OEG 2.0 – Vorspiel –

Wasser2 Nächste Woche habe ich einen Termin bei einem Rechtsanwalt.
Es wird um einen Antrag auf Opferentschädigung und all den ganzen Rattenschwanz aus organisierter Gewalt und Opferschutz, DIS und Anonymität gehen.

Ich weiß nicht, ob er schon einmal Menschen vertreten hat, die mit so schweren Beeinträchtigungen in der Selbst- und Umweltwahrnehmung leben und/oder, die aus organisierten TäterInnenkreisen ausgebrochen sind. Eigentlich ist mir das auch nicht wichtig.
Der Antrag soll passieren, durchgehen, Therapiefinanzierung vorerst sichern und fertig aus.
Ich will keine OEG- Rente oder sonst irgendwas.

Aber werde ich überhaupt als Gewaltüberlebende wahrgenommen?
In der letzten Zeit nehme ich öfter auf, dass mir mehr zugetraut wird, als ich tatsächlich kann und, dass auch mehr Erwartungen an mich gerichtet werden, als ich entsprechen kann.
Natürlich stärkt mich das auch manchmal, aber in den letzten Wochen tut es das eher nicht.
Alles, was sich anschaltet, ist ein Modus in dem es mir prima geht, solange Menschen um mich sind.
Bin ich allein, geht es mir schlecht. Und damit meine ich nicht die “ein bisschen Schokolade auf der Couch und ein schönes Buch- dann wird das schon”- Variante, sondern die “ich bin so scheiße ich hasse mich ich sterbe jetzt mit einem Platzen als schleimig stinkender Ball, der es nicht verdient hat auf diesem Planeten zu sein bitte bitte bitte dieser Schmerz ist nicht aushaltbar”- Postkarte aus der Opferwelt.

Ich habe inzwischen genug Kontakt zu AnwältInnen, BeraterInnen, PsychologInnen und PsychiaterInnen gehabt, um zu wissen, dass es sehr wohl passiert, dass die Hilfesuchenden gescannt werden. Wie glaubwürdig sie sind. Wie sie wirken, ob sie lügen oder übertreiben- ob sie Ansprüche erfüllen bzw. Vorstellungen entsprechen.
Natürlich sind Menschen eben einfach so, ja. Von mir aus.

Aber wie soll ich dem nachkommen? Muss ich das überhaupt?

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr kommt mir hoch und desto einsamer fühle ich mich. Zumindest emotional als eine, die etwas überlebt hat.
In all diesen Ansprüchen und Vorstellungen, gibt es eine Art Drehkreuz um Stärke, Belastbarkeit und diesen Klumpen aus subjektiver Vorstellung um die Schilderungen von Gewalterfahrungen.
Ich sage nie und habe nie vor jemandem gestanden und gesagt, was ich dazu sagen wollte.
Immer klebe ich irgendein Etikett darauf, von dem ich weiß, dass es pseudosynonym verwendet wird. Dann sage ich “Ich wurde als Kind misshandelt” oder “Ich habe massive Gewalterfahrungen gemacht”, meine aber ein geschrieenes: “IchbinvorAngstgestorbenEshatsowehgetanGenaumitteninmirdrin” und ein verzweifelt rausgeweintes “Dashateinfachnieaufgehört”.
Im Anspruch geht es um Sachlichkeit, wo höchste Emotionen in mir sind. Da geht es um aktives Handeln, wo ich ohnmächtig und voller Angst bin.

Immer wieder werde ich für so stark und belastbar gehalten, weil ich Aktivität und Sachlichkeit mit Worten vorgeben kann.
Was dahinter steht, rückt in den Hintergrund, in meine kleine private Hölle, in der Worte wie Sterne am Himmel glitzern, während ich mit dem Gesicht nach oben, wieder und wieder unter Schmerzen erinnerungssterbe. Lautlos. Spurlos. In meinem Kopf. In meinem Körper.

Das ist ein Muster, das mir so alt und so normal erscheint.
So viele Menschen in meinem Leben sind nach außen anders, als für sich allein oder privat und kaum jemand bezeichnet das als gesellschaftlich anerkanntes Spalten/ Dissoziieren von Lebensrealitäten.
Kaum jemand versteht mich, wenn ich sage, dass ich wirklich verrückt werden könnte, weil sich mir die Absurdität der äußeren Umstände durch den Verstand bohrt, wie ein Korkenzieher: Ich-  die Dissoziierte wie Dissoziierende- begibt sich in eine äußere Spaltung, um ganz erlaubt eine Therapie bezahlt zu bekommen, die mir helfen soll, meine Wahrnehmung zu verbinden.
Ich, die zur Gewalt sagen will, was niemand hören will, weil es zu viele Emotionen macht, soll sachlich machen, was ausgerechnet meine Psyche- etwas per Definition definitiv nichts Sachliches ist, betrifft. Ich soll aktiv tätig sein, weil ich passiv geopfert wurde.

Und das soll ich glaubhaft tun. So, dass man merkt, dass ich belastet bin, aber noch genauso kräftig, dass ich das auch vertreten kann und aber nicht zu sehr, da der Schaden sonst nicht anerkannt werden kann.

Und in all dem fehlt ein Part, den ich selbst sogar noch schütze, weil ich mich selbst schütze: die TäterInnen, die ich weder anzeigen, noch in Regress nehmen lassen will
Die ich benennen möchte mit der schlichten Etikette: “TäterIn” nicht mit  “hmhmhm”.
Deren Taten ich mit meinen Gefühlen benennen will, nicht mit dem, was man nach außen hätte sehen können.

An diesem ganzen Opferentschädigungsding stellen sich nicht verschiedene Gebote und soziale Ächtung schwierig für mich dar.
Es ist die Selbstdarstellung als Opfer nach außen, die so absolut keine positiven Folgen nach innen haben.
Egal, wie verbunden das sein wird, wenn mir ein Schaden anerkannt wird und ich offiziell “Opfer” bin- das wird Nächte, wie die letzte nicht wegmachen. Das wird mein schlechtes Gewissen gegenüber meinen Gemögten nicht schrumpfen lassen. Das wird mir Erinnerungsschmerzen, Alpträume, schlaflose Nächte, Selbsthass, Angstattacken und dieses durchdringende Schreien in meinem Kopf nicht wegmachen.

Es ist die Selbstdarstellung als passives Opfer, obwohl ich doch jetzt aktive Taten ausübende bin.

Und es ist das Agieren, obwohl ich mich im Moment eher tot und unfähig vor allem und jedem fühle und mich schäme, weil ich weiß, dass ich für viele ganz anders erscheine.

böse

Rosenblätterknospe “Und wie viel TäterIn steckt in mir?”
Die Frage arbeitete sich wie ein stinkender Gasball durch meinen Kopf und platzte irgendwann mitten in der Artikelreihe “
Wir sind Viele”.

2 Tage lang war ich umgeben von den Begriffen “Opfer” und “TäterIn”, von diesem Himmel und Hölle- Spiel, in dem es nur “aktiv” und “passiv”/ “aggressiv” und “defensiv” gibt.

Wir passen nicht in rein duales Denken und vermutlich war es genau dieses Gefühl von “wie du bist, gehörst du hier nicht rein”, das mir diese Frage – diesen Komplex rund um Opfer – TäterIn – Spaltung aufmachte.
Seit Monaten wälze ich Verhaltensweisen eines Menschen mir gegenüber, von einer Hirnhälfte in die andere. Mache mich fertig, weil ich mich weigere, mir Etiketten wie “erhebliches aggressives Potenzial” und damit einhergehend “
das absolut schrecklich böse Monster”, wirklich auf die Stirn zu kleben, und trotzdem am Ende nicht weiß, wohin mit mir.

Mein Sternzeichen ist Löwe und wenn es eine Charakterbeschreibung für mich braucht, dann findet man sie in jeder 08/15 Beschreibung davon.
Ich bin stolz, intelligent, lasse mich von Lob durch die Decke pushen, bin loyal, großzügig, hilfsbereit und aufrecht.
Und ich brülle, wenn ich mit mühsam erkämpften (Ver)Handeln auf der Sachebene nicht vorankomme.
Wo andere Menschen denken “das muss aufhören” denke ich: “ich will es aufhören lassen”.

Irgendwie… so wirklich TäterInnenhaft finde ich solche Eigenschaften nicht.
Wieso fühle ich mich dann ständig- vor allem in dem Kontakt und damit assoziierten Kontakten, so?
Jedes Mal mache ich da einen Schritt zurück und sperre mich wieder ein, um mir mit meiner erneuten autarken Befreiung im Kopf ein Wohlbefinden zu generieren. Mich zu trösten vielleicht.

Vor ein paar Tagen habe ich eine neue App auf meinem Smartphone entdeckt. Ein Diktiergerät.
Neben einer weiteren Eulengeschichte, Vogelgezwitscher und Aufnahmen von Wasserplätschern, ist dort auch das mühsame Wortwürgen eines Innens zu hören, das sich in einem Monolog damit auseinandersetzt, wie viel abgrundtief Böses in ihm steckt.
Wir haben bei der Tagung gehört, dass es TäterInnen gibt, die ihren kindlichen Opfern erzählen, dass sie etwas in sich tragen, dass nur sie bändigen können und niemand sonst. Das Innen kaut nun in einer Endlosschleife darauf herum.

Ich selbst, hab keine Ahnung, was wir als Kind so zu hören bekommen haben-
aber was uns in der Psychiatrie so erzählt wurde, habe ich noch so genau im Ohr, als wäre es mir erst gestern ins Denken gedroschen worden: „Du bist eine Gefahr (für dich und deine Umgebung)!“.
Es fällt mir nicht schwer psychiatrische Anstalten als Gewaltorgane zu bezeichnen. Für mich sind die Jahre die aus Heim – Klapse – Heim – Klapse bestanden, nichts weiter als ein Gewaltenreigen. Gewalt hat uns reingebracht, Gewalt hat uns dort gehalten und Gewalt war es, die dort auf uns einwirkte- ganz egal, wie oft andere Innens die BehandlerInnen dort hochloben und dieses oder jenes als hilfreich bezeichnen. Ganz ehrlich- ich denke, der Mechanismus dahinter ist der Gleiche, wie wir den bei dunkelbunten Innens haben, die sich täterInnenloyal verhalten bzw. denken, werten, wahrnehmen. Aber klar- wo “Hilfe” draufsteht, darf man sowas nicht sagen- ups- zu spät – deal with it.

Das Innen, das die Aufnahme gemacht hat, stellte aber auch eine Frage, die ich gut finde: die nach dem Definitionsrahmen der Böses als böse/ “weg damit” und Gutes als gut/ “unterstützen/ festigen/ soll bleiben” festlegt und die Machtfrage, die damit einher geht.
Wer sagt warum, dass mein Verhalten “erhebliches aggressives Potenzial” hat; was sind die Parameter dazu; welche Wertung hat das zur Folge und welchen Einfluss hat diese Wertung auf mich und mein Leben?

In dem Kontakt, der mir Probleme bereitet, ist es egal, wie ich auftrete, ob ich verhandle oder nicht. Ob ich aus jedem meiner Sätze Emotionen und Persönliches herausstreiche oder nicht , ob ich eine Hand hinhalte oder nicht. Es ist egal. Immer wird sich mir so derartig tief unterworfen, dass ich selbst dann auf einem Podest stehe, wenn ich am Verhandlungstisch sitze.
Da bin ich die aggressive Kraft, weil alles andere so quasitot defensiv ist, dass jeder Ausschlag in irgendeine Richtung als übermäßig krass wirken MUSS.

