Wieder Kunst machen. Vielleicht.

„Das ist so eine Sache, da sind Trauma und ihr Autismus, so richtig SO“, meine Therapeutin verschränkt ihre Hände fest ineinander und deutet an, dass eine Trennung kaum möglich ist.
Wir sprechen über den Kunst-Konflikt. Den Klinik-Gau. Dass sich manche Innere ausdrücken wollen und ich es nicht zulasse. Obwohl ich ein ganzes Zimmer voller Gestaltungsmaterial, eine komplette analoge Foto- und Laborausrüstung, Unmengen an Papier und Werkzeugen besitze. Ich maximal geschützt loslegen könnte. Und darunter leide, dass ich es nicht zulasse.

Ich bin meine erste Woche im Urlaub, nachdem ich 4 Wochen krankgeschrieben war. Erschöpfungsdepression. Meine Essstörung entfesselt. Die Arbeit im Zusammenspiel mit Kinderwunschbehandlung, Traumatherapie und Selbsthilfe im Umkreis von 100 bis 130 Kilometern auf Dauer entkernend.
Also fahren wir die Ressourcenrunde.
Ich habe keine echten Pausen. Und dadurch zu wenig Raum für Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck und Selbstverwirklichung in dem Sinne, dass ich selbst begreifen kann, dass ich wirklich bin.
Meine Krankschreibung, sie führt zu selbstgemachten Therapieanwendungen.
Statt Mandalas bei Panflötenmusik spiele ich Sims 4, statt Gruppentherapie telefoniere ich lange mit Freund*innen. Ich schlafe auch am Tag. Zwinge mich nicht in eine Konzentration, die ich sowieso nicht aufbringen kann.
Nach 3 Wochen habe ich den ersten eigenen Gedanken mit Anfang, Inhalt und Ende. Nach 4 schaffe ich den Dreh zurück ins Essen ohne erweiterte Funktion. Die Therapie ist nicht mehr fast überanstrengend, sondern wieder eher meine Vermeidungsbequemlichkeiten herausfordernd.

So sitze ich da also und beobachte meine Therapeutin mit ihrer erklärenden Geste. Kurz vorher habe ich erst verstanden, dass dieses Thema wichtig ist, weil es mich von positiven Ressourcen trennt. Nicht, weil meine Therapeutin sich bei den Jugendlichen einschmeicheln will, wie R. argwöhnt, ich befürchte und hinter der Nebelwand zu Kindlichem alle Alarme kurz vor Auslösung bringt.
Zuvor wollte sie verstehen, wo das Problem liegt. Ist es Perfektionismus? Ist es Öffentlichkeit? Ist es Angst davor, abgezwungenes Schweigen zu brechen?
Nein, nein, nein.
Es ist viel banaler. Und gleichzeitig überhaupt nicht banal.
Es ist auch meine eigene Schuld. Und gleichzeitig, ein bisschen, auch nicht.
Und es ist mein Autismus. Und die Logik des Traumas.

An diesem Tag im Mai 2016 verließ ich das Besprechungszimmer der Ärztin mit den Worten: „Ich habs immer überlebt.“
Und dann hab ichs überlebt.
Ich bin da raus und wähnte mich in Lebensgefahr, vor der mich niemand schützt. Also bin ich, wie immer, erstarrt. Und gleichzeitig, dank der direkten Intervention meiner ambulanten Therapeutin, funktional in Bewegung geblieben.
Das – solche psychischen Scherkräfte, also parallel und gegensätzliche Kräfte – sind die Zutaten für funktionelle Dissoziation. Die Gleichzeitigkeit, die Trauma und das Leben danach so widersprüchlich und belastend macht. Auf der einen Seite die Todesangst (für die man sich vielleicht selbst verantwortlich macht) und auf der anderen Seite der Alltag. Hier die globale und unendliche Isolation und da Menschen, die mit einer_m sprechen. Oder zusammen in der Bahn sitzen. Oder im Laden stehen. Dieses Spannungsverhältnis führt zu der reaktiven Inflexibilität, die viele traumatisierte Menschen irgendwann in Bezug auf irgendetwas bei sich feststellen.
Dieses Spannungsverhältnis und der Druck, der dabei entsteht, können folgenden Gedanken logisch machen: „Was ich getan habe, um hier hineinzugeraten – das mache ich nie wieder.“
Ich überlebte den Klinik-Gau, diese Retraumatisierung im Hilfekontext, indem ich Entscheidungen traf und dabei blieb. Konsequent wie Stahlbeton. Nicht, weil ich so einen starken Willen habe, sondern weil toxisches Stressniveau und autistische Trägheit zusammen einen unfassbaren Superkleber und in der Folge eine unerschütterliche Inflexibilität produzieren.

Erst verließ ich das Klinikgebäude und beschloss, nie wieder mit irgendjemandem zu sprechen. Ein kindlicher Beschluss. Der hielt bis zum Kontakt mit meiner Therapeutin. „Nie wieder mit irgendwem“ ging also nicht.
Aber „nie wieder so“ und „nie wieder das“, das ging. War sogar gut. Meine Therapeutin kannte sich nicht mit Autismus aus. Ich hatte eine komplementäre Begleitung, die es nicht erforderlich machte, dass sie sich auskannte. Den Begleitermenschen nämlich. Auch der Kontakt zu ihm brauche nicht mehr „so“ zu sein. Und „das“ mit ihm zu besprechen, rückte durch den Ausbildungsalltag an der Berufsschule ohnehin in den Hintergrund. Und irgendwann endete unser Verhältnis auch.

Es dauerte 4 Jahre, bis ich meine an dem Tag getroffene Entscheidung, meine Therapie vom Thema Autismus („das“) und damit aus dem Großteil meiner Wahrnehmungsrealität und dem, was sich daraus für mein Erkennen und Verstehen meiner Selbst ergibt (und mich „so“ sein (interagieren und kommunizieren) lässt), rauszuhalten, revidierte. In Teilen. Unter einem absoluten Vorsichtsdiktat, das ich bis heute halte.
Auch das tat ich wieder in einer brutalen Krise, die mich in ungeheure Spannung brachte. Hier die Therapeutin, die sich bemüht und mit der ich mich überhaupt nicht mehr unsicher fühle – da die Erfahrungen mit sehr vielen Psychotherapeut_innen und ganz speziell der letzten, nach denen es sich immer logischer darstellte, einfach auf etwas von mir zu verzichten. Irgendwas einfach nicht mehr zu machen.
Hätte ich nicht den Eindruck gehabt, dass es mich das Leben kosten könnte, würde ich die Therapie nicht richtig machen, meiner Therapeutin nicht sagen, dass sie Murks macht, wenn sie meinen Autismus mit Fragezeichen versehen am Rand stehen lässt, hätte ich das nicht an sie herangetragen.

Keine meiner Entschlussrevisionen hatten jemals irgendwas mit „mal in Ruhe und ganz objektiv mal drüber nachdenken und dann halt mal anders machen“ zu tun. So wie man sich das von Therapie verspricht oder es in weniger drastischen Situationen im Alltag erlebt.
Meine Generalisierungen sitzen. Und zwar immer und überall. Mein Platz, mein Besteck, mein Geschirr, meine Kleidung, meine Tagesabläufe, meine Leute, meine Themen, meine Interessen, meine Offenheiten – hinter allem stehen bewusste Entscheidungen und „Für immer“-Entschlüsse. Entscheidungen für die Ewigkeit. Es erfordert absolut uneigennützige Bereitschaft, mit mir sachlich und zieldefiniert zu verhandeln, ob ich irgendetwas daran verändere. Kommt auf diese autistische Eigenschaft der Stress des Traumas, bin ich absolut darauf angewiesen. Denn an diesem Baustoff aus Traumastarre und autistischer Trägheit prallt jeder „Wägen Sie vielleicht mal ab, ob …“-Pinsel ab.

Manche meiner generellen Entscheidungen kann ich schnell revidieren. Besonders, wenn mir auffällt, dass ich eine traumalogische Basis dafür hatte. Wenn eine Entscheidung nur in einem einzigen Zusammenhang wirklich sinnvoll war, dann ist es ineffizient und unlogisch, sie auf alle anderen Lebensbereiche auch anzuwenden.
Die Entscheidung gegen meinen authentischen Selbstausdruck hingegen, die habe ich nicht nur im Zusammenhang mit dem Klinik-Gau getroffen. Diese Entscheidung habe ich bis dato in so vielen verschiedenen Momenten getroffen, dass es keinen Bereich mehr gibt, der frei davon ist. Das ist, was man heute so positiv hinzufügend als „Maskierung“ benennt. Und eben nicht negativ als „Verzicht auf sich selbst für andere“.

