Das Tagebuch. Sein Sinn und das, was sonst noch damit zu tun hat

Das Tagebuch ist wieder da.

Vor ein paar Wochen- oder Monaten?- war es verschwunden. Zerrissen, verboten, Hoheitsgebiet der BÄÄÄMs.
Es gab wieder Listen und Zettel. Aber natürlich nicht vom Block oder in einem Heft, denn Besitz ist so eine Sache im Denken der BÄÄÄMs.
Bonbonpapier, Verpackungsmaterial, die eigene Haut, ein Zeitungsfetzen, die Rückseite eines Kassenbons… alles wurde zum versteckten Plätzchen. Kontakt- und Suchanzeige nach innen. Mahnmal und sichtbare Drohung. Erinnerung an das zu füllende Alltagsgeschehen.

Wenn wir eines führen ist mehr Überblick möglich.
Symptome die sich häufen oder abnehmen; das Gewicht, eine Dokumentation der Verletzungen und der Versuch sie zu versorgen. Die Finanzen, Ämtergänge, Jobangebote und Arbeit die bereits gemacht wird. Wann wer was gegessen hat, wann der Körper wie lange geschlafen hat (oder es ein „schlafen“ war). Wann NakNak* Auslauf hatte und wie viel. Wo und evtl. mit wem und wenn ja, was dort besprochen wurde. Welche Menschen mich in Zukunft vielleicht anrufen und warum. Welche Einstellungen wann, warum und wie am Blog vorgenommen wurden. Welche Kleidung/ Bücher/ Gewerke wann an wen und über welches Portal verkauft, gekauft oder getauscht wurde.
Wer was denkt. Was wer fühlt. Was wer warum gemacht oder gedacht oder gesagt hat. Die Therapie mit allem was sie aufwirbelt oder niedertritt.
Unser ganzes (Er)Leben steckt in diesen meist billigen Chinakladden von denen im Monat etwa 2-3 vollgeschrieben werden. Sie sind vergänglich und nur begrenzt wichtig.

Unser Tagebuch ist wie ein Liveticker im Sportkanal: Einmal benutzt, vielleicht zweimal oder dreimal, dann ist das, was darin erwähnt wird, schon wieder nicht mehr aktuell.
Es eignet sich nicht zur Analyse eines Gesamtzustandes, weil es mehr Konstruktion einer Gesamtheit ist, als die Dokumentation des Erlebens einer Gesamtheit.

Als de Diagnose gestellt wurde, hatte uns die Therapeutin damals gesagt, wir sollen doch mal versuchen eines zu führen. Ich meine, es war nach einer Stunde in der ich wieder einmal nicht mehr sagen konnte als „alles scheiße“; zwischen den verschiedenen Gedanken und Impulsen nicht trennen konnte und direkt konfrontiert war mit dem Verlust von 3 Wochen Zeit.264967_web_R_by_BirgitH_pixelio.de Ich dachte damals, sie meinte eine Art Tagebuch in dem es Einträge gibt á lá „Heute habe mir ein Eis gekauft. Es war lecker. Mir gehts gut, morgen fahre ich in den Zoo.“. Und ich unterstelle der Therapeutin von damals einfach mal, dass sie etwas in der Art auch im Kopf hatte.
Ich scheiterte natürlich mit Pauken und Trompeten an der Aufgabe und irgendwann gab es auch eine gewisse Resignation. Gut, dann eben kein Tagebuch das schön alles zusammenfasst. Und irgendwann, irgendwo zwischen der Entwicklung von Hospitalismus als Nebenschauplatz und dem infernalischem Chaos, das auf die Entlassung und die Umsiedlung hier in diese Stadt folgten, endeten auch die Bemühungen Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Wünsche festzuhalten. Und sei es nur auf der unbedruckten Ecke einer Buchseite.
Das Außen war durcheinander und desinteressiert, später sogar offen demütigend und gespalten. Wir wurden missachtet und trugen alles ins Innen hinein.
Erst viel später dann, erklärte uns die Kliniktherapeutin hier, wie ein Tagebuch richtig aussehen könnte. Was wir für Möglichkeiten testen und für uns erkunden könnten.
Es war nur eine Stunde und das Thema war als solches gar nicht explizit auf dem Tisch, aber die Nebensätze: „Nehmen sie einfach was kommt und tun Sie es da rein“ und „geschrieben oder gemalt oder geklebt… “ fielen und sie blieben bei mir.
So brauchten wir nur noch die 2 jährige Schleife, bis wir uns den Besitz von Kladdenbüchern erlauben konnten und konnten dann aber loslegen.

Und doch. Trotz dem das Schreiben eines Tagesbuches etwas ist, dass uns sehr hilft und zeitweise gut tut, ist es bis heute Nichts, das wir für uns tun. Es geht dabei nicht um ein seelisches Gleichgewicht oder einer Art Ordnung des Lebens. Es geht bis heute darum, besonders gut so tun zu können, als gäbe es keine Amnesien und als gäbe es eine Ordnung, die man analysieren und für sich nutzen könnte. Es ist ein Kontrollversuch durch striktes Protokoll.
Es ist für uns manchmal nur nützlich, weil es für unsere Therapeuten nützlich ist.

Manche Menschen führen ein Tagebuch, um Abstand zu ihren Erlebnissen zu bekommen. Ihre Probleme und Konflikte objektiver betrachten zu können.
Dadurch, dass wir einander und die Dinge, die wir jeweils tun bereits als objektiv und voneinander unabhängig erleben, sind wir- auch wenn wir es so aufgezeichnet vor uns liegen haben, nicht in der Lage die Einträge als etwas zu betrachten, das einen Verlauf oder eine Entwicklung noch objektiver darstellt. Dies ist vielleicht sogar Stoff für geistige Hochglanzdiskussionen: Wieviel objektiver kann Objektivität in Bezug auf eigentlich ganz subjektive Erlebensweisen sein? Ist der Anspruch einer Objektivität nicht erst dann gerechtfertigt, wenn ich die Dinge grundlegend als subjektiv betrachte?

Jedenfalls ist es jetzt wieder da. Nicht für uns oder weil wir es so dringend wollten. (Wollen dürfen.. oy vey was für ein Thema gerade im Moment!) Sondern, weil unsere jetzige Therapeutin endlich von ihrer Autorität Gebrauch gemacht hat. Ziemlich peinlich, nicht wahr?
Da sitzt man da und redet so vor sich hin, lässt sie teilhaben am stetig tiefer kreiselndem Weltendreh im Innen und hofft und wartet doch irgendwie, dass sie in diesem beängstigend strengen Tonfall sagt, dass man das und das (Guttuende, Hilfreiche) gefälligst nicht aufzugeben bzw. von sich wegzuschmeißen habe. Das man gefälligst zum Arzt gehen solle, dass man gefälligst die getroffenen Absprachen einzuhalten habe. Einfach nur, weil es bis heute mehr gilt, wenn jemand Außen (der per se einfach, weil er nicht man selbst ist, eine nicht zu hinterfragende/ bekämpfende Autorität stellt) etwas bestimmt, als wenn wir selbst etwas für uns bestimmen.

Das Tagebuch fällt in die Kategorie „mitarbeiten“.
In der Therapie und im sozialen Miteinander allgemein, ist es hinderlich amnestisch zu sein.Und es ist unsagbar peinlich dies zuzugeben.
Außerdem ist es ein Zeitfresser.
Eine Therapiestunde hat 50 min, die Krankenkasse bewilligt im Schnitt 120 davon.
Würden wir in jeder Stunde damit befasst sein, die Amnesie des Alltags (nur des Alltags und der aktuellen Lebensrealität) auszugleichen, wäre das Ergebnis vermutlich die Erkenntnis: „Wow ich bin multipel und meine ganzen Parallelleben sehen so und so und so aus.“ Badabing badabumm- für diese Erkenntnis bin ich aber gar nicht da.
Ich will ja lernen, wie ich das Ganze als zu mir gehörig erlebe und erinnere (es überhaupt erinnern zu wollen ist, denke ich, logisch), in der Hoffnung, dass dies dann irgendwann dazu führt, dass der ganze somatische Kladderadatsch aufhören kann, mich kaputt zu machen.
Also ist das Führen eines Tagebuches eigentlich der Teil Therapiearbeit den wir unbegleitet (und teilweise auch ungeschützt) machen (müssen).

Mein neues Tagebuch ist jetzt 8 Tage alt und ich bin entsetzt.
Hatte ich neulich in einem Chat noch gewitzelt, dass „wir das mit dem multipel sein, irgendwie grad viel zu gut machen“, sehe ich nun, wie weit wir wieder auseinander driften können, wenn es nötig erscheint. Was für eine Suizidalität, Verzweiflung, Todesangst, aber auch tiefe Hoffnung, Kampfgeist und Menschenliebe in meinem Innen vor sich hin brütet und sich gegenseitig einen Schützengrabenkrieg liefert. Wie viele Tote es bereits gegeben hat und was für neue Soldaten der Entwicklung inbegriffen sind.
Und das, obwohl draußen die Sonne scheint, uns niemand von außen Gewalt antut, viele neue tolle Chancen und uns guttuende Kontakte da sind… wir doch verdammt nochmal einfach nur zugreifen müssten.
Irgendwie tut mir das weh.*
Und ganz eigentlich merke ich an mir, dass ich, einfach nur um diesen Schmerz nicht zu fühlen, das Tagebuch gern schon wieder weggeschmissen haben will.