Ich komme nicht mehr umhin mich zu fragen, ob das nicht einfach eine Art Kalkül hat.
Doch defensiven Menschen unterstellt man kein Kalkül- das ist, als würde man Bambi schlachten.

Ich tus = das Außen sagt: BÖSE weil BambimörderIn – > macht nach innen “Ich bin scheiße jatta jatta jatta” – > Selbstbild als das Leben in dieser Welt nicht wert, weil (Opfer)TäterIn

Und wo wir grad bei Bambi in Sachen TäterIn – Opfer – Spaltung sind.
Bambi möchte jede/r herzen. So unschuldig, so lieb, so unbedingt und in allem zu unterstützen.
Klar, so ein Bambi hat seine Bambieigenschaften nicht als Tarnung oder, weil kein Anlass dazu da ist.

Im Falle einer, das eigene Leben, bedrohenden Situation kann die Reaktion in Form von Flucht, Kampf oder Erstarrung auftreten.
Ich (als Einzelinnen hier in diesem Haufen) bin im Kämpfen entstanden und das ist irgendwie noch heute so. Gibt es eine Situation mit viel Puls, aber hohem intellektuellen Anspruch, tauche ich auf und löse das Problem. Fertig.
Es gibt aber auch Innens, die in Situationen entstanden, in denen die Defensive bzw. die Erstarrung drin ist. Die haben gelernt, sich im richtigen Moment hart/schlaff/mechanisch zu machen und einfach nicht mehr da zu sein. Die sind bis heute unempfindlich für Schmerz jeder Art und nicht in der Lage, die Verantwortung für ihr Nicht- Handeln/ nicht- Sein/ nicht- greifbar sein – zu begreifen. Denn sie haben doch nichts gemacht. Große Selbstschutzbambiaugen.

Was will man dann sagen?
Ich kriege über sowas Krätze und komme da auch nicht drüber.

Ich kämpfe mich daran ab, mir zu sagen, dass das alles seinen Sinn hat. Dass ich nicht diejenige bin, die darüber werten darf. Dass ich Menschen so lassen muss, wie sie sind. Dass jeder Mensch so ist, wie er ist usw. usw. usw.
Trotzdem bleibt bei mir halt die Sachebene bestehen.

Was ja gerne gemacht wird, ist als böse betrachteten Menschen abzusprechen, dass sie lieb sein können oder liebe Anteile haben. Oder- so wie ich- ewig lange an der Sachebene rumlaboriert haben, bevor ihnen der Kragen endgültig platzt. Gesehen wird bei TäterInnen jeder Art- die böse Tat, nicht die Umstände.
Die könnten es ja schwierig machen in der Abwertung des Bösen.
Plötzlich müsste man Anteile des alltäglichen Gewaltpotenzials um uns herum als üblich betrachten und ergo auch dem Opfer in der Dynamik TäterInnenanteile zugestehen.
Das wäre, als würde man in seinem Denken Platz für die Erkenntnis lassen, dass Bambi anderen Tieren das Gras wegfrisst und über ihrem Verhungern sagt: “Ich hab doch nix gemacht”.
Schwupp wäre sie dahin, die hübsche Einteilung in gut und schlecht- Opfer und TäterIn.
Bambi muss schließlich etwas essen- es kann nichts dafür- es muss fressen und es wäre grausam ihm das zu verbieten.
Doch spätestens dann, wenn jemand kommt und sagt: „Äh Tschuldigung- ich muss von diesem Gras auch leben” dann hat “Ich hab doch nix gemacht” nichts mehr im folgenden Dialog zu suchen- egal, ob das nun Bambi selbst sagen will, oder Bambis FürsprecherInnen.
Da ist dann einfach nicht mehr das jeweilige Sein der Beteiligten von Relevanz, sondern der Umstand, das es zu wenig Gras gibt oder die Verteilung schief ist.

Mich ärgert es, dass ich mich jetzt in so einer dualen Dynamik befinde und da scheinbar so gar kein Platz ist, um ein Miteinander zu finden.
Ich hasse solche Ohnmachtsgefühle und merke, dass ich daran kaputt gehe, weil der Backlash von innen so krass ist.

Und genau davor jemand die ganze Zeit mit eigener Qual und Not steht und mit allem, was ich sage, nur noch “ich hab doch nichts gemacht” äußern kann. (Übler gehts ja eigentlich nicht- ich die Böse, sieht das Leiden des Guten – es gibt sicherlich ForensikerInnen, die mir unter diesen Umständen ein hohes Gefahrenpotenzial unterstellen würden)

Das sind Gewaltspiralen, die einfach subtil tödlich sind auf lange Sicht. Eine/r von uns beiden wird an dieser Nummer in irgendeiner Weise Schaden nehmen und das, obwohl zusammen so viel möglich wäre.

Das ist doch scheiße.
Ich hab schließlich auch nichts mehr getan, als zu sagen, dass da was schief ist.

wenn ich Zeit als “verloren” empfinde

BlattimBach Da ist diese Formulierung “Zeit verlieren”.
Ich stelle mir vor, wie jemand an einer Quelle steht. Die Zeit, wie Quecksilber, in seine Hände sprudeln und durch die Finger rinnen lässt.
Sie verliert. Irgendwie ungenutzt und gelebt.

Ich habe noch nie Zeit verloren.
Worüber ich aber immer wieder stolpere, ist das Fehlen ihres Seins in meinem Bewusstsein.

Ich weiß, dass ich einen Therapietermin hatte und da war.
In dem Büro, das jedes Mal irgendwie anders aussieht und doch gleich. Das Aufzählen aller Verrückungen und auch das Rumkartoffeln über die eine, unordentlich über den Vasenrand baumelnde, Tulpe- ich weiß, ich habe das gelebt. Die Blumen waren rot und gelb- nächstes Mal wird die Farbe anders sein. Aber Blumen werden wieder dort stehen.
Ich habe die Zeit in diesem Raum nicht wirklich verloren. Sie war da und schwappte in meinen Händen.
Aber sie berührte mich nicht.

“Wie ist es Ihnen mit der letzten Stunde ergangen?”
Knurren, Fauchen, brodelnde Hitze, kurze Schattenbilder an Dinge, die im Dunkelbunten wabern.
Ein Kind, das Händchen hält.
“Schicken Sie mir mal dies und das.”.

Das Gefühl, dass alles okay ist.
Lächeln, atmen, schlucken, witzeln, gehen.

Im Wanken durch die Stadt merken: “Wart mal – was?!”.

Und dann das Schwimmen.
Das in den Zeitfluss hineinspringen und so schnell es geht, den gerade noch obenauf treibenden Fetzen, nachhechten. Atmen, Luft anhalten, hineingehen. Missachten, was dort unsichtbar über die Füße glibbert, was links und rechts streift, sich organisch anfühlt und doch nie genug greifbare Konsistenz hat, es herauszuheben und mit dem Kopf in den Wolken zu betrachten.

Und dann irgendwann, beruhige ich mich.
Erinnere mich daran, jetzt nicht “ach egal” zu denken. Das ist, als würde ich die Fetzen gleich wieder in den Fluss werfen.
Ich schreibe es auf und warte.

Ich achte darauf, wie sich die Zeit in meinen Händen anfühlt, während ich mit NakNak* und Sieglinde im Wald herumtorkle, mich über große Schnecken freuekle und irgendwie doch alles okay ist. Nur ab und an wischt etwas durch mich hindurch und ich betrachte meine Hände beim Schreiben.

Das ist als würden die längst vergangenen Tröpfchen Zeit auf mich herunter nieseln und sich zwischen die von mir geborgenen Fetzen legen. Manchmal entstehen so Ahnungen und Bilder, immer aber ist da das Gefühl, dass es Arbeit ist, sich das Gestern, Vorhin, Heute und Jetzt anzueignen.
Nicht zu finden, nicht zurück zu erobern. Nur, zur eigenen… selbst gelebten Zeit zu machen. Manchmal auch: überhaupt erst echt, begreifbar und sortierbar zu machen.

Was ich verliere, ist nicht die Zeit. Es ist die Möglichkeit zum Eingreifen, zur Gestaltung, zum in mich einbringen, die verloren geht.
Es ist die Kontrolle, die fehlt.
Nicht nur über mich und den Lauf der Dinge, das Sprudeln dieser Zeitquelle, sondern auch über meine Außenwirkung.

Ich könnte sagen: “Tschuldigung- ich war letztens nicht ganz ich selbst”; könnte Vermeidungstänze mit vielen glitzernden Schleifen aufführen; könnte mich zusammenziehen und zu einem Bündel aus Antennen für die Signale des Gegenübers werden lassen. Aber die Möglichkeit den ersten, zweiten… irgendwannsten Eindruck von mir als Einsmensch irgendwie so hinzudrehen, dass ich als “in Ordnung” wahrgenommen werde – die ist vielleicht – vielleicht aber auch nicht –  weg.
Ich erfahre darüber immer erst später etwas. Bis dahin muss ich schwimmen, vertropfschmelzen lassen, ahnen, Bilder betrachten, das Hallen der Worte von meinem Ohr in meinen Mund wandern lassen und spüren, ob sie vertraut schmecken.

Amnesie, das ist so ein umfassender Begriff.
Lange suchte ich nach schwarzen Löchern in meinem Wahrnehmungsuniversum. Ich dachte, dass ich einen löchrigen Verlauf sehen müsste. Oder, wie im Film, sagen können müsste: “Ich erinnere mich nicht.” Tatsächlich sage ich immer: “Ach, keine Ahnung” oder “ich weiß nicht” und drücke damit eigentlich mehr meine Unsicherheit darüber, ob das, was ich wahrnehme, überhaupt stimmt, aus.
Es wäre gelogen zu sagen, dass ich mich nicht erinnere. Aber es wäre auch eine Lüge zu sagen, ich wäre total bewusst um alles.

Ich denke darüber nach, warum mir die Formulierung des Zeit verlierens trotzdem so nah kommt.
Ich spüre Verlust und muss mich bemühen, darüber nicht auch noch meinen Kopf rollen zu lassen, wie eine unordentliche Kugel in einem Bowlingcenter.

Ich finde Menschen unheimlich und gefährlich.
Menschen lügen und wenn ich nicht weiß, wie die Umstände wirklich sind- wenn ich mir nicht wenigstens sicher darüber bin, wie sie ganz subjektiv für mich sind – dann bin ich abhängig von ihnen.
Das ist ein Gefühl von gleichsam umfassender Ohnmacht, wie vor dem Fließen der Zeit durch mich hindurch, das mich mal mitnimmt und mal nur umspült und manchmal auch nur anhaucht oder in feine Netze wickelt.
Niemand merkt mir das an und so soll es auch sein. Ich bin keine zarte eher ätherisch waberige ungreifbare Multiple. You know: Modell “Huschi muss erst mal vorgelockt werden, um Vertrauen zu fassen”. Ich bin eine von denen, bei der man Angst und Misstrauen nicht merkt, gerade weil sie die Klappe aufmacht und so tut als gäbe es nichts zu fürchten. Ich bin so laut, dass man das, was ich eben nie sage, auch nicht vermisst, wenn man nicht danach sucht.
Was ich kann ist, immer wieder so zu tun, als würde ich nie um Verluste an Sicherheitsgefühlen und Kontrolle trauern, wenn ich merke, dass ich andere Menschen brauche, um mir ein Bild aus der Zeit zu machen.