Der Klinik-Gau war für mich so belastend, weil ich vor der Autismusdiagnose nicht wusste, weshalb ich verschiedene Dinge nicht anspreche oder nur verschleiert und heimlich mit mir allein verhandle. Ich lebte wie ein Salamander mit abnorm gefärbten Körperteilen, die ihm immer erst dann auffielen, wenn andere negativ darauf reagiert haben.
Beim Klinik-Gau kannte ich diese Stellen und wusste, woher sie kamen. Meine Erwartung an diesen „geschützten Rahmen“, diesen Ort, an dem psychologische Exzellenz, psychotherapeutische und soziale Kompetenzen von den Autoritäten vorauszusetzen, logisch und auch gewollt ist, war zu keinem Zeitpunkt überzogen oder grundlegend falsch gesetzt. Sie wurde einfach nicht nur nicht erfüllt, sondern auch noch benutzt, um mich zu demütigen und mich glauben zu lassen, ich sei an meinem Empfinden von Auslieferung, Ohnmacht und Lebensbedrohung selbst schuld, denn ich hätte diese abnorm gefärbten Körperteile. Und die wiederum seien gar nicht das, was ich annahm, sondern etwas noch viel Abstoßenderes, was meine Gewalterfahrungen noch viel stärker zu etwas macht, das ich nie anders verdient und immer selbst verursacht hatte.
Als ich der Ärztin damals sagte: „Ich habs immer überlebt“, war für mich bereits absolut klar, dass ich mir so viele dieser abnorm gefärbten Körperteile wie möglich abhacken muss. Mein Leben voller Verdeckungs- und Vermeidungsperformance war ja offensichtlich nicht genug. Nicht das Richtige. Nichts, was mich als jemanden sichtbar macht, die_r es richtig wirklich und echt doll versucht okay für andere zu sein. Okay genug, um nicht von ihnen verletzt zu werden. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst nichts bin, mit dem ich jemals irgendwo sicher einfach sein kann.

Meine Kunst, die einzige Möglichkeit für jüngere Innere, sich auszudrücken, ihre Geschichte zu teilen und sich in der Gegenwart zu orientieren, war nur ein Opfer dieser Abhack-Entscheidung. Das zweite Opfer war eine Freiheit, um die ich mit meiner Entdeckungsangst ringe – die Freiheit, nicht vermeiden zu müssen. Ich habe mir damals auch abgehackt, mir zu wünschen, dass ich Kunst mache. Irgendwie okay zu finden, was ich früher mal gemacht habe. Mich mit Menschen zu verbinden, die diese Wünsche in mir wecken könnten. Ausstellungen, Werkstätten, Projekte zu besuchen, die mich an dieser Stelle reaktivieren könnten. Mein ganzer Materialkram ist da, weil mein Entschluss, nicht zu verschwenden, besteht. Die Kisten und Ordner sind heute in einem Raum, den ich nur öffne, um ihn zu durchlaufen. Die Tür ist immer zu. Ich gehe da nicht rein, weil ich mir nicht trauen kann, dass nicht doch irgendein Innen irgendetwas macht, was mir und dem Rest der Welt meine abnorm gefärbten Körperteile aufzeigt. Denn klar, als Salamander kann man sich Körperteile abhacken – die kommen aber wieder. Man muss in der Angelegenheit sehr konsistent sein. Was wiederum nicht sehr schwer ist, wenn es sich um eine Sache handelt, die in Auti-Trauma-Beton gegossen ist. Jeder nette Kommentar über meine Kreativität führt zu einem präventiven Hack an mir. Jede Rückmeldung zu einem Text als „selbstdarstellend“ – hack of the doom. Jede Erwähnung meiner Arbeiten früher – hack hack hack.

Mag sein, dass ich damals, 2016 in der Klinik, ganz viel komplett falsch verstanden habe. Und niemand jemals von mir erwartet hat, dass ich mich für mich selbst schäme. Ich bin geübt genug in Reparations-/Entschuldigungs-/Wieder-gut-mach-/Klärungsgesprächen mit nicht autistischen Menschen, um zu wissen, dass am Ende IMMER ich die Person bin, die da was nicht richtig verstanden hat. Die irgendwas zu ernst nimmt. Die sich auf eine Art fühlt, die nicht die Intention war und deshalb halt Pech hat, weil da ja nun wirklich niemand was für kann. Außer mir.
In Bezug auf diesen Klinik-Gau, werde ich zu keinem Zeitpunkt jemals einen Moment haben, in dem die Last, der Schmerz, die Angst, die Verletzung von mir genommen wird. In ihrer Natur ist diese Erfahrung damit meinen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie und jedem anderen sozialen Nahfeld gleich. Infolge dessen sehe ich keinen Grund, meine daraus folgenden Entscheidungen nicht zu generalisieren.
Ja, die Ärztin war nicht meine Herkunftsfamilie, alle meine anderen Mitmenschen zwischen 1986 und 2016, oder irgendjemand anders, die_r mich wegen meiner abnormen Färbung verletzt hat. Aber sie hatte den gleichen Bezugspunkt, um mich zu verletzen und mich in das Erleben einer Lebensgefahr zu bringen.
Es wäre unlogisch, das zu ignorieren. Traumalogisch ausgedrückt: lebensgefährlich dumm.

Meine Therapeutin beendet ihre Geste und spricht eine Weile. Sie sagt, ich könne mich fragen, ob ich das Ereignis mein Leben so umfassend bestimmen lassen will. Ob ich dem weiter so viel Macht geben will.
Diesen Ansatz finde ich unsinnig. Es ist ja nicht das Ereignis, dem ich Macht gebe, sondern die Beschämung, von der ich weiß, dass sie praktisch automatisch kommt, egal von wem und in welcher Absicht. Das Ding ist nicht, dass das passiert ist, sondern, dass es passiert ist, obwohl ich mich so unfassbar aufgerieben und angestrengt habe, dass es nicht passiert. Eine Klinik für Psychosomatik ist der einzige gesellschaftlich gewollte Rahmen und Ort, von dem man annehmen darf, dass man dort nicht wegen sich selbst verletzt wird. Darum war ich da. Ich brauchte Hilfe und war abnorm. Nirgendwo sonst, dachte ich, könnte ich mich risikoarm und sicher damit befassen und arbeiten.
Das Ereignis hat eine Generalisierung, die ich vorher bereits hatte, bestätigt und erweitert. Es hat nicht mehr Macht über mich, als jeder belustigte Kommentar über mein wörtliches Verstehen, jedes amüsierte Nachmachen meines Körperausdrucks, jede Demütigung nach einem Missverständnis, jede soziale Dynamik, die entsteht, weil nicht oder auch anders behinderte Menschen Behinderung mit aufwertender Sonderstellung verwechseln oder Autist_innen (oder auch Menschen mit DIS) als interessant mystische Sonderlinge einordnen.
Jetzt, wo ich weiß, dass sich in diesen Dingen mein Autismus zeigt und Autismus etwas ist, das ich, im Gegensatz zu anderen Dingen, nicht verlernen oder „einfach nicht machen“ kann, sondern ich selbst bin – jetzt ist es unmöglich, dass es keine Macht über mich hat. Es trifft immer mich. Es geht immer um mich. Ich bin immer das Problem der Witz  Trigger Auslöser ja, verdammt, ich kann das nicht einmal sachlich, nicht selbstabwertend benennen, wenn ich es versuche.

Ich habe zu viel Angst, einfach wieder anzufangen und es zuzulassen. Ich weiß, dass es nicht nur wieder passieren kann, ich weiß, dass es mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auch wieder passieren wird. Aber ich weiß, was ich tun kann, damit es mir nicht wegen etwas passiert, das ich sicher auch lassen kann.
Das ist nicht nur Traumalogik.
Das ist auch die Logik der Gewalt.
Beschämung ist Gewalt. Beschämung ist ein Machtinstrument. Sie hat Macht. Es ist irrelevant, ob ich ihr die zuschreibe oder nicht. Ich gebe sie ihr nicht. Sie hat sie. Sie hatte sie schon immer.

Meine Therapeutin redet weiter. Ich antworte und beobachte, wie unsere Worte im Raum, zu einem Bild verwachsen. „Ich könnte es ausdifferenzieren wie beim Schreiben“, denke ich. „Statt mich darzustellen, stelle ich meine Themen und Perspektiven dar. Wer sich daraus ein Bild von mir macht, ist selbst dafür verantwortlich. So hab ich das ja immerhin trotz allem Abhackdruck halten können. Aber geht das beim Fotografieren? Beim Malen? Zeichnen? Comics machen? Drucken?“
Das könnte ich versuchen.
Vielleicht.
Wenn ich mich traue.

Kunst

Ich habe analog fotografiert. Meine Arbeiten zur Annäherung und Aufarbeitung in Kaffee und Wein entwickelt. Dann reichten mir grobe Schemen in braun und beige, hell und dunkel nicht mehr.
Der Fonds ermöglichte mir, eine spiegellose Kamera anzuschaffen. Jedes Bild hat lange gedauert. Immer wieder musste ich Widerstände umgehen wie einen Hort von Schlingpflanzen, die mich niederwürgen, mir das Maul stopfen, die Hände abknoten, die Augen durchstechen würden, sobald sie mich bemerken.
„Hässlich. Eklig. Dumm. Eingebildet. Arrogant. Anmaßend. Lass es. Hör auf. ES ist unsichtbar. Es steht dir nicht zu. Dir nicht“, das sagen sie.