P.S. Das Blog könnte man wohl auch als Tagebuch begreifen, doch da es- bei aller Nähe und anscheinender Kohärenz- in der Regel von Einzelnen mit lediglich dem Innen, das gut schreiben kann, zusammen geführt wird, ist es mehr Prisma, als global umfassendes Ausführen. Man bekommt hier lediglich Eindrücke, Ideen und Gedanken von Einzelnen von uns zu lesen. Man kann sich wohl seine Gedanken machen, wie unser Leben wohl so aussieht, doch es würde nicht gelingen. Es ist eben doch nur die Reflektion eines einzelnen kleinen Spiegels

P.P.S. Eigentlich… das fällt mir gerade noch so ein, sollte ich vielleicht doch mal ein Tagebuch von heute aufbewahren.
Vielleicht schaffen wir es ja doch uns irgendwie zu integrieren und später ein Tagebuch zu führen, das nicht aus lauter Snippets besteht.
Es wäre vielleicht interessant beide vergleichend zu betrachten.

P.P.P.S. (ja heute lange ich hier richtig zu) *Edit: Den Bezug zu mir selbst habe ich beim Lesen überwiegend „kopfisch“, da ich weiß, dass mein Körper das geschrieben hat.  Erlebten Schmerz fühle ich im Moment, eher als „Hauch der mir zu nahe kommt“

beobachtete Flucht

Es ist eine Schwärze, die sich nicht zwischen Samt und Unendlichkeit entscheiden kann.
Es ist eine Kälte, die nicht weiß, ob sie beißen oder stechen soll.
Es sind Schritte eines Kindes im Körper eines Erwachsenen.

Es ist Angst im Heute vor etwas Gestrigem.
Es ist immer die gleiche Frequenz, immer der gleiche Satz, immer der gleiche Ton.

Ein blitzschneller Zug des Schlüssels aus dem Schloss, ein Aufreißen und hinter sich zuschlagen.
Abschließen. Einschließen. Wegschließen.
Und dann jeden Treppenabsatz im Ganzen runterspringen.
So schnell wie es nur geht.

Ein Rasen.200888_web_R_K_B_by_tom-sawyer_pixelio.de
Ein Rennen.
Ein Laufen.
Ein Joggen.
Ein schnelles Gehen.
Ein Schritt nach dem Anderen.
Ein mechanisches Traben.
Ein Vorwärtsschleppen.

Bis zu dem Moment in dem Raum genug für das fragende Innen ist.
„Weißt du eigentlich, wo du bist?“
Dann erst kommt die Angst, die sie sterben lässt.

Sie ist 8 und sah ihren Besitzer.

Ich bin 27 und sehe das Ortschild einer Stadt ca. 24km von meiner Wohnung entfernt.

fertig geschlafen

“Wow, seht ihr scheiße aus!”
Sie hebt die Augenbrauen und mustert mich mit einem Blick in dem sich Erstaunen und Mitleid paaren.
“Wow- dass ich wenigstens noch die Klinke jener Tür in der Hand hab, mit der du ins Haus gefallen bist!”, höre ich meinen Kopf denken.
– “Komm rein, ich bin gleich fertig, dann können wir los.”, höre ich meinen Mund sprechen.

“Bist du sicher, dass ihr überhaupt in der Lage seid, jetzt ne Wanderung zu machen? Wann habt ihr zuletzt geschlafen?”, sie geht durch in die Küche und begrüßt die freudige NakNak*. Ich versuche zu rekonstruieren und scheitere. Jetzt meine Listen und Zettel der letzten Tage durchzugehen, würde die Frage beantwortbar machen, aber es sind einfach zu viele und manche sind alles- außer lesbar oder verständlich.
Es ist sowieso offensichtlich, dass es schon wieder eine ganze Weile gegeben haben muss, in der sich niemand weiter um den Körper gekümmert hat, als bis zur Dusche.

Rigoros schiebt sie die Papier- und Bücherberge auseinander, die unseren Küchentisch bedecken. “Wahnsinn, was ihr für ein Chaos verbreitet, wenn die Frontfrau nicht da ist- Hammer! Soll ich dir mal grad helfen?”.
– “Äh… öhm… ich dachte… Hund…?”
”Schatz- hier siehts aus wie bei Messiehempels unterm Sofa und guck dich mal bitte an- du kippst mir sowieso nur wieder aus den Latschen.”, sie fängt an die Bücher zusammenzuklappen und zu stapeln. NakNak* und ich sitzen auf der Eckbank und gucken dumm. Ziemlich überrumpelt und plötzlich irgendwie selbstentkernt.
Innen motzt es: “Ein Mal! Ein einziges Mal, bin ich ohnmächtig geworden und jetzt schmiert sie mir das aufs Brot, als würde das dauernd passieren!”.

Ich schaue der Gemögten zu und verpasse irgendwann den Anschluss. Sie erzählt etwas von ihrem Studium. Psychologie. Menschenseele ausrechnen.
Irgendwo winkte mir das letzte Wort zu, ohne auf eine Reaktion von mir zu warten.
Es ist ein Schweben in weißer weicher Watte. Da ist nichts, außer dem sachten Wogen des Atems, der wie ein Dauerton jede Faser durchdringt.
Alles ist weg. Die Angst, die Sorge, die Gedankenschleifen. Sogar das dröhnende Dauer
BÄÄÄM.

“Hey, Du weinst ja.”
-“Nich verraten bitte.”, ertapptes Zusammenzucken.
Panik bricht sich seine Bahn.

Und plötzlich beginnt ein Dialog, der mich zwischen Watte und Bewusstsein festlötet.
Ich will das alles gar nicht hören. Diese giftige Kinderangst, dieser Schmerz, diese Realität, diese Zeitverschiebung, dieses Gefühl in einem Körper zu stecken, der 3 Nummern zu groß ist.

“Du bist ganz schön müde, ne?” Sie guckt in meine Augen. Total direkt und es ist, als würde alles von mir abplatzen. Abgeschält offen und bar jeden Schutzes bin ich da, obwohl ich gar nicht da bin. Es ist ein Gefühl von Nacktheit, das nichts mit meiner Kleidung zu tun hat.
Wie an einem Scharnier befestigt, wird der Kopf zum Nicken gebracht. Der Atem versucht verzweifelt den ganzen Heulrotz in der Nase zu lassen. Was für ein Kampf, um ein bisschen Rest Würde.

Ich weiß nicht, wieso wir auf dem Boden sitzen. Wieso ich es nicht einmal mehr schaffe, mir selbst das Gesicht abzuwischen, aufzustehen und mir trockene Unterwäsche anzuziehen. Es geht einfach nicht. Diese Watte lässt das Falsche durch.
Ich spüre ihr Mitgefühl, ihre Fürsorge, meinen Zerfall, meine einfach nur abgrundtiefe Erschöpfung.

“Komm, ich helf dir, ja?”
Was ist meine Passivität- mein “mich nicht gegen ihr Handeln wehren” jetzt? Ist es das Eingeständnis, wie dringend wir auf Hilfe von außen angewiesen sind? Das Zugeben, dass wir nur noch ein Haar breit vor dem totalen Zusammenbruch stehen? Oder das früher so oft vorgeworfene “sich fallen lassen und Verantwortung abgeben”?
Sie hilft mir beim Umziehen, als wäre ich einer der alten Leute, die L. noch bis vor Kurzem an- und ausgezogen hat. Sie hält mir ein Glas an den Mund, wie W. es noch bis vor Kurzem bei den kleinen Kindern gemacht hat. Und ich?
Ich lasse sie einfach machen. Mache einfach mit. Überlasse mich ihr.

Sie bringt uns ins Bett, sitzt daneben und ist einfach da. Es dauert nicht lange, vielleicht 2 Minuten und wir schlafen ein. Endlich.

Sie nimmt NakNak* mit auf eine Hunderunde, macht den Abwasch, schmeißt eine Ladung Wäsche in die Maschine, kocht Suppe für drei Tage, fegt die Wohnung durch, leert den Briefkasten, bringt den Müll raus.

Sie bleibt die ganze Zeit unserer ersten Schlafetappe von 6 Stunden und entscheidet sich erst dann gleich bei uns zu übernachten. 313705_web_R_by_slicer_pixelio.de
So schaffen wir es zum ersten Mal, seit August letzten Jahres, zu schlafen, bis wir wirklich ausgeruht sind. Natürlich nicht, ohne ein Echo des Hasses und der Strafen aus dem Innern. Natürlich nicht, ohne, dass sie sagt, es sei doch selbstverständlich zu helfen und keinen besonderen Dank nötig machend. Natürlich nicht, ohne, dass ich mich in Grund und Boden schäme und fühle, wie sich ihr angeboten werden will.

Aber, aufzuwachen, weil man fertiggeschlafen hat. Das Gefühl, dass jemand über den Schlaf wacht…
Das ist ein Gefühl, für das sich dieser Tausch irgendwie doch gelohnt hat.

was dann kommt

Vielleicht hat schon mal jemand Geschichten von sogenannten “Wolfskindern” oder auch gehört- mindestens aber von Mogli aus dem Dschungelbuch.

