Wände streicheln oder: Wissen ist Kontext

Ich habe am Wochenende stundenlang Wände angestrichen (“Wände gestreichelt”) und die köstliche Kombination aus Streichgeräusch und Cellomusik in meinem Mund hin und her bewegt.

Was unseren Gemochten, die wir gedenken zukünftig “Freunde” zu nennen, eine nervig lästige Arbeit war, die sie lange vor sich herschoben, war uns ein stundenlanges Schwelgen in Erbsenmoment und endlichem Vakuum. Endlich, weil klar war, dass wir irgendwann fertig sein werden – Vakuum, weil wir in weiten Teilen nicht in der Arbeit waren, sondern irgendwo dort, wo wir so mit uns sind, dass wir diesen Zustand als Idee der Ein.s.igkeit bezeichnen.
Dafür sind Erbsenmomente gut. Um uns an diese Idee zu bringen. Uns in einen Raum zu erweitern, der irgendwo zwischen den Rändern von “assoziiert” und “dissoziiert” ist, doch nie bleibt.

Meditation? Trance?
Oder ein Reflex des Gehirns äußere Monotonie mit innerem Budenzauber zu füllen?

Wir mögen diesen Zustand.
Deshalb streichen wir gerne, laufen lange (langweilige Hunderunden), fahren vorzugsweise Fahrrad, drehen Kreisel, drehen uns selbst, sortieren, symetrietesieren.
Ich fühle mich dann sicher. Die Welt ist mir dann ein guter Ort, weil sie sowas kann und uns in dem Zustand kaum noch hat.

Was andere Menschen so an uns nervt, reizt, stört, als ungewöhnlich und nicht einfach im Kontakt wahrnehmen lässt, sind die tausend scheinbar offensichtlichen Fragen und In-Fragestellungen, die aus heraus kullern. Selbst Menschen, die wache, kritische, neugierige Menschen mögen, mögen es nicht an Grenzen des eigenen Wissens und Erklären.Könnens geführt zu werden. Das ist so, weil es eine kaputte Haltung zu Unwissen und Unerklärbarkeit gibt.
Für viele Menschen ist Wissen gleich Macht. Für uns ist Wissen gleich Kontext.

Kontext ist Orientierung. Kontext ist das Oben und Unten, das für so viele Menschen ganz selbstverständlich da ist, nie infrage steht, nie tückisch, erschreckend, unerträglich wirkt. Kontext ist, von wo wir uns in immer weiteren Kreisen entfernen und so die Menschen mit ihrer Welt von uns befreien können.

Wir sind ein Mensch, der aufwacht und um Kontext ringt. An manchen Tagen vielleicht auch einzig, um sich aus allem entfernen zu können, weil nicht aushaltbar ist, was ist und war und vielleicht auch immer sein wird.
Und das ist, was für uns den Kern unserer dissoziativen Identitätsstruktur darstellt und das Drama um die Autismusdiagnose erklärt.

Ich bin nie sicher, ob ich die Nacht, den Morgen, die Mittagszeit, den Abend überlebe. Ob ich die ganz alltäglichen Handlungen wie Aufstehen, Zähne putzen, sich waschen, die Kaffeemaschine anmachen, mit NakNak* rausgehen usw usw usw überhaupt erinnere. Wer mich kennt und wer nicht, ob und wenn ja wessen Tagesplan und Tagesplan B, C oder D dem Lauf der Dinge standhält, ob meine Haut schmerzt, als würde sie verbrennen oder mich eine überbordende Schmerz-Reiz-Reaktion zerfetzt– das ist Zufall für mich. Immer und immer und immer wieder. Schon immer.

Und immer wieder ist es entweder die weiße Wattewand oder das tiefschwarze All zwischen mir und der Welt, was mich beruhigt und aus dem Kämpfen entlässt. Immer wieder ist es der letzte, äußerste Rand dessen, was ein Mensch empfinden kann, der uns verortet und mir den gröbsten aller Kontexte produziert: Ich (bin)

Neulich blieb von einem Wortschwall, der an uns gerichtet war, der Satz “Sie machen immer alles mit dem Kopf.” bei mir kleben.
Es klang wie ein Vorwurf. Die Kenntnis eines Defizits.
Und nicht wie die Anerkennung eines von uns autonom steuerbaren Handelns, uns irgendwie zu orientieren. Uns selbst zu sichern. Uns selbst zu verorten. Diese Welt für uns er.greifbar zu machen. Kontakt herzustellen, den wir er.tragen und pflegen, gestalten und entwickeln können.

Vielleicht haben wir keine Intuition oder diesen einen special emotionalen Punkt innerer Sicherheit um das Bewusstsein des Selbst.seins, der immer wieder über diverse Therapieansätze anzusprechen versucht wird.
Sehr wohl aber haben wir Massen von Wissensclustern im Kopf, deren Anwesenheit für uns niemals je infrage stand oder fehlte oder uns im Stich gelassen hat. Sicher ist das kein Ausgleich für eine Ebene des menschlichen sich-selbst-bewusst-seins, doch ganz sicher ist es weder Defizit oder etwas, das uns daran hindert, am Leben teilhaben zu können.

Es macht unsere Art das Leben auszuhalten und immer weiter zu versuchen es zu be.leben, einfach nur sehr viel anders, als das sehr vieler anderer Menschen, die versuchen das Leben auszuhalten und immer weiter zu versuchen es zu be.leben.
Nicht mehr, nicht weniger.

den Versuch wert

Wir hatten keinen guten Tag, waren circa 3 Löffelkästen über unsere Grenzen hinaus und nicht gefasst darauf, dass die Therapeutin Dinge wie “Das Leben ist voller Kompromisse” und “Sie müssen wissen, was es ihnen wert ist in der Klinik zu sein”, sagen würde.

Ich hatte keine Kraft für den Hinweis darauf, dass “einen Kompromiss eingehen” eigentlich soviel bedeutet wie “beide Seiten haben Anteil an der Lösung” und “beide Seiten haben etwas davon”. Ich hatte nur noch Kraft einen dieser inneren Giftpfeile abzufangen, der Schimpfworte und eine bittere Wahrheit auf sich geladen hatte. Die Wahrheit nämlich, dass unsere Kompromisse in aller Regel als gegeben betrachtet werden. Die Wahrheit nämlich, dass unser Leben voller mistig nerviger bis wirklich Kraft und Selbst zerfressender Barrieren, an so vielen Stellen Kompromisse, Zurücktreten, Schweigen, Aushalten und Durchziehen bedeutet und das genau niemand sieht, der es nicht weiß.

Ich rede hier nicht von Dingen wie “Gah scheiße – immer muss man nett und freundlich sein – nie darf man motzen.” oder “Mäh – nie darf anderen auf die Nase hauen – immer nur muss man konstruktiv sein.” oder “Mimimi – nie darf ich machen, was ich will.”.

Ich rede hier von Dingen, die für uns schwierig sind und die wir trotzdem tun,

weil sie den Versuch wert sind.

Das machen wir jeden Tag und wir sind okay damit. Irgendwie ist das einfach unsere Art diese Sache mit dem Leben leben zu probieren, daran zu scheitern und es dann nochmal neu zu probieren usw usw usw.
Es wird jedoch schwierig, wenn wir das Gefühl haben nicht in dem gesehen zu werden, was wir da eigentlich dieser Welt, dem Leben und den Dingen in ihm drin, an Bereitschaft uns zu widmen, entgegen bringen
Wenn der Preis, den wir dafür zahlen, vergessen wird und die Kraft, die wir daran verlieren und dann eben nicht mit in dieses Leben und seine Gestaltung hineingeben können, als “verborgen tief in uns drin” verortet wird und nicht als “darauf verschossen überhaupt irgendwo zu sein und das auszuhalten, ohne zu im- oder explodieren”.

Wir hatten ein Stille-Post-Missverständnis was die Versorgung von NakNak* während der Klinikzeit angeht (heute geklärt – alles gut).
Für uns ist es ein hoher Preis auf ihre Anwesenheit dort zu verzichten und worum es dabei geht, versuche ich immer an dem Beispiel der Blindenhunde zu erklären, wenn jemand fragt, wie denn eine blinde Person in so einer Klinik zurecht kommen sollte, ohne Blindenführhund.

Blindenführhunde gelten oft als durch andere Menschen ersetzbar. Das heißt: auf die Selbstbestimmung einer blinden oder sehbeeinträchtigen Person wird direkt geschissen – soll sie halt einen Stock benutzen (was nicht für alle blinden oder sehbeeinträchtigen Menschen geht) oder sich führen lassen (also abhängig sein und sich einer evtl. fremden Person anvertrauen).
Es ist an der Stelle der Barrierenkompensation, die sich durch Blindheit oder eingeschränktes Sehen ergeben, also essentiell, dass sich die behinderte Person anderen Menschen anvertrauen und mit ihnen kommunizieren kann, wo sie hin will, was sie haben will und so weiter.

NakNak* ist eine Assistenzhündin, die spezielle Aufgaben für uns erfüllt und die auch nur von ihr erfüllbar sind.
Andere Menschen merken uns nicht an, wann wir so überreizt sind, dass ein Anfall direkt bevor steht. Andere Menschen merken uns nicht an, wie viel Verunsicherung, Angst, Verwirrung, Unklarheit und Überforderung sie bei uns auslösen (meist ja nicht mal dann, wenn wir es ihnen sagen). Andere Menschen merken uns nicht an, wann wir desorientiert im Raum sind und uns selbst nicht mehr verorten können. Und ach – so viel mehr.