Nach dem Klinik-Gau konnte ich das nicht mehr umgehen.
Konnte ich mein wörtliches Mitteilungsbedürfnis nicht unterdrücken, nahm ich die Abwehr hin. Die Stimme dieser Ärztin, die verklemmt drückende Zwinge aus Kontakt- und Verbindungswunsch und vernichtendem Unverständnis. Und dem Gefühl, dass es wahr ist. Dass es mir doch nie um Worte aus einer Traumastille ging, um Kontakt für Kontakt mit mir selbst, Ausdruck, um Druck (r)auszulassen, sondern um selbstverliebte Akte einer empathielosen Person, die nicht weiß, wo ihr Platz ist.
Jahre hat es gedauert, bis ich einen neuen Trampelpfad um die Abwehr gefunden habe. Bis ich wieder auf „Veröffentlichen“ klicken konnte, ohne mich verletzen zu wollen. Das Gefühl, dass ich das eigentlich nicht tun sollte, weil es mich als abstoßende, gefährliche, falsche, schlechte, unpassende, unwürdige Person offenbart, ist geblieben. Es passt zu vielen anderen Gefühlen, die mein Leben begleiten.

Ich habe keine Kunst mehr gemacht. Meine Kamera dient heute der Kontaktaufnahme mit der Natur und ihren Farben. Der Mut, meine Gewalterfahrungen und ihre Folgen bildnerisch aufzuarbeiten, ist weg. Diese Ärztin und ihre Worte sind als Stimme, als Haltung, als quetschender Widerstand in mir drin, wie meine Eltern. Ein bestimmter Täter. Alle, die vielleicht nicht bewusst wollten, dass ich tot bin, aber meine Lebendigkeit und ihren Ausdruck auch nicht aushalten, ertragen, akzeptieren, heil lassen konnten.

Todesangst

„Wovor hast du denn Angst, es passiert doch nichts.“ Das, diese Frage ohne Fragezeichen, diese Aussage mit Lüge drin, ist mir im Leben bereits sehr oft begegnet. So oft, dass ich sie nicht mehr hasse. So oft, dass ich sie behandle wie viele andere Versatzstücke von Gesprächen, die ich weder wirklich durchdringe noch wahrhaft als Marker für die Natur des Gesprächs nutze. Denn es tut mir nicht gut, mit Menschen über Angst zu sprechen, die Angst nur als periodisches Erleben besonderer Situationen kennen und den Lauf der Dinge, in dem immer irgendetwas irgendwie passiert, ebenfalls nicht stets und ständig, sondern nur dann und wann überhaupt wahrnehmen.
So bleibt es, was ist: eine Mikroaggression, eine Alltagsignoranz.

Und ein Marker für eine soziale Falle. Denn die meisten Menschen sagen das, um zu vermitteln, dass man (mit ihnen) sicher ist. Dass alles okay ist. Es ist aber nicht alles okay, wenn eine Person Angst kommuniziert und die andere nicht einmal eine Idee davon hat, worum es bei der Angst geht. Diese Person irrt sich. Sie bemerkt etwas nicht, sie ist nicht im Bilde über die Lage und möchte ihr Sicherheitsgefühl natürlich auch nicht verlieren. Deshalb sagt sie diese Phrase. Diese Floskel. Diesen kleinen sozialen Abwatscher, der der anderen Person vermittelt, sie würde etwas sehen, fühlen, bemerken, das nicht da ist.
Und die andere Person? Vielleicht versucht sie nochmal, zu schildern, was ihr Angst macht. Vielleicht erklärt sie. Doch je weiter ihre Ängste, ihr Erleben von Angst, die Rolle von Angst in ihrem Leben, von der der anderen Menschen abweicht, desto häufiger wird genau diese Erfahrung der Abwehr, der Mikroaggression und des Infragestellens der eigenen Wahrnehmung.
Und dadurch werden andere Menschen oder auch nur der Kontakt mit ihnen einfach grundsätzlich immer unsicher. Auch die Netten. Die Lieben. Die Vertrauenswürdigen. Die ganz wirklich überhaupt nichts Böses wollen. Die nur helfen möchten. Die nicht einen Hauch von Negativität in sich haben.

*

Ich habe geträumt, ich hätte Sookie erschossen.
Meine Assistenzhündin, mein erster echter emotionaler Spiegel, das Wesen, die Entität, mit der ich mich rückhaltlos verbunden gefühlt habe. Sookie, die letztes Jahr gestorben ist.
Es war die Art Traum, gegen die ich mich entscheiden konnte. Ich hob meine rechte Hand und drückte damit meine linke Schulter, um mich aufzuwecken. Das ist meine Traumunterbrechungsgeste. Wenn ich mich an die erinnern kann, während ich träume, weiß ich, dass ich sie ausführen kann und alles Schlimme oder Unangenehme unterbrechen.
Doch als ich aufwachte, war da keine lebende Sookie. Kein warmer, weicher Brustkorb, der sich an meine Seite schmiegt. Da war nur die Tatsache, dass sie tatsächlich tot ist und nie wieder lebendig sein wird.

Nach Sookies Tod hatte ich nicht viel Raum für die Verarbeitung ihres Todes. Ich hatte viel zu viel Angst, meine neue Arbeitsstelle nicht behalten zu dürfen. Ich hatte die Fahrschule, die mit viel Angst einherging. Neben dem Podcast, der Verlagsarbeit, den Projekten, an denen ich mich privat beteilige.
Damals habe ich ein Mal geweint. Direkt noch mit Sookie im Arm auf der Wiese. Reflexhaft, als würden sich meine Tränendrüsen übergeben müssen. Und ein Mal brach F., ein Kinderinnen, weinend aus mir heraus, als ich meine Therapeutin in einem Notfalltelefonat hatte.
Die Trauer um meine so nahe Begleiterin zeigte sich im Alltag eigentlich nur in einem Fähigkeitsverlust. Ich war nicht traurig und auch nicht sicher, ob ich trauern würde. Wenn ich in der Zeit danach mal nicht von Angst über für andere unsichtbaren, irrelevanten Kleinscheiß des Alltags umgetrieben wurde, dann hatte ich Sehnsucht nach Sookie. Nach den langen Wanderungen im Wald. Sie in ihrem unermüdlichen Weg vor und wieder zu mir und vor und wieder zu mir, Anspielen, Dinge beriechen, Schauen, Teilen, vor und zurück. Nach dem Gefühl, dass wirklich alles okay ist, weil wir so viel miteinander teilen, was der Moment in sich hat. Eine Sehnsucht, die ich sonst nur habe, wenn ich mir eine Freundin wünsche, obwohl ich schon welche habe. Oder eine Familie, obwohl ich schon eine habe. Nur eben nicht so.

In der Nacht des Traums, dem Moment der Orientierung in die Realität, kam die Traurigkeit, wie etwas, das mich töten könnte.
Ich konnte kaum noch atmen, meine Brust war so zusammengepresst, dass weder Töne heraus noch Luft hinein kam. Mein Weinen hatte meine Augen so anschwellen lassen, dass es sich anfühlte, als hätte ich Steine darauf liegen. Ich konnte kaum sehen, kaum atmen und das, während der emotionale Schmerz mich in einer Radikalität erfüllte, die ich nicht anders als grenzenlos beschreiben kann. Etwas, das ich nur von Kinderinnens kenne. Ganz entfernt. Eher theoretisch als je selbst erlebt. Ich dachte, ich bekäme einen Herzinfarkt. Mehr fremd als selbst ging ich zu meinem Mann runter. Er verstand sofort, dass es sich schlimm anfühlen würde, so einen Traum gehabt zu haben und dann in eine so gleich schlimme Realität aufzuwachen. Er tröstete mich. Und ich? Ich bin nicht in einer warmen Wolke der Liebe gelandet und fühlte mich besser. Ich bin emotional, seelisch, ichlich gestorben. Meltdown, Krampfanfall. Der erste große, den mein Mann direkt miterlebt hat. Das reine Wahrnehmen der Traurigkeit hat mich getötet.

Am Ende der Shutdown. Das dissoziative Nachwehen als diffuse Masse aus Reiz und Reaktion, ein Ich im Wiederaufbau. Das Ausgeliefertsein an die Umwelt, während das Fühlen der Angst darüber noch gar nicht wieder möglich ist. Wie auch Gefühle von Sicherheit und Liebe. Geborgenheit und Nähe.
Wir lagen zu dritt auf dem Bett, wie ein ganz intimes Familiensandwich. Bubi an meinem Bauch, mein Mann an meinem Rücken.
Ich konnte nichts empfinden. Nicht einen Gedanken halten. Nur meinen Körper entlang ihrer Atmung rekonstruieren und warten, bis ich mich als lebend wiedererkenne.

*

Vor solchen Momenten habe ich Angst.
Solche Momente habe ich fast jeden Tag in abgeschwächter Form. Nicht immer mit einem Krampfanfall. Immer wieder jedoch mit einem innerlichen Meltdown. Der absoluten Ohnmacht und der im Grunde fast immer bestehenden, sehr umfassenden, Einsamkeit wegen der für andere Menschen offenbar unmöglichen Nachvollziehbarkeit dessen, was in mir vorgeht, wenn ich mein Leben, aber auch meine eigene Lebendigkeit erlebe.
Da geht es nicht um Vertrauen oder Nichtvertrauen, wen ich lieb finde und wen nicht. Ob ich mir genug oder zu viel zutraue, ob ich zu wenig soziale Codes verstehe oder hinnehme. Ob ich mich meinen Ängsten stellen, sie mir abtrainieren oder als in der Regel unbegründet akzeptieren muss oder nicht.