Eigentlich sollte dieser Artikel hier eine der beliebten Disneyinterpretationen werden. Aber ich bemerkte schon beim Lesen der Inhaltsangabe, dass dies eine Geschichte ist, bei der es mir nicht gelingen würde, die rosarote Happy-Lifestyle-Zuckerscheiße mit dem Disneyemblem drauf runterzukratzen.

Zu nah ist die Isolation. Zu genau kennt mein Innen die Art von absolut existenzieller Überlebenskraft, welche hinter der Annahme von Tierischkeit oder, in etwas anderer Form, Verhaltensweisen des Hospitalismus stehen.
Zu genau, kennen wir die Gefangenschaft bzw. Umgebung die “wilde Kinder” produziert.
Deshalb verweise ich hier lediglich auf die Geschichte des Dschungelbuches und versuche mich anzunähern und das Eine oder Andere auszuformulieren.

Den ersten Teil des Geschehens der Befreiung bzw.den ersten Eintrittsakt hat Frau Kampusch in ihrem Buch “3096 Tage” schon gut angerissen. Man befreit sich- kommt endlich endlich raus- kommt endlich im Dorf an und was kommt dann?
“Hände hoch! Wer sind sie? Was wollen sie?”

Als würde man mit seiner Befreiung diese Worte in die Haut- die Seele- die Großhirnrinde gestickt bekommen, verlassen einen diese drei Punkte nicht mehr. Auch Jahre später nicht.
Wer bin ich?
Was will ich?
Ich muss zeigen, dass ich keine Bedrohung bin. Meine Waffenlosigkeit beweisen.

Von nun an gilt alles was ich gelernt und mir angeeignet habe, um zu überleben als falsch, deplatziert, unpassend, zu viel, unsozial. Und wenn ich das Pech habe durch die Tür einer Psychiatrie gehen zu müssen, weil es für Menschen wie mich schlicht keine staatlich geförderte Alternative gibt, auch noch als krank!
Die inneren Ergebnisse jahrelanger Misshandlung, Isolation und gesellschaftskonträrer Sozialisierung fallen nicht immer sofort als solche auf, weil kaum jemand einen so weiten Fokus hat, der auch beinhaltet, dass jemand Dinge für Wunder hält, die er selbst als selbstverständlich empfindet.

Als wir das erste Mal Freiheit erlebten, wurden wir eingesperrt. In eine Psychiatrie.
Zum ersten Mal in unserem Leben, erlebten wir eine einzige Welt- eure Welt- die Welt “der Anderen”. Eine Einzel-Welt, weil hermetisch verschlossen. (Eigentlich so ein Gleichnis)

Und statt Erleichterung und Glückseligkeit, war da Angst. Todesangst und permanente Verwirrung.
Niemand hat das gesehen. Und niemand sieht sowas bis heute an uns.
Vieles, was für andere selbstverständlich ist, ist für uns nachwievor mindestens verwunderlich oder ganz eigentlich verboten und nicht zustehend.

Wir schreiben hier unsere wirklichen Gedanken zu Disneyfilmen auf! Das hier sind keine gewollten Perspektivschwünge. Wir haben diese Filme nie zuvor gesehen- sind nicht mit dieser Art Verwischung und dem Dauerentertainment- diesem eigentlich gesellschaftlich akzeptiertem Abtöten des Geistes- aufgewachsen und empfinden sie nicht als normal bzw. sortieren das Sehen eines Filmes nicht als reine Unterhaltung ein.
Die Fragen, die hier stehen, stellen wir uns wirklich.
Die Dinge über die wir uns wundern, wundern uns ganz wirklich!

Und die Einsamkeit die wir hier beschreiben und in Worte zu bringen versuchen ist auch wirklich da. Nicht immer, weil wir wirklich real und physisch allein sind- aber immer weil wir oft wie auf kleinen Eisschollen durch menschliche Interaktions- , fremde Werte-, Vorstellungs-  Moralsümpfe treiben. An einer anderen- vielleicht basaleren Stelle verhaftet, als unsere Mitmenschen.
Wir haben keine Ahnung davon, wie man was am Besten sagt oder tut oder wie man was wann und wo am Besten macht oder auch nicht macht, wenn es plötzlich  nicht mehr ums schiere Überleben geht. Die Welt in der wir das noch ganz genau wussten und für die wir gewappnet sind, liegt hinter uns. Sie hat uns verletzt, verkrüppelt und auf eine Weise wachsen lassen, die uns niemals passend erscheinen lassen wird.

Mogli wird vermutlich auch vor einem Spind stehen und denken: “Was für Sachen?! Bett?! Essen am Tisch?! Keine Nacktheit vor Fremden?! Privatsphäre??? HÄÄÄÄ?!”
Doch Mogli ist ein Kind. Er hat wie viele andere “wilde Kinder” je nach Ausmaß der Schädigungen und Defizite, die Chance ganz offen nachsozialisiert zu werden. Da wird es jemanden geben, der versucht ihm das alles beizubringen.

Und bei uns?
Die Menschen, die professionell andere Menschen nachsozialisieren fragen: “Was wollen Sie (erreichen)?” und die Menschen, die mir so im Alltag begegnen fragen: “Wer bist du?”, bevor sie überhaupt nur irgendwas mit mir zu tun haben wollen. Sie erwarten ein Selbstkonzept und ein Gespür für soziale Identität, dass sich bei uns aber gerade erst entwickelt bzw. wahrgenommen und sortiert wird.
Kindern, unschuldigen Kindern, wird diese Schutzlosigkeit, diese Art des Ausgeliefertseins eher anerkannt als Erwachsenen. Kindern wird zugestanden, dass sie Dinge noch lernen müssen, dass sie ihre Position und ihren Weg erst finden müssen.

Verständnis für Schutzreaktionen, Ängste und die Art Unwissenheit- mindestens aber Unsicherheit, können wohl aber  insgesamt nur wenige Kinder und auch Erwachsene mit diesem Hintergrund erwarten.
Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich vorstellen, wie sich die innere Welt füllt und entwickelt, wenn man einzig sich selbst hat. Man fängt an Stellvertreter zu benutzen um das, was aus sich selbst heraus kommt, zu etwas zu machen was in sich hinein kommt. Einfach nur, um dieses Bedürfnis nach Ansprache zu befriedigen. So geschieht es, dass das Schottersteinchen, das man vor sich hat, einen Namen bekommt, eine Meinung, ein Gesicht. Es zum Zeugen und Tröster, aber auch Herausforderer oder Verhöhner wird.

Wenn ein Mogli bei Wölfen groß wird, hat er diesen (sozialen) Input natürlich. Doch ist es einer der nicht seiner Natur, seinen Fähigkeiten und seinem Potenzial entspricht. Ein Mensch ist ein Mensch. Ein Wolf ist ein Wolf. Es kann eine Kommunikation geben, einen Austausch und eine Verbindung, die das Überleben als Gruppe sichert, doch auf keiner der beiden Seiten, werden jeweils alle verfügbaren Kanäle benutzt und trainiert. Es geschieht eine Anpassung, aber nie eine komplette Verwandlung, wie es die frühen Darstellungen von “wilden Kindern” gerne weismachen wollen.

Was passiert mit Menschen(kindern), die lange Zeit nur sich oder einen (auf der biologischen Ebene) unzureichenden Kontakt hatten?

Dinge zu lernen und zu beherrschen ist ein Schutz. Je breiter das Interaktionsspektrum und die Möglichkeit diese auszuprobieren und anzuwenden, desto mehr Schutzmöglichkeiten gibt es. Hatte man nicht die Gelegenheit so zu trainieren bleiben ein- zwei Strategien alles was es gibt.

Kampf, Flucht, Starre.
Zerstörerische Ausbrüche
Vermeidungstänze in Form von Verhaltensstörungen, Süchten und anderen “Stellvertretern”
Unterwerfung, Anpassung, Dissoziation

Um zu lernen wie man in der neuen Welt besteht, muss man Platz für seine Verwunderung haben. Auf Verständnis für seinen Schutz stoßen. Auf jemanden treffen, der geduldig und vielleicht aus vielen verschiedenen Perspektiven heraus erklärt, wie die Welt funktioniert und gleichzeitig genug Halt gibt, um nicht unter der wachsenden Erkenntnis zerdrückt zu werden. Vielleicht braucht man eine Art Nach(ge)wachshaus.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass das etwas ist, das nicht gesehen wird. Vielleicht weil sich nicht jeder in dem Maß wundert und erschreckt wie wir. Vielleicht, weil für die meisten Menschen Sonnenlicht und Bewegungsfreiheit immer völlig selbstverständlich waren. Wenn etwas selbstverständlich ist, dann wird es wohl nicht mehr so oft hinterfragt.

Vielleicht ist es auch einfach auf eine Art basal, die nur dann wahrgenommen wird, wenn man selbst über lange Zeit hinweg auf der zutiefst eigenen Basis seiner Existenz zu stehen gezwungen war.

Vielleicht ist es diese Nähe zu sich selbst, die später trennt und vielleicht niemals zu überbrücken ist. Auch wenn man längst kein “wildes Kind” mehr ist, ein Bett benutzt, Kleidung auf der Haut aushält und menschsozialer Konventionen entsprechen kann.

Vielleicht ist es das, was meine Augen hat weinen lassen, als der Film zu Ende war.
Das Wissen, dass Disney verzuckert hat, was der bitterste, tiefste Bruch im Innern eines Menschen sein kann. Das Wissen, dass die ganzen Menschen, die “wilde Kinder” dokumentiert und beforscht haben, sich genau darüber nicht klar zu sein schienen.
Die Befürchtung, dass die Menschen die uns heute umgeben genau das auch nicht im Bewusstsein haben.

