Neulich habe ich von meiner Mutter geträumt.
Es war einer dieser Träume, in denen man unglaublich viel rennt, ganz dringend etwas erledigen muss, aber an den Menschen abprallt wie Regen auf Lotusblüten. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber es war ein Bild von meiner Mutter darin, das mich noch ein paar Stunden nach dem Aufwachen beschäftigte.
Dieses zusammengekrümmte Hocken, die eine Hand vor dem Bauch, nach unten atmend, die andere Hand stützt sich, ein Messer über Gemüse auf einem Schneidbrett haltend, an der Arbeitsfläche ab. Die Brauen sind zusammengezogen und von irgendwo in ihrem Brustkorb kommt ein Stöhnen.
Als ich 16 oder 17 war, habe ich ihr mal einen Brief geschrieben: “Wie kannst du nur – du solltest ihn verlassen blablablabla…” schön peinlich- sogar in Anbetracht jugendlicher Dummheit. Ich glaube, da stand sogar etwas von “Hast du mich denn je geliebt?” drin.
Ich habe natürlich nie eine Antwort auf den Brief erhalten. Auf die Frage nach ihrer Liebe für mich, gebe ich mir inzwischen selbst die Antwort: Ja klar!
Vor noch etwas längerer Zeit hatten wir darüber nachgedacht, was Liebe genau ist und, ob wir dazu fähig sind.
NakNak* wird in zwei Wochen 5 Jahre alt und ist damit unser längster sozialer Kontakt, der mit uns Dach, Bett und Futter teilt. Lieben wir sie?
Oder haben wir uns nicht doch eher freundlich zugeneigt und an ihr Dasein an unserer Seite gewöhnt? Was genau macht Liebe aus? Und was genau ist an Mutterliebe so wahnsinnig viel wichtiger, als an Vater- Tier- und Umweltliebe?
Ich stellte mir die letzte Frage, weil mir auffiel, dass ich immer wieder meine Mutter als erste Adressatin für die Frage nach Liebe für mich aussuchte. Immer wieder und bei so ziemlich allem, was ich tat. Obwohl ich noch den ganzen Rest der Familie zur Verfügung gehabt hatte.
So kam ich zu meinen Recherchen zum Mutterkult, der unter den Nazis hochgepusht wurde und bis heute seine Ausläufer hat, um Menschen, die zu Müttern werden, ein Ideal ins Leben zu donnern, das dort so überhaupt mal gar nichts zu suchen hat.
Meine Mutter war sehr jung- ist jung. Sie war sehr krank- ist noch immer krank. Sie hat sich an meinen Vater gewöhnt und nennt das Liebe. Vielleicht geht es ihm nicht anders. Wer weiß das und wen interessiert das? Geht es mich überhaupt etwas an?
Wer bin ich denn mehr, als ein Lebewesen, das aus Versehen in ihr wuchs und dann halt blieb?
Wenn ich mich in Literatur, Kunst und Film umschaue, begegnet mir Liebe immer wieder sehr umfassend. Tief bis in tiefste tiefe Fasern und immer steht ein Begehren im Vordergrund. Unwillkürlich tauchen vor meinem inneren Auge riesige Kraken auf, die einander aufzusaugen versuchen, ihre vielen Arme um einander herumwickeln und jede Zelle des Anderen in sich aufnehmen wollen. Ganz im Anderen aufzugehen- sich den Anderen ganz und gar- mit Haut und Haaren- zu nehmen; irgendwie, ja, fast anzueignen und mit einem befriedigten Schnurren in sich drin zu halten- noch während man selbst nicht mehr man selbst, sondern der Andere ist.
Im Fall der Fötenentwicklung ist das ja sogar gegeben. Die kleinen humanoiden Zellhaufen schwimmen in einem anderen humanoiden Zellhaufen herum und teilen sich mehr, als es nach der Trennung in irgendeiner Form wieder möglich sein kann. Könnte man hier von Liebe sprechen? Lasst uns mal einen Fötus fragen- oh wait!
Doch nun ein Sprung zu meinem peinlichen Brief.
Ich hatte damals noch genau diese Einstellung: Liebe kann alles schaffen und alles überwinden und Schwallablabla-Filmkitschblödsinn.
Fakt ist, das Liebe eben nicht alles schaffen kann.
Um zu verhindern was war, hätte meine Mutter mich gar nicht erst auswachsen und gebären lassen müssen. Sie hätte sich selbst den Gefahren eines Schwangerschaftsabbruchs aussetzen müssen und das war in der Zeit Schwachfug. Ich als kleiner Zellhaufen, Fötus und später Baby, Kind, erwachsener Mensch, habe ihr nicht gleichsam geschadet.