Es geht darum, dass ich mich daran sterbend erlebe und weiß: Wer noch nie an seinen eigenen Gefühlen gestorben ist – wer sich noch nie an Verzweiflung, an Not, an innerer Spannung so umfassend selbst verloren hat – wird immer denken: „Ach komm. So schlimm ist das nicht.“

Gleichzeitigkeiten

Manchmal sind es Gleichzeitigkeiten, die es mir schwer machen, Auslöser für Traumareaktionen und meine eigenen Fehlschlüsse zu erkennen, obwohl sie mit nur ein wenig veränderter Perspektive unübersehbar sind.
Gleichzeitigkeiten in der Bedeutung von Dingen, um genau zu sein.

Erklärender Ausschwiff, was ich damit meine:
Dass man auch „Verbrenner“ zu bestimmten Autos sagt. Da hatte ich mal eine einigermaßen fürchterliche Zeit, weil ich Verbrennungsvorgänge im Zusammenhang mit Autos nicht vereinbar mit der üblichen Funktionsweise eines Autos empfand. Wenn ein Auto verbrennt, fährt man nicht damit, denn das wäre potenziell tödlich.
Dann habe ich gelernt: Die Fahrzeuge nennt man „Verbrenner“, weil sie im Motor etwas verbrennen, um zu fahren.
Was ich aber brauchte, um eine unfassbare Angst während des Autofahrens nicht mehr zu haben, war eine Einordnung darüber, dass man in einem „Verbrenner“ – ja – in einem Auto sitzt, in dem es brennt (genauer: es einen Verbrennungsvorgang gibt), aber nein – das Auto deshalb nicht automatisch eine Feuerfalle wird, wenn man zu lange damit fährt.
Ja, nein, man macht nicht deshalb eine Rast an Raststätten. Ja, nein, wenn „der Motor überhitzt“, ist das kein erstes Zeichen für eine unkontrollierte Verbrennung, sondern eins für fehlerhafte Kühlung. Ja, wenn die Sonne stark auf die Metallkarosserie scheint, wird sie sehr heiß, aber, nein, der Kraftstoff im Auto kann deshalb weder ausdünsten und wie Gas im Auto entflammt werden – vom Zündschlüssel, den man in das Auto steckt – noch von der Hitze entzündet werden.

Die Gleichzeitigkeit ist in dem Beispiel sowohl die Bedeutung des Wortes, als auch der Schlüsse, die ich damals gezogen hatte. Ich war kein irrational bockiges Kind, das rumspinnt und sich aus Lust am Horror in ein absolutes Katastrophenszenario reinsteigert. Ich habe aus den mir vorliegenden Informationen etwas geschlossen und eine absolut logisch nachvollziehbare Todesangst gehabt, die ich – anders als die Erwachsenen in meinem Leben – weder mit Erfahrungswissen konfrontieren noch mit Vertrauen in meine Bezugspersonen beruhigen konnte.
Bei dem Auto-Feuer-Thema war informierende Differenzierung wichtig, gerade weil es stimmt, dass mit dem Autofahren Feuergefahren bestehen, nur eben nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Ähnliche Differenzierungsbedarfe habe ich bis heute, wenn es um Trigger für traumareaktives Verhalten geht. Nur dass das noch insofern einen weiteren Komplikationsgrad hat, als dass mir meine eigenen Schlüsse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht immer gleich bewusst sind.

Ich habe jetzt den Auslöser für meinen Rückfall in die Essstörung gefunden.
It’s a classic. Drohender Kontrollverlust aufgrund meines aktuellen BMI während meiner Schwangerschaft und unter der Geburt
Für mich mit meinem medizinisch vorbelasteten Autibrain eine absolut klare Kiste: Mediziner *innen haben ihre Werttabellen und daran orientieren sie sich. Punkt. Keine Diskussion. Meine Selbstbestimmung der hill, auf dem ich alleine sterben gelassen werde, weil natürlich niemand jemals wirksam gegen das widerspricht, wozu Ärzt *innen raten. Würde mir ein *e Behandler *in sagen, dass mein BMI irgendetwas nicht zulässt, würde mir niemand beistehen. Ich wäre alleine. Mit einem ausgesprochenen Risiko, das mich vielleicht noch nicht einmal wirklich betrifft, weil der BMI einfach viel mehr zur Messung sozio-ökonomischer und anderer sozialer Diskriminierungsfaktoren taugt als sonst irgendwas. Und es wäre komplett egal, ob ich damit recht habe oder nicht.
Ich wäre allein. Niemand würde mir mehr helfen. Ich wäre in Lebensgefahr.

Schon beim Aufschreiben dieses Absatzes habe ich, ohne es bewusst zu merken, mehrfach geschrieben: „Ich wäre alleine“. Und das, was ich nicht aufgeschrieben habe, hat einfach alle Traumaflaggen auf jedem Erker: „Andere würden mit mir machen, was sie wollen können für richtig/wichtig/angemessen/(mich zwingend) nötig halten, ganz egal, wie das für mich ist.“ „Ich müsste alles mit mir machen lassen, damit mich niemand alleine lässt.“

Da ist sie, diese tückische Gleichzeitigkeit von Gewalt-Trauma und Gewalt-Realität.
Ich habe wirklich und echt so gar keinen Grund, dem medizinischen Apparat grundsätzlich vertrauensvoll zu begegnen. Null. Und gerade im Themenkreis „Schwangerschaft und Geburt“ haben Menschen, die Kinder bekommen können, noch x-mal weniger Grund zur Annahme, im Fall des Falls wäre ihre Selbstbestimmung für irgendwen von Wert. Fast jeder Geburtsbericht einer traumatischen Geburt schreit zwischen den Zeilen in die Welt: „Ich hab zugestimmt, damit ich nicht allein sterbe.“
Da ist immer der Wunsch (und Auftrag und Pflicht und Eid) von Behandler*innen nicht zu schaden und von Angehörigen nur das Beste zu wollen. Und gleichzeitig eine Person, die genau deshalb zu Schaden kommt und die eigene Lebendigkeit (und/oder die des Kindes) als das Beste begreifen soll und in vielen Fällen auch muss.

In genau diesem Dreieck fand das statt, was ich heute als Helfertrauma aufarbeite.
Also jetzt gerade ganz akut. In jeder der letzten Therapiestunden. Ich, Hannah, bin immer wieder extrem aufgemacht an dem Komplex, an dem mein Ich entstanden ist. Als Schutzsystem für eine_n Jugendliche_n, die_r am Helfen anderer Schaden nimmt.
Logisch kommt es zu spontanen Querschlägern, unbewussten Schnellschlüssen, erst einmal nicht nachvollziehbaren Reaktionen, die auch aufgrund des Autismus nicht mal eben einfach mit ein bisschen mehr Reorientierung als sonst containt kriege. Ich bin gleichzeitig in der autistischen Kompensation (die ehrlicherweise auch weitgehend Retraumatisierungsvermeidung ist), der Traumaverarbeitung und in der Traumareaktion.

Ich bin gerade in einem Momentum des Traumaverarbeitungschaos. Das entsteht aus mehr Alltagsamnesien als sonst. Dadurch mehr Anspannung. Dadurch mehr Herausforderung an meine Autismuskompensation im Alltag. Die mich so schon oft über meine Grenzen bringt und mich dünnhäutig macht. Meine Dünnhäutigkeit bietet jüngeren Inneren unerwartet große Fenster in die Gegenwart. Meine Ängstlichkeit über das Gefühl ihrer Blicke durch mich hindurch wird zu einem paradoxen Helfer für mich. Ich habe Angst, sie zu spüren, aber durch meine Angst fühle ich mich sicher. – Wieder so eine Gleichzeitigkeit – Angst haben und so daran gewöhnt sein, dass es mehr Angst machen würde, wäre sie weg, weil ich mich dann nicht mehr sicher im Sinne von zuverlässig fühlen kann.
Und gleichzeitig zu all dem, was allein schon wirklich richtig schwer und zuweilen auch schmerzhaft ist, gehört ein Trigger, der mir – obwohl er mir jetzt unübersehbar erscheint – noch nicht wirklich bewusst war: „Jetzt geht DAS wieder los. Die Klapse und alles. Weil ich mitgemacht hab, aber nicht gut genug. Jetzt knall ich komplett unrettbar durch. Jetzt kann mir niemand mehr helfen.

Jetzt werde ich alleine gelassen.
Eingesperrt.
Mir selbst überlassen.

Ohne jede Möglichkeit, über mich zu bestimmen.

Weil ich zeitweise nicht mal mehr weiß, was ich will.
Was wollen ist.
Wie bestimmen geht.

Es wird eben doch nie enden.

Andere müssen vor mir geschützt werden.
Egal, wie das für mich ist.

Es ist das Beste, wenn ich nicht mehr hier bin.
Ich sollte weg.
Ich muss weg.“

Das hat dann alles gar nichts mehr mit der Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen zu tun, sondern mit der Verarbeitung eines Selbstzustandes, in dem die schwierige Erfahrung nicht mehr nur in mir drin ist, sondern auch im Raum, im Kopf, im Herz meiner Therapeutin und dadurch mit einer anderen Perspektive angeschaut.
Ein Selbstzustand mit neuen bisher ungelebten inneren Zusammenhängen, Selbsterfahrungen und Handlungsmöglichkeiten.
Ich, wir alle als Einsmensch, könnten alles Mögliche machen. Da ist ja was zusammengekommen. Mehr verfügbar als vorher. So ganz objektiv draufgeschaut. Heute ist ja, auch wenn ich mich in diesem inneren Chaos befinde, alles sicher. Alles okay soweit. Und gleichzeitig können wir das noch nicht. Wir können gerade nur, was wir als System jeweils können.

