Ahnung haben

Es ist April, es fühlt sich nach Juli an. Wenn die Bauern über die Felder fahren, ziehen sie Staub hinter sich her. Ich gieße jeden Abend unsere Beete und Beetchen, hoffe, dass das Wasser überhaupt weiter als einen Zentimeter in den Boden kommt. Mein bisschen Ahnung von Pflanzen und Draußen reicht, um zu wissen, dass die Bedingungen für Anfänger_innen gerade nicht ideal sind. Aber was ist gerade ideal. Was ist das überhaupt je, außer unsere Vorstellungen und Ideen.

Heute haben wir das Auto mit 6 Heidelbeersträuchern und 8 Zentnern Erde gefüllt. Das war toll.
Es fühlt sich erwachsen an, solche Dinge zu entscheiden. „Bapp! Hier kommt ein Strauch hin.“
Ein ganzer Strauch! Genau die Dinger, die man normalerweise irgendwo eingewachsen rumstehen sieht, ohne darüber nachzudenken, warum sie da stehen und nicht woanders. So ein Strauch ist etwas anderes als eine handvoll witzig geformter Samen, die man auf kahl vertikutierten Rasen wirft, begießt und hofft, dass nicht schon zur nächsten Mittagszeit gerösteter Kerncocktail auf dem Speiseplan der Vögel steht. Ein Strauch ist schon da. Fertig. Dem guckt man nicht mehr so wirklich beim Werden zu, mehr beim Sein. Das macht den Akt des Verpflanzens für mich so besonders.

Jetzt stehen sie da im Garten, neben dem Hochbeet, das ich diese Woche angelegt habe. Vermutlich falsch. Auf jeden Fall schief. Und voller Enthusiasmus, dass das schon irgendwie gehen wird, von mir betrachtet. Ich verwandle mich in eine Gartenversion von F., dem Baufreund. Den habe ich vermisst beim Bau. Sägen ist nach wie vor ein Thema für uns.
Immerhin gärt es nun im Bauch des Hochbeets. Man kann seine Hand auf die weiche Erde legen und sie ist warm. Wenn man sie mit Wasser beregnet, riecht es nach April.

Ich habe immer gedacht, Heidelbeersträucher hätten Stacheln und Erwachsene immer genaue Ahnung, von allem, was sie tun und entscheiden. Das haben sie nicht und das ist gut zu wissen.

Zuhausebäume

Vor einigen Wochen hatten wir sie gekauft. Die Baumbabys. Ein Bassumer Apfel und ein Bismarckapfel. Sehr lecker, sehr besonders. Für uns. Wir haben noch nie einen Apfelbaum gekauft, noch nie einen Baum gepflanzt.

Jetzt im Dezember passiert in den Gärten der Nachbarn nichts. Aber in unserem.
Wir hatten Rambazamba mit Motorsägen und jetzt beginnn die Räumungsarbeiten. Die Vorbesitzer des Hauses haben es auch wegen des Gartens verkauft und das merkt man. Es gibt viele kleine und große Baustellen, jetzt nehmen wir uns eine nach der anderen vor. Irgendwann soll es ein essbarer Garten sein.

Die Baumbabys habe ich heute eingepflanzt. Ein andächtiger Moment. Die Vogel haben gezwitschert, die Sonne waberte durch Dezemberwolkenschleier. Vorne an der Straße fuhr ein Tiertransport, auf dem Bürgersteig wickelte sich das Glasfaserkabel Meter um Meter von der Trommel hinab in einen langen dünnen Graben mit Arbeitern drin. Der Freund arbeitete im Haus, die Hunde vermutlich irgendwo zu seinen Füßen.
Am Montag ging es um die Frage, wo „Zuhause“ ist. Und für mich um alles, was es bedeutet, dass da nachwievor Innens sind, deren Zuhause nicht da ist, wo wir wohnen.

Einen Baum zu pflanzen ist eine Investion in die Zukunft. Das habe ich in einem Text über Monokulturen gelesen. Die Monokulturen, die jetzt vom Klimawandel verbrannt werden. Und trotzem denke ich, dass ich auch gerade investiere, als ich den Topf vom Bäumchen löse und den Ballen vorsichtig lockere. Ob in die Zukunft das wird sich zeigen. Es würde mich freuen, wenn unsere Kinder genau diese Baumbabys zu großen stabilen prächtigen Bäumen heranwachsen sehen würden und deren Kinder und deren Kinder und deren Kinder davon essen, bis irgendwann ein Sturm kommt und sie beweint und betrauert abgesägt werden müssen. Circle of life dies das.
Aber auch in die Gegenwart. Jetzt hier und heute haben wir zwei Bäume gepflanzt. In dem Garten von unserem Zuhause. Wow. Gegenwart. Hier und jetzt, Zuhausebäume.

