuft sie in kleinen Ausschlägen vor uns her oder wenn wir gerade stehen, steht oder sitzt sie neben uns und achtet darauf, dass Menschen einen Abstand zu uns halten. Sie hilft uns also, unsere Individualdistanz zu wahren bzw. gewahrt zu wissen.
Hunde sind beliebte Haustiere und viele Menschen wissen nicht, dass es so etwas wie Assistenzhunde auch für Menschen, die gut sehen können gibt. “Ach ist der aber süß”, war schon sehr oft ein hilfreicher Gesprächsstart für uns. Sowohl um Hilfen zu erbitten, als auch um nicht zu vergessen, dass NakNak* manchmal auch auf unseren Schutz angewiesen ist. Meistens jedoch ist NakNak* aber die beste erste Hilfe, wenn wir menschliche Unterstützung brauchen und zu gefangen in Gefühlen sind, um sofort darum zu bitten.
Zum Beispiel wenn jemand von uns überfordert und verwirrt an einem Fahrkartenautomaten steht. 

In Mainz sind die Menschen aber irgendwie “auf”. Zumindest, der Mensch, der die Verwirrung in unserem Gesicht sah und uns bei der Auswahl half, ohne, dass wir darum bitten mussten und der Mensch, der uns die Buslinienkarte erklärte, als sich die Stirn erneut unter Fragezeichen kräuselte.
Dort wo wir wohnen, schauen die Menschen oft erst einmal eine Weile zu und überlegen, ob sie ihre Unterstützung anbieten sollen oder nicht. Deshalb ist NakNak* dort oft so ein Gewinn für uns.

So landeten wir also in der Jugendherberge. Die Sonne schien und jede Pflanze wisperte uns den Frühling ins Ohr.
Von Gepäck befreit, gingen wir im Volkspark und im Rosengarten spazieren.

StiefmütterchenMainz

 

BlütenHimmelMainz

Von Weitem sahen wir dort schon den Rhein.
Keine Frage- egal, was es noch alles Schönes in dieser Stadt geben könnte- das Wasser… oh bitte bitte endlich ein bisschen mehr fließendes Gewässer als Bäche und modrige Mückentümpel… endlich…

Wir kommen aus dem Norden.
Dort, wo das “da” ein winziger Punkt auf der haarfeinen Linie des Horizonts ist; wo der Blick frei ist, ohne an Bergen und Wäldern abzuprallen, wie eine Stubenfliege an der Scheibe, waren wir seit Jahren nicht. Oft ist es kein Thema, wie groß das Meerweh ist. Heimweh folgt dem nur allzu oft auf dem Fuße und mit ihm die Gedanken an die Zeit, in der wir weggingen und so viel mehr als Gewalt und Todesnähe verließen.

Wir liefen auf das Ufer zu und durchquerten dabei die hübsche Altstadt von Mainz, in der wir einem Saxophonisten, einem Klarinettisten und einer Cellistin, die von einer Querflötenspielerin begleitet wurde, lauschten und mit etwas Kleingeld beglückten.
Nebenher ein Schnappschuss vom Dom

domdings 

Und dann endlich standen wir am Rhein.
Typischer Wasserwind, Möwen, Enten, Schwäne, Kähne, Kutter und Schiffe. Dazu eine Aussicht, die so nah an das, was wir nicht mehr Heimat zu nennen wagen, kam, dass es über meine Kraft ging, die Tränen aufzuhalten.
Es ist so ein großes Opfer gewesen wegzugehen und wir hatten nie den Raum, die Zeit und vielleicht auch nie das echte “Okay” dafür, genau diesen Schritt zu betrauern und zu integrieren. Zu groß war die Last als Jugendliche hinter einer Entscheidung zu stehen, die blind getroffen wurde und in aller Konsequenz zu leben war. Und später war es der (oft unausgesprochene) Anspruch, doch froh zu sein, von DORT und von DEM weg zu sein.
Als hätte das Meer und seine Weite uns misshandelt, nicht Menschen, die dort leben.
Geblieben sind kleine Herzen, die in Trauer sind und ihre Tränen, wie Steine zum Gedenken ans Ufer eines Flusses fallen ließen. Ich wiegte sie auf meinem Rücken und fütterte sie aus meinem Säckchen voll Idylle.

Andere machten Fotos. (einige werden wir in unserem Fotoblog “einfach mal angucken” veröffentlichen)
rheinufer

 

RheinMain

Am Abend wollten wir uns mit einer Bekannten treffen. Ein bisschen Reden, zu Abend essen, die Stadt näher betrachten.
Da wir leider zu spät für einen Besuch des Gutenbergmuseums dran waren, setzten wir uns auf von der Abendsonne beschienene Bänke davor und ließen die Umgebung auf uns wirken. Neben uns saßen zwei Künstler und zeichneten den Dom mit Tinte.
“Ich glaub, das ist einer der Dialekte, der T’s, K’s und Endungen frisst… “runnäfalle” hahahaha Lass des ma nisch runnäfalle Schädse”, hörte ich von weiter vorn. Die Frontgänger wieder mit ihrem “Sprachknall”.

GutenbergmuseumAbendsonne

Mit der Bekannten haben wir “durcheinandrige Pommes” gegessen und Tee getrunken, wie noch nie zuvor. Twitterfazit dazu: “und es ist nur mittelseltsam”.
Tee kannten wir nur in Beutelform und Pommes als “zu teuer”, “ungesund”, “gerade geschnitten”. “Curly Fries” haben den gleichen Status wie “Früchte, die komisch gucken”.
Vielleicht erscheint es irrelevant- es ist eine Mahlzeit und ein Getränk- “Kriegt euch ein Rosenblätter- man kann es auch übertreiben…”. Für uns ist es Freiheitspraxis und immer wieder ein Reiz, der mit nicht vielen anderen Situationen abgeglichen werden kann. Solche Dinge sind es, die uns klar machen, wie begrenzt unsere Lebenserfahrung ist und wie facettenreich das ist, was die Menschen “Norm” nennen.
“Eure Welt ist so reich und ihr zuckt mit den Schultern…”, sie schaute die Menschen um uns herum an und beobachtete sehr genau, wie das Sieb im Teeglas die losen Teeblätter vom Wasser trennte.
Mittelseltsam, denn immerhin: Angst hatte sie keine. Wir haben das Sitzen in Cafés und Restaurants schon oft geübt.

Am Ende des Tages fanden wir uns in dem Jugendherbergszimmer wieder und telefonierten in Ruhe mit den Sommers.
Beruhigende Abendroutine inmitten eines Tages, der ziemlich weit neben “Routine” passierte.

Später fiel auf, dass wir unser Schlafnilpferd vergessen hatten.
Wir streichelten und summten, verfütterten ein weiteres Säckchen voll Idyll.
Bis irgendwann die letzte Träne geweint war und der Schlaf seine Decke über uns ausbreitete.

~ Fortsetzung folgt ~