Manchmal noch kommt es, dass wir uns in unsere Nussschale setzen und auf dem Zeitstrom einfach nur so herumtreiben.
Dann, so mittendrin und ganz alleine, spüre ich keine Verluste, keine Abhängigkeiten. Dann geht es mir gut.
Auch dann erlebe ich es, dass ich nach einer Aktivität kurz innehalte und mich frage: “Warte mal…- was?!” aber es ist dann egal. Ich muss mich dann nicht anstrengen, weil ich nicht entsprechen muss. Weil dann, wenn wir so treiben, auch keine Menschen da sind, die irgendwie… nun ja, das ist jetzt einfach ausgedrückt : “machen”, dass ich an mir vorbei gezogene Zeit als verlustig empfinde.

Am Ende meiner Gedanken bemerke ich, dass viele Formulierungen ein Wurzelende in dem ewigen Kampf um Anpassung an das Außen haben und frage mich, wie wichtig das für uns wirklich ist.
Und plötzlich finde ich mich im Reigen der Selbstzerpflückung und frage mich, wie viel von mir eigentlich da ist, weil es eben da ist und nicht, weil es irgendwann mal wichtig wurde zu haben, damit das Außen mich nicht umbringt.

Und das alles nur, weil… naja, weil ich nicht glauben kann, dass in der Therapiestunde wirklich alles so okay lief, wie es die Therapeutin ausgestrahlt hat.
Wäre dem so, würde ich mich nicht abhängig fühlen. Wäre dem so, dann wäre es nicht wichtig allen letzten Fetzen nachzuspringen. Wäre dem so, dann wäre das ja auch total okay in meiner kleinen Nussschale herum zu treiben und es gäbe wirklich keinen Grund vor irgendetwas Angst zu haben, was diesen kleinen Rahmen betrifft.

Ich tus aber nicht.
Menschen sind die gefährlichsten Tiere auf diesem Planeten.
Und manchmal ist die eigene Wahrheit die letzte Waffe, die man hat, um sich selbst zu verteidigen.

“Wir sind Viele” ~ Teil 9 ~

Ich wollte mich spontan auf den Raumboden fallen lassen, als das Wort “Cybermobbing” fiel.
Wir saßen im Workshop mit dem Titel “Tatort Kinderseele – Die gesellschaftspolitische Dimension der Verleugnung sexualisierter Gewalt”. Ein Workshop über dessen Teilnahme ich lange, allein schon wegen der Überschrift, gründlich nachgedacht hatte.

Ich bin bis heute davon überzeugt, dass die Gesellschaft ™  gar nicht mal so viel Gewalt verleugnet, wie das bis heute gerne in den Medien ™ die Runde macht, sondern viel eher einfach gar kein einheitliches Verständnis davon hat, was Gewalt ist, welche Formen wann und wo auftreten und – dass sie einen so alltäglichen Stellenwert in sowohl unserer Gesellschaft, als auch unseren Vorstellungen von Moral und allgemeinen Umgang hat, dass die Auseinandersetzung damit einfach immer schwierig und an vielen Stellen undifferenziert ist- obwohl das allgemeine Framing ist: “Gewalt ist schlecht/ böse/ schlimm/ darf nicht sein”

Wir hatten nur eine Tasse Kaffee, viel zu wenig Schlaf und dann auch noch diese Themen. Und dann war ich wiederholt live dabei als über “dieses Internet” gesprochen wurde, als wäre es einzig das Darknet in dem sowohl “Silk Road” als auch andere illegale Plattformen zu Hause sind und auf kleine unschuldige Kinderseelchen, die doch nur ein bisschen unschuldigen Spaß mit dem Smartphone machen, warten, um sie sich einzuverleiben und ihnen Gewalt anzutun.

Ich dachte wieder darüber nach, ob es ein Thema der Generationen ist. Ob man mit dem Internet irgendwie groß geworden sein muss, um nicht nur in Sorge oder mit einem moralischen Zeigefinger in der Höhe damit zu interagieren.
In der ganzen Tagung war ganz oft die “Internet als Raum”- Metapher und so auch der Faden “dort drin in diesem Internet, da sitzen auch TäterInnen und dort lassen Menschen ihre Kinder rein”, obwohl das Internet nichts weiter ist (und auch nie mehr war) als ein Kommunikationsmittel bzw. korrekter ausgedrückt ein Datentransfermittel.

“Cybermobbing” ließ mich wieder an die 90 er Jahre denken. Der Begriff dafür ist heute “virtuelle Gewalt” und dieser ist in meinem persönlichen Empfinden einerseits besser, weil er alle Formen von Gewalt, die via Internet passieren, unter einen Hut bringt (vom unaufgefordert geschickten Pimmelfoto bis zur Hassmail mit Morddrohung) andererseits aber auch schwierig, weil die Gewalt nicht virtuell ist, sondern nur virtuell transportiert wird. Die Einschläge, die sie hinterlässt, sind genau die gleichen, wie es analog/ direkt/ physikalisch transportierte Gewalt tut, was man zum Beispiel am Leidensweg der Amanda Todd sehr gut nachzeichnen kann.

Alles in allem hat mir in der gesamten Tagung, wenn das Thema Internet zur Sprache kam (und das kam es oft), sehr der, für mich persönlich auch sehr wichtige, Leitsatz gefehlt, dass es Menschen sind die Gewalt ausüben und das Internet als Mittel dazu benutzen- und zwar a) Menschen jeden Alters b) in jedem über das Internet verfügbaren Medium und c) mit jeder Intension, die Gewalt haben kann- das Internet als solches, aber weder Brutstätte noch Ursache für Gewalt und ihre Folgen sind.

Wir sprachen über das “Sexting” und darüber, dass das wirklich schlimm ist.

Das Thema hatten wir auch schon im Workshop mit Claudia Fischer am Vortag und mir ist dabei diese Haltung gegenüber den Jugendlichen aufgefallen, bei der ich immer wieder denke: “und genau deshalb kommen sie dann nicht zu Erwachsenen, wenn sie mit sexualisierten Inhalten konfrontiert sind, sie selbst produzieren und verteilen oder jemanden sie sogar nötigt dies zu tun”.
Das war für mich sehr von der Verleugnung getragen, dass Kinder und Jugendliche eine Sexualität haben und natürlich auch leben. Irgendwo darunter war für mich die Kette: “Kinder sind immer unschuldig, rein, sauber und unantastbar wertvoll- aus ihnen selbst heraus kann nichts “Schlimmes” (moralisch Falsches/ Böses) kommen- schon gar nicht, wenn das Umfeld gut ist.”

Dass dieses Umfeld aber mehr beinhaltet, als die Kernfamilie und den Pausenhof, und, dass Medienkompetenz nicht meint “da ist der Knopf zum An- und Ausmachen”, fehlt mir oft, wenn ich mit dem Thema “Sexting”, sexualisierte Gewalt & Internet & Jugendliche zu tun habe.
Für mich persönlich ist Sexting die logische Folge aus (weiblicher) Sexualität als Mittel zum Zweck, die gerade unter Jugendlichen, die in ihrer Entwicklungsphase sehr klar mit den Themen der Außenwirkung und (sexueller) Identität befasst sind, gar nicht Halt machen kann und im Zuge der massiven Konsumkultur mit all ihren Mitbringseln auch gar keinen Platz mehr zur Kritik haben kann. So denke ich, liegt das Entsetzen (?) Erwachsener nicht im Sexting selbst, sondern in der Selbstverständlichkeit und eher positiven Belegung der Jugendlichen, beim Hergeben ihrer Intimität.
Als gäbe es die Option im Internet (wieder die Raummetapher) wirklich intim, geheim, anonym zu agieren. Die Währung des Internet sind Daten und diese Daten sind immer personenbezogen. Wir bezahlen unsere Vernetzung über das Internet immer und immer mehr mit Teilen von uns selbst. Und Jugendliche tun das schon ihr ganzes Leben lang so massiv, wie wir heute, die wir das im Verlauf beobachten.
Privatsphäre ist, wie auch persönliche Intimität ein Mittel zum Zweck und hat mit Selbstwert eher später etwas zu tun. Nämlich dann, wenn auffällt, dass man “im Internet” nur ist, was man produziert, teilt und am Ende für andere Menschen als sich selbst darstellt- was cool ist, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung kongruent sind- nicht aber, wenn dem nicht so ist und eine Abwertung passiert.

Und dann- die Scham, die trotzdem noch irgendwo da ist.
Darf man sich heute noch unverblümt für Sex oder noch eine Stufe darunter: Körperlichkeit schämen, ohne pathologisiert oder aus anderen Gründen darin nicht respektiert zu werden? Was für eine soziale Rolle blüht Menschen, die sagen: “Der letzte Unterwäscheclip von C & A hat mich grad näher an Sex herangeführt, als es der Mitternachtserotikfilm bei Kabel 1 vor 10- 15 Jahren tat.”.
Es ist das Eine als Jugendliche/r da zu stehen und zu sagen: “Ich habe über das Internet Kontakte mit der ganzen Welt und einer von denen, hat mir ein Bild von seinem Penis geschickt und hört nicht auf, mich damit zu ekeln” – das erfordert Mut und ein gutes Verhältnis.
Das Andere ist es aber, Eltern/ Erwachsene/ ein soziales Umfeld auszuhalten, das dann nicht etwa sagt: “Das ist Gewalt und es tut mir leid, dass du diese Erfahrung machen musstest. Hast du das Bild und den Kontakt gespeichert? Ja?- dann komm zack!- wir gehen zur Polizei und blocken dann den Kontakt in deinem Netzwerk (oder reagieren sonstwie irgendwie konstruktiv und gehen in eine Diskussion, wie Netzwerke sicherer nutzbar sind/ werden könnten)” sondern mit höherer Wahrscheinlichkeit sagen: “Mit was für Leuten treibst du dich rum? Was hast DU getan, damit der das macht? Handyverbot- Internet gestrichen… weil ich muss dich schützen.”.

An der Stelle beginnt für mich auch der konstruktive Ansatz in Sachen Strafverfolgung und Verantwortung der DienstleisterInnen und BetreiberInnen von Netzwerken, Diensten, Programmen und Portalen. Wenn man heute zur Polizei geht und solche Dinge anzeigt, dann kann man Glück haben und eben nicht zu hören bekommen: “Ja, du hast es provoziert/ du hast dich unvorsichtig verhalten/ ihr Jugendlichen mit eurer Dummheit- war doch klar… “; man kann aber auch Pech haben und genau dieser Glanzvorführung von “rape culture” zuschauen, um dann aber am Ende immer gleich vor einer Ohnmacht der Justiz zu stehen, die schlicht nicht in der Lage ist, auf diese Art der sexualisierten Gewalt/ sexuellen Belästigung etc. einzugehen, weil die Handhabe fehlt oder die (technischen) Möglichkeiten fehlen, um zum Beispiel zu beweisen, dass der Inhaber des PC dessen IP- Adresse nachweisbar ist, auch derjenige ist, der die Gewalt verübte.