Unterstützung

Wir brauchen keine Unterstützung.
Aber wenn es welche gibt, wird vieles einfacher.

Zwei Sätze. Ganz einfach. So klar. Der Kampf um sie ging über Jahre und viele davon sind im Blog von Vielen dokumentiert. Heute sind sie eine der wichtigsten Säulen in unserem Leben.

Für viele Viele ist die Wahrnehmung der eigenen Begrenzungen mit Todesangst und also auch mit Dissoziation besetzt, weil sie wie wir in einem Klima aufgewachsen sind, in dem etwas nicht zu können, etwas nicht genügend zu schaffen oder bestimmte Fähigkeiten nicht rechtzeitig, gut, schnell, lieb … genug abrufen zu können mit akuter Gefahr für Leib und Leben verbunden war. Und für manche, die nachwievor in gewaltvollen Kontexten leben müssen, noch immer ist.

Bis heute können wir nicht gut mit Hilfe und Hilfsangeboten umgehen.
Denn Hilfe nimmt uns etwas weg. Wir haben psychiatrische und andere klinische Angebote als “Hilfsangebote” präsentiert bekommen, haben Betreuungen als Hilfen kennengelernt. Immer mussten wir dabei auf Dinge verzichten, die uns als Individuum, als Person mit angeblich unantastbarer Würde, Schutz und damit auch Kontakt zu uns selbst hätten gewähren können.
Ein Umstand, der uns als komplex traumatisierte Person immer wieder retraumatisiert hat, denn kein Schutz ist kein Schutz und keinen Schutz zu haben, bedeutet immer Gefahr – egal, ob diese real potenziell tödlich ist oder nur als solche wahrgenommen wird.

Wir haben uns in unserem Leben immer am Besten selbst helfen können. Wir haben uns gerettet, wir haben uns geschützt – zum Einen, weil es niemand für uns getan hat und zum Anderen, weil das, was wir an uns schützen, etwas ist, das so tief ins Menschsein hineingeschrieben ist, dass es im Grunde kaum bewortbar ist, geschweige denn sichtbar gemacht werden kann.

In den Extremen, die wir überlebt haben war das wichtig. Und auch in den Mittelmäßigkeiten, den alltäglichen Einerleiigkeiten bleibt das wichtig. Denn die Erfahrung ist da. Sie ist uns in das Innen gepresst, wie die Erfahrung, dass Wasser nass und Eis kalt ist.

Was wir außerdem gelernt haben ist, dass zu leben hart ist.
Überleben ist in einigen Qualitäten vielleicht härter, doch wenn man lebt, dann gibt es keinen einzigen Zeitpunkt, an dem nicht alles auch von Kräften aus sich selbst zehrend ist.
Heute, mit mehr Kontakt untereinander, merken wir, an wie vielen Stellen wir an unsere absoluten Limits gehen. Wie viel wir jeden Tag von unserer gesamten Lebenskraft in alle möglichen Dinge schütten, nur, um sie überhaupt machen zu können.

In unserem Leben haben wir das Glück und die Privilegien, von Menschen umgeben zu sein, die uns nicht helfen wollen. Die verstehen, warum wir das nicht wollen und sich selbst so weit reflektieren können, warum das überhaupt insgesamt immer auch eine Gefahr für Menschen darstellen kann. Selbst dann, wenn es ganz lieb gemeint ist.

Wir bekommen Unterstützung von ihnen. Manchmal, weil wir darum bitten, meistens, weil sie uns welche anbieten, ohne je Bedingungen daran geknüpft zu haben.
Das ist eine krasse Erfahrung für uns gewesen, als wir zum ersten Mal damit konfrontiert waren.
Dass man uns hat machen lassen und bei Bedarf, oder der Annahme von einem solchen, so unterstützt hat, dass wir auch weiterhin alleine weitermachen können.
Heute bedeutet uns Unterstützung die Kommunikation von Respekt. Respekt für das, was wir tun und wie wir das tun. Auch, warum wir tun, was wir tun. Es ist unsere Sache und trotz des Umstandes, dass wir unsere Dinge durch Unterstützung tun, bleibt sie das auch.
Was für eine große Sache das ist, können wir kaum kommunizieren, denn nachwievor berührt es die Wunde um das, was die Gewalterfahrungen neben vielen anderen Dingen angefasst haben: das Eigene, das niemals angefasst werden darf.

Ich habe diesen Text geschrieben, um aufzuzeigen, was uns Unterstützung bedeutet.
Auch finanzielle Unterstützung für unsere Projekte.
Ja, wir können ohne Geld von anderen Menschen bloggen. Ja, wir können auch ohne Geld das Podcast machen. Ja, wir können all die Verantwortung, die mit unseren Veröffentlichungen einhergehen, allein tragen.
Aber es ist leichter, wenn wir unterstützt werden.
Wenn es leichter ist, macht es mehr Spaß.
Wenn es leichter ist, ist es freier, sind wir freier.

