alle sind immer genug

Es berührte mich mit Verspätung und unerwartet. Unerwartet, weil ich dachte, schon alles erfasst, verstanden und ins Außen gebracht zu haben. Aber vielleicht auch nicht? Ich kann mich nicht darauf verlassen und das ist ein Trigger. So offensichtlich wie ein 500 Kilo-Findling auf englischem Rasen. Jetzt.

*

Ich bin sehr froh darum, mit meiner Therapeutin sprechen zu können und einen Raum zu haben, in dem ich von Dingen befreit bin, wie „DIE Wahrheit“, „den Leuten“ oder „DER Normalität“. Ich vergesse manchmal, dass das nicht bedeutet, auch einen Raum zu haben, in dem ich nicht ganz genau darauf achten muss, was wie verstanden wird. In dem ich nicht einfach annehmen kann, dass ich in allen Selbstzuständen schon richtig verstanden werde. Ohne nochmal zu prüfen. Nochmal zu fragen. Und dann nochmal, weil es einfach nicht so einfach ist, sondern viel, komplex, alles.

Manchmal denke ich, dass sie mir in allem voraus ist, weil sie viel schneller als ich versteht oder einfach weiß?, welche Gefühle mit Geteiltem einhergehen. Dann aber gibt es diese Momente, in denen ich merke: Das sind oft Annahmen. Annahmen, die ebenfalls oft passen und wichtig sind und eigentlich ist alles gut damit, aber … es sind Glückstreffer. Glück für mich, weil ich so über die Therapeutin in Kontakt mit mir komme, aber sollte das nicht mehr sein?
Vielleicht nicht. Ich habe für mein Buch so viele Studien zur Kommunikation zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen gelesen, dass ich fast sagen würde: Jo, das ist typisch. Der Großteil der nicht-autistischen Kommunikation fußt auf routiniert getroffenen Annahmen über mehr oder weniger diffuse Reize. Glück ist darin nur, dass es mehr nicht-autistische als autistische Menschen gibt, die miteinander kommunizieren. So fällt es nicht auf. Und wenn doch, kann es jedem passieren. Nicht schlimm. Bis sich herausstellt, dass man (sich) als nicht-autistischer Mensch mit dem autistischen Gegenüber einfach sehr sehr oft nicht (richtig) versteht. Dann wirds anstrengend. Oft zu anstrengend.

Da ist die Gefahr von routinemäßigem Erfolg. Die Gewohnheit, immer richtigzuliegen. Das Sicherheitsgefühl. Die Überzeugung: „Ich weiß schon Bescheid, hier Checkbox 1 bis 5 passt, es kann nur Tor 3 sein, ein Zonk ist nicht dahinter zu erwarten.“ Aber dann ist da einer. Und es ist nicht einfach nur ein Irrtum oder ein Missverständnis, das man einfach ausräumen kann, indem man etwas auf andere Art formuliert oder strukturiert, sondern etwas, das aufzeigt, dass Checkbox 1, 3 und 4 doch nicht passen. Dass es nicht nur um ein Missverständnis geht, sondern um vier.
Ich weiß nicht, wie das für meine Therapeutin ist. Ich hoffe, dass sie Umgänge damit gefunden hat, die sie nicht entmutigen, frustrieren oder an sich selbst anzweifeln lassen. Hoffe einfach ins Tiefblaue hinein, dass sie nicht glaubt, ich könne ihr (ableistisch-) eigentlich besser helfen zu verstehen oder „in Wahrheit“ ja doch alles einfach aufklären.
Das ist nämlich meine Angst. Dass sie meine Fähigkeiten zur Auflösung ihrer Frustration oder Anstrengung in solchen Missverständnissen braucht, um dranzubleiben, aber ich kann sie nicht geben, weil ich wirklich und echt und tatsächlich – like profoundly, bottomline of all – nicht kann. Weder als Hannah, erwachsen, alltagsfähig und voller Bemühen um funktionierende Kommunikation mit dem Außen – noch in kindlichen oder jugendlichen Selbstzuständen, die weder erwachsen, noch in meinem Alltag problemlos fähig sind und in der Regel mehr oder weniger verzweifelt, frustriert, gekränkt, hoffnungslos, ohnmächtig, hilflos, überanstrengt vor den Herausforderungen der Kommunikation mit dem Außen stehen.

In den letzten Monaten waren wir so gut in der Arbeit zusammen. Und jetzt ist da wieder so eine Schleife. Eine etwa 30 Jahre alte in mir und eine, die ich mir als nachhaltig für immer aufgelöste und nie wieder auftauchend gewünscht hatte, in unserem Gespräch. Und vor beidem stehe ich mit so wenig. Kann ich so ganz offenkundig wenig tun, dass es möglicherweise nichts ist.
Ich könnte alles verlieren, denke ich. Alles könnte kaputtgehen. Es hängt alles von mir ab und ich versage. Ich bin schuld. Ich habe es ausgelöst, ohne es auflösen zu können. Wie unbedacht, unvorsichtig, dumm kann man sein. Ich habe nicht anders verdient, als dass alles kaputtgeht. Ich habe nicht genug getan. War nicht eindeutig, nicht eindeutlich genug. Bin einfach nicht genug. Das ist die nächste Schleife. Meine schöne Coping-Strategie aus autopoietischem Selbsthass, um bloß nicht zu viel Raum für die Möglichkeit entstehen zu lassen, dass es vielleicht natürlich, logisch, einfach so ist, dass man dann nicht viel tun kann. Oder auch nichts.

Neulich habe ich meinen ersten Wildunfall mit dem Auto gehabt. Ich habe einen Sperling angefahren. Sah ihn im Rückspiegel noch auf der Fahrbahn wild flattern, doch als ich umgekehrt war, hatte ein anderes Auto ihn schon totgefahren. Tagelang hatte ich das Bedürfnis, nochmal in die Situation zu können. Vor ihm abgebremst zu haben, sofort angehalten zu haben. Ich hätte ihn hochnehmen können – mich hätte das andere Auto nicht überfahren. Ich hätte ihn retten können, konnte aber nicht. Ich konnte in dem Moment noch nicht und ich kann jetzt nicht mehr. Es ist passiert und für immer so wie es war. Schlimm, traurig, tödlich, unbeabsichtigt.