Ich kann richtig kompetent Angst haben und meine Therapeutin anrufen und auf alle ihre Fragen „Ich weiß nicht antworten“, darüber komplett verzweifeln und genau deshalb aber auch präsenter und alltagshandlungsfähiger werden.
Die Anderen können die Kämpfe wieder aufnehmen, die sie damals gegeneinander geführt haben, weil sie gegen nichts und niemanden außen kämpfen konnten. In Form von der Essstörung. Das ist ihr Ding. Ihr Lösungsweg.

Ein Lösungsweg, der schon damals überkomplex war und über zwei andere Systeme hinweg überhaupt gar nichts verbessert hat. Aber etwas sichern konnte. Selbstbestimmung als aktiver Akt. Also etwas, das jeden Tag in bestimmten Handlungen gemacht werden kann.
Selbstbestimmtes nicht alleine Verhungern. Selbstbestimmtes hoffentlich vielleicht an Erbrochenem ersticken. Selbstbestimmter Magendurchbruch. Selbstbestimmter Dauerbauchschmerz. Selbstbestimmte Heimlichkeiten. Selbstbestimmte Schamgrenzen. Selbstbestimmt weggegebene Würde. Selbstbestimmte Zahlenziele. Selbstbestimmte Ideale. Selbstbestimmter Zeitlupensuizid.
0 % Angst. 100 % Kontrolle über die Inneren anderer Systeme, die immer wieder aus ihnen rausbrechen, weil sie um ihr Überleben kämpfen.

Vielesein ist genau diese Art der Gleichzeitigkeiten immer und auf so vielen Ebenen.
Alles ist immer irgendwie verbunden und gleichzeitig komplett voneinander abgetrennt.
Ich kann das alles wissen und trotzdem von genau den Dingen, die ich weiß und über die ich schon tausend Mal gesprochen habe, radikal geschnetzelt werden, einfach nur, weil irgendein bisher nicht so präsentes Innen durch meine Haut sieht und versteht, dass Gewicht immer noch Relevanz in Bezug auf die Selbstbestimmung hat.

„Ja, so wie damals, aber nein, nicht so.“, in einem anderen Szenario könnte ich mich hinsetzen, mich konzentrieren und die Sicherheit vermitteln, das zu erklären. „Schau hier sind die Unterschiede, das läuft so und so … deshalb ist es zwar gleich, aber nicht gleich.
In diesem heutigen Jetzt müssen wir alle, die anderen Inneren und ich alle zusammen, das von anderen Menschen erklärt kriegen. Ich brauche Sicherheiten, die anderen das konkrete Erleben von Selbstbestimmung durch für sie so radikale Akte wie selber etwas (anderes als den Essens/Selbstverletzungs/Suizidschissel) wollen und es dann tun. Wie das geht, müssen wir lernen. Mit Anleitung, denn so etwas hat noch kein Mensch von alleine gelernt.

was es gekostet hat

Ich steige mit der Tür ein. Der gelben Tür, die hinter mir zuschlägt und alles verändert. So beginnt mein Manuskript, weil ich so beginne. Nie kam ich davor. Mir fehlte ein Bindeglied. Eine Idee von mir bevor der Deckel der Station schwer in seinen Rahmen schlug.

Zuletzt haben wir in der Therapie viel Raum dafür gelassen, was mich dahin gebracht hat. Was mich gemacht hat. Zuletzt ging es viel um die Klapsleichen. Davor darum, was es uns gekostet hat, Objekt des Hilfesystems zu sein. Am Ende der Stunde war ich zerschossen von den Querschlägern meiner Gefühle.

„Sie waren absolut am Boden“, hat meine Therapeutin gesagt.
Sie hat in 13 Jahren nur zwei Mal etwas gesagt, das mich in einer Situation ähnlich eindeutig verortet, beschreibt, einordnet.
Jetzt fühlt es sich an, als hätte sie damit einen Keil unter die gelbe Tür geschoben. So, als hätte sie eine Kraft aufgebracht, eine Klarheit hergestellt, um die ich seit vielen Jahren gerungen, doch nie erreicht habe.

Ich kann es auf meiner Haut spüren. Dieses „Vorher“, das wie eine Hitzewand vor der Tür steht und die Eigenschaft hat, mich in eine 14-Jährige zu verwandeln, die nicht weiß, wie ihr geschieht, eigentlich noch 13 ist und diese Tür als entbeinende Schleuse erlebt. Als entkernendes, ent-selbstigendes Moment.
Mein Gefühl ist drückend uneindeutig. Die Erkenntnis aber klar.
Das hat es sie gekostet. Nicht nur die Familie. Die erweiterte Familie. Vermögen. Schulfreund *innen. Die Band. Die Chöre. Die Gemeinde. Die Freund *innen da. Die Nachbarin mit dem Klavier. Die Anarchofriends. Jede Aussicht auf Zukunft. Jeder Raum für eigene Wahrheit. Persönliche Freiheit. Selbstbestimmung.

Es hat sie auch sich selbst gekostet.

Fundstücke #91

Ich legte auf und hielt mein Gesicht nah an den Ventilator.
Die kalte Luft bewegte meine Wimpern, das Summen des Motors rüttelte meine Gedanken in eine Richtung.
So ist das also, wenn ich darüber rede. Meine Essstörung. Und das. Also alles. Irgendwie. Draußen fahren immer noch Autos lang, das Korn wiegt sich, die Maschine vor mir pustet Geräusch und Wind auf mich.

Ich habe nicht erwartet, dass die Welt untergeht. Aber ich habe erwartet, dass es mir schlecht geht. Dass ich mich mit einer Antwort befassen müsste, die mich überfordert oder verletzt. Obwohl ich mir ein Gegenüber gesucht hatte, das sich auskennt. Und mehr Sicherheitsvorkehrung praktisch nicht möglich ist. Am Ende sind Gespräche unkontrollierbar, Menschen unvorhersehbar, empfindliche Themen empfindlicher Menschen einfach sehr empfindlich.
Da kommt der Mut ins Spiel.
Oder die Verzweiflung.
Druck auf jeden Fall. Energie. Kraft.
Und davor eine Entscheidung für den Kontakt. Nicht: der Wunsch nach Kontakt oder die Hoffnung darauf. Sondern: Ja, das mache ich jetzt.

Die Person fragte mich, warum ich bisher noch nicht mit meiner Therapeutin darüber gesprochen habe. Das war eine gute Frage für mich. In der Antwort war für mich ein Faden zu meinem Grundproblem rund um die Essstörung und warum ich sie jetzt nach über 20 Jahren in meinem Leben erneut belastend erlebe. Rosenblattscher Classic: Angst und Vermeidung. Keine Angst vor dem Beziehungsabbruch oder Verletzung, sondern vor Überforderung und Enttäuschung. Scham und Ohnmacht. Wir haben ein Arbeitsverhältnis – ich habe hier etwas am Laufen, vor dem ich mich handlungs- also arbeitsunfähig erlebe.
Und die klapstrainierten Patient_innen in mir werfen sich mir jedes Mal schreiend vor die Brust, wenn ich auch nur plane, Anlauf zu nehmen, um ihr zu sagen: Ähm, ja hm, wir machen grad hier Traumadings, das wir schon ewig angebahnt und vorbereitet haben in 14-tägig stattfindenden Terminen – wie wärs mit einem Problem, das ich schon länger habe und zu dem ich nicht mal eine Lösungsidee habe, die nicht davon beeinflusst ist?

Es ist eine pragmatische Entscheidung dagegen. Ich weiß, dass mir die Traumaarbeit mit anderen Innens in der Regel neue Einordnungskompetenzen und manchmal auch Handlungsfähig- und fertigkeiten gibt. Die Therapie wie ich sie jetzt nutze, ist für dieses Problem eher komplementär hilfreich. Also zusätzlich zu anderen Dingen.
Und es ist eine vermeidende Entscheidung, einfach aus dem Umstand heraus, dass ich mich gerade wegen meiner Kinderwunschbehandlung damit befasse. Ich weiß, dass meine Therapeutin nicht ewig am Symptom rummachen würde, sondern direkt an die Störungsquelle geht. Ist ja schlau. Effizient. Wegen dieser Eigenschaft bzw. dieser Kompetenz schätze ich sie als Arbeitspartnerin sehr.
Die Störungsquelle liegt jedoch im medizinischen Kontext. Ein Kontext, den ich von verschiedenen Seiten her als gewaltvoll und traumatisierend erfahren habe. Und ich will nicht von ihr hören, dass das dazugehört. Dass man da nichts machen kann, weil es ist, wie es ist und tja, mit unsensiblem oder grenzberührendem Umgang, Inkompetenz oder mit der „nicht jederzeit alles auf Zettel haben können“-heit anderer Menschen und der generellen Alternativlosigkeit muss man halt klarkommen. Das können mir alle Hanzeln und Franzeln auf der Welt sagen, die nicht wissen, was ich in Krankenhäusern erlebt habe. Die nichts von den Patient_innen in mir wissen. Und die mit solchen Aussagen ja auch markieren, dass sie gar nicht mit mir in Kontakt kommen wollen.
Aber meine Therapeutin soll mir das nicht sagen. Sie soll auch nicht in Gefahr geraten, mir das potenziell aus Versehen aus einem Moment von „kurz mal irgendwie nicht ganz so konzentriert sein“ zu sagen. Und da ich es ihr nicht verbieten kann und Gespräche insgesamt unkontrollierbar sind, kontrolliere ich mich. Und vermeide.