Das ist eine Krux, doch nichts, wovor man weiter ohnmächtig bleiben muss.
Bleiben wir mal beim Sexting, sehe ich schon Möglichkeiten des Umgangs und zwar die, dass den Kindern und Jugendlichen klar gemacht wird, dass ihre Fotos, vielleicht nicht sofort hier in Deutschland aber in den Staaten, in denen die Server stehen, über die ihre Fotos wandern und weitergesendet werden, als illegales pornografisches Material gelten und dies eine Straftat ist. Das ist die Sachebene in der ich mir viel mehr Medienkompetenz in der breiten Masse wünsche, die über: “Ebay, Amazon, große böse Täterlandschaft = Internet” hinausgeht. Die Jugendlichen wissen um ihre Reichweite, sie wissen, was sie damit erreichen wollen und in der Regel wissen sie auch um das Risiko, das sie eingehen. Sie wissen es aber nicht auf allen Ebenen und können in der Regel noch keine so umfassenden Abwägungen anstellen, wie Erwachsene. Das heißt nicht, dass man sie davon entbinden muss- das heißt, dass sie Vorbilder brauchen.

Dann ist da die individuelle Ebene in der es darum gehen muss, Kindern und Jugendlichen eine Sicherheit in Bezug auf sich selbst zu vermitteln. “Du bist deine Daten, aber du bist nicht, was ein Algorhythmus oder sonst irgendjemand aus deinen Daten macht!”.
Damit meine ich nicht “Du musst deine Kinder zu Selbstbewusstsein erziehen” sondern “Es ist wichtig sich seiner selbst bewusst zu sein und genau den Blick dafür zu stärken und als ausschließlich von und für sich selbst als wertig zu schätzen.”.

Generation “Wehr dich doch”, will, dass die Politik alles richtet. Will die Vorratsdatenspeicherung, will Internetpolizei; will, dass wem etwas passiert ist, sich auch wehrt und zur Not auf die VerursacherInnen draufhaut und donnert empört seine rechtschaffende Faust auf den Tisch, wenn das nichts bringt.
Ohne sich zu fragen, ob das einfach vielleicht auch daran liegt, dass Gewalt nicht mit Gewalt zu bekämpfen ist.
Auch nicht in Sachen Internet.

Ich glaube daran, dass wir die gesamtgesellschaftliche Aufgabe haben, Gewalt als solche zu benennen; die Betroffenen zu schützen und zu stärken; die Taten zu ächten und die TäterInnen zur Verantwortung zu ziehen und in Sachen Internet dafür zu sorgen haben, dass jedes Unternehmen sich geschlossen gegen Gewalt und Ausbeutung zu stellen hat- sowohl in der Unternehmensstruktur, als auch im Hinblick darauf, welche Inhalte mit ihrer Hilfe geteilt und so verbreitet werden.
Die Anbieter hinter Internetdiensten und Co. sind in meinen Augen bis heute und auf sehr vielen Ebenen die unsichtbaren MittäterInnen in jedem Fall von Kinderfolterdokumentation und ihrer Verteilung über das Internet, in jedem Fall von Selbstmord eines Menschen nach einem Shitstorm und an jeder Gefährdung eines Menschen, der sich zur Ware macht/ zur Ware gemacht wird (machen lässt), weil er analog keine andere Chance sieht bzw. leben kann, etwas zu erreichen.

Es ist unser Internet und wir haben die Verantwortung es so zu gestalten, dass Gewalt darin keinen Platz hat.
Dazu müssen wir lernen, was genau Gewalt ist und wann wir selbst gewalttätig agieren- egal, über welchen Kanal wir gerade miteinander zu tun haben.

 

Ich war so froh um den Kaffee, den es nach dem Workshop gab und so stolz auf mich, dass ich nicht still geblieben bin.
Aber so langsam breiteten sich auch unangenehme Gefühle in mir aus.

“Wir sind Viele” ~ Teil 5 ~

Blumenbeet Sie sprang von einem Bein aufs andere, während ich die Flyer der Initiative Phönix verteilte: “Schreibst du auch auf, dass die Menschen so bedürftig sind? Schreibst du das auch auf, ja?”.
Bis mir klar wurde, welche Menschen sie meinte und was für sie so wichtig daran sein könnte, dass ich auch darüber schreibe, dauerte es nur noch einen Workshop und ich konnte auch das fedrige Gefühl unter meiner Haut endlich einsortieren.

Die Rechtsanwältin Barbara Wüsten bot einen Workshop zum Opferentschädigungsgesetz (kurz: OEG) an.
Es ist schwierig über ein Gesetz einen Workshop zu machen, zumal die Hauptprobleme in Sachen Opferentschädigung gar nicht an dem Gesetz selbst liegen, sondern mitten im System der Versorgungsämter und der kranken Kassen.
Es wurde mit jeder Wortmeldung der TeilnehmerInnen klarer, wie oft und an welchen Stellen immer wieder die Behördenwillkür, Falschinterpretationen und auch etwas, dass gut als Ausläufer der “
rape culture” in der wir leben zu bezeichnen ist: “Wenn das Opfer was will, dann soll es sich halt drum bemühen”, wirken.

“Jemand muss die doch mal trösten, oder?”, die kleine Neugierige hopste immer noch um mich herum und ließ ihre Satellitenschüsselohren im Raum herumkreiseln, als wir uns aus der Kaffeeschlange herauslösten und direkt an den Tisch mit den Kannen gingen. “Ich find, es ist nicht gut, wenn die HelferInnen so traurig sind und so… weißt, als wenns die gaaaar nix machen können.”. Ich nickte und lief nach draußen in den Sonnenschein, stolz auf mich nur minimal gekleckert zu haben und froh über die frische Luft.

“Glaubste eigentlich, die haben hier ne grobe Peilung, dass die genauso von der Gewalt ihrer KlientInnen betroffen sind, wie die KlientInnen selber? Ich mein jetzt so wegen der strukturellen Gewalt und so…”, er streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen, “Ich glaub, über kurz oder lang kann man davon irgendwie auch ne Art PTBS kriegen. Zumindest haste dann halt irgendwann so richtig geil ne Vermeidungsperformance drauf und nennst das “Abgrenzung” und dann haste da so Perlen wie Frau Doktor, die das nicht trennen- also so “Ohnmacht vor Strukturen” und “Ohnmacht vor Leiden der KlientInnen” und badabäng! wieder jemand weniger, der eigentlich voll helfen kann.”.

Sie seufzte und beobachtete die kleinen Käfer, die vor unseren Füßen über den Kies kletterten.
Sie ist uns passiert, als wir struktureller Gewalt unterliegen mussten und was das für uns in Sachen OEG bedeutet, fiel mir in dem Moment auf.

Ihr Sein ist angepasst daran ein “Nicht viel mehr als eine Nummer” zu sein. Ein Sein, dessen Grundbedürfnisse von positiven Anträgen legitimiert werden- nicht von gütigen Menschen oder eigener Hände Wirken. Sie hat noch nie auch nur irgendeinen Widerspruch an kranke Kassen oder Jobcenter verfasst, wenn ihr (uns) Leistungen gestrichen, gekürzt, zu knapp zugeteilt oder gar von Vornherein verwehrt wurden. In all der Ohnmacht und dem Raub der Menschenwürde, war am Wichtigsten vor sich selbst ein Sein, ein Jemandsein mit Namen zu bewahren- nicht dies zu erkämpfen oder zu bestätigen oder vom Außen als zu wahren einzufordern.
Unsere Idee war, einen Antrag auf OEG zu stellen und sie das machen zu lassen. Ihr ist die Gewalt früher nicht passiert und sie empfindet das auch nicht so.  Sie wird uns nicht abschmieren, weil sie von Erinnerungen überschwemmt wird oder Ähnliches.
Aber sie wird auch nicht um unser Recht auf eine Entschädigung vom Staat kämpfen können, geschweige denn unsere Anwältin antreiben, das zu tun.

Wir werden aber genau das tun müssen. Kämpfen. Für uns eintreten. Einen Wert, den wir sogar vor uns selbst nicht durch unsere schlichte Existenz definieren, verteidigen und darauf aufbauend Forderungen stellen. WIR werden das tun müssen.
Diese Sache mit dem OEG…

“Wisst ihr, was uns fehlt?”, ich schaute meine MitautorInnen an, “internalisiertes Empörungstum und diese komische Blindheit für rape culture.”.
– “Und etwa 20-30-40 Jahre Lebenserfahrung, mein Herz. Viele Menschen hier sind in ganz anderen Zeiten und Verhältnissen aufgewachsen, als du und ich und wir alle.”
– “Und hier Dings, nä- die kenn das bestimmt auch so mit hier “kriegen, was man will und schaffen, wenn man sich anstrengt” und so weil Dings nä- die sind nicht arm und so. Also jedenfalls nich wie wir. Wenn wir EMPÖRUNG brüllen kommt weniger, als bei so Leuten rum.”.

Dumpfe, brütende Stille.
“Und nu?”.
Ich spürte, wie sie ihre kleinen eisigen Hände auf meine Wangen legte und ihre Forderung in mein Denken hineinschüttete: “Schreibs auf!”
Mir fallen zig “Ja, abers” ein. Ich will einen verkaufbaren Artikel machen. Ich will die Artikel an das Herz hinter der Tagung, Brigitte Bosse schicken. Ich will Artikel schreiben, die einfacher lesbar sind. Ich will … ja und aber… die haben doch schon eine Stimme!
“Die” sollen doch “den” Betroffenen helfen. Ich will das nicht unterstützen, dieses Verantwortungsgeschiebe auf die Opfer, die “sich einfach nicht genug bemühen”; die “sich nicht fallen lassen dürfen, weil wo kämen wir denn da hin?”; die Opfer die Opfer die Opfer die OPFER die ja aber nicht “Opfer” sind, wenn die Gewalt vorbei ist, aber die wir der Einfachheit Opfer nennen, damit jede/r das Gekreisel überhaupt versteht- die Opfer, denen man doch HELFEN muss- die man doch retten muss, weil OPFER!; die Opfer, die sich nicht wehren konnten, als sie ein Kind waren- die sich aber heute wehren MÜSSEN, weil WEHR DICH DOCH (aber bitte nicht gegen meine Perpetuierung von Gewaltmythen- das geht nicht- da muss ich mich abgrenzen, sonst muss ich ja die ganze Zeit weinen, weil OHNMACHT)

Das will ich nicht. Ich finde es zum Kotzen, wie viele HelferInnen sich als RetterInnen präsentieren und auch selbst so definieren- ohne von irgendjemandem mal zu hören, dass genau das auch eine Unterdrückung ist. Ein Kleinhalten und Absprechen von Fähigkeiten und Ressourcen, von Kraft und Lebenswillen.
Ich finde es zum Kotzen, wie viele HelferInnen Gewaltmythen unhinterfragt lassen und Normierungszwänge ausüben, auf ihrer Mission der Opfererrettung und “Traumaheilung”.
Ich finde es schlimm, dass die Tagung und das Klima in ihr so sehr in den 90 er Jahren hing und nicht im Jahre 2014, wo man nicht mehr “multiple Persönlichkeit” sagt und diese verklärende Beschreibung der DIS mit “da war Gewalt und die anderen Innenpersonen, sind dann gekommen” inzwischen sogar wissenschaftlich und mit, ich sag mal, “naturgegebenen” psychophysiologischen Strukturen besser erklärt werden können. Ich finde das richtig schlimm, denn mit einem kurzen Blick in die späten 80 er Jahre von Amerika und dem, was genau diese “Ver”- Erklärung dort gemacht hat, nämlich eine Welle der “moral panic” (“empört euch- da gibts Satanisten und die sind überall und wollen unsere Gesellschaft aufessen!”), kann ich nur hoffen, dass es hier bitte konstruktiver zugehen kann.