Die Angst im Innern vielleicht für immer diese Art “wildes Kind” zu bleiben.

Tanzstunde

Du bist phobisch? Du hast was zu verbergen? Du brauchst dringend eine Vermeidungsstrategie?

Willkommen zur Einführungsveranstaltung: “How to Vermeidungstänze and everything about”

Wir beginnen mit der Grundhaltung
Folge deiner Angst! Hör auf sie bewältigen zu wollen!
Du brauchst nicht mal genau wissen, wovor genau du Angst hast, damit du sie wegbekommst- das klappt sowieso nie. Wichtig ist nur, dass du nicht anfängst darüber nachzudenken, ob sie nun berechtigt ist oder nicht. Oder, ob sie irrational ist oder nicht. Oder, ob es vielleicht einfach albern ist, jetzt Angst zu haben.
Nachdenken und Selbstreflektion sind Feinde von Angst.
Für einen anständigen Vermeidungstanz ist Angst unabdingbar!
Nimm deinen rasenden Puls und lass ihn zum Takt deiner Füße werden.

Vertraue niemandem.
Sowas macht nur unnötig sicher. Auch ein Angstfeind.

Nutze deine (durch deine Gewaltsozialisierung eingeübte) Fähigkeit Menschen bis aufs Kleinste zu beobachten und herauszufinden, was sie so für Typen sind. Verlasse dich dabei niemals auf Klischees. Alles was du siehst ist wahr- fang bloß nicht an deine Wahrnehmung mit der Wahrnehmung anderer abzugleichen.
Nochmal- Nachdenken und Reflektion sind tödlich für die nötige Grundangst!

So, nun zur Praxis.
Eine Freiwillige einmal bitte! Ah sie Frau Rosenblatt- sie können das ja schon so gut, sie…

“Huch, ich habe gar nicht das Richtige an für eine Freiwilligendarstellung, wissen Sie? Heute ist ja auch Samstag. Eigentlich ist tanzen jetzt heute nicht so angebracht. Wissen Sie, einmal war ich in der Disco und da… “

Grandios Frau Rosenblatt! Eine perfekte Darstellung, wie man von einer lobenden Erwähnung und einer direkten Ablehnung meiner Aufforderung wegtanzen kann! Gut gemacht! Eigentlich brauchen sie diesen Kurs hier gar nicht mehr- sie sind schon so gut!

Schauen sie mal- das, was Frau Rosenblatt jetzt macht- dieses Dissoziieren- das ist aus ’nem anderen Kurs! Dafür braucht man ein lange und extrem trainiertes Angstgehirn. Das bringe ich ihnen hier aber nicht bei. Sowas sollte niemand gut können müssen. Es ist auch ein Schutz- wie die Tänze, die sie hier lernen möchten, aber den kann man in der Regel nicht so gut gebrauchen, weil er reflexhaft vom Gehirn gemacht wird, ohne, dass zum Beispiel Frau Rosenblatt hier viel dagegen tun kann, außer sich durch grandiose Tänze im Vornherein davor zu retten.
Außerdem hat das Dissoziieren in dieser Form viele unangenehme Nebenwirkungen wie Amnesie, (Körper- Empfindungs-) Kontrollverlust und schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sowie ein eher rudimentäres Beziehungsleben und einen Fokus so weit wie ein Stecknadelkopf.

Vermeidungstänze sind keine leichten Spaß- oder Gesellschaftstänze. Es sind Tänze mit Angst als Motor- nicht der Macarena oder das Gehopse zu Sommerhits!
Sie müssen sich klar machen, dass Arbeit auf Sie zu kommt und sie einsam werden bzw. zu einem Automaten, der pro Person ein Tanzrepertoire abspult.

Um ihre Angst aufrecht zu halten, dürfen sie auf keinen Fall Bewusstsein für sich und ihre Themen entwickeln. Das heißt ganz deutlich, das soziale Beziehungen strikter Auslese und Konstellationsplanung unterworfen sein muss.

Niemals dürfen ihre unterschiedlichen Tanzpartner gemeinsam ihnen gegenüber auf diese Themenbereiche zu sprechen kommen.
Es sei denn sie haben unseren Fortgeschrittenen- Kurs besucht.

Zum praktischen Teil nochmal.
Belesen sie sich, studieren sie Menschentypen, richten sie ihre Aufmerksamkeit auf alles, was sie umgibt und gleichen diese Gegebenheiten mit ihren Tanzpartner ab. Je subtiler sie vorgehen und je mehr sie ihrem Gegenüber entsprechen, desto unauffälliger  und damit wirksam ist ihr Tanz.

Am besten starten sie bei ihnen unbekannten Menschen. Diese Menschen wissen noch nichts von ihnen und den Dingen, die ihnen (Todes)Angst einjagen.
Im günstigsten Fall haben sie eh schon gelernt, niemals nach außen zu zeigen, wann sie in Panik kommen oder Angst haben- dies ist sehr förderlich, da so das Gegenüber keinerlei Anhaltspunkte darüber hat, was in ihnen vorgeht. Es ist abhängig davon, dass sie Worte sprechen, die ihm einen Eindruck vermitteln.
Das ist ihre Chance!

Sie haben vielleicht ein festes Themenkorsett in dem sie sich gefahrlos (im Sinne von die Angst besetzten Bereiche ausgrenzend) bewegen können. Vielleicht ist es so steif, dass jeder Schritt heraus bereits genug phobische Unruhe verursacht, um einen Minimoonwalk hinzulegen. Das ist natürlich perfekt.
Anderen sei geraten sich vorzubereiten und die möglichen Tanzvarianten gezielt zu üben.

Menschen hören gern gute Nachrichten. Komplimente. Lustige Anekdoten. Diese Tanzvariationen gehören zum Einmaleins. Small Talk ist nicht anderes als ein Vermeidungstanz- nur wird hier der Faktor Angst oft umbenannt- das muss sie aber nicht irritieren. Nicht jeder kann zu seiner Angst oder gar Phobie stehen.

Im weiteren Verlauf wird es nötig eine sachlich- pseudovertrauliche Tanzatmosphäre aufrecht zu erhalten. Niemand ist immer fröhlich und wenn sie- warum auch immer- Kontakt über eine längere Zeit mit ihrem Tanzpartner haben, ist es wichtig normal zu wirken. Bauen sie auf Insidern zwischen ihnen auf, versuchen sie sich in immer längeren Schleifen bis sie sich in einem Niveau bewegen das ihnen angenehm ist.
Als Beispiel: Sie haben möchten den Themenbereich Katzen vermeiden, weil sie schon bei dem Gedanken an diese Tiere eine Gänsehaut bekommen.
Ihr Gegenüber arbeitet aber in einer Tierpension und würde auch ohne zu Zögern einfach von Katzen zu sprechen anfangen. Menschen sprechen gern von ihrem Beruf. Seien sie doch einfach mal der Erste, bei dem der Mensch die Gelegenheit hat sich über die gesetzlichen Regelungen seines Berufes auskotzen kann! Oder die Steuer. Oder die Kunden. Oder die baulichen Anforderungen. Oder die Zukunft dieses Berufes. Von all diesen Punkten können sie sich immer weiter entfernen. Kunden, Steuer, bauliche Anforderungen und Berufszukunft gibts für so ziemlich jeden Beruf.
Diesen ersten Tanzschritt müssen sie machen- sie müssen ihren Partner schon in eine Richtung führen- ist es der richtige Kanal bei dem Menschen, sind sie in Nullkommanichts von der Tierpension mit maunzendem Klientel, bei den Bauvorschriften von Tiermastbetrieben und der Bio-Vegan-Fleischfressdebatte angekommen.

Sagen sie ihrem Tanzpartner niemals, dass er ein Tanzpartner ist!
Er wird versuchen sie zu stören, anstatt mitzumachen. Auch hier ist es, im Fall des Falls, dass ihnen das doch mal so rausrutscht (Niemand ist perfekt! Auch Vermeidungstänze müssen geübt sein), hilfreich, wenn derjenige weder genau weiß, wie ihre Tänze aussehen, noch wann genau sie damit anfangen.
Nutzen sie eigentlich sinnbefreite Konventionen- auch wenn sie für den Kontakt eigentlich eher unprioritär sind. Machen sie eine nette Bemerkung über die Einrichtung, die Kleidung ihres Gegenübers, vielleicht bieten sich Fragen nach Urlaub und Familie an. Bemerken sie Augenringe? Versuchen sie es mit einem Diskurs über Matratzen und Bettgestelle… IKEA ist auch immer wieder ein sehr breites Feld- von dort aus kann man auch gut zum Thema Kinderarbeit und nun aktuell auch Pferdefleisch hinübergleiten.

Es gibt auch Situationen in denen ihr Gegenüber sehr hilfreich sein kann- selbst wenn er weiß, dass sie Vermeidungstänze machen. Da sie ihm ja nie sagen werden, wovor genau sie so phobisch sind, weiß er es nicht und versucht es aber vielleicht herauszufinden.
Aaaah na- ich merke schon das treibt ihren Puls schön hoch- super! Nun brauchen sie nur noch zu warten, wann der erste Schritt vom Tanzpartner kommt. Steigen sie ihm auf die Füße und beginnen sie einen philosophisch-neurowissenschaftlich- anthropologisch- kulturhistorischen Diskurs über sein Interesse an ihrer Angst.