Andere Menschen brauchen von uns immer immer immer mehr, als das einfache Reiz-Reaktionsmuster, an dem wir uns in unserem täglichen Leben entlang arbeiten, um halbwegs stabil und reagibel zu sein.
Unser Hund braucht ein Signal oder ein Handzeichen oder die spezifische Körperspannung, die wir haben, bevor ein Anfall uns umhaut, um zu wissen, was wir von ihr brauchen und was wann wie geht.
Wir müssen ihr nichts begründen. Wir müssen ihr nichts “beweisen” oder “ihr offensichtlich machen/zeigen”, dass wir irgendwas wirklich brauchen oder möchten. Wir müssen nicht “bitte bitte machen” und wir müssen auch nicht “danke” sagen. Sie hat gelernt auf Reize zu reagieren und fertig – den ganzen Sozialschmodder, den ein Mensch an ihrer Stelle bräuchte, braucht sie nicht – und wir sind entlastet von einem dieser tausend Löffelfresser im Alltag – denn was ein Mensch braucht, um uns gegenüber so gut gestellt zu sein, dass er uns hilft, müssten wir aus Schwällen von Worten herausraten oder wild bis strategisch drauflos versuchen. (Und all das noch genau bevor die traumabedingten Probleme mit zwischenmenschlichem Kontakt beginnen!)

Es ist kein Kompromiss zu sagen: Okay, wir versuchen es ohne sie.
Es ist eine runtergeschluckte Alltagsdiskriminierung und die Ansage an uns nach innen, dass wir mit unserer Kraft so sparsam wie nur irgendmöglich umgehen müssen, weil wir neben der Kleinigkeit “teilstationäre Klinikzeit” (und ihre Implikationen) auch noch “Barrierenkompensation Level 100” schaffen müssen.

Wir erwarten schon lange nicht mehr, dass sich Institutionen und Behörden endlich einmal mehr damit auseinandersetzen, wie barrierefrei sie überhaupt sind und welchen Stellenwert die Selbstbestimmung aller Menschen, die dort ein- und ausgehen hat. Für uns ist inzwischen total klar, dass Institutionen und Behörden dazu gezwungen werden müssen, die Hilfen und Hilfsmittel behinderter Menschen mit Brillen, Fahrstühlen und Sprachdolmetschern gleichzustellen.

Aber wir erwarten, dass nicht von uns erwartet wird so zu tun, als wäre auf das wichtigste Hilfsmittel in unserem Leben zu verzichten, ein Kompromiss.
Das ist es nicht. War es nie. Ist es nie.

Ich habe in den letzten beiden Tagen gemerkt, wie viel bewusster wir in den letzten Jahren dafür geworden sind, wo unsere Kraftgrenzen sind, was wir wie lange aushalten können und wann wir welche Art der Pause und Ruhe brauchen.
Und heute Abend merke ich auch deutlicher denn je, wie gut uns die DIS in all den Jahren davor geschützt hat, unter dem zusammenzubrechen, was “der ganz normale* Lauf der Dinge” für so viele Menschen bedeutet.
“Der normale Lauf der Dinge für die Mehrheit der Menschen” ist einer, dem wir nur mit einer DIS oder anderen wie auch immer gelagerten Abwehr- und Schutzstrategien begegnen konnten, weil er nicht für Menschen, wie uns gemacht/gedacht ist.

Die Therapeutin hatte versucht uns klar zu machen, dass es unsere Entscheidung sei festzulegen, wie viel uns dieser Versuch mit der Klinik kostet und wir haben nachwievor keine Antwort darauf, denn eigentlich ist unsere Entscheidung eine andere.
Wir müssen für uns festlegen, wie viel von unserer Substanz es kosten darf/soll/muss, auf etwas hinzuarbeiten, von dem wir bisher immer eher legendenartig gehört haben (you know diese Zauberwolke aus: “gutes/okayes Leben”, “aushaltbar_sein”, “mit sich irgendwie okay sein”, “mit dem, was man erlebt hat irgendwie okay sein”).

Ich finde das bitter.
Aber den Versuch kann es ja trotzdem wert sein.
Oder “auch wert sein”.

Fundstücke #20

Nächste Woche Montag ist der Aufnahmetermin in der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Gestern holte ich den dazu nötigen Krankenhauseinweisungsschein und den Bericht der psychiatrischen Station ab, in der wir vor einem halben Jahr waren.

“Ph, ein halbes Jahr”, denke ich, “dann kanns mir ja nu nicht mehr soooo schlecht gehen. Wenn ich was Ernsthaftes hätte, dann hätte ich das halbe Jahr gar nicht geschafft.”.
Das denke ich, weil das gerne so hätte. Weil mich das in meinen Gedanken um den eigenen Zustand beruhigt und in Einklang zu bringen ist mit dem Gefühl, die Einzige zu sein, die sich bewegt, was verändern will, das Okaye halten und das Nichtokaye auf zu-Okayem-Entwickelbarkeit prüfen will.

Wie schon geschrieben, gehören wir zu den Menschen, die mehr Zeug tun und schaffen, je schlechter es ihnen geht. Uns beruhigt es, wenn wir mit unseren Intrusionen und anderen unkontrollierbaren Momenten nicht ohne äußeren Rahmen sein müssen. Wenn die Welt ein Oben und Unten hat, weil es etwas gibt, das einen Anfang und ein von uns (mit) zu gestaltendes Ende hat.

Kontrolle hat aber ihren Preis. Wir wirken zuweilen lieblos, kalt, unnahbar, wenig mitschwingend, strikt intellektuell und wenn wir das im Zusammenhang mit einem Moment der Kraftlosigkeit oder einem allgemeinen “Es geht mir nicht gut” erklären, dann wirkt es unglaubwürdig oder konstruiert.
Meistens, weil wir irgendeinen uns noch nicht bekannten Kommunikationsfehler machen. Manchmal vielleicht aber auch, weil man uns mitunter einfach “böse” oder “nicht so toll, wie alle immer denken, weil…” braucht.

In den vergangenen 6 Monaten haben wir viel Zeit damit verbracht zu bemerken, was für ein schwieriger Kontakt wir sind. Wie schwer es für außenstehende Menschen sein muss, mit uns umzugehen. Wie anspruchsvoll und fremd wirken muss, was wir vertreten und formulieren.
Es gab so viele Momente, in denen wiederkehrend gleiche Schwierigkeiten ohne jeden Filter bis zu uns Rosenblätter vorgedrungen sind, dass die Lage in ihrer Quintessenz nicht als verändert im Vergleich zu vor 6 Monaten erscheint.

Das bedeutet nicht, dass wir noch immer akut suizidal sind und uns aktiv darüber Gedanken machen, unser Leben zu beenden. Aber es bedeutet, dass wir bewusst spüren und uns bewusst damit auseinandersetzen, dass eine Ursache für die Auseinandersetzung mit dem Aufhören, dem “es einfach sein lassen” und dem “einfach loslassen”, nachwievor besteht und es keine Wege gibt sie zu umgehen.

Gestern habe ich also die Sachen für die Klinik abgeholt.
Zu Hause las ich dann in dem Bericht und dachte darüber nach, wie widersinnig es ist, von Mediziner_innen und Psycholog_innen beobachtet zu werden, als wäre ich ein von gesellschaftlichem und sozialem Kontext losgelöstes Individuum, während ich selbige um Unterstützung dabei ersuche, mich in den bestehenden gesellschaftlichen und sozialen Kontexten besser und/oder anders zurecht zu finden.

Etwas später dachte ich, wie widersinnig es ist mit Menschen, die unsere Behinderungen nicht als wahrhaft und aktiv mit in den Kontakt hineinspielend anerkennen, an inklusiven Projekten zu arbeiten, über unser Sein zu reden oder sich zu wünschen, sie würden sich eventuell mit uns bewegen.

Warum machen wir nur immer wieder so widersinnigen Quatsch?
Weil wir hoffnungslos leicht reinzulegen sind. Denke ich. Weil wir alles kontrollieren können, außer die Impulse, die von dem Wunsch kommen, dass sich Dinge verändern und nicht so (unaushaltbar) schwerschwierigschlimm sind, wie jetzt.
Weil sie nicht abzutöten ist – diese beknackte scheiß Hoffnung auf Erlösung, Loslassen, atmen und okay damit sein.

Man kriegt so viel verbogen und verdreht in sich, um zurecht zu kommen, sich am Leben zu halten und irgendwie immer weiter zu machen. Mit all dem Gift, das die Gewalt in uns reingepumpt hat, kommen wir klar – leben mit einer vielleicht bis zum Ende unseres Seins toxisch strahlenden Mülldeponie unter hunderten Schichten des Könnens, Machens, Wünschens und Wollens.
Aber mit dem einen Bereich, in dem es möglich ist zu glauben, statt zu wissen, handeln wir uns immer wieder Probleme ein.

Wir arbeiten viel mit Glauben, weil wir unsere Reaktionsentscheidungen nicht auf Wissen oder dem Eindruck des Wissens fällen. Wenn Menschen mit uns sprechen, dann sagen sie uns hunderte Dinge gleichzeitig, meinen aber vielleicht nur eins oder zwei. Wir raten. Orakeln und puzzeln und zupfen dann das hervor, wovon wir glauben, dass dies die Dinge sind, die sie meinen.

Wir haben uns lange eingebildet, dass wir gut in diesem Ratespiel sind, weil wir in den gewaltvollen Kontexten unserer Lebenszeit häufig gut geraten haben und das einfach gut können mussten, um nicht in den emotionalen Reaktionen auf das Bewusstsein der eigenen absoluten Auslieferung zu ertrinken.
Inzwischen haben wir bewusst, dass wir einfach Glück hatten und keinesfalls irgendwelche besonders entwickelten Fähigkeiten, die uns special beim Überleben geholfen haben.

Gewalt überlebt man, oder nicht. So einfach ist das. So einfach, schlicht und bitterkalt ist diese Realität der Gewaltopfer und die Vergangenheit der zu Opfern gewordenen.

Nur, ob das mit dem Leben genauso ist, weiß man nicht.
Leben muss man leben, um es über_leben zu können.

Und wie genau das geht, ohne dass wir Schaden nehmen, wissen wir noch immer nicht.

ein anderes Problem am Märchen vom “funktional (multipel) sein”

Die Paulines schrieben einen Artikel dazu, wie schwierig es für sie ist, in ihrer inneren Zerrissenheit gesehen zu werden, wenn sie funktional wirken bzw. so eingeschätzt werden.