Das Blog von Vielen wird im Moment von 2.433 Menschen verfolgt.
Das sind enorm viele Menschen, selbst dann, wenn die Hälfte das Abo vielleicht schon vergessen hat, ein Drittel nur dann und wann mal reinschaut, und nur 1 Prozent regelmäßig liest.
Es ist Öffentlichkeit. Eine kleine vielleicht im Vergleich zu der anderer Blogger_innen mit anderen, vielleicht eher anschlussfähigen Themen, aber eine große für uns, die sich anders als andere Personen eben nicht so öffentlich zeigen können und wollen, wie man das in der allgemeinen Verwertungslogik von Öffentlichkeit so tut.

Wir wollen diese Öffentlichkeit nutzen. Für unsere Themen, für die Verbreitung von Wissen über die Folgen komplexer Traumatisierung in den Leben der Überlebenden, für einen Beitrag zur Weiter_Entwicklung einer politischen Bewegung der traumatisierten, diskriminierten und ausgebeuteten Menschen in unserer Gesellschaft.

Dabei könnt nur auch ihr uns unterstützen.
Klickt euch ein Unterstützer_innenpaket auf Steady für das Blog von Vielen oder das Podcast “Viele-Sein”.
Die Einnahmen fließen in die technische Infrastruktur, in die Erstattung von Reisekosten für Interviews, die Produktion von Grafiken, kleinere Printprojekte wie Zines, die Deckung von Fahrt- und Unterbringungskosten zu Vorträgen, Workshops und Lesungen …
und irgendwann – eventuell vielleicht – auch mal in einen Bonbon für unsere Arbeitszeit, aber auch die von Renée und Christiane, mit denen wir Formate des Podcast zusammen machen, und Judith, die uns die Podcastfolgen nach und nach transkribiert.

Das Blog von Vielen wird immer kostenlos lesbar sein.
Aber wir möchten vom Schreiben und unseren Schriften leben können. Das geht in dieser unserer Zeit, unserer Gesellschaft und auch in unserer persönlichen Lebenssituation nicht anders als mit einem Preisschild an unserer Arbeit. Ihr könnt wählen, ob ihr uns in der Form unter die Arme greifen möchtet, oder nicht.

Das ist die Unterstützung, die wir annehmen können und wollen.
Sie macht uns freier und damit auch unsere Arbeit besser.

Vielen Dank

„Glücklich“ – mit Innenkindern tanzen

 

Es war einer der Filme, die wir vielleicht im Kino gesehen haben. Damals.
1999 – 2000 vielleicht sogar von einer Videokassette 2001. Die Neuverfilmung von Pünktchen und Anton.
Den Soundtrack hatten wir auf Kassette. Dann nicht mehr. Damals konnten wir erst nur das wichtigste, später was noch da war, mitnehmen.

Seitdem haben wir die Filmmusik gesucht. Hatten irgendwann 2005~6 eine Benachrichtigungseinstellung bei Ebay eingerichtet und letzte Woche war sie dann da. Die Mitteilung, dass der Soundtrack – wohlbemerkt nicht das Hörspiel zum Film, damit wurde und wird man bis heute immer regelrecht zugeschüttet – von dem Wiederverkäufer als Artikel eingestellt wurde.

 

Ich hätte nie gedacht, dass es mal wichtig werden würde, sich solche Inseln des Banalen näher zu bringen.
Die Geschichte des Films ist für uns irrelevant. Was uns treibt ist der Film, den die Musik im Kopf gemacht hat. Der Film, den frühere von uns in den Stunden und Tagen, Wochen und Wochen des Dauerschleifehörens gehabt haben. Manchmal, ganz manchmal noch mit einem der Geschwiste drin.
Die Farben, die Köstlichkeit der unterschiedlichen Töne.

Nun läuft die Musik durch das Büro und Tränen aus meinem Kopf. Weil es SO SCHÖN ist. Und weil ich so eine Glücklichkeit fühlen kann, die sich richtig an meine Körperränder drückt und alles kribbeln macht. Ich merke, dass das nicht meine Glücklichkeit ist. Aber ich merke das erste Mal ein aufrichtig glückliches Kinder~prä-Teen~innen und hallo wie krass gut ist das.  Ich kann seinen Film sehen, es wird so zum Teil meines Musikfilms. Es lässt mich seine buttrigsüße Leichtigkeit einer Zeit fühlen, von der ich nicht viel mehr als schale Bitterkeit und den Geschmack von Blut erwartet hätte. Da ist so viel Unschuld mit Träumen von Tanzen und Musik machen, Singen und Malen, fern von allen und allem, ganz beimit sich. So viel Versunkenheit, die nichts von ihrer Tiefe spürt, weil es kein Maß braucht.
Schön.
Eins.fach schön.