Die wenigsten Menschen geben zu, dass sie es einfach nur spannend um der Sache willen finden und dass es ihnen nicht um sie dabei geht. Genauso wenig Menschen geben zu, dass sie sie einfach nur reinlegen wollen. (Sie wissen ja- vertrauen sie niemandem- sie alle wollen sie nur reinlegen!).
Die Menschen werden anfangen sich zu rechtfertigen und ihre eigenen Tänze aufzuführen. Wenn sie richtig in Schwung sind, brauchen sie sich nur noch zurückzulehnen und zuzugucken.

Vielleicht fragen sich manche Kursteilnehmer: “Wozu der ganze Aufwand?”

Sehen sie Frau Rosenblatt hier. Sie wird ihnen ihre Sicht erzählen.
“Angst ist ein Warnzeichen. Angst bedeutet Gefahr.
Angst ist tödlich für einen selbst. Mit jedem Moment in dem ich Angst habe, gehe ich innerlich weiter kaputt. Für mich ist es- gerade mit dem Reflexschutz meines Gehirns zusammen- fast unmöglich zu sagen, wovor genau ich so eine Angst habe.
Was ich allerdings sehr genau weiß ist, wovor ich keine Angst habe.
Ich habe keine Angst davor einsam zu sein. Ich habe auch keine Angst vor dem Gefühl der Demütigung oder Erniedrigung, wenn mich andere Menschen als unfähig oder dumm betrachten. Das sind alles Dinge, die ich selbst schon weiß. Ich mag es nicht besonders, wenn es andere von mir denken- doch Angst habe ich nicht davor.

Ich habe irgendwann bemerkt, dass aus dem leichten Kribbeln in der Haut, schnell richtige Todesangst wird, die ich nicht aushalten kann. Zusammen mit dem Hirnreflex der Dissoziation, habe ich ab einem Zeitpunkt keine Chance mehr mich in Gefilde zu bringen, in denen ich die Kontrolle über die Situation habe.
Solche Situationen führen in der Regel dazu, dass die Menschen auch noch anfangen Mitleid mit mir zu haben oder ganz besonders lieb zu mir zu werden- was mich in nur noch grässlichere Angst bringt.

Also habe ich gelernt mich wie in einem Swingmedley von Thema zu Thema zu bewegen.
Viele Menschen mögen Swing. Sie freuen sich über Gelegenheiten in denen ihnen jemand zuhört, sie von sich reden können, über Themen sprechen können, die sie bewegen.
Alles was ich tun muss, ist den Takt zu wahren und ab und an die Führung zu übernehmen.

Inzwischen kann ich es so gut, dass ich kaum noch darüber nachdenken muss.
Was allerdings proble…”

Na na na Frau Rosenblatt. Sollte das etwa der Anfang einer Reflektion werden?!
Nein, nein- damit fangen wir gar nicht erst an.
Wir fangen jetzt an zu üben.

>Suchen sie sich bitte einen Partner!
Ich verteile jetzt die zu umtanzenden Themen…

Ewigkeit

“Hallo?”
-“…” Anlauf… Druck- Atem im Gaumen ballen, Zunge formen
”C.? Seid ihr das?”
– “…” Anlauf… Luft zusammenpressen-  Luft woher? Zu was soll es werden?
Mehr als ein ersticktes Schniefen kommt nicht raus.
”Ich schick dir eine SMS, halte das Handy ans Telefon dass ich höre, dass sie da ist, ja? Wir haben das abgesprochen, damit ich weiß dass ihr das seid, okay?”

Das Mädchen steht im Arbeitszimmer als das Mobiltelefon auf dem Tisch vibriert.
”Ah ich höre es, okay.” Es raschelt am anderen Ende. “Wer ist denn da? Kennen wir uns schon?”
– “…” sie atmet ein, spannt alles an und würgt doch nur leere ungeformte Luft hervor.
”Hast du Angst? Was ist passiert?”, mehr zu sich als zu dem Kind sagt sie: “Ihr seid sicher.”

[Nein kann ja gar nicht sein, ich hab grad… da war grad ich hab doch gesehen… da ist doch… kann doch wieso sicher… ist doch nicht sicher wenn… da ist doch!!! Weißt du da… da da daaaa da…!!!]

“Traust du dich in die Küche? Im Frostfach ist eine Tüte mit Suppengemüse- leg dir die mal auf den Bauch.”

[Ich… und wenn da… und was wenn… ich nein ich beschütz mich doch da ist… und wenn ich jetzt sterbe was wenn… ich hab doch… da ist doch…  ich kann nicht]

“Ich ruf sofort die Polizei und H. an, wenn ich höre, dass was passiert! Fest versprochen! Dann kommen sie alle zu euch und helfen euch. Das geht ganz schnell. Die sind dann in ein paar Minuten da. Versuch mal in die Küche zugehen. Das Kalte hilft dir vielleicht. Du bist ja ganz außer dir.”

Ich kralle mich in ihre Worte, die Sicherheit der Gemeinsamkeit- höre sie durch Nebelwatte und kann fast lachen. Denn ich bin außer ihr. Ich stehe daneben, schwebe um diese Szenerie.

Ich nehme einen der Fäden auf, der von dem Mädchen herunter hängt und ziehe es in die Küche, lasse es in das Frostfach fassen. Halte ihren Arm damit sie das Telefon nicht fallen lässt.
”N.? Ich könnte mir vorstellen, dass du irgendwo mit bei euch herumschwebst und mich hörst. Kannst du versuchen etwas zu sagen?”, sie wartet und ich fühle mich ertappt. Plötzlich bin ich unsicher- nicht wegen der Situation, sondern wegen der Sicherheit mit der sich eine Außenstehende in unserem Sein bewegt.
”Nicht vergessen- nicht die Hand im Eisfach liegen lassen. Nehmt lieber das Gemüse in die Hand und legt euch die Tüte auf den Bauch.” Ich höre wie sie sich in ihrem Bett zurechtwickelt und werde erst jetzt gewahr, dass es halb 5 am Morgen ist. Die Arme…

“Gehts? Kannst du langsam was sagen?”
Die Nebelwatte löst sich unter dem Eis auf, die Dämme brechen.
Das Mädchen weint und weint und weint.
Ihr hemmungsloses Schluchzen wird zu einem Damm um sie herum. In solchen Fluten würde ich ertrinken. Alles was ich machen kann ist warten und es sich leerlaufen lassen. Ich versuche das Innen zu lichten. Eine Hilfe für sie zu finden.
”Ja… wein dich aus… ist okay. Ich warte.“

Anlauf… Luft… eine Form im Kopf wird zur Form im Mund… wird zum Wort… Absprung
Sie spricht.
Sie wird getröstet, beruhigt, im Heute orientiert.
Sie löst sich auf und wird zu einem der kleinen Herzen, dass in der Brusttasche von jemandem behütet wird.

“Hm, bist du noch da?”
-“Ja, ich bin da.”
”Na? Lust auf Suppe heute Abend?”
-“Hm?”
”Das Gemüse müsste jetzt langsam aufgetaut sein.” sie kichert.
-“Entschuldige.” Ich versuche den Körper irgendwie zu sortieren und die Tüte wieder ins Frostfach zu legen. “Ich weiß nicht, wieso wir so zerfallen im Moment. Mehr als Wahlwiederholung ging nicht.”, ich wische das Gesicht frei und atme durch.
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”Es ist okay- wirklich! Ich hab da schon was im Kopf, wieso das alles grad so krass ist. Aber ich bin keine Expertinesse- ihr müsst das mit eurer Seelenfrau unbedingt irgendwie auf die Kette kriegen. Wann ist wieder Termin?”
– “Donnerstag”
”Oh man…das ist ne Ewigkeit in Kinderrechnung”

Ja…
oh man
Das ist es auch ohne Kind zu sein.

Marienkäfer flieg

“Schhhhh beruhig dich… atmen… Schhhhh Schhhhh Schhhhh… hm? Wir sind jetzt zu Hause… es ist okay. Schhhhh… Ich bin da…”

Sie klammert sich an meine Schwungfedern, streift die Jacke ab und lässt alles im Flur fallen. Das rasende BÄÄÄM aus dem Hintergrund schwillt noch mehr an.
”Schhhhh es ist okay… mach ruhig… ich bin da…”

Sie schaut mich an. Blaugrau angelaufen.
Sie erstickt an Wort und Gefühl. Der Mund ist zugenäht.
”Es ist gut. Du kannst es schreiben. Schhhhh… atmen… ich bin da… ich passe auf, dass dich niemand stört… es ist wirklich gut…”

Sie greift tiefer in meine Federn und drückt ihren stachelbewehrten Rücken an meine Brust, tippt wie wild auf die Tastatur des Laptops ein. Atmet mit jedem Wort freier und nimmt ihre üblich rosige Farbe an. 486459_web_R_by_Péronne vd Ham_pixelio.de

Hier in meinen Dunstkreis dringt kaum etwas von den BÄÄÄMs ein. Sie ist sicher. Sie kann einfach schreiben schreiben schreiben. Ausdrücken was sie nicht sagen darf. Der Moment des Erschreckens über die Wortmalerin, die ihr in die Glieder fährt, um die Worte zu sortieren, ist nur kurz. Die Erleichterung hingegen nachhaltig.