Miss- und Unverständnisse erlebe ich nicht so selten wie Wildunfälle, aber ihre Wirkung in Bezug auf meine Ohnmachtsgefühle sind sich sehr ähnlich, nämlich traumanah. Ich denke mich darin automatisch ganz allein. Allein verantwortlich, allein betroffen, allein gelassen. Obwohl das nur in Bezug auf die traumatisierende Situation stimmt.
Ich kann durchaus sehen, dass ich nicht alleinverantwortlich für die Kommunikation in der Therapie bin. Dass ich schon getan hab, was ich konnte, weil ich mehr nicht kann. Ich weiß, dass es nicht meine Aufgabe als Patientin ist, passend für die Therapeutin oder das Therapiekonzept zu sein. Aber die Konsequenz dieses Wissens ist, dass ich etwas von meiner Therapeutin erwarten könnte. Und das macht mir Angst. Wieder irgendwas Traumanahes. Die nächste Kaskade, die mich erniedrigt, allein, weil da die Gefahr besteht eine Möglichkeit ist, dass unser Kontakt nicht nur für mich mit Anstrengung, Arbeit, dem Stoßen an Grenzen des Könnens verbunden ist, sondern auch für sie. Ich sie also nicht geschützt, nicht bewahrt, nicht verschont habe zu empfinden, was mich so oft im Leben schon gequält hat. Als wäre das etwas, das ich könnte. Das irgendwer könnte.
Kurz bin ich in dem Gedanken, dass der Kontakt mit mir einfach immer schwer ist. Immer anstrengend und viel. Wie unfassbar leid mir tut, dass es mich überhaupt noch gibt, obwohl das doch niemand wollen kann. Niemand kann doch wollen, dass so eine Belastung weiter besteht. Ich merke, wie es an mir zieht, das zu beenden. Aus dem Kontakt zu gehen, die Therapie zu beenden, meine Campingausstattung zusammenzupacken und wegzugehen. Fernwandern. Raus, weg, vielleicht plumpse ich unterwegs in eine Gletscherspalte oder werde von einem Problembären gegessen. Mutter Erde knows best how to manage Ballastexistenzen, darum brauche ich mich dann nicht mehr kümmern.

Da ist sie also. Die Gewalt, die ich mir selbst antue, um meine Gefühle der Trennung kongruent zur Situation zu machen. Gewalt kann das einfach so gut. Trennen, spalten, dissoziieren. Das funktioniert so zuverlässig.
Aber das ist nicht, was ich will. Für kurz war es jetzt aber vielleicht wichtig das zu glauben. Um es zu wissen.

*

Vielleicht muss man den Trigger manchmal ganz durchfühlen. Bis zum Schluss durchmachen – so weit, bis man wirklich kurz davor ist, die Koffer zu packen oder sich das Leben zu nehmen, um leichter an den Punkt zu kommen, an dem man sich fragt, was man eigentlich wollte. Ob man das wollte – getrennt sein von allen und allem – oder doch etwas anderes. Was man sich (noch) nicht zu wünschen traut, erlaubt oder zu wünschen aushalten kann. Oder, was (möglicherweise nur jetzt gerade in diesem Moment) einfach noch nicht funktioniert. Oder insgesamt unmöglich ist, aber nicht unersetzbar.

Ich wünsche mir, dass meine Therapeutin mit mir im Kontakt ist. Nicht mit Ideen von mir, die sie sich macht, weil sie Annahmen folgt, die sich aus Begriffen entwickeln, die wir unterschiedlich mit Bedeutung füllen. Wenn wir das hinkriegen (und wir haben das schon hingekriegt), dann fühle ich mich verbunden mit ihr. Nicht allein. Nicht getrennt. Sehr eindeutlich anders als traumanah. Das will ich. Das will ich nicht kaputtmachen, nicht verlieren. Das würde niemand verlieren wollen. Niemand hätte es verdient, das zu verlieren. Egal, wie viel oder wenig sie_r dafür tun kann. Alle sind immer genug für Kontakt, Beziehung, Verbindung.
Alle sind immer genug.

Zeitsplitterbomben

„Erinnerungen sind wie Zeitbomben“ – ein Zitat eines Zitates in der Podcastserie „Vor aller Augen“ der Süddeutschen Zeitung. Renate Bühn spricht über ihre Erfahrungen, es ist die 5. Folge. Endlich spricht ein Opfer und rückt die Taten und Täter_innen, die Ermittlungen und Strafprozesse aus dem Fokus.
Ich sitze am Bahnhof. Die Sonne scheint, hinter mir liegt eine Therapiestunde, ich fühle mich wie ein Zeitsplitterbombenopfer. Übersät, durchdrungen, übriggeblieben.

Am Ende war es darum gegangen, dass eigentlich immer das Gleiche passiert ist. Eigentlich wurde immer jemand verletzt und das wars. Ganz abstrakt ist das alles, was passiert ist. Eine Sache, ganz kompakt. Also eigentlich … nichts.
Die Haare auf meinen Unterarmen zittern im Wind wie die Halme des verbrannten Grases überall. Im Podcast sprach man über ungeahnte Ausmaße, über Materialmassen, die nur mit erheblichem Aufwand und persönlichem Einsatz händelbar seien, ich spreche mit mir selbst darüber, wie erbärmlich meine Erleichterung über den Gedanken ist, dass sich heute vermutlich kaum noch analoges Material im Umlauf befindet. „Terabyte von Material“, immer das gleiche und gleiche und gleiche, immer wurde jemand verletzt und das wars.

„Terabyte Nichts, oder was?“ Eine schwere Stirn schiebt sich in meine, zerbröselt meinen Fluchtweg in die Vermeidung.
Nein, nicht Nichts. Sowieso nicht. Aber vielleicht haben wir ein Splitter-, ein Fragment-, ein Müsliproblem? Ich fühle mich merkwürdig verbunden mit den Polizist_innen und ihren Helfer_innen in der Datenauswertung. Terabyte Splittermaterial von Gewalt, die über Stunden, Tage, Monate, Jahre passiert ist, landet Festplatte für Festplatte auf ihrem Arbeitsplatz. Ein Ding, eine Zeitsplitterbombe aus dem Leben eines Opfers, die beschriftet, gesichtet, sortiert, und archiviert wird; von mehreren Beamt_innen, die das Opfer nie kennenlernen werden, nie anders mit ihm zu tun haben werden, als in größter Not, schwerster Pein. Opfern, die für die Sortage mit dem Splittermaterial in ihnen drin vielleicht zur Psychotherapie gehen. Wenn sie einen Platz bekommen. Und dort sortieren dürfen. Können. 50 Minuten pro Woche, bis die Krankenkasse nicht mehr zahlt.

„Wir haben Terabyte Material in uns drin“. Das denkt R., ich fühle es. Wir spüren einander beim Trinken, trennen uns wieder, als eine Lautsprecherdurchsage durch die Kopfhörer schießt. Es ist immer das gleiche und gleiche und gleiche. Und es ist immer wieder etwas. Etwas noch mehr. Etwas wieder schlimmes. Etwas ((schon) (wieder)) unaushaltbares. Etwas anderes. Etwas mit jemand anderem und deshalb neu, anders, wieder gleich und gleich und gleich.
Und wir haben nur uns, das zu sichten. Zu sortieren. Nur unser Gehirn als Archiv zur Verfügung. Und die Splitter sind überall. Nicht alle kann ich fühlen. Von vielen weiß ich nicht einmal. „Und die meisten lässt du bei uns. Als wenn wir deine Polizei wärn, aber in Wahrheit sind wir …“
Sie sagts nicht. Denkts auch nicht. Kanns genauso wenig aushalten wie ich. Der Zug fährt ein, wir schalten um auf Musik.
calm like a bomb“.