Wo hakt es? Ist es das Tagungsprogramm gewesen? Die RednerInnen?
Wir hätten die Tagung nicht besucht, wenn dem so gewesen wäre oder wir den Eindruck gehabt hätten, dass es zwangsläufig so abdriftet.

„Es ist vielleicht die Not, mein Herz. Die Not vor der Gewalt zu stehen und keine Erfahrungen zu haben, wie zu reagieren sein kann. Es hat nicht die gleiche Norm, wie für uns. Da ist Angst, da ist Unsicherheit, da ist Trauer um eine Welt und… ich glaube, zumindest spüre ich das bei ein paar Menschen hier, eigene Erfahrungen, die weggedrückt gehalten werden müssen.”. Während der Schwan sich wieder zurückzog, um sich dem schrillen Schreien auf seinem Rücken zu widmen, dachte ich darüber nach, wie ich das nun in einen Artikel hinein bekomme.

Wie macht man anderen Menschen klar, dass sie ihre Normalität um Grauenhaftes erweitern müssen, zeitgleich aber nicht darauf allein hocken bleiben dürfen, weil die Konstruktivität ihrer Arbeit darunter leiden könnte? Wie kann ich über diese Dinge schreiben, ohne Gefühle und Selbstbilder zu verletzen?
Wie kann eine Annäherung an Gewalt als schreckliche Alltäglichkeit aussehen, ohne sie in pseudoliberale Formulierungen entgleiten zu lassen?
Wie kann es aussehen, wenn ich Menschen erklären möchte, dass es nicht die Gewalt selbst ist unter der ich leide; dass es nicht das multipel/ Viele sein ist, unter dem ich leide, sondern die Tatsache, dass Gewalt die Grundlage meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung ist, die heute dysfunktional erscheint- sowohl vor dem Anspruch einer Gesellschaft in der nur eine Dimension- eine Perspektive allein geduldet wird, als auch vor einem Leben, das keine Ausbeutung und Gewalt mehr in der Form wie früher beinhaltet?

Ich verspeiste ein Stück Streuselkuchen und hoffte im Workshop mit Claudia Fischer “sadistische Gewalt in der Berichterstattung” die eine oder andere Antwort darauf zu erhalten.

Wie viel “Opfer” steckt in meinem Genderlabel?

Faserfrühling2 Neulich hatte ich eine interessante Auseinandersetzung mit dem Thema “Geschlecht und Gender im Kontext von sexualisierter Gewalt in Form von Misshandlung in der Familie als Kind”. Dabei entstand in mir die Fragestellung, wie viel von meinem Selbstlabeling darin begründet ist, dass ich misshandelt wurde.

Fakt ist: Gewalt verändert die Wahrnehmung. Sowohl von sich selbst, als auch von der Umwelt und anderen Menschen.
Diese Wahrnehmungsveränderungen können dazu führen, dass der Umgang mit sich, der Umwelt und anderen Menschen verändert ist und etwas anderes mit sich trägt, als ohne diese Erfahrungen.
Hinzukommt der Prozess des Lernens. Man lernt basierend auf seiner eigenen Wahrnehmung von sowohl der direkten Rückmeldung von außen, als auch dem Effekt der sich auf einen selbst auswirkt.

So weit, so verkürzt, so aber ausreichend.

Ich habe gelernt, dass ich ein Stück Scheiße bin, das man eben misshandeln kann, weil man das kann.
Das ist so zusammengefasst, was ich mir aus der Gewalt, die ich erfuhr, mitgenommen habe. Ich bin kein Mädchen oder Junge, ich bin nicht von Wert für Menschen, die so viel Kraft/ Macht haben, dass sie einfach tun können, was sie tun, weil sie es eben können.
Das sind also so zwei Bereiche, die vielleicht- vielleicht aber auch nicht- von der Gewalt ver-rückt worden sein können: Die Wahrnehmung meines Körpergeschlechtes, daraus folgend, die meines sozialen Geschlechtes (Gender) und die Einschätzung des Wertes meiner Selbst vor Menschen, die Macht haben (Autoritäten).

Ja, es kann sein, dass ich mich als geschlechtslos wahrnehme, weil mir begegnet wurde, als hätte ich keins.
Auf der anderen Seite habe ich ja Augen im Kopf und kann sehen, dass mein Körper als weiblich kategorisiert werden kann, was in meinem Umfeld die Folge hat, auch dem sozialen Geschlecht der Frau zugeordnet zu werden, welches wiederum immer stärker von Medien und kapitalistisch motivierter Vermarktung definiert wird. Also nicht einmal mehr wirklich von Menschen um mich herum, sondern von einer grauen Eminenz- einer Macht, die tut, was sie tut, weil sie es kann.

Etwas, was Gewalt aber auch kann ist, Gefühle von Entfernung, Entfremdung machen. Irgendwie ist es immer wieder so, dass Gewalt, obwohl sie in vielen Formen auftritt und es keinen Menschen auf dieser Welt gibt, der keiner Form von Gewalt (und sei es der Naturgewalt) ausgeliefert ist, etwas ist, das Menschen an den Rand ihrer Welt bringt und manchmal auch von dort herunter fallen lässt.

Je tabuisierter die Art Gewalt ist, die das zur Folge hat, desto stärker ist dieses Gefühl. Und je mehrdeutig verwaschener die Kommunikation darüber ist, desto ferner (surrealer, fremder, unvereinbarer, spezieller) erscheint das eigene Sein in eben jener Position als Überlebende/r. Die Norm erscheint da oft als etwas, das nicht (mehr) für sich selbst gilt.

Ich habe so viel Zeit in meinem Leben damit verbracht Nichts (und nur vor mir selbst ein Jemand) zu sein, damit mir nichts Schlimmeres als ES widerfährt, dass ich das auf vielen Ebenen in mir drin habe. Da ist das innere Leitbild, dass es immer das Beste ist nicht nur das Nichts zu sein, sondern auch am Besten gar nicht zu sein. Da ist die Autarkie, die Unabhängigkeit als eine der höchsten Prioritäten, die alles einschließt. Auch in Bezug auf meine Art Sexualität zu leben: ich bin mir selbst völlig genug.
Das habe ich so definitiv nicht durch die Gewalt gelernt. Was ich in Bezug darauf gelernt habe ist, dass meine Gefühle, die im Zusammenhang mit meinem Genital stehen, völlig irrelevant sind, wenn sie jemand anderes benutzt.
Wenn ich welche hatte, dann wurden sie umgedeutet, wenn ich keine hatte, wurden mir welche unterstellt.
Das heißt nicht, dass ich im Zuge der Gewalt mein Geschlecht negierte oder nichts gespürt habe. Aber ich habe diese Empfindungen mit dem Menschen verbunden – nicht mit dem Umstand ein weibliches Geschlecht zu haben.

Wenn ich alles selbst tue, ist alles gut. Dann bin ich nichts, nehme nichts, brauche nichts (und niemanden). (Könnte auch heißen: “Ich muss dann nichts für jemanden sein”, aber da bin ich noch nicht dran.)
Ist das ein ausschließlich erlerntes Muster, das, wenn ich es änderte, all meine Selbstwahrnehmung verändern würde? Vielleicht in eine Cisfrau, die liebend gerne den ganz besonderen Kugelschreiber für Frauen benutzt und ihrem Mann die Chips für den Fußballabend mit Freunden am Grill kredenzt? Ist denn das die Norm? Ist Heterosexualität und die Cis-Genderperformance die Norm? Ist das, was ohne Gewalt/ Einfluss von außen entsteht, die richtige Norm?

Nein.

Heute bin ich von meinem Innenleben nicht mehr so sehr entfernt, wie noch vor ein paar Jahren. Ich merkte, dass andere Innens sich nicht als geschlechtslos wahrnehmen, sondern, dass es durchaus Innens gibt, die sich woanders auf dem Spektrum verorten oder sich selbst sogar auf diesem herumwandernd empfinden (also manchmal sehr weiblich, manchmal eher männlich, manchmal männlich, manchmal wie ich).

So entsteht in mir die Frage, ob die Verknüpfungen, die unter Gewalt entstehen, abhängig vom Selbstzustand sind.
Das Modell nach der Frage, wie viel meiner Selbstwahrnehmung bzw. meiner Selbsteinschätzung also aus dem “zum Opfer geworden sein” kommt, orientiert sich an der Idee, die Summe meiner Erfahrungen und Umwelten zu sein.
Das passt aber nicht mehr, wenn ich dann Menschen begegne, die sich gleichsam als geschlechtslos, trans, nonbinary, queer  etc. etc. etc. wahrnehmen, ohne (als Kind) sexuell misshandelt worden zu sein und erst dann sexualisierte Gewalt erfuhren, als sie sich nicht entsprechend ihrer Selbstwahrnehmung auch offen nach außen labeln und entsprechend agieren durften. (Also ja: ich persönlich halte es auch für sexualisierte Gewalt, wenn ein Transmann weiterhin Frauenperformance betreiben muss oder sich jemand, der sich als jemand ohne Geschlecht fühlt, mit “Herr” oder “Frau” angesprochen wird, weil because of fucking status quo).

Es gibt diese Haltung zu Gewalt, dass sie alles und jeden von Grund auf verändert.
Ich zweifle inzwischen mehr und mehr daran, dass das wirklich so ist.

Was mir passiert ist, hatte eine ganz eigene Dynamik mit der ich aufgewachsen bin. Da ist das Paradox: Ich hatte früher nie das Gefühl Unnormales zu erleben oder selbst unnormal zu sein- aber als klar wurde, dass es Gewalt war, fiel ich über den Rand der Welt.
Alles, was mir hätte sagen können: “Du, das ist nicht okay, wenn jemand deinen Körper manipuliert- das ist Gewalt- du kannst/ darfst/ musst das jetzt hier schlimm finden und dich so und so verändern, um damit zurecht zu kommen”, war mir nicht bewusst und spielte so überhaupt gar keine Rolle. Wenn ES passierte, dann ging es darum, dieses ES so kurz und knapp wie möglich zu halten (und mir gelang das immer am Besten, wenn ich mich eben darauf besann, dass ich _nicht bin_. Ein Jemand, aber ansonsten Nichts.
Da spielten lediglich die sozialen Rollen von “mächtig”/ “Etwas und Jemand” und “ohnmächtig”/ “Nichts und Jemand” eine Rolle. Weniger oder zumindest nicht ausgesprochen meine soziale Rolle als Kind oder mein biologisches Geschlecht.

Ich werde nie herausfinden, ob ich mich anders wahrnehmen würde, wenn ES mir nie passiert wäre. Denn es ist mir passiert und ich erinnere keine Zeit, in der das nicht so war. Ich habe mich nie anders wahrgenommen und eingeschätzt. Und ich erlebe es nicht als Verlust oder als einen Akt von Abwehr gegen meine Biologie oder soziokulturelle Rolle. Auch so ein bequemer Normengewaltmythos: Non-Cisgender und Homo- und Non-binary- Sexualität als abweichender Lebensstil, weil die Gewalt “gemacht hat”, dass die betroffenen Menschen sich und ihre Rolle und ihr Geschlecht so sehr ablehnen, dass sie ihre Genitalien nicht mehr normgerecht benutzen wollen oder können (also heterosexuell entsprechend ihres biologisch eingeteilten Geschlechtes).

