Sometimes you have to do things scared

Es ist 5 Uhr, mein Wecker klingelt. Heute fahre ich zur anderen Schwimmhalle. 8 Kilometer mehr, 30 Kilometer weniger, die ich allein auf überwiegend landwirtschaftlich genutzten Straßen fahre.
Kaffee, Sportfrühstück, letzter Check des Rucksacks und los. Es regnet, ist so dunkel, dass ich zum ersten Mal vorsichtig zum Auto tapse.

Das Schwimmen gibt mir viel Kraft, sonst würde ich das hier nicht auf mich nehmen. 30 Minuten weniger Schlaf, weniger Sicherheit über die Reichweite des Autoakkus, einen neuen Ort so ganz allein erforschen. „Sometimes you have to do things scared“ – wahrscheinlich eine völlig bescheuerte Instagramwahrheit, aber treffend ist sie. Ja, manchmal, oft, vielleicht in Wahrheit immer muss man Dinge tun, während man Angst hat. Nicht obwohl und auch nicht weil, sondern mit.
Also fahre ich los und schon 10 Minuten später kommt mir jemand entgegen, der sein Fernlicht nicht ausschaltet. Der erste Flashback. Ich zwänge mich darunter, um den rechten Seitenstreifen nicht aus den Augen zu verlieren, während ich den Rest meines Körpers starr halte, um das Auto nicht aus der Spur zu bringen, nur weil ich es bin. Es dauert bis es vorbei ist. Der Krampf im Zwerchfell, der saure Geschmack unter der Zunge, der Druck über den Augen. Die Angst, die Dinge, die sich mir mental aufdrängen, könnten Bilder, könnten geistige Fotografien der Realität sein, mischt sich in meine Fahrangst.

Noch fahre ich auf bekanntem Terrain, neu ist hier nur die Nachtansicht. Ich halte an, lasse vor, halte mich rechts, lasse sie alle ziehen. Bitte fahrt von mir weg, denke ich. Lasst mich hier langkrebseln, ich will nur Abstand von euch. Jemand in mir fängt an, aus dem Satz einen Songfetzen zu reimen, wie es der Partner oft tut. Mit ausladender Helene Fischer-Geste trällert es: „Ich will nichts außer Abstand zu dir my daaaaaarling …“
Das ist lustig. Hilft.

In der nächsten halben Stunde werde ich noch zweimal geblendet und dreimal gefährlich überholt. Ein Mal fährt mir jemand in einer 30er-Zone fast vorne rein, weil sie_r dachte, man könne die scharfe Doppelkurve durch die Ortschaft schneiden. Der Abstand-Schlager in meinem Kopf ist ein Rap geworden und wird von wüsten Gesten begleitet. Meine Erwartungen an die Schwimmhalle steigen. War es mir vorhin noch egal, wie sie ausgestattet und finanzierbar ist, so will ich jetzt mindestens eine halbe Bahn für mich allein und einen Ticketpreis unter 4 €. Meine Angstüberwindung soll sich lohnen, ich bin zu einem Psychokapitalisten geworden. Ohne Gewinnaussicht keine Bereitschaft zur Angstaushaltung – no gain, no service. Ob ich langfristig damit durchkomme?

Ich denke an die Therapie und daran, dass ich in nächster Zeit, in Wahrheit schon morgen, etwas in Angst tun muss. Und dass ich differenzieren muss. Hier auf der Straße kann mir meine Angst das Leben retten – in der Therapie jedoch das Leben kosten, das ich führen könnte, wenn ich bearbeitet habe, was dafür nötig ist.
Meine Angst im Straßenverkehr ist oft Todesangst. In der Therapie habe ich es mit Angst zu tun, die mich vor Todesangst schützt. Vordergründig habe ich Angst, angsteinflößend zu sein. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor Entblößung. Angst vor Un- oder Missverständnissen. Angst vor mir. Angst vor einer Angst der Therapeutin zu schaden. Angst vor Flashbacks, vor Panikgefühlen, vor Angst. Vor der Auflösung von Zeit und Raum, die mich schluckt und vielleicht nie wieder ausspuckt.
Ich weiß, dass das alles Todesängste sind. Weiß, dass ich meine Therapie nie ohne Angst gemacht habe und sich das vielleicht auch nie ganz ändert. Aber ich erlebe sie oft als Grundlage, selten als Zusatz. Mir ist selten wirklich bewusst, dass ich aus Angst die Konfrontation mit meinen Traumata vermeide, Gedanken verschweige, Themen unterschlage, Richtigstellungen aufschiebe – es ist einfach so viel leichter auf der Oberfläche der Psychologisierung zu bleiben und es „Vermeidung“ zu nennen. Eine extrem funktionale Komfortwahrheit ist das. Sich selbst des Vermeidens für schuldig erklären, um nicht in aller Angst erkannt zu werden, die so viel tiefgreifender, wortloser, ohnmächtig machend wirkt.