Da geht es überhaupt nicht um mein Vertrauen in sie, sondern um mein Vertrauen in den Lauf der Dinge. Meine Erfahrungen mit dem Unkontrollierbaren. Ich bin mir so bewusst darüber, dass ich mich im Gespräch mit ihr nicht schützen kann, ohne mich gegen den Kontakt mit ihr zu entscheiden (und im Zuge dessen möglicherweise sogar so stark zu dissoziieren, dass ich zu einem anderen Innen wechsle), dass es letztlich sogar mehr Entscheidung für den Kontakt mit ihr als dagegen ist.

Ich weiß, dass diese traumalogische Kette für die Begleiter_innen und manchmal auch Behandler_innen von komplex traumatisierten Menschen ein wiederkehrendes Problem darstellt. Manchmal wird es für beide Seiten ein dauerhaft anstrengendes Ringen um Wollen und Sollen, Einladungen wahrnehmen, glauben und annehmen bzw. Einladungen machen und absichern – nur um dann doch vielleicht wieder bei Dissoziation oder Vermeidungsverhalten zu landen.
Weder meine Therapeutin noch ich sind alleine damit.

Umso wichtiger erlebe ich gerade meinen Ausbruch aus dem Risiko dieser Dynamik. Ich habe mir selbst erarbeitet, was mich belastet. Habe selbst beobachtet, welche Symptomatik wieder verstärkt ist und mich damit befasst, wie ich meine Vermeidung einerseits erhalten, andererseits vermeiden kann. Nur weil ich mit meiner Therapeutin nicht darüber sprechen möchte, muss ich nicht dazu schweigen oder generell erstarren und mich wieder von allem entfernen. Deshalb der Kontakt mit der Person am Telefon.

Es zeigte sich, dass mein Problem, meine Essstörung gerade durch keine meiner üblichen Maßnahmen containen zu können, von mehreren Faktoren beeinflusst wird.
Wir müssen sortieren. Was geht pragmatisch? Wie kann ich meine Angst vor bestimmten Lösungsversuchen konkretisieren und in der Folge aktiv beruhigen? Wie viel Vermeidung ist mir bewusst und wichtig und wie viel reflexhaft aus traumalogischen Vorannahmen heraus und dadurch doppelt zu prüfen?
Mir hilft gerade auch etwas aus dem Buch „Trauma verstehen, bearbeiten und überwinden“ von Prof. Dr. L. Reddemann und Dr. C. Dehner-Rau im Kapitel „Was hilft bei Angst und Panik?“. Darin gibt es einen Absatz dazu, dass es absurd klingen mag, aber dass Angst manchmal auch ein Schutz vor Dissoziation ist, wenn es (unbewusst) erträglicher ist, Angst zu haben, als Derealisation oder Depersonalisation zu erleben. Das trifft auf mich in manchen Situationen definitiv zu, weil Angst mich aktiviert und Dissoziation deaktiviert. Jetzt weiß ich zwar noch nicht genau, wie ich das in meinem Unterfangen konkret für mich nutzen könnte, aber es gibt mir einen weiteren Hinweis auf eine Energiequelle in mir. Und es setzt meine Angst in ein Verhältnis zu mir, in dem sie nicht mein Feind ist, obwohl sie es mir gerade schwer macht, ein echt ungünstiges Problem anzugehen.

einfach immer nur geradeaus

Alle habens gesehen. Und mich gefragt, obs geht.
So alleine sein. So lange.
Jetzt. Kurz vor einer für mich berufs- und also zukunftsrelevanten Prüfung.
Jetzt, in dieser Zeit der Auseinandersetzung. Erinnerung. Inneren Konfrontation.
Und ich konnte mir nichts Entlastenderes vorstellen, als wirklich ganz für mich zu sein. Keine Unterbrechung. Keine Rücksicht. Nur mein Gedankenzug und ich. Immer geradeaus.

Ich habe meine letzten Aufträge abgearbeitet. Alles, was zur Kinderwunschbehandlung gehört, auf ein geistiges Nebengleis gestellt.
Der Podcast ist bis zum Hörer_innentreffen vorproduziert, Freund_innen wissen alle, dass das Examen bevorsteht, Therapie hat auch eine Pause – Arschbombe in die ungeteilte Aufmerksamkeit für das, was jetzt wirklich wichtig ist!

Und dann, jetzt, bin ich alleine.
Nicht nur Sookie und ich-alleine.
Nicht Pflegestellen-alleine.
Nicht ambulant betreut-alleine.
Nicht obdachlos-alleine.

So richtig alleine.
Kein Prompt von Außen zur gezielten Umwelt- und Selbstwahrnehmung. Kein Signal zur Prüfung irgendwelcher Parameter meiner Existenz. Verstreute Wecker, die mich zu einem Menschen mit abstraktem Funktionsvermögen zusammenpressen. Konfusion über Wahrhaftigkeit, Konsistenz und Vertrautheit der Momente, in denen wir Nachrichten bekommen. Das sind meine Freund_innen? Echt – ja, ja klar, ich fühls doch, sehs doch, weiß es doch – hä? Im Ernst? Aber, ähm – Bezug? Was haben wir miteinander zu tun, wieso wissen die alles von mir, ich bin doch hier und die da? Ach so, ja ja ich erinnere mich, ja ja ach – das hat alles mit allem zu tun aha, ja. Ja klar. Was hab ich – hä, was sind eigentlich gerade meine Gedanken? Bin ich? Ahja, ja da war was. Kann ich deshalb nicht, wie ich will? Was zum, wieso, aber – ach ja. Ja. Menschlichkeit. Grenzen. Oben, unten dies das, ja ja klar, ich erinnere mich. Ja. Das hat mit mir zu tun. Ich bin kein Quant. Ja. Nicht vergessen.

Und dann vergesse ich es doch. Bis zum Wecker. Oder dem grauenhaften Empfinden meine Existenz nicht auszuhalten. Wenn es extrem wird. Extrem hungrig. Extrem traurig. Extrem verwirrt. Extrem ängstlich. Extrem müde. Extrem belastet.

So brüchig ist das. Ich.
Und:
Mir geht es gut.
Ich bin dem nicht ausgeliefert, nur weil ich es nicht verhindern kann.
Ich habe mir mehr Wecker gestellt. Mit Prompts, die sonst von meinem Mann und Bubi, früher von Sookie, Betreuer_innen oder Pfleger_innen, anderen Menschen in meinem direkten Umfeld kommen.
Ich kann alles, was ich können muss, um nichts Extremes zu empfinden.

Ich muss nur dran denken.
Bevor ich mich in einen Fokuspunkt verwandle und in meinem Gedankenzug einfach immer nur geradeaus fahre.

Viele-Sein, Episode 99, mit Felice über Innenkinder

Außenstehende bemerken sie oft sofort – Betroffene mit DIS verlieren an sie zu Beginn jede Kontrolle: Innenkinder
In dieser Episode „Viele-Sein“ sprechen Felice und Hannah über verschiedene Aspekte ihres Lebens und Umgangs mit ihren Innenkindern und allem, was damit einhergeht.
Außerdem in dieser Episode: Unsere Einladung zum Hörer*innentreffen im September, ein Podcast-Shoutout und der Aufruf, als neue *r Podcaster *in zu unserem Projekt dazuzukommen.

Kapitel

00:00:00 Intromusik Hörer *innentreffen
00:01:17 Einleitung und Begrüßung
00:02:30 Begriffsklärung – Innenkinder vs. das innere Kind
00:10:15 Wann hattest du das erste Mal Kontakt mit einem Innenkind?
00:27:44 Innenkinder und die Folgen im Außen
00:43:15 Innenkinder in der Psychotherapie
00:52:42 Innenkinder und Kontakt/Arbeit mit Außenkindern
00:59:42 Was haben Innenkinder Schönes in unser Leben eingebracht?
01:04:56 Shoutout: Podcast Survivor Queen
01:06:11 Ende der Episode und Aufruf an neue Podcaster *innen

Hörer*innentreffen

Am 6. 9. im Freizeitheim Linden, Hannover. Anmeldung per E-Mail an vielestimmen @ vielesein.de.
Mehr Infos gibt es ab August, wenn sich genug Leute angemeldet haben.

Wir suchen neue Podcaster*innen!

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zeitversetzte Gefühle managen

„Wie erträgst/managst du das mit dem, dass es heute in der Realität keine Bedeutung mehr hat, aber die Gefühle trotzdem da sind?“ Das fragt overme unter meinem letzten Beitrag. Vielleicht ist meine Antwort interessant für andere.