Das merke ich daneben auch. Dass es allein ist.
Nichts anderes, als das weiß und lebt. Da sind einige kleine Erinnerungen an das Geschwist, an Musik und das hellgelbe Glitzern des eigenen Glücks.
Ein schönes Da_sein eigentlich.

Und jetzt sitzen wir also hier. Wir beidalle. Eine Ladung Rosengeblätt und ein glitzeriges Früher.
Ich merke, dass es grad nicht darum geht diesem Kinderinnen zu sagen, dass heute heute ist, sondern mit ihm mitzugehen. Mitnach zu fühlen. Mitjetzt zu sein. Ein bisschen zu tanzen, ein bisschen zu singen.
Das hat so gar nichts von der Situation, Kinderinnens aus dem Elend des Früher zu holen oder ihnen klarzumachen, dass wir sie heute gar nicht brauchen. Quasi ihnen ihre Restigkeit bewusst zu machen. Es geht viel mehr darum, uns klar zu machen, dass es auch diese Reste gibt.

Ganz banale, schöne Reste eines Glücks.

 

über reine Nervensachen, Traumastille und gedrückt werden

“Alles Nervensache”, denke ich und schiebe uns durch den Verkehr.
Ich habe Schmerzen und das, was Alltags ist, strömt zäh_flüssig mit mir wie einem Korken draufdrin dem Tick-Tack nach.

Später zu Hause eingeklemmt zwischen Schrank und Wand denke ich: “Ja, alles Nervensache” und erinnere mich an die eine Gruppentherapie vor was weiß ich nicht wie vielen Jahren. Wo eine Person versucht hatte zu erklären, wie sehr es weh tun kann, depressiv zu sein und die Therapeutin fragte, was genau denn da weh tun würde.

Das ist mein Schmerz im Alltag, denk ich. Das ist der gleiche Schmerz, wie der, der mich quält, wenn ich so runter bin – weil der Zug rumpelt, Leute reden, atmen, Kleidung bewegen, Zeitungen, Handtaschen oder Rucksäcke durchkruscheln, weil sich alles bewegt, Aufmerksamkeit, Reaktion und Einordnung verlangt. Wenn einfach nur die Welt passiert und der Platz dafür in sich drin, nicht mehr gepolstert ist.

Nachdem wir in Biologie etwas über Zellkerne gelernt hatten, hab ich sie mir dann manchmal in das Wortbild vom “Laufen auf dem Zahnfleisch” eingebaut und mir gedacht, dass es vielleicht deshalb wehtut, weil die Zellkerne wie Legosteine da liegen und es dann natürlich weh tun muss, wenn man drauftritt.

Ich bin im Moment nicht depressiv. Eigentlich gehts mir und uns sogar ganz gut.
Was es irgendwie noch schlimmer macht, dennoch mit diesem Schmerz konfrontiert zu sein und einen Umgang haben zu müssen. Wäre da eine Depression, dann würde die Kraft für mehr als die Wahrnehmung dessen fehlen. Wir würden liegen, schlafen und wenn wir erwachen, die Augen zuhalten und uns in einem weißen Nebel bewegen, der neben der Zeit passiert.

Ich habe gelesen, dass es dem Schmerzgedächtnis scheiß egal ist, welcher Ursache ein Schmerz ist.
Und habe mich an den Schmerz erinnert, den ich mit Traumastille verbinde. Das ist die Stille, die sich ausbreitete, wenn der letzte Schlag, der letzte Stoß, der letzte Druck auf den Körper zum Ende kam und dann nichts mehr passierte. Die Zeit zwischen dem Moment, in dem die gewaltausübende Person ihren Verdrängungsschängel zu einem Spruch, einer Anweisung, irgendeinem weiteren groben Über_Griff machte und dem, in dem sie ihn machte.

Manchmal habe ich einen Schmerz als überkrasses Geräusch oder geblendet oder verbrannt werden wahrgenommen. Auch diese Art von Schmerz ist Traumastille für mich.
Ich kann bis heute nicht sagen, was genau da weh getan hat. Oder wie sich dieses überkrasse Geräusch für mich angehört hat oder welchen Ursprungs die Blendung war, die ich da empfunden habe.

Heute weiß ich, dass das eine Nervensache ist. War.
Das Nervensystem von Klein_Kindern ist nicht das von Erwachsenen. Gerade vor ein paar Tagen konnten wir das bei der anderthalb Jahre alten Tochter von Freund_innen miterleben. Sie stolperte, tat sich weh – doch drückte den Schmerz als Schmerz erst fast 10 Sekunden später aus.
Was war es in den 10 Sekunden, bevor sie zu weinen begann und bei ihrer Mutter Erleichterung davon suchte?
Ich glaube, da war es noch Nervensache. Also: alles mögliche. Alles Nervenmögliche.
Es hätte auch geblendet werden oder auditiv überflutet werden sein können. Das Gehirn prüfte noch nach Einordnungsmöglichkeiten, während das Empfinden schon längst da war.