Worte

Am Morgen lag ein Amselweibchen neben meinem Schreibtisch. Die Augen geschlossen, die Schnabelspitze in einer kleinen Blutlache. Tot.
Sie musste in den frühen Morgenstunden durch das offene Flurfenster und gegen das nur gekippte Bürofenster geflogen sein.
Ich legte sie mir auf den Schoß und öffnete mir einen Raum zu verstehen, was passiert war. Ein Unfall. Eine Tragödie. Etwas, was noch nie passiert ist, ist passiert und endete unglücklich. Tödlich. Endgültig. Für immer.

Ich wartete auf F.. Wusste, dass sie ein Foto machen wollen würde. Dass sie sie anfassen wollen würde. Wusste, dass „tot sein“ in ihrer Kinderinnenwelt etwas anderes ist. Dass sie einen unbewortbaren Unterschied zwischen all den toten Meisenküken, Spatzenkindern, Rehkitzen, den gestorbenen Hunden und Katzen, Igeln und Füchsen, die sie schon fotografiert hat und ihrem Sterben in Gewaltsituationen macht, aber beides „tot sein“ nennt.

Wir haben in den letzten Wochen viel mit F. gearbeitet, weil der Krieg viele Traumawahrheiten hochgespült hat. Viele Pflichtgefühle, Verantwortungsübernahmen, Verwirrung und Unsicherheit. Tod und Sterben tauchten dabei immer wieder auf und immer wieder die Idee, der Gedanke, das Konzept eines unendlichen Sterbens. Eines, das kommt und geht, passiert und in scheinbar anlassloser Geburt endet. Eben, das Sterben, das ein chronisch dissoziierendes Kind erlebt, das ohnmächtig wird, weil der Schmerz zu groß ist. Das den eigenen Tod entsprechend vielleicht gar nicht schlimm findet, weil es ein Ende von etwas ist, das es nicht selbst beenden kann.
Es verändert das eigene Leiden; es entsteht eine ganz andere Todesangst, wenn man weiß, dass es ein Ende gibt, das nicht wirklich das Ende ist. Eine ganz andere Bereitschaft zum Leben in Gewalt und unter Menschen, die sie ausüben.

Ich wollte ihr das nicht nehmen. Und hatte doch keine andere Wahl, denn wir leben nicht mehr unter Menschen, die uns in die Ohnmacht quälen oder wie selbstverständlich oder zwingend nötig verletzen. In unserem Leben heute, braucht sie die Sicherheit um diesen Ausweg nicht mehr. Es gibt andere Sicherheiten. Etwa die, dass sie überlebt hat. Dass es vorbei ist. Dass sie nie wieder so sterben muss wie früher, weil sie nie wirklich gestorben ist.

Unsere Therapeutin hatte immer wieder versucht, ihr das klarzumachen. In der letzten Stunde entstand ein kleiner Raum um die Worte Tod, Sterben und tot sein. Ein „Frau N. sagt …“ -Raum, der mit seinen Inhalten besteht, aber noch keine Verbindung mit den inneren Räumen hat.
Die tote Amsel hat die Verbindung hergestellt. Eine gleichzeitige Präsenz der Worträume ermöglicht und mit meinem Verstehen verknüpft.

Die Amsel ist tot. Für immer. Das ist deckungsgleich mit dem, was Frau N. über das Sterben, den Tod und das tot sein gesagt hat. Es ist nicht, was sich für F. wie Sterben und tot sein angefühlt hat.
Was F. über ihr Gefühl gesagt hat, ist ein Vergleich. Keine Benennung. Ihre Worte eine Art geistiges Pflaster, damit etwas ist, wo sie nichts hat, spürt, konkret beworten kann. Vielleicht, weil sie damals dissoziiert war, vielleicht weil der Schmerz keine andere Reizinformation mehr aufzunehmen möglich gemacht hat.
In jedem Fall ist es eine Kompensationsstrategie zur Vermeidung (gewesen). Sowohl in Bezug auf die Gewalterfahrung als auch die Dissoziation. Genau wie ich hat sie eine Lücke mit Worten geschlossen, weil es keine gab und vielleicht auch nie gibt.
Ich weiß, dass ich damit eigentlich einen Gegensatz beschreibe, aber es ist keiner. Nicht wirklich. Ich kann es nur nicht anders beworten.

F. hat das Foto gemacht. Einige Stunden später haben wir mit der Therapeutin gesprochen. Ich merke Verschiebungen und Auflösungen in mir, die ich nicht beworten kann. Muss mich immer wieder aus jugendlichen Furcht- bis Angstkreiseln lösen, die Therapeutin könnte von mir verlangen Worte zu finden, die ihr Verständnis ermöglichen. Immer wieder merke ich, wie sehr es mich be.trifft, belastet, verzweifelt mich nur über Worte verbinden zu können. Nie mein Empfinden, mein Verstehen konkret teilen zu können.

Trauma wird oft mit Sprachlosigkeit verknüpft. Irgendwie scheinen sich alle damit abgefunden haben, dass Überlebende immer auf einem Stück Sprachlosigkeit für ihre Wunde sitzen bleiben. Als müsse man einfach akzeptieren, dass man nicht alles benennen kann oder manches einfach mit Worten nicht zu fassen ist.
Ich hingegen finde eigentlich für alles Worte und denke mir welche aus, wenn es keine gibt. Aber das ist nicht das gleiche wie Verstehen, Verbindung – etwas sagen.

Worte sind wie Brotkrumen, dachte ich später an dem Morgen, nachdem mir aufgefallen war, dass die ersten Worte des Partners über die tote Amsel die gleichen waren wie meine: „Oh nein“.
Sie sind ein Hinweis. Eine Fährte.
Nicht mehr, nicht weniger.

Leider.

Wunden und Narben

Zum Geburtstag schenkte mir jemand das Arbeitsbuch zum Buch „Leben, Schreiben, Atmen“. Es ist ein rotes Buch mit Leineneinband, „Eine Einladung zum Schreiben“. Es enthält Schlagwörter, zu denen man schreiben kann, auf drei nachfolgenden zart linierten Seiten.