Liebe*r overme,
ich habe heute die Haltung, dass es in der Realität Bedeutung hat, aber eine zeitverzögerte und deshalb eine andere als früher.
Du schreibst von Angst, Überforderung und Ohnmachtsgefühlen in einer Situation, in der es unpassend erscheint, sich so zu fühlen. Das muss man sich mal genauer anschauen. Denn: Was ist daran das Problem? Dass es unpassend erscheint oder dass es sich so anfühlt?

Bei mir ist das Thema, dass es von außen unpassend oder nicht nachvollziehbar erscheint, wie ich mich fühle ein massiver Trigger zu jüngeren Inneren. Deshalb bin ich sehr vorsichtig damit, wem ich mein Empfinden mitteile. Dabei achte ich dann auch darauf, genau zu wissen, was ich empfinde und wieso. Also, ob ich das fühle oder andere Innere; ob ich auf etwas Aktuelles (was passiert ist oder was ich gedacht, verstanden, überlegt, erfahren habe) reagiere oder ob ich Innere merke, die auf etwas reagieren, dass sie aus „ihrer Zeitlinie“ heraus (wieder)erkennen.
Diese Auseinandersetzung ist meine Art, „einen Fuß in die Tür zu kriegen“.
Das ist ja eine sehr „kopfische Herangehensweise“. Da geht es erst einmal nicht darum, ob ich da etwas Richtiges oder Falsches fühle und ob das angemessen ist oder nicht, sondern um eine Art Faktensammlung. Ich fühle mich sicherer mit meinen Gefühlen, wenn ich eine Art allgemeine Nachvollziehbarkeit für mich herstellen kann. Also – selbst wenn es komplett absurd erscheint, was ich empfinde, fühle ich mich schon sicherer, wenn ich verstehe, wieso. Und da brauche ich dann nicht die ganze Kette wissen (also zum Beispiel woran sich Innere erinnert fühlen oder wer jetzt konkret was befürchtet oder so), sondern es reicht mir zu wissen: „Ah, da habe ich (haben Innere) dieses gedacht oder wiedererkannt oder verwechselt oder für mich ist das so und so, deshalb ist da jetzt dieses Gefühl …“. Weil auch damit ja schon ein bisschen Dissoziation überbrückt wird. Die Gefühle bekommen damit einen Kontext und sind nicht so komplett isoliert, einfach da und „Tja, hier bitte schön, jetzt mal klarkommen“-mäßig überrumpelnd.

Ich notiere mir größere oder wiederkehrende Überrumpelungen auch – das gehört zu meiner Erforschung der Struktur der Dissoziation. Für mich kommts oft unzusammenhängend und chaotisch, aber in Wahrheit gibt es wirklich immer und in Bezug auf jedes Innen oder Thema ganz gut nachvollziehbare Reaktionsketten. Die kann ich schneller finden, je mehr Informationen ich habe.

Naja und wenn ich mich sicherer fühle, weil ich die Lage überschauen kann, dann mache ich die Dinge ängstlich. Weil zwar die auslösende Situation vorbei ist, aber die aktuelle ja läuft. Dann gehe ich halt ängstlich mit dem Hund raus und probiere aus, was ich noch an Gefühlen provozieren kann.
Ich bin zum Beispiel gut darin, mich mit meiner Ängstlichkeit des Todes zu nerven 😅 Das ist ein schmaler Grat zur Abwertung der Ängstlichkeit, aber einer, der aus Kompetenzbewusstsein kommt. Ich weiß ja, dass ich auch nicht ängstlich sein könnte in der Situation. Dass ich bestimmte Dinge kann. Mir fällt es leichter mich aus Genervtheit daran zu erinnern, als aus so einem Klangschalen-Meditations-Wir konzentrieren uns jetzt mal ganz auf unsere Stärken-Ding.
Und ich bringe Offensichtlichkeiten nach innen. „Jetzt mache dieses und jenes so und so, denn ich bin so und so, kann dies und das …“, „Zu Hause wartet X auf mich und macht wahrscheinlich gerade dies und das … Da werde ich dieses und jenes tun, denn Y wartet darauf, weil wir in diesem und jenen Zusammenhang miteinander stehen …“ Ehrlich gesagt, verschwindet die Ängstlichkeit dann früher oder später einfach. Auch ohne, dass ich sie gezielt angegangen bin. Mir hilft meistens viel mehr, wenn ich mich einfach nur versichere und nicht die ganze Zeit schaue: „Ist die Angst jetzt weg? Ist sie weniger? Wie fühlt sie sich jetzt an? Was merke ich noch davon?“

Das ist auch so ein Punkt, der aber auch nicht so einfach abzuhaken ist, richtig?
Weil man ja irgendwie auch weiß: Es wäre manchmal schon auch gut, wenn man sich kümmern würde. Oder das beachten. Angst ist ja meistens ein total wichtiger Anzeiger. Niemand hat einfach so Angst. Und Innere, die Angst haben – herzzerreißend. Da will man ja tüddeln. Die sollen ja wissen, dass alles gut ist.
Aber das gehört zum Punkt der versetzten Zeit.
Indem ich mich sehr auf meine Alltagsrealität konzentriere, verändere ich auch das, was diese Inneren von meiner Zeit wahrnehmen können. Und ob ich nun aktiv mitkriege, was sie neu erfahren oder nicht, ist für mich akut nicht so relevant. Ich muss solche Momente nicht nutzen, um die Tiefenwanderung in meine Kindheitserinnerungen zu machen. Ich kann – aber oft genug bringt mir das gar nichts, weil ich dann eh nur auf Fragmente treffe, die ungeordnet sind. Würde ich mich dann noch damit befassen, kann ich meinen Tag abhaken und die nächste Therapiestunde gleich mit, weil ich dann erstmal sortieren und ordnen muss – statt die Themen zu bearbeiten, die diese Sortage nicht erfordern (und mir eigentlich mehr helfen, meine Lebensqualität so weit zu verbessern, dass ich Kraft und Kapazitäten bekomme, um Fragmente zu sortieren und mich mit Erinnerungen zu befassen).

Wenn mein Alltag und meine Investition in die Reorientierung oder „Gefühlsauflösung“ bis Tagesende nicht geholfen haben, mich aus traumareaktiver Angst oder anderen emotionalen Flashbacks zu holen, dann gehe ich in die körperliche Betüddelung oder schaue, ob ich mich gegenüber meinem Partner öffnen kann. Also ob ich es abkann, von ihm umarmt zu werden, damit Innere eine Umarmung aus dem Heute in ihr Früher kriegen können.
Manchmal reicht mir aber auch schon einfach warm zu duschen oder mein Gesicht mit einem Waschlappen zu waschen. Oder meine Haare nochmal zu kämmen. Oder, wenn ich fühle, dass ich die ganze Zeit gegen eine bestimmte Körperhaltung zum Selbstschutz angekämpft habe, gehe ich kurz in die Haltung, lasse das Gefühl durchlaufen (ohne es weiter anzugucken oder zu analysieren) und gehe ganz bewusst wieder raus. Durchatmen, strecken, Geschirrspüler ausräumen, Quatsch wegräumen, Müll wegbringen.

Wir Rosenblätter haben krass viel Lebens- und Therapiezeit daran verloren, uns gegenseitig Druck darüber aufzubauen, diese „Gefühlswackler“ oder „Zuordnungsfehler in der Einschätzung der Gegenwart“ gefälligst zu verstecken, weil ja gar nicht real passiert (ist), worauf wir als Körper reagieren.
Weil das ja Symptome sind. Und ja eh auch alles schon vorbei. 🤪

Aber da hat auch ein Realitätsabgleich geholfen: Es gibt ja genug Leute, die auch sowas erleben und nie im Leben auf die Idee kämen, das wäre irgendwie krank oder komplett daneben.
Menschen lernen aus Erfahrung. Menschen leben lange. Da kommen viele Erfahrungen zusammen – die kann man jawohl auch mal verwechseln? Wer bestimmt denn, welche Gefühle worauf wie angemessen sind? Wenn ich etwas traurig finde, worüber sich jemand anderes totlacht – kommt dann die Gefühlspolizei und regelt? Nee – da kommt immer nur mein Erfahrungsschatz mit den Erwartungen und Konventionen, die ich bisher erlebt habe ins Spiel. Und mein erwachsener Erfahrungsschatz kann in der Situation, die du geschildert hast, passender sein als mein kindlicher oder jugendlicher. Muss manchmal mal nicht – aber meistens dann doch. Der ist einfach aktueller und passender zu den Lebensumständen jetzt.

Overme, ich hoffe, dass etwas für dicheuch dabei war.
Vielleicht mögen andere Leser
innen ja unten in den Kommentaren teilen, was für sie hilfreich ist.

die Videos

Ich verlasse das kühle Haus und stoße gegen unbewegliche Hitze.
Wir hatten einen besonderen Termin, meine Therapeutin und ich. Und meine Freundin K.. Wir kamen zusammen, um zwei Videos zu besprechen, die ich seit 23 Jahren wie zwei glühende Wackersteine mit mir herumtrage. In jeder Hinsicht.
Die Videos zeigen zwei Situationen im professionellen Setting. Mich mittendrin. Erst 16, dann 17 Jahre alt. Erst dick, dann dünn. Erst angespannt, dann sicherer. Ich habe vor 10 Jahren schon mal versucht, sie anzusehen, eine unerträgliche Panik hat den Versuch beendet.
Und auch diesmal sehen wir sie nicht an. Wir sprechen darüber drüber.
Meine engsten Vertrauten haben es gesehen. Ich glaube ihnen. Vertraue darauf, dass sie mir den Inhalt richtig wiedergeben.