“Komm her mein Herz, du darfst hier bleiben. Es ist gut…”. Ich summe ein Lied und bringe sie in Ruhe zwischen meine Daunen.
Es fühlt sich seltsam an. Sie ist so groß. Aber es geht.

Ich sehe die Frontfrau durch die Wohnung stolpern. Ordnung schaffen, den Hund füttern, alles gerade biegen. Alles ist perfekt und dann bemerkt sie das Marienkäferkostüm, die schwarzen Rinnsale, die von ihren Wangen laufen.

Ich versuche sie zu streifen. Ich denke, vielleicht kann sie mich fühlen und zufassen. Vielleicht… sie ist ja auch ein Herz, vielleicht könnte sie auch… Doch sie ist noch nicht genug. Ein Hauch und sie schießt auseinander.

Da sind sie wieder.
Die Schritte.
Das Kleine hat nicht die Kraft zum Weglaufen, es kriecht unter den Küchentisch und wird doch wieder darunter hervor gerissen.

Ich summe. Für mich. Halte aus, aushalten zu müssen, Zeugin zu sein. Warte. Bange. Verschließe meine Ohren. Wieder. Plustere mein Gefieder auf.

Es krabbelt unter die Essbank.
Wieder wird NakNak* zur Wächterin. Aufmerksam und betont desinteressiert.

Ich lande in dem Leben, dass ich beobachte. Ich merke das Kleine auf meinem Rücken. Spüre wie es sich von der kleinen Starken streicheln und mit meinen Federn bedecken lässt. Ich kann es fühlen.

Ich hieve den Körper aus dem engen Eck.
Streiche die Farbe aus dem Gesicht, streiche über die Verletzung, streiche über die Kleidung zur Nacht. Würde gern das Kleine streicheln.


Marienkäfer flieg
in dir da herrscht Krieg
Rettung liegt in deiner Hand
deine Hand wird abgebrannt
Marienkäfer flieg


Es gibt einen Frontgänger, der seine Besuche in der Universität “die tägliche Kelle Weisheit fressen” nennt.
Ich habe auch Hunger.

Ich hätte gern eine große Portion Hoffnung.

Familie mit Sonderzeichen

“Hannah, darf ich dich was fragen?”
Wir sitzen am Küchentisch und trinken Kaffee. Draußen schneit es leicht, die Kinder liegen flach für einen Mittagsschlaf und Hannes liest im Wohnzimmer. Eva sitzt mir gegenüber und schaut mich an.
Ich nicke, obwohl ich schon spüre, wie sich mein Rücken verhärtet und sich seine Panzerstacheln hervorschieben. Mir wird schlecht, die gelöste Ruhe und das Gefühl in einer sicheren Hütte, in einer Schneekugel zu sitzen, verdünnen sich.
”Was ist mit deiner Familie? Du bist immer so allein, das geht doch nicht. Was ist passiert?”, sie schaut mich freundlich an.
Und sie hat keine Ahnung.

Als wir in das Leben von Eva und Hannes eintraten, ging es um die Religion. Austausch, Fragen und einfach das Wissen, dass der Shabbat für uns nicht immer so ein Trauerspiel sein muss, sondern auch in Gemeinschaft sein kann, wenn wir und sie es möchten. Nun, nach mehr als einem Jahr in dem wir sie besuchen und mehr als 4 Jahren die wir uns allgemein kennen, geht es auch um Gemeinsamkeit. Langsam kommen diese Fragen.
Hannah, was ist mit deiner Familie?
Hannah, warum trägst du im Sommer lange Sachen?
Hannah, warum hast du keine Arbeit?
Hannah, warum hast du noch keinen Freund und Kinderlein?
Hannah…

Sie wissen nicht einmal wie der Körper wirklich heißt.

Wir sind nicht planvoll so bedeckt und glatt. Es dauerte eine Weile, bis alle von uns überhaupt von dem Kontakt wussten, dann dauerte es eine Weile, bis wir die Familie als “okay” eingestuft hatten, dann dauerte es eine Weile, bis wir diese Einstufung genug überprüft hatten und schwupp waren 3 einhalb Jahre um.
Wir blieben bei dem Namen, weil der Körper irgendwann tatsächlich so heißen soll, wozu also sagen, dass er jetzt noch anders heißt.
Wir blieben zum Thema Sommersachen religiöser als wir wirklich sind und können bis heute, ohne zu lügen, dem Arbeitsamt und der Wirtschaftslage die Schuld an unserer Arbeitslosigkeit geben. Das Thema Freund und Kinderlein, bekam man auch ganz einfach mit einem schüchternen Lächeln vom Tisch geschubst…

Nur die Familie…
Unsere Familie ist eine Familie*. Familie mit Sonderzeichen.
Die meisten von uns halten die Mutterfrau und den Vatermann nicht für die eigenen Eltern. Deren eigener familiärer Hintergrund ist mehr oder weniger undurchsichtig und schlichtweg kaum bzw. gar nicht mit der Lebensrealität, unserer Familie* verwoben. Ich weiß, dass wir vor ein paar Jahren einen mit uns verwandten Menschen getroffen haben und das erst bewusst gemerkt hatten, als die Begegnung schon vorbei war.
Es ist keine Familie die große Feiern machen kann, wie Eva und Hannes. Die beiden machen “Pieps” und sofort kommen alle aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Feiern sind ein toller Anlass mit Kindern und Enkeln, Schulabschlüssen, beruflichen Erfolgen und Momenten der Freude zu prahlen und sie miteinander zu teilen. Genauso auch wie Schicksalsschläge zu betrauern und Streitigkeiten auf Tapet zu bringen. Hier wird alles irgendwie richtig ausexerziert.
Es ist klar: “Tante Elfriede hat ihr zweites Kind bekommen”, also wird es begrüßt und das Thema “Elfriedes Jüngste” reiht sich nahtlos in die Gespräche am Feiertagsesstisch ein.

In unserer Familie* war eine Beerdigung das größte Zusammenkommen, das ich erinnere und was dort geredet wurde, hatte nichts Persönliches. Als man sich trennte, verwandelten sich die Menschen. Wechselmenschen. Nicht “Eltern”.
Die Wechselmenschen quetschen einen aus, wenn man mit Fremden geredet hat. Und fremd ist jeder- außer ihnen.

Hier erleben wir, dass die Kinder von allein erzählen, was sie mit den Menschen gesprochen haben. Egal, ob mit Fremden oder Bekannten oder Freunden. Sie haben keine Wechselmenschen. Sie kennen keine Strafen für Begegnungen und ausgetauschte Worte. Sie haben Eltern.

Hier, in dieser bunten Familie ist so vieles anders als bei uns früher, dass es uns Angst macht.
Manches Mal ist es zu viel Freiheit, dann schweben wir regelrecht frei herum und sind dankbar über das drakonische Korsett der inneren Familie*. Auch wenn es weh tut- dieser Schmerz ist bekannt und ein fester Punkt. Sehr beruhigend sich dann immer wieder vor Augen zu halten, dass wir nicht dazu gehören. Dass wir anders sind.
Dass wir Teil der Familie* sind- nicht der Familie um Eva und Hannes.

Doch das stimmt so ja eigentlich nicht mehr.
Seit vielen Jahren leben wir physisch nicht mehr in der Familie*. Seit Jahren ist klar, dass wir auch nie wieder zu ihr zurück gehen können. Dass wir nie wieder ganz zu ihr gehören werden.
Es ist klar, dass wir eine Vollwaise sind. Ein erwachsenes Waisenkind.
Wir bezeichnen unsere Gemögten als Eltern im Geiste. Ohne sie als Eltern zu wollen oder von ihnen zu verlangen sich so zu verhalten. Sie geben uns durch ihr Sein schon absolut genug von dem was wir brauchen- und oft genug ist selbst das schon zu viel.

“Ich bin eine Art erwachsenes Waisenkind, Eva. Sowas passiert. Es ist nicht schlimm.”
Eva weiß nicht, was für ein Minenfeld vor ihr liegt. Sie weiß nicht, dass jede ihrer liebevollen Berührungen- die Umarmungen- die ganze höfliche Rücksicht- das “uns einfach Sein lassen”, uns von innen der direkten Strafe zuführt. Uns in schwere Loyalitätskonflikte bringt. Sie fast zur Mutter von vielen weiteren Kindern zu werden droht. Sie zur Bedrohung der inneren Familie* wird.

Sie spürt, dass wir zum Brett werden, zum Panzerstachelrücken. Mehr als einmal hat sie sich bei mir entschuldigt, weil sie ein Kleines von uns verschreckt angestarrt hatte.
Die beiden sind nicht dumm. Sie spüren, dass da bei uns was ist und haben doch nie gedrängt. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb wir immer noch mit ihnen sind.

Wir wissen, es würde immer mehr kommen. Immer mehr Fragen. Immer mehr Verständniswunsch. Immer mehr Gemeinsamkeit.
Immer mehr Familie°.

Familie mit anderem Sonderzeichen. Ohne Strafen. Ohne Korsett. Mit gelebtem Glauben aus dem tiefsten inneren Bunker. Ohne Wechselmenschen. Ohne Blutsbande.

Familie, die uns nicht zusteht.
Vielleicht nur jetzt noch nicht. Vielleicht aber auch niemals.