Von Anfang an schreibe ich dort Traumazeugs rein und schockiere mich damit selbst. Üben wollte ich leichter zu schreiben. Weg von der Schwere, von dem Schmerz, hin in die süße Oberflächlichkeit des Hier und Jetzt. Aber sie stellt sich einfach nicht ein. Der Text über Gummibärchen wurde ein Text über Suizidalität, der über Betten einer, den ich nicht mal nachlesen will. Jetzt liegt das Buch neben mir und die Überschrift: „Wunden und Narben“ schaut daraus hervor. Ich hab kurz aufgelacht. Das kürzeste Lachen – ha! – das wie Luftkotze aus meinem Hals kommt, um ohne Echo in der Mundhöhle zu sterben.

Vorhin habe ich irgendwo gelesen, kPTBS sei eine Wunde und keine Identität. Das hat mich geärgert, wie immer. KPTBS ist eine These. Ein Gedankenstück. Eine arbiträre Kategorie. Sie ist nichts weiter als eine geordnete Grabbelkiste ferner Beobachter_innen. Eine Diagnose, ein Werkzeug in einer Arbeit, die nichts produziert, um den eigenen Körper am Leben zu erhalten. Eine Diagnose kann nicht verwunden. Sie kann nur kommunizieren, dass eine Wunde vorliegt. Und das kann eine Identifizierung ermöglichen. Und Identität herstellen. Weil äußere Ordnung und inneres Erleben kongruent – identisch – werden.
Dass über diese Dinge, diese Vorgänge so undifferenziert gesprochen und nachgedacht wird, schlägt mir Wunden, die nicht bluten. Manchmal merke ich, dass ich da etwas verwechsle oder vermische. Und manchmal weigere ich mich, meine Verletzungsgefühle ausschließlich alten Wunden zuzuordnen. Ich habe so viel Mühe, so viel Arbeit damit zu verstehen, wovon Menschen sprechen. Bin so stark davon abhängig, dass ich die verwendeten Ordnungssysteme anderer Menschen verstehe, um überhaupt eine Chance zu bekommen, ihre Worte und Aussagen mit ihrem Werten und Verhalten in Verbindung zu bringen. Wenn sie uneindeutigen Kram sagen, dann kränkt mich das. Macht mich hilflos. Verständnislos. Un_Einsichtig. Es trennt mich, isoliert mich. Meine Arbeit war umsonst und mein Schmerz daran wird wundlos.
Ich habe gelernt zu denken, dass das ohne Absicht passiert. Zu akzeptieren, dass ich in diesem Vorgang keine Rolle spiele. Mein Schmerz einen Anlass hat, aber keine reale, greifbare, veränderbare Ursache, weil die Kongruenz mit dem Außen fehlt. Und dass dies das wahrhaftig aut.istische Moment in meiner Existenz ist. Und der Trigger.

Denn in keinem anderen Moment im Leben ist man so. So grundlegend nicht und gleichzeitig ganz. Das ist das Inmitten eines Traumas. Das Moment, in dem alle Grenzen gleichzeitig gesprengt sind, jede Verbindung gekappt, jeder Sinn sich selbst entrissen ist. Man würde all das nicht spüren, wäre man tot – doch weil es passiert, ist man nicht mehr.

Wunden sind so harmlos daneben. Und Narben erst. Was können die uns schon sagen, was über sie hinaus geht? Wofür außer sich selbst können sie stehen? Für nichts. Sie sind reine Projektionsflächen. In meinem Fall eine ribbelige, weißlich glänzende Projektionsfläche, die manche Menschen ins schweigende Gaffen, andere ins abwertende Urteilen über mich bringt.
Sie sind Reste von etwas, über das man nie im Leben kongruent sein kann. Außer vielleicht, wenn man stirbt. Oder geboren wird. Beides kann man schlecht herausfinden, denn das Leben selbst ist die letzte Grenze, die man wundlos durchbricht.

Ja, wie es aussieht, kann ich da wirklich nichts Einfaches, Leichtes, Fluffiges reinschreiben.

die letzte Etappe

Ich saß in Emden. Gerade angekommen, mariniert in Sonnencreme-Rest und eingeschweißt von 42 Kilometern auf dem Fahrrad. Am Morgen hatte ich den Rücken eines verirrten Schafkindes berührt, nun zupfte ich mein T-Shirt vom Rücken. Die Sonne stand hoch, die Bedeutung dessen, was der Fahrradhandwerker zum Raspeln meiner Kette sagte, sickerte langsam ein.

Meine Radtour würde nun also ihr Ende finden. Noch die gut 23 Kilometer bis Greetsiel, dann ist Schluss. Kette verschlissen, Ritzel hin, am Montag in die Werkstatt.
Ich kaufte mir ein Eis, ein anderes als sonst, damit die außerordentliche Andersheit dessen, was Urlaub ist, nicht von meiner Routine beeinflusst wird. Denn das soll es ja sein: Ein Bruch, ein Anders, ein Raus aus dem Wieimmer. Die geplante Überstrapazierung der Kapazitäten zwecks ultimativer Energiereservenentleerung, mit dem Ziel zu schauen, was sie aktuell effektiv wieder auflädt und was nicht. Ich kann mir so etwas nur im Urlaub erlauben – im normalen Alltag ist so eine Versuchsanordnung, so eine Forschungsstrecke kaum möglich. Viel zu viel Ablenkung, viel zu viel Anpassungsdruck.

Mit geringer Energiereserve steigt meine Triggerbarkeit, es sinkt aber auch die Anzahl der Fucks, die ich auf meine Anpassung gebe, um damit umzugehen. So bewegte ich die Kiwischeibe in meinem Mund herum und spuckte sie aus, als mir das Knirschen der Kernchen im Mund zu unangenehm wurde. Eine Person in luftiger Sommerkleidung schaute mich an. Neutral vielleicht. Oder nicht? Sie wandte den Blick ab, ließ mich ohne weiteren Hinweis auf ihre Gedanken und Gefühle zurück. Ich hob das Eis an meinen Mund und erinnerte mich an meine Mutter. Eis essen und Kaffee trinken gehen. In der Innenstadt. Ein Mal im Sommer, ein Mal im Herbst oder Winter. Beim zweiten Mal definitiv nach der offiziellen Anerkennung meiner Klatsche. Sie hatte mir Fragen gestellt, meine Antworten haben sie fast zum Weinen gebracht. Ich war ehrlich, sie überfordert.