In den ganzen Überlegungen traf mich ein Gedanke, wie ein Asteroid beim Wandertag, als ich das Viele- sein auch noch einmal in den Kontext hineinbrachte.
Nämlich der, dass die Gewalt, die mich zu Vielen hat werden lassen, auch vielschichtig war und sich da die Frage eröffnet: Wenn das alles nicht gewesen wäre- wie würde ich mich dann labeln?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass mein Selbstlabeling ein Anderes wäre- aber wäre ich dann ganz grundlegend auch ein anderes Jemand?

Ich glaube nicht. Aber- und das ist, was ich als größten Verlust wahrnehme- ich werde das nie herausfinden können, denn passiert ist passiert. Da ist ein Ende der Persönlichkeitsentwicklungsoptionen abgeschnitten und für immer verloren.
Alles, was ich heute zusammenführen und integrieren kann, hat sich getrennt entwickelt und in Autarkie gebracht. Ich denke, dass es wichtig sein kann, an manchen Stellen zu sehen, welche Verknüpfungen sich wo, wann und warum gebildet haben und ob sie heute noch genauso übereinstimmend mit dem jeweiligen Selbst wahrgenommen werden.

So gab es früher schon die Notwendigkeit und auch die innere Übereinstimmung damit, die Rolle eines Cismannes inne zu haben, die dann aber nach der Bearbeitung der Entstehungssituation dieses Selbsts nicht mehr als so übereinstimmend wahrgenommen wurde und in ein Selbst mit anderem Gender integriert wurde. Das Gleiche erlebten wir aber auch schon anders herum, genauso, wie ich auch schon Innens mit binärer Geschlechterzuordnung in mir integriert habe.

Am Ende wird, denke ich, ein Selbstlabeling dabei herauskommen, das ist wie es ist. Nicht mehr oder weniger hinterfragbar oder mit dem “zum Opfer geworden sein” in Zusammenhang stehend, als das, was ich jetzt an mir und anderen Innens sehe.
Es ist die Gewalt, “die machte”, dass ich mir das jetzt alles zusammensuchen muss. Aber ob sie das, was da jetzt so herumfliegt, auch alles gemacht hat?
Keine Ahnung.

Und wer weiß- vielleicht finden wir Menschen irgendwann heraus, dass unser Selbst so oder so immer anteilig gemischt ist und wir durch die Summe unserer Erfahrungen und Umwelten lediglich unterschiedlich gewichten.

Und vielleicht vielleicht vielleicht… darf dann ja auch irgendwann jeder Mensch einfach so sein, wie er sich wahrnimmt.

… und beleuchte die Dunkelheit

Gestern Abend hatte ich es mal wieder in der Hand
“… und besiege die Finsternis” von Marie Balter, geboren 1930.
Psychiatriepatientin. 20 Jahre lang.
In den Anstalten der 50 er Jahre.
Zu Zeiten der massenhaften Medikalisierung. E- Eis- Insulinschock- Folter im Namen der medizinischen Hilfe.
Das ist keine leichte Kost. Aber ich mochte das Buch.

Sie hat überlebt, wurde Ärztin und sprach dann für die Betroffenen. Sie ist 1999 verstorben.

Das letzte Kapitel des Buches heißt “Eine Stimme für die psychisch Kranken”.
Damals, als ich das Buch zum ersten Mal las, verbrachte ich die meiste Zeit des Lesens getriggert und mich und mein Leiden kleinredend.
Das letzte Kapitel erschien mir so wohltuend in all dem, was dort steht.
Sie schreibt von ihren Vorträgen, den Reaktionen der ZuhörerInnen, aufbauschenden, oberflächlichen JournalistInnen, ihrer Angst abzustumpfen, ihren Gebeten, den Menschen, denen sie bei der Verfilmung ihres Lebens begegnete.
Und: “Anderen Menschen Hoffnung zu bringen, heißt ihnen die Macht geben zu ändern, was sie bedrückt. Wir, die wir Möglichkeit haben, müssen sie nutzen. Doch das darf nicht so weit gehen, dass andere nicht mehr eigenständig handeln können.”

Vor 2 Wochen habe ich das Exposé für mein Buch bei einer Literaturagentur landen lassen. Als Leseprobe ist ein Artikel dabei, der meine Zeit in einer der vielen Kinder- und Jugendpsychiatrien aufnimmt. Ich glaube nicht, dass ich damit Hoffnung verbreite.

Mir fiel aber auch auf, dass ich denke: “Ja haaaa ICH muss anderen Menschen Hoffnung geben, denn ich habe ja überlebt. ICH muss den Menschen ja sagen, dass man das alles überleben kann. Und das dann alles besser ist…”. Ich merke, dass ich mir schon wieder ein Kostüm in einem Schrank anschaue, das mir weder passt noch gefällt. Das ich mir aber natürlich trotzdem anziehen würde, weil … darum.
Während bei vielen Vielen das Thema “Überlebensschuld” kreiselt, kreiselt bei mir “Überlebensverpflichtungen”. Immer wieder der Komplex: “Ich habe überlebt und jetzt? Was gebe ich jetzt zurück und wie stelle ich das an?”.

Ich glaube nicht, dass ich heute keine Psychiatriepatientin mehr bin (oder auch die Gewalt überlebte, die mich dort hinbrachte), weil meine Seele so besonders stark ist, oder weil in mir irgendein Schalter umgelegt wurde, der mich zu neuer Hoffnung und Kraft brachte. Ich glaube auch nicht, dass ich überlebt habe, weil an oder in mir irgendetwas ist, dass mich durch die Momente der Todesnähe trug und etwas zu erhalten vermochte, als scheinbar nichts (und niemand) mehr in mir war.
Ich weiß, dass ich keine Schuld an meinem Überleben trage, weil niemand Schuld an seinem Sterben trägt.

Aber ich merke, dass ich nicht nur etwas überlebt habe, sondern auch von etwas zeuge. Meine Schäden sind ein Er-Zeugnis der Gewalt. Wenn ich beschreibe, was ich sah und erlebte, dann ist es eine Art Zeugnis ablegen von dem, was für andere- die Verschonten, die Ungeschlagen, wie C. Emcke sie so treffend nennt, unsichtbar, unerlebt- und un- über-lebt ist.

Das Überleben ist mir einfach so passiert. Ich habe weder darum gebeten, noch dafür gekämpft.
Die Lebensrealität in der ich und die Zerstörung an mir unsichtbar sind, und sogar gehalten werden, hingegen, betrachte ich als unbedingt zu verändern. Denn es ist eben genau die Unsichtbarkeit, in der Gewalt geboren und genährt wird. Es ist immer wieder genau das Moment, in dem man Gewalt nicht Gewalt nennt, auch das Moment, in dem Gewalt triumphiert und sich weitere Opfer einverleibt.

Ich stelle mir nicht die Frage “Warum ist mir das passiert?” oder “Warum habe ich überlebt, aber dieser und jener Mensch nicht?”.
Ich habe meine Antworten dazu und daraus eben auch die Anforderung an mich, zu verhindern, dass es anderen Menschen auch so ergeht. Dieser Überlebenskult, diese Mystifizierung des Überlebens und dessen, was es abverlangt, ist in meinen Augen eine zwar nachvollziehbare menschliche Eigenschaft, doch nicht hilfreich, wenn es darum geht, einen Weg zu gehen, der ohne Gewalten auskommt und so immer wieder Menschen zum Überleben zwingt.

Es kann nicht sein, dass wir in einer Gesellschaft leben, der es einerseits völlig egal sein kann und darf, was in Psychiatrie, Heim, Gefängnis, Misshandlungsfamilie passiert, die Überlebenden dann aber in eine Position bringen darf, in der besonders wertvolle Eigenschaften impliziert sind, die sich zeigten, als es dieses Umfeld und die ihm inne liegende Gewalt, abverlangte!

Marie Balter hatte zu ihrer Zeit immer wieder betont, dass es nicht reicht, die Menschen rauszuholen. Sie war eine der ersten, die darauf zeigte, wie unterschiedlich die Welten “Psychiatrie” und “draußen” sind. Was es für einen krassen Bruch bedeutet von der Rechtlosigkeit in die Stigmatisierung; aus dem Klima eines menschenverachtenden Nihilismus in ein Klima des Anspruchs dem (noch bzw. nicht immer sofort) zu entsprechen ist, zu gehen.
Sie sagte immer wieder, wie wichtig es ist, dass entlassene Menschen aufgefangen werden und Orientierungshilfen bekommen.
Heute gibt es Peer to Peer- Hilfen, ambulante Betreuungen, ein bis heute ausbaufähiges obgleich immer weiter zusammengespartes und so dauermarodes System von Hilfen, die Menschen über den Bruch helfen und in ein Leben in Eigenständigkeit hinein begleiten soll.

Aber Gewalt taucht in all dem als Begriff nicht auf.
Hilfe darf nicht auch Gewalt genannt werden, obwohl hier und da schon Verknüpfungen bekannt sind, beobachtet werden und Überlegungen angestellt werden, wie sie zu verhindern sein könnten. Alles natürlich systemimmanent und orientiert am Status Quo, den zu hinterfragen komplex und unbequem ist.

Ich habe das Buch weggetauscht und werde es auf die Reise schicken.
Gestern dachte ich noch, dass ich in der Geschichte so viel Schönes gelesen habe und nicht noch einmal groß darüber nachdenken möchte. Heute ist mir klar, dass ich diesen Absatz “Anderen Menschen Hoffnung zu bringen, heißt ihnen die Macht geben zu ändern, was sie bedrückt. Wir, die wir Möglichkeit haben, müssen sie nutzen.” in meinem Denken umändern muss.

Vielleicht in “Anderen Menschen von der Dunkelheit erzählen, heißt ihnen Macht zu geben Licht zu verbreiten. Wir, die wir beides kennen und die Möglichkeiten haben, müssen sie nutzen.”.

Mutter Liebe Leben

BlattgerippeNeulich habe ich von meiner Mutter geträumt.
Es war einer dieser Träume, in denen man unglaublich viel rennt, ganz dringend etwas erledigen muss, aber an den Menschen abprallt wie Regen auf Lotusblüten. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber es war ein Bild von meiner Mutter darin, das mich noch ein paar Stunden nach dem Aufwachen beschäftigte.

Dieses zusammengekrümmte Hocken, die eine Hand vor dem Bauch, nach unten atmend, die andere Hand stützt sich, ein Messer über Gemüse auf einem Schneidbrett haltend, an der Arbeitsfläche ab. Die Brauen sind zusammengezogen und von irgendwo in ihrem Brustkorb kommt ein Stöhnen.

Als ich 16 oder 17 war, habe ich ihr mal einen Brief geschrieben: “Wie kannst du nur – du solltest ihn verlassen blablablabla…” schön peinlich- sogar in Anbetracht jugendlicher Dummheit. Ich glaube, da stand sogar etwas von “Hast du mich denn je geliebt?” drin.
Ich habe natürlich nie eine Antwort auf den Brief erhalten. Auf die Frage nach ihrer Liebe für mich, gebe ich mir inzwischen selbst die Antwort: Ja klar!

Vor noch etwas längerer Zeit hatten wir darüber nachgedacht, was Liebe genau ist und, ob wir dazu fähig sind.
NakNak* wird in zwei Wochen 5 Jahre alt und ist damit unser längster sozialer Kontakt, der mit uns Dach, Bett und Futter teilt. Lieben wir sie?
Oder haben wir uns nicht doch eher freundlich zugeneigt und an ihr Dasein an unserer Seite gewöhnt? Was genau macht Liebe aus? Und was genau ist an Mutterliebe so wahnsinnig viel wichtiger, als an Vater- Tier- und Umweltliebe?