Für  uns gibt es diesen Konflikt in der Form nicht. Vielleicht, weil wir nie als funktional eingeschätzt werden, sondern eher als kompetent, kritisch unnahbar, wenig empfindlich. Kurz: “Total kaputt  – aber irgendwie läufts halt.”. Wie genau wir eingeschätzt werden, wissen wir aber nicht. Wir bekommen solche Rückmeldungen nicht – oder, wenn doch, dann so, dass wir sie nicht als solche wahrnehmen.  Vielleicht doch auch ein Segen, so ein Kommunikationsmurksi zu sein – wer weiß.

Anyway – das Thema “Mimimi immer bin ich so funktional – wie schlecht es mir geht, sieht niemand” taucht immer wieder mal auf und ich habe darauf immer wieder den gleichen Reaktionspfad: “Dann sag den Leuten, dass es dir schlecht geht und sei so funktional, wie du eben bist”.
Funktionalität ist für viele Viele ein Produkt ihrer Dissoziationsleistungen und nur selten ein Produkt dessen, was sie leisten, weil sie es leisten können. Manche sagen “trotz dem, wie es ihnen geht”, während wir von uns immer wieder sagen würden “weil es uns so geht, wie es uns geht”.

Wir werden produktiver, je schlechter es uns geht, weil wir uns strikter reglementieren, je schlechter es uns geht. Menschen, die nah an uns dran sind, merken das auch. Wir reden dann mehr von Tagesplänen, Essensplänen, Strukturen im Alltag und daran, wie viel Zeit wir für die soziale Interaktion mit ihnen freimachen.
Unsere Funktionalität erstreckt sich dann völlig auf den Selbsterhalt und den Erhalt der bestehenden Projekte, Vorhaben und Sozialkontakte.

Wenn es uns gut geht, dissoziieren wir häufiger die Anstrengung des Selbsterhalts und anderer Dinge und stecken mehr Kraft in den Ausbau und die Weiterentwicklung bestimmter Dinge. Eine Falle dabei: manchmal dissoziieren wir dabei auch, dass es so etwas wie ein “uns allen im Innen geht es super gut” noch gar nicht für uns gibt und provozieren damit am Ende schnell einen Bumerang, der uns in die Kniekehlen fliegt.

Unser Problem ist selten zu äußern, dass es uns nicht gut geht, wir in uns unklar sind und uns nicht stimmig mit dem Außen erleben – schwieriger ist für uns die Anerkennung unserer Art der Funktionalität. Für viele Menschen ist es keine Funktionalität sich selbst nicht umzubringen, weil eine akute Verzweiflungswelle nach der anderen von innen nach vorne rollt und man für eine Weile denkt, das würde nie wieder aufhören.  Genauso wenig, wie es zu Funktionalität gezählt wird, sich selbst auszuhalten.
Als funktional gilt man häufig für Dinge, die das Außen als innerhalb einer Funktionalität erkennbar markiert.
“Aha – die Person arbeitet und ist damit erfolgreich = die Person ist funktional”
”Aha – die Person ist in einer geschlossenen Einrichtung, weil sie sich selbst zerstört = die Person ist nicht funktional”

Neuer Kontext an der Stelle, der sich für uns aufgetan hat: “Aha – die Person hockt nicht schaukelnd in einer Ecke und zählt auf den Boden gefallene Streichhölzer mit einem Blick = hochfunktional autistisch = also eigentlich gar nicht autistisch = also eigentlich wie ich = dann kann ich ja das Gleiche von ihr abverlangen, wie ich von mir abverlangt erlebe”
im Vergleich zu: “Aha – die Person macht keine creepy Sachen wie in Kindersprache lispelnd in der U-Bahn zu sitzen oder durch einen anderen spektakulären Persönlichkeits/Innenwechsel auffällig zu wirken = sich hochfunktional dissoziierend/multipel = also eigentlich gar nicht unter Dissoziation leidend/nicht multipel = dann ist ja keine Rücksichtnahme/Mitbedenken, dieser Problematik erforderlich”

Der Punkt ist: häufig ist “funktional” zu sein als “problemfrei” zu sein internalisiert. Als “allen äußeren Ansprüchen gerecht werden zu können”.
Die Idee der Funktionalität bewegt sich folglich häufig auch reichlich nah an einem Punkt, an dem man sich aufgefordert fühlen kann, sich selbst völlig aufgeben zu müssen, um eine Entsprechungschance zu haben.

Deshalb pochen wir immer wieder darauf, dass Menschen mit uns sprechen, wenn wir gemeinsame Projekte starten oder sonst wie miteinander zu tun haben.
Wenn sie uns nicht sagen, was sie gerade können und was nicht – wenn sie uns verschweigen, was sie von uns erwarten, weil sie es von sich selbst auch erwarten – wenn sie ihre internalisierten Vorstellungen von Funktionalität auf eine Stufe mit Selbstaufgabe und maximaler Dissoziation eigener innerer Dynamiken und Konflikte stellen, dann werden wir zwangsläufig zu einem Instrument ihrer Selbstaufgabe und manchmal auch ihrer Reinszenierung von erlittener Gewalt.

Wir haben in den letzten Tagen erst wieder erfahren, wie soziotoxisch solche nicht barrierefrei kommunizierten Ideen von Fremdwahrnehmung und als notwendig eingeschätzte Funktionalitätsperformance wirken und wie wichtig es ist, sowas an sich zu reflektieren und darüber in Kontakt zu gehen.
Während wir denken, dass es wichtig ist, seine sozialen Kontakte auch dafür zu nutzen, sowas auch zu üben, um sie gut und regelmäßig weiter entwickeln zu lassen, merken wir, dass gerade Menschen, deren äußere Performance einer durch andere Instanzen definierten Funktionalität hochgradig existenziell eingestuft wird, einen Scheiß auf unseren Kontakt geben.
Anders formuliert: sie hängen die Funktionalität, die der Arbeitgeber, die Peergroup, die für diverse Dinge substanziell wichtig ist, höher als das, was wir ihnen bieten können. Ihr wisst schon – so Kleinigkeiten wie den Blick auf das Selbst, das vor eben diesem Arbeitsgeber und dieser Peergroup keinen Platz haben kann und die Anerkennung des täglichen Kampfs um Selbsterhalt und all das.

Wir glauben nicht, dass das absichtlich passiert. Soviel Gedankenfokus sind wir diesen Menschen nicht wert. Aber es passiert und wir merken, dass es häufig damit zu tun hat, dass es zu schön ist, um wahr zu sein. Um geglaubt und angenommen zu werden.
Wie kann das denn sein, dass jemand keine Vorwürfe macht, sondern wirklich nur sagen will, was gesagt wird? Geht ja gar nicht – MUSS eine Falle sein. MUSS eine Lüge sein. MUSS naiv und dumm sein. DARF also abgewertet und weggeschmissen werden (weil: übt man ja fleißig in der Therapie – Abgrenzung!11!!1)

Inzwischen versuchen wir, unsere Kontakte zu nach außen als funktional bezeichneten Menschen zu reduzieren bzw. auf genau dieser Ebene zu belassen: der Funktionalität, an der sie sich zumindest zweitweise gern festhalten, um sich darin zu bestärken, dass sie nicht wertlos, faul, dumm, krank, behindert und kaputt sind (,wie all jene, von denen sie sich so sehr abgrenzen müssen, vor lauter Angst, das könnte auf sie abfärben).

Und daneben versuchen wir mit unserem Selbstlob offen zu sein. Versuchen sichtbar zu machen, welche Leistungen für uns Leistungen sind und welches Funktionieren für uns Funktionalität ist.
Wir versuchen nicht nur zu sagen: “Ich bestimme selbst” – wir bestimmen und bewerten unser Wirken auch wirklich selbst.
Wie gesagt – vielleicht kriegen wir Fremdbeurteilungen einfach nicht mit, weil wir so schlecht darin sind, sowas aus dem Verhalten und unachtsamer (oder ausbleibender) Kommunikation anderer Menschen zu dekodieren und erfahren deshalb nicht die gleichen Verunsicherungsfaktoren, wie andere Menschen. Trotzdem ist ja von außen sichtbar, dass es grundsätzlich möglich ist das zu tun, ohne, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt.

Nachwievor denke ich: Wenn man möchte, dass Dinge gesehen werden, dann muss man sie sichtbar machen. Und zwar so, dass andere Personen sie auch sehen können.

Ob das dann dazu führt, dass die Reaktion eintritt, die man sich wünscht oder für sich braucht, ist dann die nächste Frage. Auch darauf kann man sich nicht verlassen. Aber wenn man vor lauter Angst, es könnte eine falsche oder schwierig auszuhaltende Reaktion kommen, gleich die Sichtbarmachung des Problems oder einer Gesamtkonstitution ausbleiben lässt, dann ist das Problem nicht, dass Funktionalität als so viel toller gilt, sondern, dass nur die Funktionalität sichtbar gemacht wird.

was ‘unsere Leute’ wissen sollten

Und manchmal geht es gar nicht darum, wie dringend ich verstanden und gesehen werden möchte, sondern darum, dass ich das Moment verpasse, in dem ich meinen Impuls übergehe, zu akzeptieren, wie dringend mein gegenüber mich und das, was ich sichtbar mache, ein_fach, simpel und leicht braucht.

Unsere täglichen Über.Belastungen sind für mich so üblich, dass ich die Menschen vergesse, deren größte Nähe zu großen, komplexen Problemen, der Kontakt mit mir ist. Manchmal und mit zunehmendem Kontakt zu anderen Menschen mehr, vergesse ich, dass es für sie ein großer Schritt aus einem Kosmos, in dem grundlegend alles als okay, einigermaßen heil, ausreichend gesund und genügend sicher wahr.genommen wird, ist, mit uns in Kontakt zu kommen.