Ich wollte wissen, ob ich bequatscht wurde. Mir die DIS eingeredet, ich falsche Annahmen ausgelöst oder bestätigt habe. Wollte wissen, wie meine Therapeutin die Situation aus professioneller Perspektive sieht. Wie meine Freundin aus ihrer. Haben sich die Erwachsenen in dieser Situation angemessen und professionell verhalten?
Hätten wir es angesehen, hätte ich mich betrachtet. Versucht mich zu sehen, zu erkennen. Wer war da? Willenlose Klapsleiche, compliant Patient*in, loyale Tochter oder böses Mädchen?

Und ohne dass es mir wirklich bewusst war, war da auch die Frage, ob man es sieht.
Meine Verlassenheit. Meine Unterlegenheit. Meine Auslieferung. Meine Machtlosigkeit. Meine Unreife. Meine Überforderung. Mein Leiden.
Nicht unter der DIS. Nicht unter den Symptomen. Nicht unter mir selbst, sondern allem anderen.

Als im Zug die Klimaanlage meine Haut kühlt und die Landschaft an mir vorbeizieht, rutscht eine Traumawahrheit in mich hinein. „Niemand sieht mich.“
Eine Wahrheit, die ich routiniert abwehre. Denn ich bin ja eine gute Patientin, nicht? Ich bin kein Opfer mehr, deshalb sind solche Gedanken und Gefühle ja kompletter Quark. Ich werde ja gesehen. Guck hier Realitätscheck: Seit über 20 Jahren gucken mich Therapeut_innen an. Heute ist heute, die Realität ist klar und deutlich eine, in der ich gesehen werde. Es ist ja niemand in meinem Umfeld komplett ignorant oder rücksichtslos. Alle stellen sich auf mich ein und fragen, was ich brauche, sind für mich da, wenn ich möchte – das ist doch „gesehen werden 3000“.
Oder etwa nicht? Was will ich denn noch mehr? Gibt es denn da überhaupt keinen Punkt, der mir reicht?

Dieses Empfinden des endlosen Bedarfs, des unerfüllbaren Brauchens, das ist für mich, die_r lange ausschließlich im therapeutischen Kontakt präsent war, bis heute etwas, das ich nicht ausdrücke. Erwähne. Bespreche.
Dieses Empfinden ist gefährlich für mich. Es führt in Mutter-Übertragungen, in Dynamiken, die mit Überforderung oder Unzulänglichkeitsthemen auf Behandler_innenseite zu tun haben und damit – so meine Erfahrung bis zur Arbeit mit meiner jetzigen Therapeutin – in den Kontaktabbruch. Die Entlassung in die Lebensgefahr.

Den Balanceakt, den es bedeutet die traumareaktiven inneren Bedarfe (anderer Innens) zu spüren, die eigene Hilfebedürftigkeit zu bemerken, aber im richtigen Maß zu kommunizieren, angemessen mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen zu stillen und dabei immer wieder zu vermitteln, dass es reicht, obwohl es das nicht immer tut oder nicht richtig oder an einer Stelle, die unerwartet dazugekommen ist – diesen Akt, zu schaffen war ein Kernaspekt meiner Präsenz.
Hätte ich, Hannah, wir Rosenblätter, uns nicht herausgeschliffen aus dem, was die Lebensrealität einer komplex traumatisierten Person mit DIS in Armut, mit damals noch nicht bekannter Behinderung und ohne nicht professionelle Bezugspersonen, zwischen 2002 und 2012 bedeutet hat, hätte unsere Klapskarriere nie geendet. Wir hätten nie aufgehört, nach Hilfe zu schreien. Nach Rettung. Nach Gesehenwerden in der Not. Da bin ich mir sehr sicher. Der Strudel, der mit diesem, aber natürlich auch noch vielen anderen Fragmenten des Trauma(wieder)erlebens einhergeht, ist einfach regelhaft Kompetenzen und Ressourcen üb.er.fordernd für Helfer_innen. Für Begleitende. Für Freund_innen.
Und dabei ist eine Sache leider die: Niemand kann jemanden die_r sich in absolut existenziell bedrohlicher Lage erlebt, jemals sehen. Denn sobald man jemanden sieht, ist die Lage einfach nicht mehr existenziell bedrohlich.

Was ich da fühle, ist „mein Opferscheiß“. Es ist Mimimi. Es ist das „Gah, das ist alles schlimm und scheiße und ich brauche unbedingt …“, das im Heute nicht mehr real ist – und ein reales Gefühl. Eine manchmal extrem dringliche Empfindung. Eine, die ganz real und in mir drin alles bestimmend wirkt, obwohl ich sie nicht habe. Obwohl ich sie empfinde. (Ja, so kompliziert ist „eine DIS haben“.)

Meine Kompetenz ist, diesen Unterschied zwischen Früher und Heute zu machen und den unerträglichen Clash, den diese Unterschiedlichkeit von Realität und Empfinden auslöst, nicht unaufgefordert oder aus eigenem Belastungsempfinden heraus zu kommunizieren.
Früher habe ich ihn nicht einmal empfunden. Da war ich noch viel stärker dissoziiert von den Anteilen, die diese Bedürftigkeit als akutes Erleben in einer Gewalterfahrung hatten. Heute schwappt das deutlicher zu mir über. Und mein Umgang damit ist weiterhin abwehrend nach innen, um nach außen nicht davon beeinflusst zu werden. Früher ging es dabei viel um Performance, heute eher um Funktionserhalt. Ich habe nun keine Therapeutin mehr, die mein Verhalten mit meinem Sein gleichsetzt – daher habe ich keinen Performancedruck mehr. Trotzdem ist nach wie vor in mir drin: Wenn ich da bin, bleibt dieser gefährliche Opferscheiß entweder komplett raus oder wird passend abgeschwächt – sonst funktioniert das hier nicht sicher als Therapie und damit ich selbst nicht mehr.

Und der Anfang von diesem Ding – diesem Anspruch therapiegerecht zu funktionieren, während gleichzeitig ganz andere existenzielle Höllenfeuer laufen, die aus unterschiedlichen Gründen heraus nicht lösbar, beendbar, benennbar, besprechbar oder (wieder) gut machbar sind und entsprechend unsichtbare Innere komplett allein lassen – dieses Ding hat da angefangen.
In einem Setting, in dem man mich bis heute ansehen kann. In dem ich schon damals von sehr viel mehr Menschen angesehen wurde, als mir lieb war. In dem ich mit meinem Vielesein gesehen wurde – mit 16 und nicht erst mit 26, 36 oder 46, was sich viele andere Viele wahrscheinlich sehr gewünscht hätten.

Aber ich war damals nicht nur eine Patientin mit DIS.
Ich war auch eine 16- dann 17-jährige Person im X. psychiatrischen Aufenthalt, weil sie absolut keine Kontrolle über sich selbst hat. Ein_e Jugendliche_r, die_r froh ist, nicht mehr zu Hause zu sein und gleichzeitig schwer heimwehkrank. Ein Teenager mit unerträglicher Kindheit. Eine Patientin, in ständiger Anspannung, dass sich die Missbrauchssituation durch einen Psychologen wiederholt. Eine Tochter ohne Familie. Ein_e Heranwachsende_r ohne Freund_innen. Ein Opfer, das nur von Täter*innen hört, dass es gut wäre, wäre es nicht länger in der Psychiatrie. Ein_e hochbegabte Person, die sich gleichzeitig runterdummen und intellektuell massiv überfordernden Inhalten widmen muss. Eine unerkannt autistische Person mit gleichermaßen unerkannten Kommunikations- und Verständnisproblemen. Ein_e Jugendliche_r, mit Todesangst vor dem Leben. Jemand, die_r ziemlich genau nur eine Perspektive in die Zukunft hat – nämlich die immer an sich arbeiten zu müssen, weil das Leiden sonst nicht aufhört.
Ich war so viele.

Doch egal wie gewogen, befreundet, vertraut man auf diese Aufnahmen schaut, man sieht nur, was die Kamera damals aufgezeichnet hat.
Und das war nicht das Leiden.

Dass ich weiß, dass ich fühle, dass ich mir sicher darüber bin, dass K. und meine Therapeutin es trotzdem sehen, ist eine besondere Erfahrung für mich. Sie verbindet mich mit der Realität. Mit dem Heute. Mit der Welt, in der diese Erfahrung möglich ist, weil ich Teil davon bin.

Und es ist meine Erfahrung. Mein Gefühl. Mein Wissen. Meine Sicherheit.
Nicht die der Inneren, die sich damals nicht gesehen gefühlt haben.
Der Clash zwischen ihrem Gefühl und meiner Realität, er begleitet mich über Tage und verschwindet rückstandslos, als sich durch mein Alltagsgekruschel einfach keine weitere Lücke ergibt.
Muss ich da jetzt hinterher? Wollen sie das? Brauchen sie das? Ich habe keine Ahnung. Niemand wird es mir sagen können.
Aber merken werde ich es. Wir sind nicht mehr so weit voneinander getrennt.
Aufarbeitung ist ein Prozess.