Ich stellte mir die letzte Frage, weil mir auffiel, dass ich immer wieder meine Mutter als erste Adressatin für die Frage nach Liebe für mich aussuchte. Immer wieder und bei so ziemlich allem, was ich tat. Obwohl ich noch den ganzen Rest der Familie zur Verfügung gehabt hatte.
So kam ich zu meinen Recherchen zum Mutterkult, der unter den Nazis hochgepusht wurde und bis heute seine Ausläufer hat, um Menschen, die zu Müttern werden, ein Ideal ins Leben zu donnern, das dort so überhaupt mal gar nichts zu suchen hat.

Meine Mutter war sehr jung- ist jung. Sie war sehr krank- ist noch immer krank. Sie hat sich an meinen Vater gewöhnt und nennt das Liebe. Vielleicht geht es ihm nicht anders. Wer weiß das und wen interessiert das? Geht es mich überhaupt etwas an?
Wer bin ich denn mehr, als ein Lebewesen, das aus Versehen in ihr wuchs und dann halt blieb?

Wenn ich mich in Literatur, Kunst und Film umschaue, begegnet mir Liebe immer wieder sehr umfassend. Tief bis in tiefste tiefe Fasern und immer steht ein Begehren im Vordergrund. Unwillkürlich tauchen vor meinem inneren Auge riesige Kraken auf, die einander aufzusaugen versuchen, ihre vielen Arme um einander herumwickeln und jede Zelle des Anderen in sich aufnehmen wollen. Ganz im Anderen aufzugehen- sich den Anderen ganz und gar- mit Haut und Haaren- zu nehmen; irgendwie, ja, fast anzueignen und mit einem befriedigten Schnurren in sich drin zu halten- noch während man selbst nicht mehr man selbst, sondern der Andere ist.

Im Fall der Fötenentwicklung ist das ja sogar gegeben. Die kleinen humanoiden Zellhaufen schwimmen in einem anderen humanoiden Zellhaufen herum und teilen sich mehr, als es nach der Trennung in irgendeiner Form wieder möglich sein kann. Könnte man hier von Liebe sprechen? Lasst uns mal einen Fötus fragen- oh wait!

Doch nun ein Sprung zu meinem peinlichen Brief.
Ich hatte damals noch genau diese Einstellung: Liebe kann alles schaffen und alles überwinden und Schwallablabla-Filmkitschblödsinn.
Fakt ist, das Liebe eben nicht alles schaffen kann.

Um zu verhindern was war, hätte meine Mutter mich gar nicht erst auswachsen und gebären lassen müssen. Sie hätte sich selbst den Gefahren eines Schwangerschaftsabbruchs aussetzen müssen und das war in der Zeit Schwachfug. Ich als kleiner Zellhaufen, Fötus und später Baby, Kind, erwachsener Mensch, habe ihr nicht gleichsam geschadet.

Ich glaube, dass ich eine ganze Tasche voller moralischer Empörungen über meiner Mutter ausschütten könnte, die alle mehr oder weniger zutreffend sind. Aber alle diese moralischen Überzeugungen fußen auf genau diesem Gerede davon, dass Mutterliebe und Liebe allgemein, zwingend Respekt, Schutz, Annahme, Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Nähe, Wärme, Nährung und geistig emotionale Verbundenheit zur Folge haben müssen. Ganz besonders, wenn der eine Mensch den anderen Menschen geboren hat.

Entweder bin ich seelisch so kaputt, dass ich moralisch falsch liebe oder Liebe, die Moral hinter sich herzieht ist etwas, das ein Ideal produziert, dem nur entsprechen kann, wer bereitwillig sein Selbst in anderen Menschen auflöst und in sachtem Gegurgel verdauen lässt (um dann in kleinste Teilchen zerhäckselt ausgeschissen zu werden und schwer zu leiden).

Was ich hingegen glaube ist, dass meine Mutter mich und uns und auch sich selbst, mit mehr moralischer Festigkeit hätte besser leben lassen können.
Doch wer bin  ich, dass ich über ihre Festigkeit zu richten habe? Vielleicht tuckert in ihrem Herzen doch ein kleiner Kaffeefrachter voller Respekt vor dem Leben anderer Menschen herum, doch kann nirgends andocken, um seine Fracht abzuladen?

Ich bin ihr, der Natur, G’tt dankbar, dass ich leben kann. Dankbar- nicht von Liebe und Hingabe erfüllt, dass es mir fast übern Rand schwappt.
Ich versuche diese Werte von positiver Widmung, Achtung vor der Unantastbarkeit des Inneren anderer Menschen, Hingabe ans Leben mit all seinen Facetten zu leben und bilde mir ein, dass ich so auf diese Art ein Lieben praktiziere, das mich eben nicht dazu zwingt, mich ganz in anderen Menschen zu verlieren oder ihnen so nah zu treten, dass ich ihnen Briefe, wie den an meine Mutter schreibe.

Meine Mutter hätte nichts verhindern können, ohne sich selbst zu gefährden.
Das war zu meiner Entstehung so und das ist bis heute so.

Was wäre das für ein Totalausfall von mir, zu verlangen, dass sie sich für mich zu opfern hat?! Und warum ausgerechnet sie und nicht mein Vater, meine Geschwister, meine Großeltern- meine LehrerInnen, ErzieherInnen- die Nachbarn, die Freunde* und deren Eltern? Sie alle hätten mir damals helfen können.

Mir ist das Bild, das ich im Traum sah, nachgehangen, weil es das Einzige ist, das sie nicht stark, durchsetzungsfähig, und wandelbar zeigt. Sie wirkt nicht schwach auf mich, sondern gequält und damit in höchster Gefahr.
Das entschuldigt nicht. Aber es macht mein Bild, in dem ich mich/uns positionieren kann, klarer.

Ich muss mich heute damit abfinden, dass mein Bild von meiner Familie* wohl nie, von meiner Familie* selbst korrigiert oder berichtigt oder gar um noch mehr Facetten erweitert wird. Das ist ein Verlust für mich und darum trauere ich manchmal.
Meistens aber bin ich froh um den Abstand zwischen uns.

Bin froh, dass ich meine Dankbarkeit für mein Leben fühlen kann und von dem Früher räumlich, wie zeitlich so entfernt bin, wie heute.
Ich glaube, wir würden uns immer wieder in Gewalten wiederfinden, wenn wir Kontakt hätten.
Doch ich habe mich dagegen entschieden.

Vielleicht war mein Wunsch, dass sie ihn verlässt davon getragen:
Ich bin gegangen- geh du doch auch!
Es wäre schön, mein gewaltfreies Einsamkeitsexil ohne familiäre Bezüge mit ihr zu teilen. Eine Verbündete zu haben, die weiß was es heißt, ein weiblicher Mensch in dieser Familie* gewesen zu sein. Die mit mir zusammen erkundet, wie es ist ein weiblicher Mensch in dieser Welt zu sein. Die mir erinnern und integrieren hilft. Mit der zusammen ich wachsen könnte. Vielleicht Stärke ansammeln und Qualen abstreifen könnte.
Ja. Das wäre schön.

Aber sie hat keinen Grund zu gehen oder genau das auch schön zu finden- oder gar zu wünschen.
Sie hat aber tausend Gründe, genau das eben nicht zu tun.

drüber reden, etwas sagen

WasserBlatt Und dann dachte ich: “Etwas sagen, werde ich wohl nie.”

Ich dachte an die Artikel “mit …reden”. Dachte daran, dass ich immer wieder zu viel Zeit damit verbringe mein Jetzt, die Schäden, Verwachsungen, Anpassungen und Muster zu erklären, transparent und adaptierbar zu machen. Immer wieder dafür zu sorgen, dass ich verstanden werde und wenn eine Norm nicht umgehbar ist, Hilfe beim Annähern an Entsprechung zu erhalten.

Wieso rede ich nicht mit ÄrztInnen darüber, was meine Befürchtungen in Bezug auf körperliche Schädigungen sind?
Wieso rede ich nicht mit der Polizei darüber, dass ich selbst eine scheiß Angst davor habe, falsche Aussagen zu machen, viel Arbeit für nichts zu verursachen- das Bild der Betroffenen, der erst einmal immer geglaubt werden muss, zu zerstören?
Wieso rede ich nicht mit
dem Jobcenter darüber, dass das, was sie mir dort anbieten immer wieder etwas ist, dass ich nie so fest zusagen/ dem entsprechen kann, wie sie das brauchen?
Wieso rede ich so viel in der Therapie und sage (gefühlt) nichts?

G’tt, ich würde so gerne etwas sagen.

Doch in dieser Welt bedeutet es Drama, wenn man das tut. Vielleicht Unangemessenheit. Vielleicht Rücksichtslosigkeit. Vielleicht die Gefahr von Unverständnis verletzt zu werden. Vielleicht bedient man Voyeurismus. Vielleicht werde ich von der Messlatte ihrer Bewertungen erschlagen und sie nennen es “Bewusstwerden”.

In meinem Kopf, da sagt es vor sich hin und tritt doch nicht nach außen.

Es sind so kleine Fetzen oder Blitze und meistens lasse ich sie so an mir vorbei ziehen, wie den Müll im Wald, von dem ich weiß, dass er die Umwelt zerstört und den ich trotzdem viel zu selten aufhebe.
Ich bilde mir ein: „Ach- dieses Taschentuch- das rottet schon.“. „Ach- diese Verpackung- die wird schon vergehen…“. Und so rede ich über die Fetzen: „Ach, ist ja vorbei…“.  „Ach- es wird nicht wieder passieren…“-
und weiß doch eigentlich, dass ich Innens- “mich”-  damit quäle, wie ich unser Ökosystem zerstöre, wenn ich Müll liegen lasse.

Im Moment entsteht ein Bild von uns. Uns allen. Ein Wimmelbild.
Ich fand mich und sehe meine eigene Erschöpfung, die mich trotz aller Zeit, die vergangen ist, nie ganz verlassen hat.
Ich habe darüber nachgedacht, dass ich nicht darüber reden will, wieso ich eingesperrt war und überhaupt alles das drum rum, wie das war und wie ich mich befreit habe und so weiter und so weiter, sondern, wie schrecklich ich meine Erschöpfung wahrnahm, als ich gefunden und mitgenommen wurde.
Dass es einfach nie der Kampf ums Überleben war, die mir Not und Angst gemacht haben, sondern das, was war, als ich Erfolg hatte.

Vielleicht ist es das, was uns immer wieder behindert. Dass wir denken: “Oh- die Menschen da draußen, unsere Therapeutin, unsere Gemögten- die denken bestimmt wir wollen schlimme Kämpfe und Gewaltdetails erzählen, wenn wir äußern, dass wir über eine Not sprechen wollen”.
Irgendwie ist ja so, dass wir unterschiedliche Bewertungen haben und uns das nicht entgangen ist.
Was für uns Alltag, Norm, Wert war (und ist), das wird von unserem jetzigen Außen mit “Gewalt”, “Doktrin” und “Ideologie” betitelt und damit in unserer Wahrnehmung total verquert.

