Gestern Abend hatte ich es mal wieder in der Hand
“… und besiege die Finsternis” von Marie Balter, geboren 1930.
Psychiatriepatientin. 20 Jahre lang.
In den Anstalten der 50 er Jahre.
Zu Zeiten der massenhaften Medikalisierung. E- Eis- Insulinschock- Folter im Namen der medizinischen Hilfe.
Das ist keine leichte Kost. Aber ich mochte das Buch.
Sie hat überlebt, wurde Ärztin und sprach dann für die Betroffenen. Sie ist 1999 verstorben.
Das letzte Kapitel des Buches heißt “Eine Stimme für die psychisch Kranken”.
Damals, als ich das Buch zum ersten Mal las, verbrachte ich die meiste Zeit des Lesens getriggert und mich und mein Leiden kleinredend.
Das letzte Kapitel erschien mir so wohltuend in all dem, was dort steht.
Sie schreibt von ihren Vorträgen, den Reaktionen der ZuhörerInnen, aufbauschenden, oberflächlichen JournalistInnen, ihrer Angst abzustumpfen, ihren Gebeten, den Menschen, denen sie bei der Verfilmung ihres Lebens begegnete.
Und: “Anderen Menschen Hoffnung zu bringen, heißt ihnen die Macht geben zu ändern, was sie bedrückt. Wir, die wir Möglichkeit haben, müssen sie nutzen. Doch das darf nicht so weit gehen, dass andere nicht mehr eigenständig handeln können.”
Vor 2 Wochen habe ich das Exposé für mein Buch bei einer Literaturagentur landen lassen. Als Leseprobe ist ein Artikel dabei, der meine Zeit in einer der vielen Kinder- und Jugendpsychiatrien aufnimmt. Ich glaube nicht, dass ich damit Hoffnung verbreite.
Mir fiel aber auch auf, dass ich denke: “Ja haaaa ICH muss anderen Menschen Hoffnung geben, denn ich habe ja überlebt. ICH muss den Menschen ja sagen, dass man das alles überleben kann. Und das dann alles besser ist…”. Ich merke, dass ich mir schon wieder ein Kostüm in einem Schrank anschaue, das mir weder passt noch gefällt. Das ich mir aber natürlich trotzdem anziehen würde, weil … darum.
Während bei vielen Vielen das Thema “Überlebensschuld” kreiselt, kreiselt bei mir “Überlebensverpflichtungen”. Immer wieder der Komplex: “Ich habe überlebt und jetzt? Was gebe ich jetzt zurück und wie stelle ich das an?”.
Ich glaube nicht, dass ich heute keine Psychiatriepatientin mehr bin (oder auch die Gewalt überlebte, die mich dort hinbrachte), weil meine Seele so besonders stark ist, oder weil in mir irgendein Schalter umgelegt wurde, der mich zu neuer Hoffnung und Kraft brachte. Ich glaube auch nicht, dass ich überlebt habe, weil an oder in mir irgendetwas ist, dass mich durch die Momente der Todesnähe trug und etwas zu erhalten vermochte, als scheinbar nichts (und niemand) mehr in mir war.
Ich weiß, dass ich keine Schuld an meinem Überleben trage, weil niemand Schuld an seinem Sterben trägt.
Aber ich merke, dass ich nicht nur etwas überlebt habe, sondern auch von etwas zeuge. Meine Schäden sind ein Er-Zeugnis der Gewalt. Wenn ich beschreibe, was ich sah und erlebte, dann ist es eine Art Zeugnis ablegen von dem, was für andere- die Verschonten, die Ungeschlagen, wie C. Emcke sie so treffend nennt, unsichtbar, unerlebt- und un- über-lebt ist.
Das Überleben ist mir einfach so passiert. Ich habe weder darum gebeten, noch dafür gekämpft.
Die Lebensrealität in der ich und die Zerstörung an mir unsichtbar sind, und sogar gehalten werden, hingegen, betrachte ich als unbedingt zu verändern. Denn es ist eben genau die Unsichtbarkeit, in der Gewalt geboren und genährt wird. Es ist immer wieder genau das Moment, in dem man Gewalt nicht Gewalt nennt, auch das Moment, in dem Gewalt triumphiert und sich weitere Opfer einverleibt.
Ich stelle mir nicht die Frage “Warum ist mir das passiert?” oder “Warum habe ich überlebt, aber dieser und jener Mensch nicht?”.
Ich habe meine Antworten dazu und daraus eben auch die Anforderung an mich, zu verhindern, dass es anderen Menschen auch so ergeht. Dieser Überlebenskult, diese Mystifizierung des Überlebens und dessen, was es abverlangt, ist in meinen Augen eine zwar nachvollziehbare menschliche Eigenschaft, doch nicht hilfreich, wenn es darum geht, einen Weg zu gehen, der ohne Gewalten auskommt und so immer wieder Menschen zum Überleben zwingt.
Es kann nicht sein, dass wir in einer Gesellschaft leben, der es einerseits völlig egal sein kann und darf, was in Psychiatrie, Heim, Gefängnis, Misshandlungsfamilie passiert, die Überlebenden dann aber in eine Position bringen darf, in der besonders wertvolle Eigenschaften impliziert sind, die sich zeigten, als es dieses Umfeld und die ihm inne liegende Gewalt, abverlangte!
Marie Balter hatte zu ihrer Zeit immer wieder betont, dass es nicht reicht, die Menschen rauszuholen. Sie war eine der ersten, die darauf zeigte, wie unterschiedlich die Welten “Psychiatrie” und “draußen” sind. Was es für einen krassen Bruch bedeutet von der Rechtlosigkeit in die Stigmatisierung; aus dem Klima eines menschenverachtenden Nihilismus in ein Klima des Anspruchs dem (noch bzw. nicht immer sofort) zu entsprechen ist, zu gehen.
Sie sagte immer wieder, wie wichtig es ist, dass entlassene Menschen aufgefangen werden und Orientierungshilfen bekommen.
Heute gibt es Peer to Peer- Hilfen, ambulante Betreuungen, ein bis heute ausbaufähiges obgleich immer weiter zusammengespartes und so dauermarodes System von Hilfen, die Menschen über den Bruch helfen und in ein Leben in Eigenständigkeit hinein begleiten soll.
Aber Gewalt taucht in all dem als Begriff nicht auf.
Hilfe darf nicht auch Gewalt genannt werden, obwohl hier und da schon Verknüpfungen bekannt sind, beobachtet werden und Überlegungen angestellt werden, wie sie zu verhindern sein könnten. Alles natürlich systemimmanent und orientiert am Status Quo, den zu hinterfragen komplex und unbequem ist.
Ich habe das Buch weggetauscht und werde es auf die Reise schicken.
Gestern dachte ich noch, dass ich in der Geschichte so viel Schönes gelesen habe und nicht noch einmal groß darüber nachdenken möchte. Heute ist mir klar, dass ich diesen Absatz “Anderen Menschen Hoffnung zu bringen, heißt ihnen die Macht geben zu ändern, was sie bedrückt. Wir, die wir Möglichkeit haben, müssen sie nutzen.” in meinem Denken umändern muss.
Vielleicht in “Anderen Menschen von der Dunkelheit erzählen, heißt ihnen Macht zu geben Licht zu verbreiten. Wir, die wir beides kennen und die Möglichkeiten haben, müssen sie nutzen.”.
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