Früher hatte ich das noch bewusster als in der letzten Zeit und habe Menschen in der Folge gemieden oder mich ihrer Sphären entsprechend angepasst.
Heute merke ich an vielen Stellen, welche Folgen so eine “aber eigentlich ist ja grundlegend alles heil und okay” – Haltung hat und bin konfrontativer. Will nicht hinnehmen, wie sich der Großteil der Menschen vor der Auseinandersetzung mit durchaus und bereits in der eigenen privaten Praxis veränderbaren Problemen, scheut oder verschließt. Will nicht akzeptieren, wie viele Menschen sich für etablierte Floskeln entscheiden, auch und teilweise sogar obwohl sie wissen, welche Aussagen sie damit auch treffen, obwohl sie sie eigentlich ablehnen.
Ich will nicht akzeptieren, wie viele Missstände by the way im täglichen Lauf hingenommen werden, weil jede noch kleine Veränderung zur Zumutung mutiert. Zu diesem einen großen Schritt in einen Kosmos hinein, in dem die persönliche , als heil und okay wahrgenommene Grundlage, schlicht nicht mehr da ist bzw. durch die etablierten kulturellen Praxen als inexistent erscheinen.

Andererseits ist es für diese Menschen eben doch manchmal eine Zumutung. Eine Überforderung. Eine Belastung, die man nicht halten kann, auch, wenn man sich grundsätzlich dazu bereit erklärt hat, sie auf sich zu nehmen.
Ich verpasse das Moment schnell, weil ich schneller bin in der Erfassung und Verarbeitung all dessen, was ist. Bis Menschen verstanden haben, was ich alles mitbedenke und worauf meine Formulierung einer Problem- oder Konfliktlage basiert, bin ich schon längst in dem Prozess der Verarbeitung des Gefühls unverstanden, ungesehen zu sein. Und manchmal eben auch des Eindrucks, umgeben von Menschen zu sein, die einfach keinerlei Resonanzboden für eine gemeinsame  oder einander verstehende Kommunikation bieten, oder dem, von Menschen umgeben zu sein, die plump drauflos raten und von sich auf mich und uns schließen und das für Gegenseitigkeit halten.

Ich nehme mir oft vor langsamer zu machen. Atmen, denken, warten, Gedankenstopp.
Leider bedeutet “Gedankenstopp” bei mir noch immer “dissoziieren”, weil es denkt, wie es denken kann – egal, ob ich das bewusst halten will oder nicht.
Dabei ist der günstige Verlauf noch der, dass, wann immer ich mir sage: “Stopp ”, mein Denken die 100 Shades of “Stopp” mit all ihren Auswirkungen, eventuellen Bedeutungen in diversen (allen) Kontexten und Fragen, die sich an diesem Umstand generell entlang befinden (like: Müssen sich Tiere –> Reptilien –> [neurologischer Aufbau und erforschte Befähigungen von Reptilien] eigentlich auch in ihrer Verarbeitungsgeschwindigkeit stoppen oder verhindert ihre neurologische Befähigung dies?) bearbeitet.
Die ungünstige Variante ist, dass ich irgendwo an eine Gedankenstelle komme, die etwas Unverarbeitetes (also Traumainhalte) negativ angetriggert und mich komplett aus dem Kontakt reißt und das ist leider genau die Variante, die ich und wir am Tag mehrfach erleben.

Und ja, das bedeutet auch, dass ganz übliche Missverständnisse oder Momente, in denen man einander erst einmal auf eine Ebene bringen muss, bei uns Wechsel auslösen und damit sogar unmöglich machen, dass manche Innens (so wie ich) überhaupt je erleben, wie sich ein Konflikt oder eine schwierige Situation in eine Gegenseitigkeit oder ein thematisches Verbundensein auflösen.

Wenn man ein bisschen was übers Vielesein weiß, dann weiß man auch, dass wir Innens jeweils andere Fertig- und Fähigkeiten haben und oft auch von sich sagen: “Mein Leben ist ein ganz anderes als das der anderen.”. Vielleicht hilft meine Beschreibung solcher Kommunikationsprobleme und ihrer Folgen ein bisschen besser zu verstehen, wie es zu dieser Aussage kommt.
In meinem Kosmos gibt es Zillionen ungeklärter Konflikte, in denen ich nicht gesehen werde und mit dem Gefühl zurückbleibe, eine Lösung sei immer irre wichtig – aber nie von mir machbar, denn ich habe nie erlebt, wie sich etwas, das ich aufzeige, in gegenseitigem Verstehen löst.

Mein Kosmos ist damit auch grundlegend nicht heil und okay und auch: nicht veränderbar.
Denn auch diese Erfahrung fehlt mir. Ich bin immer wieder damit konfrontiert, dass Menschen sich dazu entscheiden diesen meinen Kosmos aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus zu betreten und wieder daraus zu verschwinden, aber mit mir zusammen einen gemeinsamen zu bilden funktioniert nicht.
Ich kann nicht einmal bewerten, wie das für mich ist, denn erfahren habe ich das noch nicht. Aber meine Vorstellung davon, wie es wäre gemeinsam zu sein, ist schön. Immerhin schön genug, dass ich diese Erfahrung gerne mal machen möchte.

Manchmal spüre ich die Anstrengung des Gegenübers und nehme mir vor, es in Ruhe zu lassen. Ich mache mich selbst weg und verschließe mich vor der Person. Dann gehe ich aus dem Kontakt und nehme den Konflikt mit. Ich ordne ihn mein Bild davon, wie die Welt und das Miteinander für mich funktioniert und vielleicht, durch die mir durchgehend bewussten Wiederholungen bestärkt, auch immer nur laufen kann.

Und will all diejenigen beißen, die mir erzählen, wie grundlegend okay und heil doch alles eigentlich ist.
Wenn sie beim nächsten Mal über mich stolpern.

Weltautismustag #1

In verschiedenen Städten gibt es heute Veranstaltungen, bei denen über Autismus aufgeklärt wird und Austauschmöglichkeiten bestehen.
Wer nicht hingeht, sind wir.

Wir sind nach inzwischen 10 Monaten mit der nachwievor neuen Diagnose eher überfordert und darum herum gewirrt, als klar, selbst-sicher und orientiert.
Ich weiß nicht, ob ich über uns sagen kannwill “Ich bin Autist_in” – weiß nicht, ob ich das, was die Diagnose benennt, als Teil von Identität betrachten kannwill.
Denn, well, was meint das denn in Bezug auf uns?
Unsere andere Diagnose heißt “dissoziative Identitätsstruktur” und jeder strukturelle Huckel auf der Identitätsplattform ist ein Innen, ein Teil des ES oder DAS DA, eine Energie, eine Seele.
Autismus ist mehr Strickmuster – Identitätseigenschaft vielleicht. Oder Seinseigenschaft. Vielleicht auch Wahrnehmungs-DNA.
Der Autismus macht vielleicht auch, wer oder was wir sind – ist aber nicht, wer oder was wir sind.

Wir sind noch immer mit dem Bitternis beschäftigt, wie so wahnsinnig viele kompetente Pädagog_innen, Psycholog_innen, Psychiater_innen und Mediziner_innen übersehen konnten, dass bei uns ein Autismus vorliegt.
Es ist dem Bitternis ähnlich, wie so viele Menschen die Gewalt in unserem Leben übersehen konnten.

In vielen anderen Szenarien, etwa, wenn wir ein absolut unauffälliges, weil gut angepasstes Menschenwesen gewesen wären, das viele Freunde hatte, ein geradliniges Leben in die 30er geführt hätten – okay okay dann: okay.
Aber nicht mit dem Wort- und Wissensschatz, den wir schon als Vorschulkind hatten. Nicht mit den Intelligenztestergebnissen. Nicht mit einem Geschwist, bei dem ein Autismus bereits diagnostiziert wurde. Nicht mit über x Berichten von x Psycholog_innen und x Klinikaufenthalten noch vor Erreichen der Volljährigkeit. Nicht bei den sozialen Problemen und dieser Art der Einsamkeit als einzig durchgängige Konstante. Nicht nach all den diagnostischen Stunts, die an uns vollführt wurden.

Zwischendurch bin ich froh darum, überwiegend die Bitterkeit zu fühlen und nicht den unfassbar weiten Abgrund aus Trauer und Verzweiflung, der darunter aufklafft. Die Bitterkeit schützt mich davor, von all diesen kleinen Erinnerungsfragmenten an eine Kindheit voller mehr oder weniger großer Miss- und Unverständnisse mit mehr oder weniger furchtbaren Konsequenzen, überflutet zu werden.
Sie schützt mich vor dem Gedanken: “Es hat sich nichts verändert.” und dem logischen Schluss “Es ist nicht vorbei” (—> alles was die Traumatherapie der letzten 13-14 Jahre sagt, ist falsch)

Seit der Diagnose erweitert sich unser Blick auf die Probleme von uns als Einsmensch. Erweitert sich das Bewusstsein darum, dass wir tatsächlich eine behinderte Person sind, obwohl unser Umfeld immer wieder auf unsere Fähig-und Fertigkeiten pocht, als würde ihr Vorhandensein einen Schutz davor bieten.

Eine Angewohnheit übrigens, die auch andere autistische Menschen haben und fleißig in Austausch und Diskurse jeder Art streuen. So endete dann auch unser Versuch, sich in einem Forum für Menschen mit Asperger-Syndrom auszutauschen. Leidvergleiche und Rechtfertigung vor anderen Menschen über die eigenen Empfindungen und Schwierigkeiten – das ist nichts, was uns hilft, die Diagnose als Wort für unsere Probleme anzunehmen, geschweige denn mit den Problemen umzugehen.