Manchmal denke ich, dass das vielleicht mein, unser chronisches Schmerzproblem heute ist.
Die Nervensache ist so oft nur rudimentär eingeordnet worden, dass sie bis heute eine Nervensache ist.

Als die Gewalt passiert ist, war ja mehr als nur Schmerz da. Es tut eben nicht nur weh, miss.be.handelt zu werden. Es ist auch einfach nur grob, dumpf, vielleicht auch mal mit einer Quetschung oder einem Druck verbunden. Manchmal sind da auch noch Komponenten die körperliche Resonanzen mit sich bringen, wie Angst, Horror, Ekel, Beschämung oder Demütigung. Der peinsame Cringe, den man hat, wenn man vor anderen bloßgestellt wird, kann das gleiche Reißen im Zwerchfell sein, das entsteht, wenn man mit aller Macht gegen einen Brechreiz, ein panisches Erstickungsgefühl oder schlichtes Schock-raus-schreien angehen soll muss.

Manchmal hilft es uns, Anspannung zu veratmen. Dann denke ich mir, dass meine Nerven zittern und wackeln, weil sie so unter Spannung stehen, dass auch das banalste kleinste sie ganz zwangsläufig berühren muss – und mir dann einmal mehr Schmerzen bereitet.
Ich atme den Bauch raus und drücke mit dem Daumennagel in die Rille zwischen Oberlippe und Nase.
Die Geschichte mit dem Gedanken ein Baum zu sein, ist auch gut dafür.

Noch mehr hilft es uns Druck zu fühlen. Schwere Decken oder zwischen Wand und Schrank gedrückt sein. Oder NakNak* auf dem Schoß haben. Oder NakNak*, die sich an unseren Oberkörper drückt.
Das ist scheinbar eindeutig genug für unser Gehirn. Es dauert keine zwei Sekunden bis das Schmerzempfinden nachlässt, wenn wir so “gedrückt” werden. Aus Nervensache wird Drucksache. Wird Wort, wird Zeit und Raum, wird eigener Körper und damit Entlastung.

Ich finde das erstaunlich.
Auch, weil ich dann manchmal einfach anfangen muss zu weinen und nicht weiß, ob ich vielleicht schon vorher hätte einfach zu weinen versuchen sollen oder nicht. Ob mir die Welt und ihre Reize vielleicht eigentlich gar nicht wehgetan haben, sondern sie mich traurig gemacht hat. Oder, ob sich da gerade noch ein Traumafizzel mit verarbeitet hat und es als eine Art nachträgliche Affektabfuhr passiert.

“Alles reine Nervensache”, das wird oft gesagt, wenn man meint, etwas sei nichts Ernstes, Dringendes gar Be_Drängendes und daher beherrschbar oder auch kontrollierbar. Manche Menschen sagen so etwas, um andere Menschen mit ihren Empfindungen allein zu lassen, denn die eigenen Nerven hat man eben nun einmal nur für sich.

Auch das ist etwas, das in mir Traumastille-Schmerz macht.
Denn es erfordert schon etwas jemandem von so unbestimmten Dingen zu erzählen. Vertrautheit, Nähe und die Annahme im Schmerz an.erkannt und verstanden zu werden.
Mir kommt das wie eine Anbahnung vor.

So wie wir es brauchen zu wissen, dass wir nach der Arbeit oder der Schule nichts mehr machen müssen, das Handy greifbar ist und der Schrank stabil steht, um uns in den wohltuenden Druck zu begeben, brauchen manche anderen Menschen, eben diese sozialen Flauschigkeiten, um gedrückt zu werden und das auszuhalten.

Für uns werden reine Nervensachen erst dadurch zu etwas, das beeinflusst werden kann.
Für andere sind es andere Menschen.

Irritierend wie sich je die Annahme entwickeln konnte, Menschen mit Schmerzen jeder Art unberührt (ungedrückt) zu lassen (außer sie wünschen sich das so), sei eine gute Idee.

Flügel spüren

Am Abend liege ich im Bett und denke, dass es sich nach Flügelspitzen anfühlt.

Vielleicht geht genau so „frei sein“, „eigene Entscheidungen treffen“, „eigene Ziele verfolgen“, „eigene Zukunftsideen wollen, wünschen, vertreten“, denke ich und finde, dass das schon ziemlich geil ist. Wir verbrachten den Tag im Zug nach und von Berlin und in Berlin selbst, denn Ironhack und Kleiderkreisel haben eine Scholarship-Aktion gestartet um mehr Frauen* in die Tech-Branche zu bringen.