So wie ich mich gerade fühlte, hat sie sich vielleicht damals gefühlt. Was geht in dir vor?
Und ich, damals wie heute, fast ertrinkend und erblindet im Geklapper von Tassen auf Tellern, Gesprächen und dem Glockenspiel direkt über uns. Bemüht, aber unzureichend. Bindungswillig, aber unfähig. Das Eis lecker, der Kaffee gut, die Sonne schön, die Zeit mit einem Elter allein, ganz wunderbar – und zerreißend schlimm. Weil die Kluft einfach da ist. Unüberwindlich. Die Dissoziation der Gewalt, das Alter, die Er_Lebensrealitäten. Meine Welt war noch so wortlos und ihre Versuche nach mir zu greifen, mich zu halten vielleicht, so vergeblich. Nicht weil ich ein bockiger Teenie war, nicht, weil sie schon allein zum Selbstschutz gar nicht so richtig wirklich mit mir verbunden sein konnte, sondern einfach nur…
weil da etwas fehlte.
Nicht Liebe. Nicht Zugehörigkeit. Und auch nicht der Wille zum Miteinander.
Sondern einfach … dieser eine Klick.
Vielleicht der letzte Dreh, das letzte kleine Ruckeln oder Drücken, das Zahnräder verbindet, Puzzle zusammenfügt, B auf A folgen lässt.
Kurz lasse ich mich in den Lärm fallen. Löse mich auf und nehme der Erinnerung seinen Druck.

Satt, eingelitscht und nachgeweisst wie eine griechische Häuserfassade sitze ich wieder im Sattel. Meine Elternobligatorik durchgehend vergebe ich mir diesen Routinendurchbruch. Es gibt keine Alternative zu: „Es ist wie es ist.“ und auch keine zu: „Es gibt nichts, was ich tun kann, damit meine Eltern und ich so verbunden sind, wie ich es mir wünsche.“
Aber es gibt eine Alternativroute nach Greetsiel.
Und die puckle ich dann auch lang.

Vermeidungsroutinen, Zwang und Teilhabe

Wir haben eine neue Podcast-Episode mit Vielfalt aufgenommen. Über Routinen. Und die Kluft zwischen dem „von Routinen gemacht werden“ und dem „selber machen von Routinen“.
Dabei haben wir etwas vergessen. Oder wir sind es übergangen, weil es vielleicht auch selbstverletzendes Verhalten ist. Oder nur meine Weirdness. Die Übergänge sind da vielleicht fließend.
Es geht um den Komplex, sich selber in Routinen zu zwingen.
Ganz vergessen hatte ich es nicht – man hört mich sagen, dass ich Routinen habe, um Lücken zu haben. Freiräume vielleicht. Nicht gesagt, aber gedacht habe ich: Um teilhaben zu können. Um mitmachen zu können.
Gesagt habe ich auch etwas von Kraft durch Routinen. Auch schon in der „Was helfen könnte“-Episode über Routinen.

Die meisten Dinge, um die ich Routinen aufgebaut habe, schaffe ich heute, weil ich mich in sie hinein gezwungen habe. Ich habe mich in die Aktivitäten gewissermaßen „hineingelitten“ und ja, mir ist klar, wie das klingt. Obwohl ich hier Reizwörter wie „Zwang“ und „Leiden“ verwende, geht es dabei nicht auch um Strafen und Verletzung, sondern darum, dass ich nicht schmerzlos in mein Alltagsfunktionieren gekommen bin. Und mich auch nicht leidfrei darin bewegen kann, wenn ich keine Strukturen, Ordnungen, Routinen darin habe.

Routinen sind hilfreich bei der Verkörperung von Abläufen. Sind Handlungsabläufe im Körpergedächtnis angekommen, braucht es weniger bewusste Konzentration auf ihre Ausführung. Das ist ein Segen, wenn man ein Oberstübchen hat, in dem alles immer gleichzeitig prozessiert wird. Ohne Filter, ohne Priorität. Horizontal.
Der Unterschied zwischen einer absolut offenen Situation, in der alles Mögliche auf alle möglichen Arten passieren kann und einer, in der durch Verkörperung oder eindeutige Vorgaben eine Art roter Faden erkennbar ist, entsteht nicht nur durch die Limitierung dessen, was prozessiert werden muss. Es geht auch um Kraftaufwände, um Angstquellen, um Reproduzier- und Übertragbarkeit auf andere Lebenssituationen. Mit jedem roten Faden mehr, den ich mir antrainiere und als Routine ins Leben sticke, erweitert sich der Raum, in dem ich teilhaben kann. Für mich war das schon immer eindeutig gut. Hilfreich. Nützlich. Meine einzige Chance.

In meinem ersten Klinikbericht aus der KJP stand, ich hätte eine anankastische, also zwanghafte, Persönlichkeitsstörung. Wenn man das googelt, wird ein Bild angezeigt, auf dem eine Person mit einer kleinen Schere eine Hecke beschneidet. Denn so wird Zwang gedacht. Entweder wird jemand von jemandem oder etwas um den eigenen Willen gebracht und ist ein maximal ausgeliefertes Häschen oder jemand ist völlig gaga und hantiert ohne Handschuhe aber in tadellos hellem Hemd mit ungeeignetem Gerät an Büschen herum, weil darum.
Zwang wird als Mittel der Mächtigen wahrgenommen. Als Werkzeug der Kontrolle, als Trittbrett zur Limitierung von Potenzialen und damit Verlust. Wertminderung vielleicht sogar. Die meisten Menschen, die sich mit Zwang konfrontiert sehen, lehnen ihn ab, weil er sie in ihrem Gespür für sich selbst und die eigenen Möglichkeiten bedroht. Eine nachvollziehbare Haltung, wenn man jederzeit und immer einfach alles machen kann, was man will. Jeder Eingriff, jede Ordnung und Struktur von außen kann dann nur als potenzieller Angriff wahrgenommen werden.
Ich fühle diesen Angriff nicht.
Mir helfen äußere Strukturen, um überhaupt erst einmal in die Lage versetzt zu werden, Kontrolle über mich zu empfinden. Sie helfen mir, meine Wahrnehmung und Verarbeitung eindeutiger einordnen zu können. Also überhaupt erst einmal zu wissen, was bei mir gerade passiert. Was ich da eigentlich fühle, denke, bearbeite. Was ich will, was zu entscheiden ist, worum es sich handelt, womit ich konfrontiert bin. Welches Wissen ich worauf anwenden könnte.