Überhaupt tue ich mich schwer mit der autistischen Netzblase.
Viele machen sich derzeit stark gegen eine “Therapie” mit dem Kürzel “ABA” und manche hetzen deshalb gegen kritisieren im Zuge dessen gerade den größten deutschen Förderer von Projekten für Menschen mit Behinderungen, die “Aktion Mensch”.
Daneben teilen einige ihre Erfahrungen und manche versuchen Autismus inkludierend Tipps und Tricks zur Selbst_Hilfe zu sammeln.
Die meisten konzentrieren sich nicht auf autistische Menschen als eigenständige Individuen, sondern als Teil einer Gruppe, die für die Argumentation hergenommen wird. Häufig geht es darum, nichtautistischen Menschen etwas über autistische Menschen zu erzählen und das “Aufklärung” zu nennen.
Selbstvertretung, um der Selbstvertretung für alle willen, erlebe ich als selten.

Ich kann an keiner Stelle des Diskurses partizipieren und rede mir ein, es auch gar nicht zu wollen, damit es nicht so schmerzlich ist.
Denn, was ich merke ist, dass diese Menschen keine Amnesien für sich und ihren Alltag haben. Manche dissoziieren auch – doch nicht in dem Umfang wie wir. Sie können sich und ihr Leben halbwegs zusammenhalten, während meines einfach durch mein Denken und Wahr.nehmen hindurchnebelt und halbseidene Fäden an verschiedenen Eckpunkten hängenbleiben.

Ich habe außerdem kein Interesse daran, ein_e Aufklärer_in zu sein – ich würde lieber Erklärer_in sein. Wenn überhaupt. Irgendwann. Vielleicht.

Derzeit fühle ich mich schuldig, wenn ich Fach.Bücher von bestimmten Menschen lese, weil diese auch ABA unterstützen oder zumindest nicht offen dagegen angehen. Ich fühle mich schuldig, wenn ich mich glücklich über unsere Hochbegabung schätze und merke, wie groß ihr Anteil an unseren Kompensationsfähigkeiten ist. Ich fühle mich unsolidarisch und schlecht, wenn ich Stereotypen und Vorurteile über autistische Menschen in meinem eigenen Kopf nicht jeden Tag und immer, sondern nur hier und da aktiv dekonstruiere. Ich schäme mich dafür, wann immer ich denke: “Ja, du bist eine special autistische Snowflake – ich kommentiere das jetzt hier mal nicht weiter”.

“Die autistische Community im Netz”™ ist mein persönliches Mich-schlecht-fühl-Erziehungs-ABA.
Ich habe noch keinen Platz für mich gefunden und denke, dass sich das vielleicht auch nicht ändert.

Zum Weltautismustag wünsche ich mir Eltern in die Zukunft, die sich trauen dürfen, ihre autistischen Kinder und das Leben mit ihnen, so zu nehmen, wie es kommt. Ich wünsche mir autistische Eltern, die mit ihren autistischen Kindern so leben dürfen, wie es für sie als Familie okay zu leben ist. Ich wünsche mir autistische Helfer_innen und Therapierende, die offen mit ihrem Sein umgehen dürfen. Ich wünsche mir die Möglichkeit die Diagnostik des Autismus von Psychopathologie zu emanzipieren und als üblichen Standard in die Kindesentwicklungsdokumentation zu integrieren. Ich wünsche mir die Installation von Hilfe-und Unterstützungsangeboten für autistische Menschen jeden Alters und jeden Fähig-und Fertigkeitenlevels.
Ich wünsche mir, dass Menschen klar wird, dass sie gewaltvoll agieren, wenn sie normative Ansprüche, in welcher Form auch immer, als zwangsläufig oder unabdingbar zu erfüllen, vertreten.

Als Letztes:  Es macht mich ungeheuer traurig anerkennen zu müssen, das bestimmte Dinge für uns vielleicht immer schwierig sein werden.
Ich möchte lernen mich vor dem Trost anderer Menschen vor diesem Umstand zu schützen. Ich möchte, dass es mich nicht mehr umwirft, wann immer Menschen versuchen mir zu sagen, wie sehr man sich an die unterschiedlichsten Herausforderungen gewöhnen kann, um sich und mich zu ermutigen oder zu trösten.

die kernigen Haferflocken

Inmitten all der Diagnosendebatten und Auseinandersetzungen wie facettenreich Autismus ist, direkt schräg neben den Auseinandersetzungen und Diagnosedebatten um die DIS, sitze ich vor uns und starrte auf den bunten Haufen neuer Aspekte, die sich scheinbar wie von selbst vermehren.

Die Kombination DIS und Autismus ergibt in der Googlesuche irgendwie nur unbefriedigenden Quatsch bis hanebüchenen Unsinn. In den meisten Büchern zu Autismus bemerke ich das Ausblenden der Lebenskontexte der betreffenden Personen. Die maximale Fokussierung auf Fähig- und Fertigkeiten. Individuelle Wuchsrichtungen aus einem nicht benannten, nicht erkannten, nicht erfassten Grund heraus.
In den meisten Büchern zu Traumafolgestörungen tauchen behinderte Menschen und ihre Fälle nicht auf.

Dazwischen klicken kleine Glieder von Assoziationsketten in meinem Kopf ineinander und verwandeln sich in “Herr Trigger”, der an den Regalen mit unseren noch nicht verarbeiteten Erfahrungen rüttelt und mich immer wieder in Flashbacks bringt.
Ich blende die Lebenskontexte ein, in denen wir uns befanden und ich komme immer wieder an Ideen unserer eigenen Beteiligung an der Gewalt an uns. Verstehe, was wir für andere Menschen immer wieder für ein schmerzlicher Dorn sein müssen, weil wir weniger verschnörkelt, weniger diffus, weniger abstrakt agieren und sind und gleichzeitig unempfindlicher an bestimmten Stellen.

Versuch mal jemanden über etwas zu demütigen, das dieser Person völlig egal ist. Und dann fragt dich so eine Person auch noch: “Ja, und?”, weil sie dich gar nicht versteht und du gar nicht verstehen kannst, wie man denn sowas nicht verstehen kann und folglich annimmst die Person will dich reizen. Will dich ärgern. Will dich dominieren.

Ich weiß, dass es bei der Gewalt an uns nie um uns ging, sondern immer um die Täter_innen und ihr infantil egozentrisches Denken.
Ich weiß, dass es in meiner Herkunftsfamilie* ein absurdes Gemisch aus Abwertung von Intellektualität und akademischer Welt mit Stolz auf die eigene Schläue gab. Es war nie wichtig super gut in der Schule zu sein – aber Dummheit überwinden zu müssen, war eine Art Pflicht.
Für mich ist Dummheit keine Unfähigkeit oder Unfertigkeit – für mich ist Dummheit, wie Schläue (oder Klugheit) ein soziales, wie zeitabhängiges Konstrukt. Schon immer. Deshalb spreche ich auch von “dummen Leuten” und stufe das nicht als ableistisch, sondern allgemein wertend ein.

In meiner Herkunftsfamilie* konnte eine Dummheit von mir nur auf eine Unfähigkeit der Erwachsenen deuten, mir nicht klar genug gemacht zu haben, dass ich irgendetwas können bzw. “endlich kapieren” muss oder soll.
Beachtet wurde meistens, was ich kann – nie, wie ich etwas gelernt habe. Denn das hätte zwangsläufig eine Reflektion des “Unterrichtes” bedeutet und tja. Naja.

Heute sitze ich vor Blogs von autistischen Menschen und denke: “Och, das hab ich nicht. Och bei mir ist das nicht so schlimm. Mich hats ja gut getroffen…”, während ich neben mir ein Innen stehen habe, das mich daran erinnert, wie ich das in den ersten 5 DIS-Diagnosejahren auch schon immer dachte. “Och Zeitverluste hab ich nicht. Och, bei mir ist das mit den dissoziativen Erlebensweisen nicht so schlimm. Ich hab dann wohl ne Luxus-DIS” und sich dann nach und nach eröffnete, dass ich unterm Strich vielleicht 10-20 Minuten des Tages wirklich gelebt habe und den Rest nie hinterfragte, weil der einfach nicht in meinem Fokus war.
Wenn man nicht weiß, dass man über Phasen des Tages nicht da ist, dann kann man auch nicht merken, dass man nicht da ist.
Es hat gedauert bis ich merkte, dass der Luxus meines Erlebens der DIS, die Amnesie für die Amnesie war, die mich davor bewahrte in hellerlichter Panik durch die Gegend zu rennen, weil ich nicht nur “Zeitverluste” sondern massive Er_Lebensverluste habe.

Heute will ich so eine Schleife nicht fahren. Dieses Jahr werden wir 30 Jahre alt.
Ich merke, dass es nachwievor darum geht, Wissen und Erfahrungen nachzuholen, die andere Menschen in meinem Alter schon längst gemacht haben und bewusst haben könnten, würden sie darüber nachdenken müssen, wie wir.
Letzte Woche habe ich gelernt, dass man selbst kontrollieren kann, wie und wann man zur Toilette geht. Nach gut, sagen wir, 27 Jahren komme ich auf die Idee, dass ein Zeit- und Aktivitätenbasierender Plan für Körperfunktionen vielleicht eine seltsame Konstruktion sein könnte. Zing – ein Autismusding, das so gar nicht in mein Bild von mir als “eigentlich in Wahrheit gar nicht so doll betroffen” passt.

Letztens dachte ich: “Hm, du benimmst dich voll autistisch wenn du jetzt schon wieder nur diese blütenzarten Haferflocken isst.” und kaufte die kernigen.
Sie sind furchtbar. Ich hasse sie. Es ist seit 4 Tagen ein Kampfkrampf sie nicht einfach in den Garten zu schütten “für die Vögel und Mäuse”.  Ich könnte es doch sein lassen. Aber… da sind die neuen Medis. Wir müssen einen Essplan haben, weil es an unserem Appetit und Hungergefühl manipuliert. Es muss Frühstück geben. Es gehen nur Haferflocken in Jogurt zum Frühstück – warum? Weil wir nicht viel Brot vertragen und weil ich ein Bild von einem Kellogg’s Fruit Loops Ballett in einer Schüssel mit Milch habe, das unaushaltbar disharmonisch mit dem Weingeräusch eines meiner Geschwister war. Und dahinter ein Erinnern an seinen Käfiggittern rüttelt.

