“Wir sind Viele” ~ Teil 7 ~

P1010139 (2) “Heute, am Donnerstag, würden wir unsere erste Lücke leben- ein Nachmittag ganz für uns allein”, so steht es da und erscheint mir, wie eine Leuchtreklame. Eine Lücke, ein Nichtanspruch, ein Sein ohne Ver-Bindung in einem Loch in der Zeit. Einer Falte, einer Lücke zwischen Hier und Da, zwischen Richtung und Ziel, inmitten von Optionen, die von uns allein zu wählen sind.

Wir leben kein Leben, in dem Lücken entstehen und wenn doch, dann schließen wir die Käfigtür hinter uns und warten auf ein Bald, ein Morgen, eine Zeit, in der uns das Außen wieder zwischen oben und unten, Himmel und Hölle festkettet. Irgendwo da auf dem Spektrum inmitten des Hier und Heute, des Jetzt und Da.

Das Theaterstück “Jenseits vom Tag” von und mit Beate Albrecht, beginnt im Fluss, verfolgt eine Richtung und fast höre ich das Rasseln der Kette am Fuß des dargestellten Menschen, der inmitten seiner Arbeit steht, schnattert und sich leertanzt.
Bis zur Lücke. Einem Stopp, einen Still, einem Warten, einer Leere- dem Moment, in dem nichts getan werden muss und die Verbindungen ins Außen dünn und durchscheinend werden. Da ist der Raum und wir hören und sehen, ja fast fühlen wir im flirrenden Zittern unter dem Lachen, die bodenlose Panik vor dem, was hinter dem Zeit verlieren, dem was dort spürbar ist, wenn plötzlich das Frei im Ich erblüht.

Wir schauen ihm zu, wie er Phrase an Phrase, habituelle Floskeln und kleinhaltende Laute aneinander reiht, um sich am ewig klingelnden Telefon, dem Chef, der Arbeit… all den Dingen, die das Umsichherum vervollstopfen festzuklammern.
Der Mensch erzählt, worum es geht.

Sie, Nielsen, Nils so sollte sie eigentlich mal heißen, hatte Kontakt mit dem Thema des “sexuellen Missbrauch”. Sie will erklären, erzählen, das Thema begreifbar machen. 4 Kapitel sollen es sein, 4 Personen erfindet sie dafür: Franz, Fränzi, Franziska und Franzi.

Sie reden und leben, erleben neu, kommentieren aus dem Nachhinein und Stück für Stück, ganz subtil, ist das Hier und Heute, das Oben und Unten, das Früher… vielleicht die Zeit als Konstante in Richtung ewiger Unendlichkeit, eine letzte, eigentlich doch irrelevante, Definitionsfrage.
Die Struktur, die bleibt, ist die Dynamik von Annäherung und Erlösung durch einen Schrei, der den Körper herum wirbelt und allen Schrecken, alle Not mit sich verdünnt und im Sand versickern lässt.
Noch nie habe ich eine künstlerische Umsetzung der Erlösung gesehen, die meinem Empfinden so nah kam.
Wir saßen dort im Publikum und hörten, sahen den Schrecken des Menschen in unseren Kopf hineinrollen. Irgendwie dann doch, trotz der klaren Möglichkeit immer gehen können, eingesperrt zwischen den Menschen links und rechts neben uns. Mit jedem Satz näher am ES, die Füße in den Boden drückend und in den Äther sendend: “Bitte nicht- ich will das nicht hören- bitte jetzt … jetzt”
und dann der Schrei, die Drehung, Scheibenwischer im Außen, Scheibenwischer im Innen.

So einen Grenztanz an den Nervenenden gespielt zu sehen und gleichzeitig selbst zu vollführen, das ist neu für uns. Je öfter diese Situation kam, desto weniger schlimm erschien sie. Ich bemerkte irgendwo am Rand, wie sich in uns die kaum durchsichtige Scheibe vor jede weitere Spitze schob.
“Wir dissen”, ranzte jemand zwischen uns.
– “Ja, aber geh mal davon aus, das wir grad zum ersten Mal passend mit dem Außen sind, eben WEIL wir dissen- halt einfach weiter das Wasser fest und trink was, wenns wieder geht.”.

Auf der Bühne tippt der Mensch auf eine Liste. Eine von denen, die wir bis heute mit uns herumtragen, egal wo und wann wir sind. “Ich habe mir alles aufgeschrieben. Mein Name, wo ich wohne…” und fährt zur Mutter. Gibt sie zurück, inmitten all dem vertrauten Leben, das früher wie heute gleich, vorhersehbar unvorhersehbar ist… war… sein wird?

Der Mensch fährt weiter in ein Jenseits vom Tag. Umgeben von Gedanken und Fetzen, die ohne klar umrissenen äußeren Bezug schwirren.
Es ist nicht klar was ist und was nicht, doch es ist nicht relevant. Ein Schritt ist getan.
Der Rest ist Bewegung.
Es geht weiter, obwohl sich der Rahmen aufgelöst hat.