Ich will nicht darüber reden, dass mich Gewalt dort hin gebracht hat und mich in diese Erschöpfung getrieben hat. Wenn ich mich geistig dem Früher nähere, dann ist es Gewalt gewesen, die mich dort heraus brachte und meine Erschöpfung entstehen ließ- obwohl ich natürlich weiß, dass ich vorher schon schwach gewesen sein muss. Wenn ich näher dran stehe, dann ist aber trotzdem mein Befreier der Mensch, der mich schwächte und in Not brachte. So sehr, dass er mich tragen musste- obwohl ich vorher die ganze Zeit stand und mich bewegt hatte. Total aktiv war.

Irgendwie ist es der Anspruch von einem Erzählen von A nach B nach C zu dem worum es eigentlich geht, was stört.
Ich feiere mich gerade, weil ich jetzt hier zum ersten Mal davon schreibe, wie k.o. ich damals war. Dabei hätte ich das so auch ja schon früher mal sagen können.
Dann hätte es aber für niemanden gleich viel Sinn ergeben und ich hätte mir irgendwie was von “ja müde sind wir alle mal” oder ähnlichem Kackscheiß anhören müssen.

Es gibt in dem Buch “Trauma und die Folgen” von Michaela Huber eine Grafik, die beschreibt, was ein Trauma tatsächlich bedeutet.
Es ist nicht das Ereignis an sich, sondern die Wellen, die Verletzung, die es schlägt. Und, dass die Wellen, die so ein Ereignis schlagen kann, unterschiedlich sind, ist ja logisch, denn jeder Mensch hat unterschiedliche Internalisierungen in seinem Leben vorgenommen, die er gut, weniger gut oder auch gar nicht auf so ein Ereignis jenseits des Üblichen anwenden kann.

Manchmal denke ich darüber nach, warum ich über diese Dinge reden will. Warum es manchen Innens sogar wichtig ist, die Option zu haben sich irgendwann, wenn es okay ist, über ES oder DAS DA aussprechen zu können, denn eigentlich geht es uns nur selten wirklich besser, wenn wir diese Dinge angesprochen haben oder etwas (aus)gesagt haben.
Ist es Narzissmus oder eine Art Entdeckerstolz, der mit einem zitternden Finger auf etwas jenseits der Norm zeigen will? “Guck mal- das da habe ich gesehen/ erfahren/ überlebt (und du nicht!)” oder ist es ein Bedürfnis, das uns Menschen eigen ist, um grundlegend Toxisches aus sich herauszuspülen?

Ich weiß nicht, ob meine Erschöpfung verschwinden kann, denn zur Zeit verwende ich so viel Kraft aufs Aufrecht sein, Aktiv sein, Verhandeln und Wüten, um weiterhin aufrecht und aktiv sein zu können, als ob ich damit meine Rettung (= meine Schwäche) von mir fernhalten könnte. Ich weiß nicht, wie das ist, wenn ich darüber rede (und nicht nur schreibe). Wird sie dann verschwinden können? Und war es dann das “darüber reden”, oder nicht doch das, was ich an Rückmeldung von außen bekomme, was dann hilft?
Und was von dem, was ich zu sagen habe, hilft uns allen?

Ich habe in dem Fragebogen zum Anzeigeverhalten geschrieben, dass ich etwas davon haben muss, wenn ich schon eine Anzeige erstatte und genau das überhaupt nicht gegeben sehe. Dass ich eben genau deshalb nicht angezeigt habe.
Mir ist nicht an Rache, Opferstatus oder Täterdemütigung/erziehung/maßregelung gelegen.
In Bezug auf das, was uns passiert ist, geht es uns nur um uns. Egozentrik hoch zehn. Ich muss schließlich heute mit eben jenen Traumawellen (in mir drin) leben- nicht mit denen, die sie auslösten und ich sehe nicht ein, weshalb ich – ausgerechnet ich- die Verantwortung tragen soll, dass diese Menschen nicht noch andere Menschen quälen. Es ist nicht meine Verantwortung, dass sie das nicht tun! Es ist deren Verantwortung und die Verantwortung des Staates und des direkten gesellschaftlichen Umfeldes dieser jener potenziellen zukünftigen Opfer, das sich darum zu kümmern hat.

Also was habe ich vom Reden und Sagen?

Vielleicht ist es ein Bemühen um Mehrsamkeit, das eben jenen Finger auf das zeigen lässt, was jenseits der Norm geschah.
Jetzt, wo ich das hier schreibe, reicht mir schon die von mir eingebildete geistige Nähe zum Kopf anderer – fremder wie bekannter- Menschen, dass ich mich weniger allein fühle und meine 5 Tränen über dieses kleine Figürchen auf der Leinwand irgendwie besser in mich integrieren kann.
Irgendwie ist es grad mehr okay, überhaupt da zu sein. Am Leben und deshalb auch auf dieser Leinwand.

Und vielleicht ist das ja schon alles, was drüber reden bewirken kann?

erschütternde Zahlen erschüttern- ansonsten nix

abgeplatzteRinde Da ist sie also, die größte Erhebung zu Gewalt an Frauen* in der EU.
Wer ist erschüttert?

Ich nicht.
Ich finde es schön, die Zahlen von denen die Menschen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten für die Überlebenden der Gewalt an sich einsetzen, gleichsam lange reden, alle auf einem Haufen zu sehen und auch Empfehlungen dazu ausgesprochen zu erleben.

Aber die Erschütterung, die Beklemmung, das Entsetzen … das Grauen, das die SZ dorthinein liest, bleibt bei mir aus.
Anne Wizorek fragt über Twitter, wieso sich niemand aufregt.
Ja, liebe Anne- worüber sollen wir uns noch aufregen, wenn nicht darüber, dass sich niemand aufregt?

Letztes Jahr um diese Zeit, haben wir* “Aufschrei-Damen” zig und zig und zig ältere Studien über Twitter, Facebook, vis à vis geteilt, die genau diese Zahlen bereits genannt haben. Geblieben ist die Erkenntnis, dass Gewalt an und gegen Frauen* eine Norm ist, die wir als Gesellschaft ablehnen und doch nicht so richtig davon weg kommen, weil… darum.

Nur zur Klarstellung: Ich halte es für wichtig, immer wieder Erhebungen zum Umfang der Gewalt gegen Menschen (egal, welchen Geschlechtes) zu starten und auszuwerten.
Was mich als Betroffene nur wirklich zum Hulk werden lässt, ist die permanente Erschütterung, die einfach nicht zur ordentlichen Welle wird.

Ich will keine kleinen, sich kräuselnden und doch wieder abebbenden, Erschütterungen mehr- ich will Erdbeben, die Neukonstruktionen und Neukonzeptionen ermöglichen!

Dazu brauchen wir, meiner Meinung nach, nicht nur Studien zur Gewalt selbst, sondern auch zum “Danach” und zum “Warum?”.
Wie viele TäterInnen sind selbst zum Opfer geworden und in welcher Beziehung steht dies zu ihren Taten?
Was hätte helfen können?
Wie viele Opfer überleben die Gewalt und wie sieht deren Lebensrealität aus?
Was sind die Gründe für niedrige Anzeigebereitschaft?
Wie sieht die (psycho)therapeutische Versorgung für Gewaltüberlebende aus?
Wann und wo und wie haben Überlebende selbst, die Chance ihre Stimme zu erheben, ohne sich mit Ausläufern von “rape culture” befassen zu müssen?

Ja, sicher können wir die Häupter senken und mit gedämpfter Stimme raunen, dass wir getroffen sind von all dem Elend um uns herum. Natürlich ist es unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe Gewalt aufzuzeigen.
Aber damit ist es nicht getan.

Es reicht leider nicht, sich darüber aufzuregen, dass Dinge sind, wie sie sind.
Es muss Bewegung in die Sache kommen und eine sehr wünschenswerte Bewegung wäre, in meinen Augen, in den Reihen
der Medien, die dieser Tage immer wieder glänzen durch Gewalt verharmlosende bzw. negierende Sprache, nötig; in der Politik, die sich seit Jahren mit der Einrichtung von Opferfonds freizukaufen versucht, anstatt strukturelle Probleme der Ahndung, Entschädigung und allgemeinen Versorgung anzugehen und in dem einen kleinen zwischenmenschlichen Schritt auf die Überlebenden zu.

Ich bin es leid, dass immer wieder aufgezeigt und ja auch aufgeschrien- die Erwartung einer Veränderung, aber immer wieder ausschließlich bei anderen verortet wird- gerne auch bei denen, die sich dagegen nicht effektiv verwehren können.
Genau so verhilft, meiner Meinung nach, sogar eine Studie zur Gewalt indirekt wieder zu Gewaltausübung, anstatt in irgendeiner Weise wirklich hilfreich zu sein.

Deshalb teile ich hier jetzt auch nicht die Zahlen der Gewalt, sondern die Forderungen der FRA:

  • Die EU-Mitgliedstaaten sollten das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention, ratifizieren.
  • Die EU-Mitgliedstaaten sollten Gewalt in der Partnerschaft als gesellschaftliches und nicht als privates Problem anerkennen. Vergewaltigung in der Ehe sollte in der Gesetzgebung aller EU-Mitgliedstaaten der Vergewaltigung in allen anderen Fällen gleichgestellt, und häusliche Gewalt sollte mit Nachdruck geahndet werden.
  • Die EU-Mitgliedstaaten sollten den Anwendungsbereich ihrer rechtlichen und politischen Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung überprüfen. Diese müssen der Tatsache Rechnung tragen, dass sexuelle Belästigung überall auftritt und über unterschiedliche Medien, etwa das Internet oder Mobiltelefone, erfolgen kann.
  • Polizisten, medizinisches Fachpersonal, Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Opferhilfe-Einrichtungen müssen geschult und mit den notwendigen Mitteln und Befugnissen ausgestattet werden, damit sie die Gewaltopfer unterstützen können.
  • Schulungen bei der Polizei und anderen relevanten Einrichtungen sollen sicherstellen, dass die Personen, die mit Gewaltopfern in Berührung kommen, die Auswirkungen psychischen Missbrauchs erkennen und verstehen. Jegliche Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen in verschiedenen Umfeldern sollte aufgedeckt, gemeldet und geahndet werden können.
  • Die Polizei sollte dazu angehalten werden, routinemäßig Fälle aufzugreifen und zu untersuchen, bei denen Online-Stalking und Online-Belästigung eine Rolle spielen.
  • Internet-Provider und Plattformen für soziale Medien sollten Opfer von Online-Belästigung aktiv bei der Meldung von Missbrauchsfällen unterstützen. Sie sollten dazu aufgefordert werden, solch unerwünschtes Verhalten einzudämmen.
  • Spezielle Opferhilfe- oder Opferschutzeinrichtungen sollten Betreuungsangebote für Gewaltopfer bereitstellen, die die Opfern bei der Bewältigung der psychischen Folgen einer Gewalterfahrung, wie zum Beispiel andauernde Schuld- und Schamgefühle, unterstützen.
  • Sensibilisierungskampagnen und Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen müssen sich sowohl an Männer als auch an Frauen richten. Männer sollten konstruktiv in Initiativen gegen die von einigen Männern verübte Gewalt gegen Frauen eingebunden werden.
  • Es ist zentral die Datenerhebung zu Gewalt gegen Frauen in den EU-Mitgliedstaaten zu verbessern und zwischen den Mitgliedstaaten zu harmonisieren.
    [Quelle:
    FRA]

Lasst uns doch mal darüber aufregen, warum genau diese Forderungen weder breit diskutiert noch umgesetzt werden!