“Doch schlimm! Familie ist wichtig. Familie ist was du hast, wenn du nichts mehr hast. Verstehst du? Hast du niemand, hast du uns, ja?”, sie greift über den Tisch, legt ihre Hand auf meine und drückt sachte zu. 554351_web_R_B_by_CIS_pixelio.de

Ich spüre wie sich ein Stachel in meinen Handteller bohrt und mein Sein unter  der Berührung zerfällt. Mein Blickfeld verengt sich und ich entschwebe. Gerade noch spüre ich, das Lächeln des Gesichtes und höre jemanden sie fragen, was noch für die anderen Gäste hergerichtet werden muss

Ja, liebe Eva.
Wenn wir die Familie* mal nicht mehr haben, dann haben wir euch.
Familie mit anderem Sonderzeichen.

Wertvolles für Innenkinder

“Sag mal, wieso bist du eigentlich immer so fies zu den Kleinen bei dir?”.
Da sitzt sie auf unserer Küchenbank, friemelt einzelne NakNak*haare von ihrem Wollrock, spielt mit dem Teebeutelzettel und stellt seelenruhig so eine Frage.

“Was meinst du mit “fies”? Du weißt, es sind keine echten Kinder. Nur kindliche Impulse, die…”
”Jaaaa”, sie rollt die Augen, stöhnt auf, legt sich halb über die Tischplatte, “Jattata Jattata Jattata… ich weiß, du musst dir das sagen und so, aber sie sind doch da. Ich mein, du kriegst das ja nicht mit, wenn eins mal da ist, aber das ist wirklich sowas von echt! Wie ein echtes Kind.” Sie schaut ernst. “Wie ein Kind, das nichts hat, außer einer kleinen Stoffente mit Quietscher drin und einer Höhle aus Umzugskartons, die du dauernd abbaust.”
-“Im Keller ist noch jede Menge Zeug!”
”Und du meinst es ist nicht fies “Zeug” zu Sachen zu sagen, die sie gern haben?”
-“Es IST Zeug”
”Du bist fies zu ihnen. Du hast selbst gesagt, dass ihr als Körperkind viel entbehren musstet…”
– “ANSCHEINEND! Ich weiß nicht, ob das so ist!”
”Ja egal- was ist so schlimm daran jetzt ein paar Sachen zu haben- hier!- die für die Kinder bei dir sind? Ich hab diese Doku gesehen von einer anderen Multiplen, die hatte sogar richtig so ein Spielzimmer. Hach- so was fänd ich sogar für mich schön! Und ich hab keine Kinder in mir.”
-“Doch hast du- für dich fühlt es sich nur nicht so fremd an.”
”Du lenkst ab. Zu nah?”
-“Ich denke, vielleicht schreiben wir mal im Blog darüber.”

Wir gehen raus und spielen mit NakNak*.

Außenmenschen und Innenkinder.
Innenerwachsene und Innenkinder.

Ich bin nicht der Schwan. Ich bin eine Alltagsperson. Eine von denen die “Erwachsenensachen” macht. Eine Frontgängerin.
Und ich mag die Innenkinder nicht.

Was interessant für mich ist, ist, das Mami-ding, welches um die Innenkinder ständig kreist. Ich sage: “Ich mag die Innenkinder nicht” und kann schon fast hören, wie der Tonfall, in dem sonst immer “Rabenmutter” gesagt wird, um die Reaktion auf diese Aussage gewickelt wird.
Ist doch seltsam, oder: Wenn andere Leute von sich sagen: “Ich mags nicht, wenn ich zum Piepsestimmchen werde, weil mich einer anmault”, dann kommt dieser Tonfall nicht. Wenn es um Kinder geht allerdings… meine Güte noch eins!
Dieser gesellschaftliche Zwangsreflex immer und immer alle Kinder toll finden zu müssen (auch die Rotzblagen, die einem vors Knie treten und beschimpfen) nervt mich schon im Alltag ganz erheblich. Denn- Kinder gut zu behandeln, schließt dieser Reflex nicht ein.
Ich sitze immer da und denke, dass man Kinder nicht mögen muss. Man muss darauf achten sie nicht zu verletzen, zu entwürdigen, zu demütigen und sie zu schützen und zu versorgen, ja. Aber niemand muss sie deshalb automatisch- reflexhaft- auch mögen.

Ich mag unsere Innenkinder nicht, weil sie gruselig sind.555548_web_R_K_by_Manuel Gäck_pixelio.de

Es gab mal so einen Horrorfilm von einem Kinderheim, in dem die Kinder alle einen mysteriösen Tod gestorben sind und dann dort auftauchten, als die einzige, dann erwachsene, Überlebende dort auftauchte, weil sie das Haus gekauft hatte.
In meinem inneren Universum bin ich die Überlebende.
Und- oh ja- wenn ich vielleicht eeeeetwas unbeherrschter wäre, würde ich wohl auch permanent herum schreien und mir vor Angst in die Hosen machen oder so, wenn sie so auftauchen und in meinem Leben herumfuhrwerken.

Sie sind heartbreaking. Sie sind kümmerlich. Sie sind bedürftig.
Sie haben riesengroße Kulleraugen, die was wollen!
Und was sie wollen ist etwas, das nichts mit Malbüchern oder so, zu tun hat.
Sondern mit Gemocht werden, geschützt werden, in ihrer Würde geachtet werden. Vielleicht hats auch was mit ”Puste auf mein Weh, damits weg geht” zu tun, das weiß ich nicht genau. Aber es hat nichts mit einer Masse an Zeug oder mit niedlichem Kinderspielzeug zu tun.

Mal ein Spiel spielen, mal etwas malen, mal eine Puppe anziehen… nach außen sieht es aus wie Spaß- im Innen ist es ein Funktionieren. Da sitzt ein Kind, das genau das AUSHALTEN kann- nicht das Kind, dem man den Spaß und die Unbeschwertheit wünscht. Man denkt, vielleicht kommt etwas davon innen an und sie merken, dass heute heute ist und sie das nun gefahrlos tun können, doch das passiert nicht (zumindest nicht bei uns jetzt heute- ich weiß  nicht, ob so was grundsätzlich geht. Hier wird gepuzzelt und gemalt, um sich zu erden oder etwas auszudrücken).

Bei aller Vergleicherei kann ich nicht verstehen, wieso gerade das nicht so übertragen wird. Schon mal erlebt, dass ein Aussenkind voll rundum überhäppy ist, wenns nen Lolli in den Hals gedrückt kriegt, statt das angeklatschte Knie bepustet zu bekommen? Spätestens in der Teeniezeit wird man sehen, dass Trost mit Süßkram ne scheiß Strategie war.
Wieso sollte ich das bei “meinen Kindern” wiederholen?

Wir versuchen uns beizubringen, dass heute alles anders ist als früher. Wir versuchen es zu schaffen, dass unser Gehirn etwas Neues lernt, als das Umschalten auf Anpassung an eine Situation, die von Lerninhalt gleich ist- aber nicht vom Zusammenhang heute.

Das klingt immer so super gemein und defizitär, aber Kinderinnens tauchen nicht auf, weil sie irgendwas so super toll finden außen, sondern weil unser Gehirn den Bereich benutzt in dem die Kinderinnens verortet sind. Und das tut das Gehirn wiederum, weil es in unserem Aktenordnerwustgehirn steht und einen-heute unpassenden- Aktenorder in der Hand hält und entsprechende Assoziationen und Fähig- und Fertigkeitsausübungsmöglichkeiten bereitstellt.

Ja, manche Kinderinnens sind richtige Spaßvögel, keck, frech und rotzig. Schlau, fast weise. Aber sie sind keine Kinder, die einfach gut drauf sind und “einfach so” da sind. Sondern frühere Alltagspersonen, die (zumindest bei uns) so sind, weil sie mit ihrem Verhalten früher Menschen schon dazu gebracht haben, sich den Körper nicht zu nehmen oder einfach nur nett zu ihnen/uns zu sein.

Wenn ich erfahre, dass Kinder- oder auch Teenagerinnens “da” waren und mit unseren Helfern gesprochen haben, dann weiß ich, dass Holland nicht nur in Not, sondern eigentlich schon Katastrophengebiet ist.

Tschuldigung, wenn ich Boten der innerseelischen Apokalypse nicht mit Plüschteddys und Spieluhren empfange, sondern zusehe, dass Hilfe rankommt. Entweder um wirkliche Krisen abzuwenden oder, dass eine deutliche Unterscheidung von früher und heute möglich wird.

Ja, es ist fies, wenn die Frontfrau Puzzles in den Keller bringt, weil sie weiß, dass sie von dort nicht einfach wieder auftauchen im Moment. Doch auch sie hat einen Grund dafür.
Ja es ist fies, wenn ich die Umzugskartonhöhle wegräume- aber wie wohnen nun mal nicht in einem Loft mit unbegrenztem Platz und irgendwo muss der Wäscheständer nun mal stehen.
Ja es ist fies, wenn es nicht jeden Tag Schokopudding mit Senf gibt, aber es ist noch fieser, wenn Anxiety hier rumwütet, weil der Körper zu dick ist.

Ja, von mir aus findet es fies, dass ich meine Innenkinder nicht mag.
Aber, ich beschütze sie. Ich würdige sie. Ich demütige sie nicht. Und ich versuche alles, dass wir heute so versorgt sind, wie sie es früher vielleicht nicht waren.
Ganz ehrlich- ich finde, das ist viel wertvoller, als ne Bude voll mit Rüschen und Bärchenmobiles.