Wir haben einen Schnellkurs in Javascript gestellt bekommen, um uns auf ein technisches Interview vorzubereiten, bei dem es auch ein 5 minütiges persönliches Interview gibt. Und dann wurden wir mit +150 anderen Bewerberinnen* zusammen eingeladen.

Wir konnten viele Aufgaben nicht lösen, aber das ist uns inzwischen fast egal – man braucht einfach mehr und vielleicht auch andere Hintergrundbildung und Lernmethoden als wir, um sich in 14 Tagen auf rein schriftlicher Basis (bzw in unserem Fall: einen Sololearnkurs, den man in der Straßenbahn auf dem Schulweg absolviert hat) sowas beizubringen. Hatte ich mir vorher schon gedacht und bin jetzt darin bestätigt.

Im persönlichen Interview kam dann die Angstfrage schlechthin: „Wo siehst du dich in der Zukunft?“

Es ist keine Angstfrage, weil wir Angst vor der Zukunft haben. Es ist eine, weil unsere Gegenwart so verwurschtelt und dezentral ist, dass die Antwort, die wir daraus ableiten eine ist, die von anderen Menschen oft als unrealistisch oder gesponnen eingeordnet wird.

Ich kann uns sehen, wie wir eine Arbeit in der IT~~irgendwas mit Medien~~technik-Branche haben, wie wir das Nachwachshaus umgesetzt haben und erhalten. Ich kann sehen, wie wir die Fotos machen, die wir machen wollen und die Dinge aufschreiben, die wir aufschreiben wollen. Alles in einem Leben, das näher an dem Heutejetzt ist, als das Früherdamals.

Wir werden es nie schaffen uns nach Außen zu verengen. Dafür sind wir einfach zu viele und unsere innere Bauweise so tiefgreifend darauf aufgebaut, dass wir uns von Kontext zu Kontext einengen, um durchzukommen.

Vielleicht ist das aber entgegen der Ratschläge, die wir so bekommen, wenn es um unsere nächsten Jahre geht, auch gar nicht schlimm. Vielleicht sind wir einfach eine „multipotentialite person„, die von allem ein bisschen und nichts ganz und gar macht. Das ist nicht Schlechtes – es ist nur nicht das, was verlangt wird.

Als der technische Teil des Termins vorbei ist, fragen wir andere Personen, wie es bei ihnen gelaufen ist. Bei manchen lief es wie bei uns, bei manchen sehr viel besser.
Was das für die Vergabe der Gelder bedeutet, weiß niemand von uns. Bei über 400 Bewerberinnen* kann es am Ende vielleicht nur darum gehen, wer am schnellsten genau so lernt, wie vorgegeben, um später auch von dem Bootcamp zu profitieren.

Es ist der Charakter des Zusätzlichen an der ganzen Sache, der mich entspannt und glücklich macht, obwohl es nicht so fehlerlos gelaufen ist, wie ich gehofft hatte.
Wir mussten nicht die Beste sein, nichts außer eine Chance auf eine Chance stand auf dem Spiel und am Ende haben wir so oder so gewonnen. Mit zwei Frauen* wollen wir in Kontakt bleiben – was ein Grad an Socialising ist, den wir bisher nur auf Tagungen zu Gewalt und Trauma erreicht haben.

Wir haben dank NachwachshausAG-Mitpersonenbegleitung einen Nachmittag in Berlins S- und U-Bahnen überstanden und als wir zu Hause ankamen, haben wir noch das Konzept für ein Redesign geschrieben, das heute eine Deadline hat.
Mit Schulschluss heute, werden wir zerschossen und k.o. sein, aber wir haben gemacht, was wir wirklich und genau so wollten, einfach, weil wir das für uns allein wollten und konnten. Weil wir so frei und gleichzeitig auch so unterstützt sind, dass das geht.

Dieses Gefühl habe ich so noch bewusst nicht gelebt und das ist be.merk_würdig.
Ich denke mir zwei kleine Federn, die mir aus der Haut gewachsen sind und vielleicht für länger bleiben.

der Nichtschweigeskill

Wir gehen gerade mit einer Situation um, in der eine Person etwas über eine andere Person behauptet und sich das weiterträgt. Gossip, Klatsch, Rufschädigung, Gerüchtestreuung. Sowas in etwa.

Wir haben nicht oft mit solchen Dingen zu tun, denn die meisten Leute, die uns so etwas antragen, tun das in der Regel nur ein Mal. Mit uns macht sowas einfach keinen Spaß, denn wir reden mit möglichst mit allen Leuten gleich, sind froh, wenn wir nicht vor den Einen dieses und vor den Anderen jenes sagen müssen, um mit ihnen Zeit verbringen zu dürfen. Wir haben keine Kraft dafür, denn es kostet uns schon Kraft uns zusammenzuhalten. Mitzukriegen, wer von uns mit wem was wie laufen hat – das können wir im Außen einfach nicht tragen. Vielleicht mal kurz, wenn eine Situation das erfordert, aber selbst dann brauchen wir Leute, denen wir sagen können, dass wir da grad was tragen, damit wir das schaffen.