Ich weiß bis heute nicht wo genau “Traumavermeidung” beginnt und wo die Notwendigkeit die Welt für mich auf eine Art sicher und okay zur Interaktion zu machen mit Plänen, Sortierungen und kategorischen Ordnungen, weil ich sie sonst gar nicht erst erfassen kann und sie mir aus ihren wirr bei mir landenden Fragmenten irgendwie spontan zurecht kampfkrampfen muss.
Ich will nicht mehr kämpfen und krampfen. Und doch merke ich wie ich das tue, während ich versuche meine komischen Vermeidungsschleifen genau nicht zu machen.

Früher habe ich mich ähnlich zurecht gewiesen, wenn ich gemerkt habe, dass ich angeblich “typisch multi” – mäßige Sachen gesagt habe. Jedes Mal, wenn ich auf eine Frage geantwortet habe: “Kommt drauf an, wen man von uns fragt”, hab ich mir innerlich die Hand auf den Mund gehalten und gedacht: “Orr – TU DOCH NICH SO – du hast doch keine Ahnung, dann halt die Klappe.”. Es war ein jahrelanger Kampfkrampf bis ich verstanden habe, dass meine Antwort nach vorne im Grunde doch sagt, was ich nur sagen konnte: “Keine Ahnung”.

Ich möchte das bitte abkürzen. Dieses sich selber verorten und zurecht finden und einsortieren. Ich merke, wie sehr es mich erschöpft. Und auch wie allein ich damit bin, weil beide Diagnosen immer wieder als so wahnsinnig individuell dargestellt werden, dass ich denke: “Hm, ok wieder nichts mit dem ich mich wirklich abgleichen kann. Wieder nichts woran entlang ich mich abgrenzen könnte, außer Klischees und Stereotypen.”.

[tl, dr: mimimimi]

einer dieser Tage

Und dann sind da diese Tage, in denen man nicht dazu kommt zu merken, wie schlimm sie sind, gerade weil sie so schlimm sind. Erst als man im Bett liegt und unter dem Gewicht seiner Decken zu sich kommt, entsteht der Raum zu der Erkenntnis, dass sich vielleicht einfach noch nicht genug verändert hat, um wirklich anders werden zu können.
Und mit dem Gedanken, dass man sich selbst vielleicht noch nicht genug geändert hat, um Dinge neu und anders anzugehen, fallen die Augen zu und es beginnt ein Zustand, in dem dieser Gedanke die Herrschaft hat. “Du bist nicht okay, wie du bist.”; “Du bist nicht genug”; “Du bist falsch”; “Du musst anders sein, um die Welt ™ zu verändern”. Da greift etwas in mich hinein, reißt an etwas herum, das nicht zu mir gehört, krempelt mich auf links und klemmt meinen Kopf in eine Zange, die sich im schweißnassen Aufwachen, als die Kante zwischen Bettkante und Kommode entpuppt.

Wir verließen die Praxis unserer Therapeutin und versuchten die losen Fetzen der Stunde noch aufzufangen. Neben mir stieß ein Innen die Füße auf den Boden und sagte: “Ich hab versucht ihr zu sagen, dass ich mir nicht mehr ranholen kann, wie wir denken konnten sich Hilfe ranzuholen wär’s wert weiterzuleben.”. Ich nahm ihm die Füße ab und verlagerte die Energie des Innens in Gehgeschwindigkeit. “Sie hats nicht kapiert. Nichts von dem, was du gesagt hast, hat sie kapiert, noch von dem, was ich gesagt hab.”. Neben uns lief eine Gruppe Schulkinder durch die Straße und die kalte Wind britzelte in den Augen.

Manche Therapiestunden tragen unerwartet dazu bei Brücken in Ecken des Innens zu fühlen, zu dem wir sonst keinen Kontakt haben. Das ist unvorbereitet und spontan. Und meistens hat es Folgen, die im Nachhinein schwer nachzuvollziehen sind. Da ist plötzlich ein Innen, das sonst eher als wabernde Eminenz die Therapie oder das, was wir äußern, beeinflusst, mit mir in einem Gefühl vereint, das ich in früheren Zeiten als unbewortbar erlebt habe. Und dann ist das Ergebnis wieder so eine von diesen Wahrheiten, die sind und an deren Ende wir uns als allein am Rand der Welt empfinden.

Obwohl wir doch alle Regeln befolgt haben. Obwohl wir doch getan haben, was wir tun sollten. Obwohl wir doch mitmachen.
Nur eben leider nicht verstanden werden.
Wir versuchen uns in kürzeren Sätzen. Weniger Monolog. Wir haben uns in der Krisenstation dazu entschieden dieses kurze Denken zu kopieren. Weil: “Neue Wege – neue Methoden”. Wir wollen nicht mehr die sein, die ewig lange redet, weil sie denkt, sie wäre dann besser verständlich. Wir hören immer öfter einfach mittendrin auf. Lassen es und ziehen uns raus, wenn wir merken: “Wir greifen hier schon wieder mehr als das Gegenüber in den Besteckkasten.”.

Und genau das haben wir uns für diesen Hilfezirkus auch vorgenommen.
Immer wenn wir merken: “Ah – du hast dir 2 Löffel eingeplant, weil du heute noch einkaufen musst, weil du noch duschen aushalten können willst und, weil du noch Kraft für positive Ressourcen haben willst – und greifst jetzt schon nach dem dritten Löffel, weil die Person dir gegenüber nicht versteht.”, hören wir auf.
Erinnern uns daran, dass das Gegenüber ja auch einen Besteckkasten hat und warten. Und wissen: wir können nur warten, weil uns Menschen immer wieder so glaubhaft wie nur möglich machen wollen, dass sie uns unterstützen wollen, wann immer wir sagen: “Ich kann das nicht” oder “Ich brauche dabei/dafür Unterstützung”.
Am Ende müssen wir die Menschen beim eigenen Wort nehmen und sie damit überraschen, dass ihre Beteuerungen bei uns nicht links rein und rechts wieder raus gerauscht sind. Oder mit unserer Bereitschaft, ihnen zu glauben und krasser noch: ihnen zu vertrauen und sich darauf zu verlassen, dass sie uns die Wahrheit gesagt haben.

Vielleicht gehören wir zu den Menschen, die sich nur zu anderen hinwenden können, wenn sie hinter sich deutlich spüren, dass die Alternative das Sterben oder auch das “nicht mehr sein” ist. Was – obwohl es sehr ähnlich gelesen wird – etwas anderes ist und damit zu tun hat, dass wir schwer traumatisiert wurden.
Wir haben keine Angst vorm tot sein – wir haben Angst vorm “nicht mehr sein”, denn das ist, was die Gewalt früher so oft mit uns gemacht hat und so viel unaushaltbarer ist, als tot zu sein. Die Toten sind tot. Sie sind eben nicht “nicht mehr”.

Gestern war ein Tag, an dem wir zwei Dinge gemerkt haben:
Erstens: ein kurzer Satz wie “Ich kann das nicht” reicht nicht. Auch dann, wenn das Gegenüber – in dem Fall die Therapeutin – weiß, worum es geht, was es mit uns macht, wie groß die Belastung ist, wie massiv der Trigger ist. Es reicht auch nicht diesen Satz logischer machen zu wollen, indem man seine Umgangsoption mitteilt, die impliziert, dass man selbst nicht involviert ist – weil man es nicht kann.

Zweitens: Menschen mitzuteilen, dass man sich aus Diskussionen herauszieht, weil sie einen ganz grundlegenden Punkt der Argumentation seit einem Jahr einfach nicht kapieren, bedeutet nicht, dass man daraus auch entlassen wird (weil man genau diesen Punkt halt nicht kapiert und ergo keinen Grund sieht, die sich herausziehende Person dann auch in Ruhe zu lassen)
So der Fall im Fotokurs nach der Therapie.

Es gab wieder eine dieser Diskussionen darum, was darf Kunst, was darf Satire, was darf der Fotograf (sic!) und wo sind die Grenzen.
Da sitze ich mit 4 weißen als Männer kategorisierten Menschen in einem Raum und erlebe live mit wie die Jungen von dem Alten lernen, dass man nicht auf Kritik achten muss. “Wer nicht lacht hats nicht kapiert” und “*istisch sind immer nur die anderen aus ganz persönlichen Gründen”.
Es ist abstoßend und schlimm. Für uns. Weil Grenzen aufgeweicht und Verletzungen legitimiert werden. Es wird in Kauf genommen Gefühle zu verletzen, um sich selbst als “nicht langweilig” und “edgy” definieren zu können. Als jemand “der ja nur einen Witz machen will”. Und eben nicht auch als jemand, der missachtet, ignoriert und verletzt, weil er es kann und darf und ihm keine verbindlichen Grenzen sichtbar und einzuhalten wichtig sind – selbst dann, wenn sie aufgezeigt werden.

Für uns ist der Fotokurs nicht nur ein Sprungbrett in eine mögliche Zukunft im kreativen Bereich und eine Ergänzung zu sowieso bestehenden Ressourcen und Fähigkeiten – es geht auch um unseren Willen zur Desensibilisierung von Menschen. Wir wissen, dass wir uns an sie gewöhnen müssen, viel soziales Zeug lernen müssen und auch auszuhalten lernen müssen. Neben allem was das Handwerk “analoge Fotografie” bedeutet und von uns zu lernen wichtig ist, sind dort eben auch Menschengeräusche, Menschenwörter, Menschengerüche, Menschen, die plötzlich und unvorhersehbare Dinge tun, sagen, wollen, verlangen. Menschen, die triggern. Menschen, die überfordern. Menschen, die einfach sind und zwar ganz direkt in unserem Umfeld.
Wir wissen, dass wir da was aushalten müssen.
Die Frage ist nur: Wie viel wovon und wozu?