Ich glaube, dass ich eine ganze Tasche voller moralischer Empörungen über meiner Mutter ausschütten könnte, die alle mehr oder weniger zutreffend sind. Aber alle diese moralischen Überzeugungen fußen auf genau diesem Gerede davon, dass Mutterliebe und Liebe allgemein, zwingend Respekt, Schutz, Annahme, Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Nähe, Wärme, Nährung und geistig emotionale Verbundenheit zur Folge haben müssen. Ganz besonders, wenn der eine Mensch den anderen Menschen geboren hat.
Entweder bin ich seelisch so kaputt, dass ich moralisch falsch liebe oder Liebe, die Moral hinter sich herzieht ist etwas, das ein Ideal produziert, dem nur entsprechen kann, wer bereitwillig sein Selbst in anderen Menschen auflöst und in sachtem Gegurgel verdauen lässt (um dann in kleinste Teilchen zerhäckselt ausgeschissen zu werden und schwer zu leiden).
Was ich hingegen glaube ist, dass meine Mutter mich und uns und auch sich selbst, mit mehr moralischer Festigkeit hätte besser leben lassen können.
Doch wer bin ich, dass ich über ihre Festigkeit zu richten habe? Vielleicht tuckert in ihrem Herzen doch ein kleiner Kaffeefrachter voller Respekt vor dem Leben anderer Menschen herum, doch kann nirgends andocken, um seine Fracht abzuladen?
Ich bin ihr, der Natur, G’tt dankbar, dass ich leben kann. Dankbar- nicht von Liebe und Hingabe erfüllt, dass es mir fast übern Rand schwappt.
Ich versuche diese Werte von positiver Widmung, Achtung vor der Unantastbarkeit des Inneren anderer Menschen, Hingabe ans Leben mit all seinen Facetten zu leben und bilde mir ein, dass ich so auf diese Art ein Lieben praktiziere, das mich eben nicht dazu zwingt, mich ganz in anderen Menschen zu verlieren oder ihnen so nah zu treten, dass ich ihnen Briefe, wie den an meine Mutter schreibe.
Meine Mutter hätte nichts verhindern können, ohne sich selbst zu gefährden.
Das war zu meiner Entstehung so und das ist bis heute so.
Was wäre das für ein Totalausfall von mir, zu verlangen, dass sie sich für mich zu opfern hat?! Und warum ausgerechnet sie und nicht mein Vater, meine Geschwister, meine Großeltern- meine LehrerInnen, ErzieherInnen- die Nachbarn, die Freunde* und deren Eltern? Sie alle hätten mir damals helfen können.
Mir ist das Bild, das ich im Traum sah, nachgehangen, weil es das Einzige ist, das sie nicht stark, durchsetzungsfähig, und wandelbar zeigt. Sie wirkt nicht schwach auf mich, sondern gequält und damit in höchster Gefahr.
Das entschuldigt nicht. Aber es macht mein Bild, in dem ich mich/uns positionieren kann, klarer.
Ich muss mich heute damit abfinden, dass mein Bild von meiner Familie* wohl nie, von meiner Familie* selbst korrigiert oder berichtigt oder gar um noch mehr Facetten erweitert wird. Das ist ein Verlust für mich und darum trauere ich manchmal.
Meistens aber bin ich froh um den Abstand zwischen uns.
Bin froh, dass ich meine Dankbarkeit für mein Leben fühlen kann und von dem Früher räumlich, wie zeitlich so entfernt bin, wie heute.
Ich glaube, wir würden uns immer wieder in Gewalten wiederfinden, wenn wir Kontakt hätten.
Doch ich habe mich dagegen entschieden.
Vielleicht war mein Wunsch, dass sie ihn verlässt davon getragen:
Ich bin gegangen- geh du doch auch!
Es wäre schön, mein gewaltfreies Einsamkeitsexil ohne familiäre Bezüge mit ihr zu teilen. Eine Verbündete zu haben, die weiß was es heißt, ein weiblicher Mensch in dieser Familie* gewesen zu sein. Die mit mir zusammen erkundet, wie es ist ein weiblicher Mensch in dieser Welt zu sein. Die mir erinnern und integrieren hilft. Mit der zusammen ich wachsen könnte. Vielleicht Stärke ansammeln und Qualen abstreifen könnte.
Ja. Das wäre schön.
Aber sie hat keinen Grund zu gehen oder genau das auch schön zu finden- oder gar zu wünschen.
Sie hat aber tausend Gründe, genau das eben nicht zu tun.