Jedenfalls.
Diese Situation und das was sie macht, erinnert mich an Schweigegebote.

Schweigegebote haben für uns mit “mitmachen” zu tun. Gebote sind für uns Regeln, denen man zu folgen strebt.
“Sag nichts, dann passiert irgendetwas, wofür sich das lohnt/ passiert was Gutes/Wichtiges/Richtiges”.
Das heißt: man verspricht sich etwas davon oder bekommt etwas versprochen.

Im alltagsgewaltvollen Umgang bedeutet das, dass viele Leute Dinge einfach nicht sagen, weil sie sich etwas davon versprechen. Keinen Stress und akute Harmonie vielleicht. Jemandem nicht zu sagen, dass sie_r krassen Mundgeruch hat ist zum Beispiel so eine Sache. Man redet nicht darüber. Es gibt ein soziales Schweigegebot darüber. Vielleicht ist es auch ein Tabu – wobei mir dazu gerade die Abgrenzung nicht einfällt und ich eigentlich auch gar nicht über Tabus schreiben will.

Anyway.
Interessant finde ich, wenn Gewaltüberlebende/Gewalterfahrene und ihre Verbündeten (und deren Behandler_innen)so etwas miteinander machen. Die Einen über die Anderen, diese über jene und “Ach DIE also NEE!”, bei gleichzeitiger Weitergabe von so etwas wie “Aber pscht, ne?!” oder schlimmer noch: von sich selbst wegtransferierte Verantwortung für die Weitergabe von Gerüchte, Klatsch und Hörensagen über Personen, die nicht im Raum (und bereits damit konkret unterlegen!) sind.

Der Klassiker ist da das Gerücht ohne Urheber_in.
Dem kann man nichts entgegnen, man kann evtl. zugrunde liegende Missverständnisse oder Fehlinformationen nicht aufklären. Als Opfer/Ziel von einem Gerücht ohne Urheber_in ist man maximal ohnmächtig und soll es auch sein. Man soll nur die negativen Auswirkungen zu spüren kriegen und die_r Urheber_in im Schutz der Unsichtbarkeit bleiben können.

Interessant finde ich das, weil es ein Verhalten von Kindern ist, die die Schwächen/”Fehler” anderer zielsicher finden und gegen sie zu verwenden, sobald diese sie verlassen oder kränken oder verletzen oder oder oder. Solche Kinder haben meistens lügen, tarnen, verwässern und verwischen gelernt, um zu überleben. Und das ist ein Skill. Einer, der sehr feine, gut funktionierende Antennen für soziale Geflechte und eine gewisse “akute Skrupellosigkeit” im Miteinander erfordert.
Lügen, zum Beispiel, bedeutet ja nicht nur die Unwahrheit zu sagen oder Dinge vorzugeben, die nicht stimmen – man muss in der Regel schnell sein, erfassen, wie und womit sich das Gegenüber überhaupt täuschen lässt und dann darf man die Lüge das ganze Leben lang nicht vergessen, weil man ja vielleicht immer mit der Person zu tun hat.
Deshalb nenne ich das einen Skill. Menschen so lesen zu können, kann an anderen Stellen sehr hilfreich sein.

In einer Szene, die sich zusammenfindet, weil es Menschen gibt, die andere Menschen von Kleinkindalter an belügen, verwirren, ihre Motivationen verwässern und und und, ist das meiner Ansicht nach so zynisch wie logisch.
Das Eine schließt das Andere nicht aus und trotzdem ist es bitterbitterbitter, weil das bedeutet, dass solche Zusammenschlüsse (noch) nicht als etwas gesehen werden (können), in denen neue Möglichkeiten probiert und gelebt werden können, um bewährte Fähig- und Fertigkeiten umzumünzen in etwas, das die Gewalt nicht weiterträgt.

Wir sprechen sowas immer an. Sind transparent mit dem was uns über andere Leute erzählt wird, vorrangig um uns selbst zu entlasten, denn wie gesagt: wir sind nicht gut in so etwas.
Wir erkennen den sozialen Sinn für uns nicht*, erkennen aber sehr wohl die Gewalt darin und das, was sie machen soll. Gerüchte sollen verunsichern. Niemand soll sich mit einer Person sicher fühlen – bei urheber_innenlosen Gerüchten geht es oft sogar darum sich gar nirgendwo und mit gar niemandem sicher zu fühlen.
Wie das bei Menschen andockt, die sowieso schon jeden Tag mit Angst umgehen und enorm vieles leisten, um sich sicher zu fühlen, ist denke ich klar.