An der Stelle halte ich es für wichtig, autistisches Funktionieren und Traumafolgen als getrennt zu begreifen. Denn ich scanne mich nicht darauf, ob ich Gefährliches wahrnehme. Ob ich Gefährliches will. Ob ich empfinden darf, was ich empfinde oder nicht. Ob mein Leben (wieder) in Gefahr ist oder nicht. Ich versuche mir ein Bild zu machen, um auf Gefährliches scannen zu können. Zu verstehen, was gerade passiert. In aller Regel bin ich also einen Schritt hinter den meisten Menschen. Sie stehen in einer Situation, brauchen zwei, drei Hinweise und haben eine Idee. Ich bin in einer Situation und fühle mich mit 10, 15, 20 Hinweisen bombardiert, von denen die meisten mehrere Dinge bedeuten könnten, sich aber häufig als etwas entpuppen, das von der (sozialen) Umwelt als irrelevant vernachlässigt wird, ohne es deutlich zu machen.
Das führt dazu, dass ich mich – speziell in neuen Situationen – häufig noch ohne jeden freien Willen orientiere, weil ich noch keinen Bezug zu mir herstellen konnte. Weder den Bezug der Dinge in der Situation, noch den Bezug der Situation zu mir, noch den Bezug meiner Reaktion in dieser Situation oder auf die Dinge in dieser Situation. Komplizierter Satz. Meint: Alles ist fragmentiert. Nichts hängt zusammen. Kein roter Faden. Keine Orientierung möglich. Und deshalb auch: keine Kontrolle

Erst an der Stelle kommt die Traumafolge hinzu. Keine Kontrolle zu haben, ist ein Kernelement jeden Traumas. Es ist ein Trigger für Selbstschutzverhalten, sich ohne Kontrolle zu fühlen. Selbstschutzverhalten hat viele Gesichter. Bei manchen Menschen ist der Selbstschutz ein Zwangskorsett. Die Idee, bestimmtes Verhalten führe zu bestimmten Situationen und ohne dieses Verhalten gäbe es keine Kontrolle und dementsprechend keine Sicherheit. Sie fühlen sich gut, weil sie sich ihrer Kontrolle bewusst sein können. Sie sind irgendwann gezwungen, sich so zu verhalten, dass sie kontrollierbare Situationen produzieren. Ein Kreislauf beginnt.
Mein Selbstschutz ist in den meisten Fällen Masking. Unauffällige soziale Skripte. Und chronische Dissoziation, die ich zunehmend gezielt nicht auflöse. Mein Kontrollbereich nur der, ob und wenn ja, wie vorbereitet ich mich auf neue Situationen einlasse.

Ich habe ausgeklügelte Vermeidungsroutinen entwickelt, um meine fehlende Selbstkontrolle zu kompensieren. Selbstkontrolle meint hier nicht mein Verhalten, sondern mein Selbst. Meine Wahrnehmung. Mein Oberstübchen, meinen Körper. Ich weiß, wann ich überreize, also meide ich Situationen, in denen es passiert. Ich weiß inzwischen, dass ich nicht zu oft vermeiden darf, weil meine Empfindlichkeit größer wird, je mehr Reize ich vermeide. Ich weiß, was mich wann wie triggert, also meide ich es – oder nehme den Trigger hin, wenn ich weiß, dass mir genug Frei_Raum bleibt, um mich zu regulieren. Und ich weiß inzwischen, was mir hilft mich zu regulieren – und dass dies aber auch bedeuten kann, dass ich mich stimulieren (reizen) muss.

Ich habe mich viele Jahre damit gequält, mein Verhalten zu verändern, damit man mich nicht als zwanghaft liest. Perfektionistisch, das Umfeld manipulierend, gaga weil darum. Mit Schere an der Buchsbaumkugel.
Oder irritierend. Krank. Behindert. Falsch. Schlecht. Minderwertig. Weil nicht unter Kontrolle.
Vermeidungsroutinen waren und sind bis heute mein sweet spot in diesem unmöglichen Dilemma. Ich brauche nicht viel Kraft auf meinen Selbstschutz und allgemein nötige Handlungen verbrauchen, weil ich Routine darin habe – und solange ich niemandem verrate, wie umfassend unfähig ich zur Teilnahme, aber auch zur Teilgabe bin, wenn ich sie nicht aufrechterhalte, weiß auch niemand, wie behindert ich im Alltag tatsächlich bin.

Ein Nachteil daran ist natürlich, dass so auch niemand weiß, wie anstrengend neue Tätigkeiten für mich sind. Lange nicht einmal ich selbst.
Mir ist es zuletzt wieder beim Aufbau der Schwimm-Routine aufgefallen. In die ich mich reingezwungen habe, um ganz normal mit dem Partner schwimmen gehen zu können, weil das sein Sport ist – und für mich Triggerhölle und Überreizungsmoment deluxe.
Heute ist es Triggerhölle, Überreizungsmoment deluxe und eine Kraftquelle, weil Endorphin einfach ein geiler Stoff ist und beim Sport ausgeschüttet wird.
Ich könnte auch sagen, dass ich mich in diese Routine hineinargumentiert habe. Oder hineinmotiviert. Schließlich gibt es viele Vorteile für mich. Und wo soll das Zwangsmoment liegen? Es liegt im sozialen Imperativ an ein normales Verhalten und seine Aus_Wirkung auf mich.
Ich gehe nicht als ganze, unbeschädigte, freie Person schwimmen. Ich gehe dissoziiert, von Triggern in verletzte Selbstzustände gestoßene Person dahin, ohne das ändern zu können, wie ich lustig bin. So bin ich, das ist mein Er_Leben und wenn ich mich nicht dazu zwinge trotz alledem und alledem die Handlung auszuführen, dann kann ich sie auch nicht ausführen. Dann ist nichts mit Sport im Winter, Option auf gemeinsame Aktivität, bei der ich genug Energie habe, um die Freude am Zusammensein mit dem Partner wenigstens kognitiv zu erfassen … irgendetwas anderes zu erleben als Arbeit zu Hause und Hunderunde im Wald.

Dieses Leben nach der Gewalt wie auch dieses mein autistisches Leben würde nicht so funktional laufen – ja hätte vielleicht auch nie anfangen können, wenn ich mich nie zu irgendwelchen Dingen gezwungen hätte oder von den sozialen Konsequenzen der Ausgrenzung hätte zwingen lassen.
Das ist keine sexy Aussage, weil man heute lieber mit Konsens und ohne Gewalt in die Selbstfürsorge leiten möchte, aber so funktioniert es bei mir in der Regel nicht. Ich kann nicht jahrelang auf inneren Konsens warten; habe nicht genug Therapie und sonstig bewusstes Umfeld, um die Alltagsgewalt, mit der ich als behinderte Person umgehen muss, so zu transformieren, dass meine Teilhabe nicht ständig von meiner Bereitschaft mich selbst zu beschneiden abhängt.

