“Wir sind Viele” ~ Teil 10 ~

TröpfchenaufBlüte “Ein Körper mit System” wurde gezeigt.
Ein Film von den Nickis, der ihre Lebensrealität beschreibt und versucht das Viele sein begreifbar zu machen.

Im Hinblick auf den Akt der Selbstermächtigung und der Kraft, die der Erstellung eines Filmes (Buches, Blogs oder anderen Medien) zu Grunde liegen, kann man so einen Film nur feiern. Kein Roman, kein “Profi” der über jemanden mit DIS spricht, sondern der Mensch selbst gewährt Eindrücke, die ihm wichtig erscheinen.

Für uns war der Film in Sachen “Hoffnung auf Zukunft” eine Katastrophe.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass wir einfach furchtbar übermüdet waren. Ob es an den von mir aufgenommenen Mechanismen im Workshop lag, die mich ganz subtil getriggert haben oder, ob mir in dem Moment klar wurde, dass dort gerade viele Menschen sitzen und hören, dass Viele sein ein Zustand für immer ist.

Es kommt ganz am Ende und sie sagen sinngemäß: “Ich kannte eine, die hat sich integriert und kam in die Geschlossene.”. Und die gefilmte Therapeutin sagt in etwa: “Ja klar, denn sie wurden Viele, weil eine allein, die Gewalt nicht ertragen hätte.”.

Wir hielten noch etwas aus. Hofften, dass sich der Abstand zu der Lebensrealität dieser Überlebenden wieder vergrößerte und gingen in den von Licht gefluteten Park, als die Tränen fast schon aus dem Kopf fielen.

Da waren sie wieder die Jugendlichen, die vor BetreuerInnen, Krankenschwestern, ÄrztInnen stehen und hören: “Du wirst die geschlossene Psychiatrie nie verlassen.”, die fixiert in einem leeren Raum liegen, während ein Pfleger um sie herum geht und ihnen sagt, wie unheilbar krank sie sind.
Da stand Sie und fragte sich, ob sie gerade sich selbst in 10 Jahren gesehen hatte und, ob es sich überhaupt lohnt in Therapie zu gehen, wenn sie “diese Missbrauchssache” nicht einmal wirklich richtig spürt, wenn “das mit den Anderen” doch nie “weggeht”.
Da war Frau Wüterich und schwenkte ihre Fäuste asynchron zum Kopfschütteln “soneveralteteKackscheißeverdammtkanndochnichseindassdiesowashierzeigenverfickterDreckskack…
GegengenausowasschreibenwiranverdammteScheiße… ORRRRRRRR”
Und mittendrin ein Kinderinnen, das seine Kugel aus Hoffnung in der Hand hielt und den dicken Sprung auf der Oberfläche betrachtete.

Wir hatten schon lange nicht mehr so einen Moment, in dem wir darüber zerfielen, was noch aus uns werden könnte.
Zum Team “ich bin Viele und das ist total okay für mich” gehören wir nicht.
Zum Einen, weil wir es immer wieder unfassbar bereichernd wahrnehmen, wenn eine Integration oder auch vorher schon mehr Nähe untereinander passiert und zum Anderen, weil wir diesen Schaden einfach nicht akzeptieren wollen.

Wir haben massive Gewalt ertragen und nicht nur in Abgründe sehen, sondern haben in ihnen leben müssen. Andere Menschen haben unseren Körper, unsere Seele und auch noch unser Denken an sich gerissen, manipuliert und ausgenutzt. Wir sind ein Mensch, der sich so oft von sich und seiner Umgebung abtrennen musste, dass er sein Selbst und Dasein bis heute als fremd wahrnimmt.
Ich fühle mich nie willkommen und okay. Nirgends, nie und bei niemandem. Nicht einmal in mir selbst. Nichts, aber auch gar nichts in meinem Leben ist einfach oder leicht. Jeder Aspekt meines Alltags wird in Definitionsdebatten zwischen früher und heute, an Wertmaßstäben jeder Couleur überprüft und in Frage gestellt. 24 Stunden am Tag und das schon seit Jahren. Was ich bin, ist ein Flickwerk, das mir mindestens einmal am Tag zusammenkracht, wieder aufgebaut wird, um dann vor Angst vor dem nächsten Krachen zu zittern.

Mein Leben ist nicht schön. Es ist zum Kotzen. Es besteht aus Angst vor der Angst, permanenten Todeserwartungen und Belastungssymptomen, die so tiefgreifend an den Kräften fressen, dass bloßes Dasein an manchen Tagen schon zu viel ist.
Mein Leben ist: Blümchen pflanzen, wo 21 Jahre lang Brandrodung betrieben wurde.
Ich lebe es, weil es das Einzige ist, das mir geschenkt wurde, ohne, dass ich darum gebeten habe.
Meine Existenz ist es, an der Raubbau betrieben wurde. Rücksichtslos, gierig, aus Lust am Sadismus. Sie haben mir das einzige Geschenk, das ich jemals einfach so haben durfte zerstört, verschoben und verknotet.
Und wenn es die Chance gibt, nämlich die Therapie, nämlich sich jedem Riss, jeder Delle, jedem abgeplatzten Fetzen zu widmen und ihn so, wie es sich für mich/uns allein gut anfühlt, zusammenzufügen, dann ist es das, was wir machen.

Auch wenn das heißt, dass wir vielleicht nie passen werden. Vielleicht nie in eine Arbeit kommen, die von der Gesellschaft akzeptiert wird. Vielleicht nie die Art der Familienplanung, die wir uns wünschen, machen können. Vielleicht heißt es, dass wir uns immer in Grauzonen bewegen müssen, die in den existierenden Strukturen unsichtbar sind.

Aber wir werden unser Leben bzw. die Arbeit daran, die wir tun können, nicht beenden, bevor es sich nicht wenigstens ein einziges Mal okay und zusammengehörig angefühlt hat.

“Das ist nicht mein Leben in dem Film”. Ich schüttelte meinen Kopf so sehr, wie ich konnte und strich mit der Fingerspitze über die Rinde eines Baumes neben mir. “Ich bin noch keine 30, wir haben endlich eine gute Therapeutin gefunden, haben Menschen um uns herum, die sich ehrlich an unseren Erfolgen und unserem Zusammenwachsen innen erfreuen. Das da ist nicht mein Leben gewesen. Ich will nicht Viele bleiben, also werde ich das nicht.”.
Ich atmete ein, schmirgelte die verlaufene Wimperntusche von der Haut unter den Augen ab und ging zurück in Richtung Tagung.

Mit jedem Schritt das Kraftmantra:
Ich will das
Ich kann das
Ich mach das

Dem Kinderinnen dabei zuschauend, wie es mit meiner Energie den Riss in seiner Hoffnung kittete.