Zahlenkrieg

Respekt und Miteinander.

Diese Begriffe umschwirren mein Denken zur Zeit wie ein Schwarm Schmetterlinge. Lange hingen sie von den Verästelungen meiner Nervenenden herab. In kleinen Puppen herumschwappend- weder Raupe von Schmetterling. Reine Ursuppe mitten im Prozess.537400_web_R_by_Dirk Röttgen_pixelio.de

Nun sind sie frei und stoßen an das Innere meiner Schädeldecke. Einen Ausgang suchend um ihre Flügel auszubreiten.
Wenn ich den Mund öffne, meine Zunge zu einer Startrampe werden lasse, dann ist es, als würden sie sich überlegen, ob sie nun abspringen oder sie nicht vielleicht doch lieber erst mal die Puppenreste rauswerfen. So ist es vielleicht kein Kommunizieren dieser Begriffe… doch in jedem Fall das, was sie umgab und schützte. Es ist ein Versuch.

Wir waren bei einem den Beruf des Mediziners ausübenden Menschen und es war furchtbar.
Nicht, weil es da um etwas Intimes ging oder um das Ausmaß unserer Zerstörung, sondern weil wir verloren hätten, egal ob und wie verletzt und zerstört wir sind.

Es ist nichts Besonderes. Ja. Für Frauen die einmal im Jahr dahin gehen oder sogar noch öfter, weil sie chemisch verhüten, ist es das auch nicht. Sie lassen sich mehr oder weniger regelmäßig ausmessen, etikettieren, anfassen, begucken und irgendwie ungreifbar auch bewerten.
Ob sie noch normal sind.
Ob DA auch noch alles in Ordnung ist.

Ich habe das mal recherchiert- im Schnitt geht ein biologisch weiblicher Mensch mit 16 Jahren das erste Mal dorthin.
Frage: Was verdammt noch mal hat so eine Fehleranfälligkeit, dass es mit 16 Jahren schon kaputt sein kann? Und wie oft liegt tatsächlich eine so krasse Veränderung vor, dass die mehr oder weniger schallende Dauererinnerung an alle biologisch weiblichen Teenager gerichtet, “dann langsam mal da hin zu gehen”, gerechtfertigt ist? Seid wann geht man zu einem Heiler, wenn alles heil ist und nicht wenn etwas zum Heilmachen da ist? Und was ist das für eine Auffassung, in der Normalität- Gesundheit- ein potenzielles Verfallsdatum hat? Und wieso gilt das Gleiche nicht für biologisch männliche Teenager?

Als ich da so im Wartezimmer saß und mir ab und an die kalten Tropfen von der Oberlippe wischte, dachte ich, dass ich eigentlich tatsächlich an einem Ort sitze, der einfach insgesamt irgendwie schief ist.
Neben mir saß ein weiblicher Mensch, deren Fötus sich im Bauch bewegte.
Ich mag sowas. Man sieht es nicht bei allen schwangeren Menschen so gut, deshalb nahm ich es als Geschenk auf. Eine Art Lichtblick.

Und dann hörte ich dem Menschenpaar zu. Zahlen, Werte, Normen, Ängste, Sorgen, Anspannung.
Genau wie ich.
Meine Anzahl weißer Blutkörperchen war zu hoch, so ziemlich alle Werte in meinem Blut  sind einfach  schief. In meinem Körper tobt eine Entzündung und das schon eine ganze Weile.
Da ist Krieg in mir. Biologisch und seelisch gleichzeitig.
Ich bin nur hier, weil dabei eventuell etwas zerstört wird, was mir den Bauch auch so füllen könnte. Irgendwann. Vielleicht.

Dr Mensch neben mir hatte auch Krieg.
Obwohl er doch gerade eigentlich mit etwas Besserem beschäftigt sein könnte. Den ganzen Tag diesem Wackeln zugucken zum Beispiel. Sich schön finden so kugelig. Dafür zu sorgen, dass es ihm gut geht. Dass man sich gut fühlt.
Statt dessen saß er da und dachte über die Zahlen nach.

Wenn wir zu einem den Beruf des Mediziners ausübenden Menschen gehen, ist das Erste das uns abschmiert die Sprache.
Das ist ein klassisches Merkmal von Panik.
Unser Gehirn hat gelernt trotzdem einigermaßen zu funktionieren. So ist es dann nicht so, dass wir noch der Ratio oder der Fähigkeit zur Bewegung hinterher winken müssen. Doch es ist ein stumpfes, roboterartiges Existieren und ich kann mir nicht vorstellen, dass das aussen nicht auffällt und etwas ist, das ein gesondertes Fachwissen zur Erkennung erfordert.
Wir wissen das von uns und, weil wir mit dem Menschen, der Medizin studiert hat, zusammenarbeiten wollen- miteinander sein wollen und unsere Verantwortung am Gelingen dieser Zusammenarbeit übernehmen wollen- bereiten wir uns peinlich genau vor.
Es ist eine Bedienungsanleitung im Grunde.
Dort steht alles drauf. Von “Ich kann nicht sprechen, weil ich in einem Zustand von Panik bin” (- sie haben gerade eine Macht über mich) bis “Sagen sie mir jeden Handgriff den sie tun- zeigen sie mir jedes Instrument mit dem sie das tun” (- erschrecken sie mich nicht noch mehr und zeigen sie mir, dass sie wissen, dass sie eine Grenze berühren).
Es steht alles drauf. Mit rotem Stift. Alarmfarbe. Unterstrichen wie wichtig das ist.
Mit dicken Ausrufezeichen, dass wir Hilfe brauchen werden, um uns zu orientieren. Dass sowas ganz Basales, wie der Name- der Ort in dem wir leben, die Funktion des Menschen, für mein Gehirn Informationen sind, die es in dem Moment nicht abrufbar hat- selbst wenn die Untersuchung an sich schon längst vorbei ist.

Doch es ist Krieg.
Menschen mit Kriegen in sich gegen Menschen die nicht merken, vielleicht nicht beachten, dass sie Krieg mit Zahlen machen.
Der Mensch dort vor uns hat die Karten nicht lesen wollen. Nur den Kurzbrief aus der Ambulanz. Den Laborzettel mit den Zahlen drauf.

Viele grüne spitzzähnige Rosenblätter lagen verstreut, wie tot, da herum, stießen wie die leeren Worte an die Decke des Raumes oder verkrochen sich in den Ritzen der Fensterfüllungen.
Der Mensch hat keine unserer Grenzen wahrgenommen und geachtet.
Wir verwandelten uns in das Plastikmodell eines Intimbereichs eines weiblichen Menschen und haben seelisch überlebt.
Die Worte gehört, das Unverständnis wahrgenommen. Wir spürten die Grenzen des Menschen und dessen Zahlen, Normen und Werte sehr deutlich. Und hätten wir sprechen können, hätten wir uns entschuldigt. Und wenn wir uns im Verlauf vernünftiger hätten bewegen können, hätten wir den Menschen umarmt und gesagt, dass es nicht so schlimm ist, dass er aufhören kann zu schimpfen.

Heute, zwei Tage später, denke ich, dass wir uns damit trösten müssen, dass es daran lag, dass der Mensch die Karten nicht gelesen hat. “Alles wäre sicher anders gekommen, wenn die FRAU unsere Karten gelesen hätte. Alles wäre vielleicht anders gekommen, wenn wir der FRAU gesagt hätten, dass wir ein Opfer von Gewalt wurden und sowohl Schäden davon, als auch die Schäden die vom Innen zugefügt werden, zu sehen sein werden.”

Doch dann fällt mir auf, dass noch keine der Frauen mit denen ich über ihre Erfahrungen mit Menschen die den Beruf des Gynäkologen- oft genug auch des Mediziners einer anderen Fachrichtung- ausüben, jemals davon gesprochen hat, dass es eine Zusammenarbeit gab. Ein Miteinander.
“Ja, sie hat gemeint…”; “Und dann hat sie…gesagt” , “Er hat …gemacht”, “Er sagte, ich soll…”, “Sie warnte mich, dass….”
Dass alle Frauen dort in einer Welt landeten die von Zahlen und Werten… vielleicht dem Status des unantastbaren Heilers oder auch Retters dominiert wird. Nicht so oft von dem Menschen, die sich zum Instrument dessen macht oder sich in der Rolle des Retters gefällt. Und erst recht nicht von dem Menschen, der dort mit einem Heilungs- oder Rettungswunsch hinkommt.

Ich denke, vielleicht ist es ein Krieg wie bei Hartz4 oder beim OEG oder bei der Krankenkasse…
Zahlen gegen Menschen.
Zahlen, Normen, Richt- und Lei (d) tlinien die wir Menschen erschufen wie dereinst Frankenstein sein Monster, die sich nun gegen uns richten.

Von den meisten Menschen hingenommen, akzeptiert als Werkzeug und Gradmesser. Die Art, wie man zu ihnen kommt wird nebensächlich, denn wenn man oft genug- und früh genug draufhaut, dann tut es irgendwann nicht mehr weh. Und falls doch einer heult, dann kann man ihm ja immer noch sagen, er sei selbst schuld.
Das funktioniert ja immer bei biologisch weiblichen Menschen, deren Grenzen gerade verletzt wurden.

Denn das sind ja nur Frauen.