Manchmal merke ich, dass unser Umgang mit solchen Sachen irritiert, Schuldgefühle auslöst oder sogar als Zeichen von Unsolidarität gelesen werden. Und dann fühle ich mich nicht nur sozial unfähig, weil ich wieder denke, dass es da vielleicht doch irgendeinen geheimen Wink gibt, den zu erkennen ich einfach unfähig bin, sondern auch noch mies, weil wir damit umgehen, wie wir damit umgehen: nicht schweigend oder verdeckend.

Wir machen das nicht, weil wir uns für ein moralisches Neutrum halten, wir machen das, weil die beste soziale Interaktion, die wir hinkriegen die dingliche/sachbezogene ist.
Wenn wir klar haben worum es geht, warum wir was wie machen und wollen und was das Ziel sein soll, dann kann es für uns auch mal emotional werden oder um Dinge gehen, die heikel sind. Aber wir brauchen den konkreten Bezug.
Und der konkrete Bezug ist Leuten, die Gerüchte oder Gossip oder auch einfach bloßen Klatsch verbreiten, meistens scheiß egal oder völlig wegdissoziiert. Die meisten Leute, die das machen, haben nicht klar, dass es um sie geht, wenn sie über andere (schlecht) reden.

Wir kennen jemanden, die_r wenn wir sie_ihn treffen, immer schlecht von Leuten redet, mit denen sie_r selbst persönlich überhaupt nichts zu tun hat. Einfach so als normaler Talk, ganz oberflächlich und manchmal auch ganz in dem Ton wie Bunte, Glamour und Bild der Frau titeln.
Wenn die Person mit den Leuten an einem Tisch säße, würde sie ihnen das nie sagen.
Durch unsere Beziehung und eben diesem Hang zum Reden über andere Leute vor anderen Leuten, habe ich Angst jemals irgendwen von den Leuten zu treffen, über die diese Person spricht. Was wenn ich sie mal treffe und dann macht sie diese Sache von der die Person so schlecht geredet hat? Darf ich dann sagen, was ich von wem darüber gehört hab? OF COURSE NOT!

Oder doch?
Wovor ich Angst habe ist, dass die Person von da an auch schlecht über mich redet. Wobei sie das vermutlich sowieso schon tut, ich bis jetzt nur noch nichts davon weiß. Sicher kann ich mir darüber nicht sein.
Gesetzt den Fall ich würde es sagen, wäre die unangenehme Situation da und das Moment, in dem eine oder vielleicht auch wir beide anerkennen müssen, dass es vor allem deshalb unangenehm ist, weil man plötzlich nicht nur mit “Verrat” oder “Gebotsbruch” umgehen muss, sondern auch damit, dass es keine Routine im gewaltfreien Umgang mit solchen Situationen gibt.

Wir sind nicht so gut in sozialer Ausschlussperformance – also: Schweigen als soziales Mittel, Leute dissen oder Leute anziehen, um sie “auf unsere Seite zu bringen”, darin sind wir ziemlich schlecht.
Was wir können sind Reflektionen, Analysen, Auseinandersetzung, Fragen stellen, Klarheit schaffen und daraus Überlegungen anstellen, was helfen könnte.
Very konkret, much dinglich.
Und: ohne Schweigen
Unser ganz eigener Nichtschweigeskill.

Ich persönlich finde das okay so.
Und ich denke, dass das vielleicht auch ein guter Skill ist. Also heute jedenfalls.
Früher war das oft nicht sehr hilfreich. Und auch heute ist es im sozialen Miteinander eher irritierend.
Aber heute bedeutet Irritation keine Lebensgefahr mehr. Wir müssen nicht schweigen und wir müssen die verschiedenen Schweigerituale anderer Menschen nicht mitmachen – auch wenn wir uns deshalb manchmal nicht gut damit fühlen, weil wir nachwievor allzu oft allein damit sind. Obwohl wir uns in Szenen bewegen, die viel von unserem Er_Leben teilen.

Aber wir sind ja nicht die einzige Person auf der Welt, der es manchmal so ergeht, oder?

 

*@mthsblgr hat uns gestern noch geschrieben, dass der soziale Sinn für manche Leute darin liegt, sich über die Abgrenzung zu anderen Menschen mit jemandem zu verbünden bzw. eine Bindung aufzubauen, ohne sich selbst sehr zu öffnen.

Da muss man erstmal drauf kommen. Für uns ergibt das keinen Sinn. Muss es ja aber auch nicht.

was zum Schmunzeln

Wir haben die „Kids Try“-Serie von Cut vor einer ganzen Weile gefunden. Inzwischen haben die Kinder ihren eigenen YouTube-Kanal, „Hiho-Kids“.
Ernie, Vanessa und Talbot sind uns total ans Herz gewachsen und diese drei Videos von ihnen, auch nach dem x-ten Mal anschauen immer wieder ein Grund zum Schmunzeln.

Viel Spaß!