Und es ist eine belastende Aussage für mein direktes Umfeld. Denn ich weiß jetzt schon beim Schreiben, dass einige davon überrascht sind. Was so schlimm? Echt? (Das sieht man dir gar nicht an) Lass das doch!
Ja, es ist so wie es ist. Manchmal ist es auch schlimm. Meistens dissoziiere ich selber den Schlimmfaktor, um handlungsfähig zu bleiben. Ja, ich könnts lassen. Wär aber scheiße vong Lebensqualität her. Ich bin nicht ausgestiegen und seit tausend Jahren in Therapie, um ich zu sein oder zu werden, sondern um in diesem Leben zu bestehen. Und zwar so, dass ich oft genug ich selbst sein kann, um mich zu fühlen – und meine Lebensentscheidungen in Kongruenz damit zu fällen. Das ist Selbstbestimmung. Freiheitspraxis. Und die Freiheit komplex traumatisierter autistischer Menschen sieht nun einmal genau so aus: „Entweder du verstümmelst dich, um dazuzugehören oder nicht. Und wenn nicht, dann bleibst du draußen.“

Für die meisten komplex traumatisierten Menschen ergibt es Sinn, einen Appell an die Umwelt zu richten, damit sie sich in ihrem Leiden nicht ständig verbergen und verbiegen müssen.
Für mich noch nicht.
Warum beschreibe ich irgendwann mal in einem anderen Text.

das Helfertrauma – die Wiederholung

„Wer ein Trauma nicht realisiert, ist gezwungen, es zu wiederholen oder zu reinszenieren.“ Das soll Pierre Janet vor 120 Jahren gesagt haben. Er gilt als einer der ersten Traumaforscher, deshalb kenne ich dieses Zitat. Es wird oft dort eingeschoben, wo es um die Notwendigkeit von Traumatherapie oder das generelle Interesse für die Thematik geht. Oft funktioniert es deshalb als Warnung. „Achtung, Achtung, wenn dir diese Story von Kontrollverlust und einer Lebensqualität wie trocken Brot nicht reicht, um dich damit zu befassen, dann hier die Drohung, dass du es dir immer wieder selbst antust.“

Als ich diese Woche die Praxis für Autismustherapie verließ, dachte ich an das Zitat und darüber nach, ob ich mit der Autismustherapie aufhören muss. Denn wieder hat sich mein Helferding wiederholt. Nicht in der schlimmsten Ausprägung und auch nicht mit großem Schaden, aber doch einem Schaden. Für mich. In mir. Weil es inzwischen nicht erst weh tut, wenn es im schlimmsten passiert, sondern bereits wenn klar ist: Wir sind mittendrin und ich muss genau jetzt entweder abbrechen oder immer wieder verweigern. Grenzen ziehen. Verantwortlichkeiten einhalten, ablehnen, beworten. Hoffen, dass sich diesmal ein Weg auftut. Wissen, dass sich bisher erst ein Mal ein Weg aufgetan hat. Das eine Mal von vielleicht hundert Malen.

Während ich darüber nachdachte, wie ich das konkret tun könnte, bemerkte ich, dass auch das zu meiner Schleife gehört.
Jetzt sitze ich da, bin irgendwie verletzt davon, was im Miteinander passiert – sage, was da passiert und dass ich das so nicht möchte – und fange an, mir zu überlegen, wie ich es nicht wiederhole. Obwohl von Anfang an nicht ich dafür gesorgt habe, dass sich etwas wiederholt. Ich war einfach so da wie ich bin. Habe gedacht, wie ich denke, mich ausgedrückt, wie ich es tue und wieder wurde mir gesagt, dass meine Art zu Denken sehr viel sehr komplex sei. Dass man das nicht lange durchhalten kann, wenn man versucht mitzukommen. Und irgendwo darin erwähnt, ob ich wohl den Anspruch habe, dass man mir, wenn schon nicht gleich, so doch wenigstens ähnlich komplex begegnet.

Es ist also wieder das Thema Komplexität, zu viel (~intelligent~) sein, Vermeidung von Überforderung, Vermeidung der tatsächlichen Themen aus Sorge zu überfordern, zu wenig Hilfreiches zurückzubekommen und dem Problem nicht immer genug Kraft dafür zu haben, auf das Gegenüber warten zu können.
Und im Anschluss das innere Verbot, an der helfenden Person zu zweifeln, denn die kann ja auch nichts dafür. Niemand kann etwas dafür. Nie. Ich bin die Komponente, die sich in den Kontakt begeben hat, um etwas zu verändern. Also muss ich mich verdammt nochmal endlich auch verändern, warum mache ich mich dann nicht einfach anders.

Ich weiß nicht, ob mein Fehler ist, wiederholt nach Gegenübern zu suchen, die mich in meiner Auseinandersetzung begleiten und mir helfen, Lösungen für die Probleme zu finden, die ich alleine nicht erschaffen kann. In meiner Traumalogik ist es jedenfalls so.
Ich brauche niemanden, die_r mir nicht entgegen_wachsen will und die halbe Zeit damit kämpft, sich in meiner Anwesenheit weder dumm noch unterkomplex urteilend oder möglicherweise zu wenig Hilfreiches wissend zu fühlen, weil sie_r einfach nicht glaubt, dass diese Ebene im Kontakt für mich nicht relevant ist.
Ich brauche jemand, die_r sich erst einmal auf meine Probleme konzentriert. Nicht auf mich, nicht auf sich – auf das Problem. Und erst dann von mir aus auch auf mich in dem Problem und auf sich bei all dem.

Ich fürchte, dass ich mein Helfertrauma nie mehr realisieren kann, als ich es bisher geschafft habe.
Die Realität ist, dass ich zu komplex denke, zu viel aufnehme und deshalb immer viel ist, was mich beschäftigt oder vor Probleme stellt.
Die Realität ist, dass sich die meisten Menschen, gegen Komplexität entscheiden oder gar nicht erst begreifen können.
Die Realität ist, dass ich deshalb keine Hilfe bekomme, auch wenn ich es mit Leuten zu tun habe, die mir wirklich aufrichtig bemüht und angestrengt helfen wollen.
Die Realität ist, dass dies wiederum allein mein Problem ist und bleibt und bleibt und bleibt – weil die Lösungsfindung eine zu komplexe Angelegenheit ist.

Es ist die Hölle.
Ernsthaft.

das Leiden – #AutismAcceptanceMonth

Leiden entsteht, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden.
Je umfassender der Mangel, desto größer der Leidensdruck.

Vor meiner Autismusdiagnose habe ich am meisten darunter gelitten, mit Menschen in Kontakt kommen zu wollen und doch nie zu kommen. Selbst dann, wenn ich physisch, thematisch und konsensuellen und gemeinschaftlich beschlossen Kontakt mit ihnen hatte. Selbst wenn alle lieb mit mir waren. Vom Viele-, Behindert-, Anderssein wussten und alles.
Es ist eine spezielle Einsamkeit und eine spezielle Isolation – ein umfassendes „mit-sich-selbst“-Sein – umgeben von Menschen zu sein und doch allein. Und zwar nicht auf die „armes Opfer ist so unverstanden/ungesehen/unbeachtet von der Welt, weil nicht alle Menschen die Gewalterfahrungen teilen“-Art, sondern auf die „autistischer Mensch unter nicht-autistischen Menschen“-Art, bei der es darum geht, dass sich nicht nur die Lebens-, sondern auch die Er_Lebenserfahrungen ganz grundsätzlich unterscheiden und die Schnittmenge zuweilen frustrierend gering ist.