Für uns ist es keine Option zu sagen: “So sind sie halt – die Männer, die Jungs, die Menschen, die Lehrer, die Schüler … die Anderen”, weil das einfach zu wenig ist. Dafür kostet uns der Unterricht zu viel Geld und zu viel Kraft für Kompensationsleistungen und Aufrechterhaltung der Funktionalität. Dafür geht es uns auch einfach zu sehr viel schlechter nach solchen Diskussionen als den anderen Teilnehmenden.
Und am Ende: Wie eklig wäre es, würden wir uns selbst dazu triezen zu lernen uns zu desensibilisieren, wenn anderen Menschen ganz direkt in unserem Umfeld Gewalt angetan wird bzw. solche Gewalt als legitim bezeichnet wird?
Das ist doch nicht, wie Menschenmiteinander aussehen soll. Das ist doch nicht, womit uns beworben wird, dass sich das Weiterleben lohnt.

Wir haben den Kurs eineinhalb Stunden vor Ende verlassen.
Ich habe mich geärgert, meinem Lehrer den Brief nie zu lesen gegeben zu haben, weil ich Angst davor hatte, er würde sich bloßgestellt fühlen und sowieso gar keine Auseinandersetzung mit seinen internalisierten *ismen wollen. Vielleicht: auch gar nicht leisten können, weil er nämlich auf viele Jahre schauen müsste, in denen er Menschen verletzt hat und dachte, das wäre okay, weil er ja ein okayer Mensch ist, der niemanden verletzten wollte.

Ich will nicht immer die sein, die Menschen Dinge zeigt, die sie übersehen und aus dem Bewusstsein streichen, weil sie das können und ich genau eben nicht. In dieser Rolle ist man nämlich immer wieder die, die im besonderen Maße davon abhängig ist, wertschätzend und anerkennend behandelt zu werden. Passiert das nicht, erlebe ich Verletzung, Verlust von Privilegien und zwar ganz konkret, ganz direkt.
Und genau auch nicht, weil ich das nicht anders verdient habe – sondern, weil solche Gegenüber keine anderen Optionen nutzen sich selbst zu versichern, als eben über solche “Strafen”.

Ich merke, dass wir keine Umgangsoptionen kennen, die solche Situationen und sozialen Konstellationen befriedigend für alle auflösen. Denn befriedigend wäre für diese Gruppe nur sich keine Gedanken machen zu müssen und einfach nur zu hören: “Du bist okay – ich habe etwas Falsches gedacht/gesagt/verlangt. Hier ein Keks.”
Ich habe aber nichts Falsches gesagt/gedacht/verlangt.  Ich habe einfach nur etwas gesagt/gedacht/verlangt, das sie nicht verstehen wollen, weil sie nicht müssen und das für den Rest der Welt völlig okay so ist.

Wir haben noch 6 Termine dort. Und erwachsen und konfliktlösungsorientiert wie ich bin, plane ich uns zu jedem dieser Termine in die Dunkelkammer einzusperren und mir maximal ein “Hallo – schließt du bitte auf?” und ein “Bis nächste Woche” rauszuwürgen.
Ja.
Ich bin echt toll konstruktiv und konsequent in unserem  Plan sich irgendwie mal so richtig mit Menschen auseinanderzusetzen.

[slow clap]

einfach komplex

Es gab ein Moment von Erleichterung und Erlaubnis in diesem Gespräch mit dem Facharzt.

Erleichterung, weil er sagte: „Vereinfachung überfordert Sie.“.
Erlaubnis, weil er sagte: „Sie können nicht anders als komplex.“

Natürlich hatte er diese unsere empfundene Erlaubnis nicht intendiert. Niemand wird uns je erlauben uns aus dem Leben zu stehlen. Einfach aufzuhören und zu gehen.
Weil wir nicht anders können als komplex und doch nie die Kraft haben, in einer Welt, die es sich so einfach wie nur möglich machen willkannmuss, zurecht zu kommen.

Wir hatten nicht die Zeit diesen Aspekt zu vertiefen und das finde ich schade, weil undefiniert blieb, was „einfach“ meint und wo genau „komplex“ beginnt.
Ich habe darüber nachgedacht, was uns das Leben leichter bis aushaltbarer machen würde. Mir sind Dinge wie „einfach nie mehr reden müssen“, „nie (Uhr)Zeiten beachten müssen“, „einfach alles was weh tut nicht machen müssen“ und „einfach immer verwabern dürfen“ eingefallen und direkt kam die Frage auf, ob wir den Kontakt zu dem Menschen gerade dazu missgebrauchen uns aus dieser Welt des Müssens herauszuziehen.

Auf eine Art kommen wir in unseren Gesprächen oft an die Idee davon Dinge, die zu viel sind, obwohl man sie muss, einfach zu lassen. Weil es uns nicht zu einem bösen Mädchen schlechten Menschen macht schlimm ist. Und auf einer anderen Ebene wissen wir, dass es ein unausgesprochenes Ding in unserer Gesellschaft, Kultur, unserem ganzen Miteinander ist, dass es verboten ist, wenn jede_r macht, was ihr_ihm gerade akut oder langfristig gut tut.

Man redet gefälligst wenn jemand mit einem redet. Man kommt gefälligst pünktlich wenn man verabredet ist. In Wahrheit tut sowas Straßenbahn fahren, einkaufen, auf Beton laufen, auf glatten Polstern sitzen, das Öffnen und Schließen von Zugabteiltüren und Griesbrei essen auch nicht weh. Verwabern ist dissoziieren und dissoziieren ist böse böse böse Nein Nein Nein das darf man nicht (obwohl 100% aller Menschen es tun – immer – überall von Anfang bis Ende ihres Lebens).

Ich möchte auch ein einfaches Leben. Eins dem man die abstehenden Schnörkel und Verkomplizierungen wegschneiden kann, ohne, dass es danach freudlos und langweilig ist.
Und wenn wir das aber nicht können? Wenn es das einfach nicht gibt?

Und dann war da noch die Frage, ob wir vielleicht nur deshalb komplex können, weil wir komplex können müssen, wie wir das schon immer können mussten.
Wir leben im Informationszeitalter und während Phänomene wie das der „digitalen Demenz“ und der sozialen Dissoziation vermehrt in Erscheinung treten, erscheint es mir als eine Art Selbsterhalt im Sinne eines Versuches der Selbstbestimmung im Sinne von Selbstdefinition und -position, sich vieler Umstände bewusst zu machen und zu halten.

Die Welt ist doch nun einmal komplex. Leben ist komplex. Wie kann es denn sein, dass man zerbröselt, obwohl man sich dem entsprechend anpasst oder schon so geboren ist, dass man Komplexe eben gut aufnehmen und halten kann.
Ich hätte jetzt beinah geschrieben „Wieso ist es denn so falsch die Welt so komplex zu erleben wie sie ist?“ – aber es geht nicht um richtig oder falsch. Es geht um „einfach“ oder „komplex“.

Und wo genau ist eigentlich dieses Mittelmaß genannt „kompliziert aber bewegbar“?
Viele Menschen machen sich lustig oder halten es für ein beabsichtigtes Intellektuellengehabe, wenn ich auf ihre Worte reagiere einfach wie ich nun einmal reagiere. Und ja – ich nehme das wahr. Ich merke die Abwertung von Intellektualität und Präzision. Ich bemerke es, wenn jemand eine Motorsäge an meine so hart erarbeiten Worte legt, weil sie für ein unnütz verkomplizierendes Gestrüpp gehalten werden.
Ich merke das und werde auf eine Art selbst von dieser Motorsäge zerstückelt.

Da kommt mein Wunsch her einfach nie wieder reden zu müssen. Da kommt mein Wunsch her etwas sagen zu dürfen. Und ja ja JA für mich sind das zwei ganz grundverschiedene Arten der Kommunikation. Für mich bedeutet das eine so grundlegend andere Art mich mit Menschen in Kontakt zu begeben. Für mich würde das alles einfacher machen. Wirklich alles.
Aber wo ist denn der Ort an dem das sein kann? Wo ist mein „einfach“ okay, ohne es zu einem „komplex“ woanders zu machen?
Und wie etabliert man sich die Räume, in denen das so eine Routine sein kann, dass es einfach so passiert, ohne als etwas zwischen „einfach“ oder „komplex“ eingestuft zu werden?

Und was ist, wenn wir das einfach nicht schaffen, weil wir etwas, was es dazu braucht nicht können (und vielleicht nie können können werden)?

Eine ehemalige Gemögte hatte mal von einem Grabstein erzählt auf dem in etwa stand: „ihr Leben war Last und Mühe“. Ich will nicht, dass so etwas auf meinem Grabstein stehen müsste, weil es ehrlich wäre.
Mein Grabstein soll glitzern wenn es regnet und in Regenbogenfarben irisieren, wenn die Sonne scheint. Da soll stehen: „Endlich Feierabend!“ oder „Endlich ausschlafen!“.
Wenn ich sterbe, will ich wissen, dass ich alles sagen konnte, was mir wichtig zu sagen war. Wenn ich sterbe, will ich an dem Punkt sein, an dem ich auch sagen kann, dass sich meine Kämpfe gelohnt haben. Ich will zumindest verstanden haben, warum ich meine Kämpfe verloren habe und vielleicht auch nur verlieren konnte.

In der Nacht nach dem Gespräch lagen wir in unserem Käfig und hatten nichts mehr übrig als frustrierte Tränen über all die verlorenen Kämpfe, deren Niederlagen nie anerkannt waren, weil niemand unseren Kampf anerkannt hatte.

Nicht einmal wir selbst.

an einem “Alles ist möglich-Tag”…

… klingelt der Wecker nicht zur üblichen Zeit und das drei Mal hintereinander, damit sich auch wirklich alles im Kopf daran erinnert, dass heute alles anders ist als sonst.

Widerwillig lässt sie den Donnerstagsplan los und stellt sich unter die Dusche. Nimmt uns vielleicht als Spur im Rauschen des Wassers wahr, kann uns vielleicht sogar hören, wie wir ihr sagen, dass sie nicht allein ist. Dass auch dieser „alles-ist-möglich-Tag“ bedeutet, dass wir uns so eng wie es nur geht nach vorn stellen und niemand etwas allein aushalten, abfangen, tragen, stemmen, fühlen, wahr_nehmen muss.