„let’s talk about Abstand baby – let talk about your abstand to me – let’s talk about you need an MPU …“ Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz ab und atme durch. 10 Minuten zu früh, der Regen hat nicht aufgehört. Kurzer Infoschnack mit den Frühschwimmer_innen und schon geht es weiter. Die Halle enttäuscht mich, aber das war ja klar. Es ist voll, viel enger als in der anderen. Die Dusche ist scheiße, aber die Schränke sind größer. Ich kaufe mir viel Schwimmzeit, um mich zur Wiederkehr zu zwingen. Der Winter wird lang, der Stress nicht weniger.
Auf dem Nachhauseweg ist mein Körper weich und warm, ich fühle mich stark und fähig. Jetzt kann ich things auch scared machen, diesmal ist die Rechnung aufgegangen.


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6 thoughts on “Sometimes you have to do things scared

  1. Zitat: „Eine extrem funktionale Komfortwahrheit ist das“
    Danke für diese Worte.

    Ich sehe nur nicht nur den Komfort, sondern auch die Kosten darin.

    Liebe Grüße

  2. Von whaa! (frühmorgens im Dunkeln Autofahrn o_O), zu laut Auflachen (deine Rap Lines), zu argh (diese MPU-bedürftigen Autofahrer*innen und die Todesangst), zu Nachdenklichkeit über das wie sich Therapie hier anfühlt, zu noch lauter Lachen (Psychokapitalist 😀 omg dieser Satz ist so genial), zu mich freuen für euch über dieses weichwarmstarkfähig Körpergefühl und mich selbst erinnern an dieses Gefühl..
    Vielen Dank für diese reiche Lesereise, ich mag eure Texte so gern!

  3. Mein Kommentar ist weg?!

    Großen Respekt vor eurem Mut, am Plan festzuhalten.

    Fernlichtgeblende ist Scheixxe. Ich blinke (oder blende gegebenenfalls sogar) um mich nicht so ohnmächtig fühlen zu müssen. Wie es für euch sein muss, kann ich nur ahnen. Schrecklich klingt die Fahrt. Hoffentlich stellt sich eine Art „Gewöhnung“ bezüglich des Fahrstresses ein, oder ist das ein doofer Wunsch?

    1. Nee gar nicht – anders geht es ja auch nicht. Bis jetzt haben wir uns schon sehr gut an alles gewöhnt, was uns beim Fahren Angst macht und belastet. Ein gutes „trotz Flashback fahren können“-Training war ja schon das Lernen mit dem Lehrer in dem kleinen Fahrzeug. Auch so trotz plötzlichem Schmerzeindruck fahren können, haben wir ja mit dem Walkie-Talkie-Problem in der Fahrschule gut trainiert.
      Es ist doof, dass wir da was haben, was wir kompensieren müssen, ja. Aber es ist ja kompensierbar bzw. es gibt ja die Gewöhnung. Das ist mir lieber als daran zu scheitern und es nicht machen zu können.

      Ich leuchte auch manchmal auf – aber in einer Ortschaft z.B. finde ich das den Anwohnenden gegenüber scheiße. Reicht ja ein Lichtangriff aufs Schlafzimmer, da muss meine Disco nicht auch noch dazukommen ^^‘

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