Wir entscheiden 2 Minuten vor dem Verlassen der Wohnung, dass NakNak* uns nicht begleiten wird. Nicht zum Gespräch über das betreute Wohnen in Familien und auch nicht zur Therapie danach. Weil sie so süß eingekringelt auf ihrem Platz liegt und aus müden Knopfaugen guckt, als wir sie noch einmal anschauen.
Und, weil es vielleicht doch zu viel “alles ist möglich” ist, wenn sie mit uns im Therapiezimmer ist. Und, weil wir überwiegend wir allein sein müssen, wenn es um unsere vielleicht zukünftige Betreuung geht.

Die Sonne geht in einem kräftigen altrosa-grau auf. “Shabby chic” denke ich und erinnere mich an unsere letzte Nachbarin, die mich dafür bezahlt hatte ihre Möbel weiß und elfenbeinfarben zu lackieren und dann abzuschmirgeln.
Damals. Vor über 3 Jahren. Als wir noch betreut wurden und soweit am Rand der Stadt wohnten, dass das Internet seinen Platz als einziges Verbindungsstück zu anderen Köpfen bekam.

Es ist halb 9 und wir entscheiden uns für einen Kaffee vom Bäcker. 1,89€ für eine bittere Brühe, deren gratis beigelegter Plastikbecher und Plastikdeckel und Plastiksahnepöttchen und das Plastikumrührstäbchen wahrscheinlich bald im Bauch einer Meeresschildkröte oder Pelikans wieder auffindbar sind. Wir diskutieren auf dem Weg zur Verwaltungsstelle über Plastik aus Maisstärke und schlimme Bodenerosionen durch den massenhaften Anbau von Mais, während sie überlegt, dass Popcorn auch mal wieder lecker wäre und genüsslich das Plastikumrührstäbchen ablutscht.

Wir kennen das Büro. Vor 7 oder 8 Jahren standen wir dort schon mal und dachten Wunder was wie erwachsen wir seien, dass wir aus der Jugendhilfe in die Hilfen für junge Erwachsene wechselten. Und eine unserer Gemochten bis heute kennenlernten.
Sachte fliegen Erinnerungsfetzen an die letzten Botschaften Befehle von Täter_innen an uns vorbei. Die Erinnerungen an NakNak*s wundergut flauschiges Welpenfisselfell und die Zeit mit ihr, zwei Katzen, einer Mäuse- und einer Guppyzucht und ihrem Problem draußen in der städtischen Hölle ihr Geschäft zu machen.
Wie viel wir damals noch geraucht haben. Wie schlimm alles damals noch war und doch so viel besser als alles vorher.

Eine freundliche Person spricht mit ihr über das betreute Wohnen in Familien.
Wir wissen schon alles und dann und wann berühren wir ihre Schulter um ihr zu signalisieren, dass sie aufhören kann, die auf sie einströmenden Wörter abzufangen. Wir erwarten Fragen zu uns und unserem Hilfebedarf. Erwarten die schlimmste aller Fragen, die jemand, der uns Hilfen zukommen lassen möchte, stellen kann: “Was wünschen Sie sich?”.

Die Frage kommt und wir drehen eine Vermeidungsschleife bis die Person die Frage als beantwortet denkt, obwohl sie das nicht ist.

Wir verabschieden uns mit einem zweiten ekelhaften Kaffee und einer zweiten Zahnschmerztablette im Bauch und einem Fragebogen zur individuellen Betreuung und Begleitung im betreuten Wohnen in Familien. Ein bisschen schwankend unter dem Gewicht einiger Kinderinnens und deren Schmerz.

Wir entscheiden uns die Sonnenseiten der Straßen zu benutzen. Entscheiden uns für den köstlich langen Bergabzebastreifen, er entlang eines großen Parkplatzes verläuft und streicheln eine weiche schwarze Labradormischlingshündin an der Straßenbahnhaltestelle.

“Ich glaube, dass wir eine gute Familie für Sie finden”, hat die Person gesagt und vielleicht gibt es wenig, das uns so unvermittelt umkrempeln kann, wie so ein Satz, der all die positive Belegung des Begriffes “Familie” im Ton hat.
Wir bedauern sie, diese Menschen, die versuchen uns damit zu zeigen, dass wir auf einem guten und tatsächlich auch gangbaren Weg sind. Sein könnten.
Wir bedauern sie, diese Menschen, deren kostbares Geschenk einer Familie wir nur ratlos anschauen und mit Roman- oder Fernsehinhalten abgleichen können.

Während wir eine halbe Stunde verbummeln, spielen wir mit einer gefundenen Feder. Betrachten die perlmuttartigen Schimmer der feinen Lamellen im Sonnenlicht und balancieren auf dem Kiel dazwischen umher.
Ein Kleines wedelt mit der Feder in der Luft herum spürt den Widerstand wie ein leichtes Pochen in den Fingerspitzen. Wir sind abgeschirmt von allem und fast nicht mehr da. Einfach so. An einem “alles ist möglich-Tag” kann man mitunter auch einfach mal so verwabern und im kalten Streichelwind, der über Federkiele weht, verschwinden.

Unsere Therapeutin hat vor ein paar Wochen beschlossen, dass wir jetzt eine Weile Tee trinken und wir haben noch immer kein so wirklich passendes Regal dafür gefunden.
Entsprechend grabscht sie blindlinks in unsere Bäuche, Rücken, Schultergelenke um an ein Wort für ein Gefühl, um das sie sich nicht sicher ist zu kommen. Sagt am Ende, sie glaubt traurig zu sein.
“Verstehen Sie das?” fragt die Therapeutin. “Nein.”, antwortet sie.

“Was würden Sie gern tun?”, fragt die Therapeutin. “Ich würde gerne weinen und was essen und dann eine Schmerztablette nehmen und dann…” und dann verheddern sich ihre Außenworte mit den Trümmern der einstürzenden Worttürme links und rechts und unserem ungeordnetem Aufbranden.
5 Minuten später essen wir einen überraschend ekelhaften Jogurt und eine beruhigend nette Banane. In dem Zimmer von unserer Therapeutin. Weil ja zum Glück “alles-ist-möglich-Tag” ist. Nur Anlass – kein Grund zur Panik.

Auch nicht, als ein Kinderinnen ihr sagt, dass es lieber bei ihr oder bei einer Gemögten oder dem Menschen wohnen würde, als in einer “Familie”. Und Familie*.

Auch nicht als da jemand sitzt, den wir bisher für körperlos hielten.

Wir laufen am Ende doch er_leichter_ter als vorher nach Hause und hopsen von Bratwurstduftwolke zu gebrannte Mandelndunst. Lassen Tauben den Vortritt und trampeln mit Absicht auf die Linien zwischen den Mustersteinen, die die Fußgängerzone einrahmen.
Beobachten wie sich die Weichen der Straßenbahn verstellen und warten zwischen zwei silbernen Bodenlinien. In all dem Menschenkrach wollen wir dann doch nicht auf unseren Einzelsitzplatz am Fenster verzichten.

Sie zittert etwas und wundert sich noch ein bisschen. Betastet das eigene Herz und versucht “Traurigkeit” unter den Fingerspitzen zu emp_finden.

Zu Hause wartet NakNak* auf uns und drückt ihren Nüschel in unseren Bauch, als wir unseren Nüschel auf ihren Kopf drücken.
Wir geikeln zwischen den Sonnenstrahlen und ihrer restlichen Wärme herum, kitzeln Grashalme und krabbeln von Gänseblümchenblüte zu Gänseblümchenblüte. Veratmen Erinnerungen an Familie*, an Es und DAS DA, legen die ausgeatmeten Eiterbröckchen dieser Wunden in die geheimen Wortloskatakomben. Aus den Augen aus dem Sinn.

Die nächste Station ist unsere Neurologin. Zwei wichtige Zettel und ein Stand der Dinge.
Weil “alles ist möglich-Tag” ist schaffen wir es um eine Verordnung für Ergotherapie zu bitten, die Einweisung für die Klinik zu regeln UND auch noch alle vorgestrickten Wörterketten zu sagen ohne uns zu verheddern, obwohl NakNak* neben uns sitzt und sich vorher im Wartezimmer in einen schrecklich hungrigen Gierlappen verwandelt hat.

Als wir in den Kreativmarkt gehen und NakNak* sich zum zweiten Mal auf die falsche Seite setzt, merken wir auch deutlich, wie lange es her ist, dass wir sie auch unter Menschen und inmitten von vielen Menschen als unsere Assistenz dabei hatten. Wie oft da die Angst ist unangenehm aufzufallen, dem komischen angesprochen werden, dem Ganzen „für ein Wesen außerhalb auch noch verantwortlich sein“, wir uns nicht gewachsen fühlen. Wie oft wir uns behindert haben, um keine Behindertensperenzchen von anderen abzuverlangen.

Langsam geht die Kraft zur Neige und wir machen nur noch eine Ehrenrunde durch den Park. Dort gibt es einen Schwarm mit winzig kleinen Vögelchen, die ganz wunderbar niedlich qwitschermiepen. Und zwei Hündinnen, die gerne mit NakNak* über die Wiesen flitzen. Und Sonnenstrahlen, die uns einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn kitzeln, bevor sie sich mit Abenddämmerung zudecken.
Wir haben “Görpower-Toni”- Karten von der Post abgeholt. Auf dem Weg dorthin eine orange-weiße Katze wie einen Stein auf dem Fußabtreter eines Haus sitzen sehen.

Die Welt zittert in ihren Fugen.
Wir telefonieren mit Renée und finden unser letztes gemeinsames Podcast ein bisschen gut und freuen uns darüber, dass eine zuhörende Person schon etwas recherchiert hat.

Und dann fangen wir an unseren Tag zu erzählen.
Wer hätte denn ahnen können, dass wir den schaffen?

Es wäre doch alles möglich gewesen!