Ich habe darunter gelitten, immer wieder aus dem Raster zu fallen. Immer wieder zu merken: Ich enttäusche Erwartungen an meine Funktionalitäten. Ich irritiere mit meinen Dysfunktionalitäten, meiner Bewertung von Situationen und Umständen und leide bis heute darunter anders zu sein als die meisten Menschen in meiner Umgebung und ihre Normen oder auch Ideale, weil ich keine selbstverständliche, intuitive Kongruenz herstellen kann.
Kongruenz ist ein von den meisten Menschen unterschätzte Bedingung zur Erfüllung des Grundbedürfnisses nach sozialem Kontakt bzw. Bindung.
Als autistischer Mensch bin ich nicht bindungsbehindert. Und nein, auch meine Komplextraumatisierung hat meine Bindungsfähigkeiten nicht zerstört, gestört oder auf irgendeine Art verformt. Ich binde mich einfach anders und dieser Stil wird häufig abgelehnt, nicht wertgeschätzt, belächelt oder gar nicht erkannt, weil man von mir das gleiche Bindungsverhalten, wie neurotypische Menschen es zeigen, erwartet.

Mein autistisches Er_Leben umfasst alle Qualitäten des Empfindens. Es gibt keinen Lebensbereich, der davon unberührt ist. Es gibt weder eine Grenze zwischen meinem Alltag und meinen Traumata, noch eine zwischen meinem autistischen Er_Leben und dem, was alle Menschen machen müssen, um zu über_leben. Entsprechend umfassend ist auch mein Inkongruenzerleben.

Manchmal ist das hilfreich. Gerade in der letzten Zeit, in der ich viel mehr als sonst mit anderen Vielen kommunizierte, merke ich: Ich bin nie so sehr in das „Inkognito-als-Opfer-in-dieser-Gesellschaft-unterwegs-sein“-Ding eingestiegen, weil es mir nie die gleiche Beruhigung, den gleichen Gewinn gebracht hat, wie Menschen, deren (einziger) Inkongruenzbereich die eigene Opferschaft/“Verrücktheit“ ist.
Oder negativ ausgedrückt: Egal, wie ich mich zu verbergen versuche, mein „anders-als-die-meisten-Menschen“-Sein, ist nicht zu verbergen. Und weil nicht ich es bin, die_r darüber bestimmt, ob „anders als die meisten Menschen“ etwas schlechtes (weil Erwartungen enttäuschend oder Normen/Hierarchien infrage stellend) ist oder nicht, blieb und bleibt es bis heute so, dass ich oft so allein in Kontakten bleibe, wie ich es bin.
Hilfreich ist das insofern, als dass es mich davor bewahrt hat zu glauben, ich könne durch jedes beliebige Verhalten in jeder beliebigen Situation beeinflussen, dass Menschen sich mit mir verbinden. Ein Kerngedanke des komplex traumatisierten Kindes: „Wenn ich lieb bin, haben mich alle lieb und binden sich positiv an mich (und verletzen mich nicht (mehr)).“
Ich hatte nie Anlass, das zu glauben, weil meine Lebens- und Kontakterfahrungen so umfassend anders waren. Selbst wenn ich lieb war, selbst wenn ich alles richtig gemacht habe, selbst wenn ich gar nicht mehr ich war, es hat nie gereicht, um die nicht-autistischen Menschen in meiner Umgebung umfassend (positiv) an mich zu binden.

Gleichzeitig hat es aber natürlich etwas mit meinem Weltbild gemacht. Von meiner Idee davon, was mich retten könnte. Wofür ich über_leben könnte. Was ich alles mitbedenken muss, wenn ich mich für mein Über_Leben entscheide.
Während viele suizidale Menschen Halt im Kontakt mit anderen Menschen finden oder am Leben bleiben, weil sie eine Familie haben, die sie brauchen oder für die sie sich verantwortlich fühlen, habe und produziere ich tausend Projekte und Vorhaben, die ich nicht unvollständig abgeschlossen liegen lassen will.

Menschen halten mich nicht. Weder am Leben noch im Kontakt.
Sie verorten mich, das ist im Alltag extrem hilfreich.
Sie stimulieren mich, das ist manchmal gut, manchmal re_traumatisierend.
Sie sind ein Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung, das ist eindeutiger ausgedrückt, als es die meisten anderen Menschen über Menschen sagen würden, aber deshalb nicht weniger wahr oder gar ein Anzeichen einer Pathologie.

Ich leide nicht unter meinem Autismus, ich leide nicht unter mir selbst.
Ich leide darunter, dass mein Grundbedürfnis nach sozialem Miteinander von so vielen sozialen Barrieren bestimmt ist, die ich alle nicht auch selbst kompensieren kann. Ich brauche dafür immer mein_e Gegenüber und viel zu oft wird dieser Bedarf nicht angenommen, geglaubt und ihm entsprochen.

Es ist also ein verhinderbares Leiden.
Es wird allerdings nicht verhindert.
Heute leide ich am meisten darunter.

die Sichtbarkeit – #AutismAcceptanceMonth

Wenn man Menschen fragt, welche Superkraft sie gern hätten, sagen viele, dass sie gern unsichtbar wären.
Sie versprechen sich davon viel Teilhabe an Interaktionen in Situationen und Kontexten, von denen sie ausgeschlossen wären, könnten andere Menschen ihre Anwesenheit feststellen. Sie versprechen sich davon, andere Menschen authentisch zu erleben. Zu hören, was andere über sie sagen; zu erleben, wie andere handeln, wenn sie nicht von ihnen bzw. ihrer Präsenz beeinflusst werden.

In unserer Gesellschaft geht Sichtbarkeit nie mit der bloßen Feststellung dieser Sichtbarkeit einher. Niemand sieht etwas oder jemanden und lässt es ohne Bedeutung für sich selbst und den eigenen Kontext.
Was in unserer Gesellschaft sichtbar ist, wird von Systemen in Systeme geordnet. Und auch diese Ordnung wird wieder von Systemen in Systeme eingeordnet. Diese Ordnung ist von Bedeutung, weil niemand von uns mit Bedeutungslosigkeit umgehen kann. Selbst die Dinge, die völlig irrelevant, egal, schlicht hinzunehmen sind, müssen wir als irrelevant, egal, schlicht hinnehmbar einordnen, um sie irrelevant, egal, schlicht hinnehmen zu können. Niemand braucht sich einbilden, dass Bedeutungslosigkeit ihm_ihr nichts anhaben kann. Wir sind Gesellschaft, weil wir Bedeutung nicht nur produzieren, zuweisen, verändern können, sondern auch leben.

Viele autistische Menschen wissen, dass sie autistisch sind, weil sie von anderen Menschen gesehen wurden und die sichtbaren Unterschiede zu nicht-autistischen Menschen als Autismus bezeichnet werden. Denn so funktioniert Diagnostik nach DSM und ICD, den Diagnostikhandbüchern für Krankheiten aller Art. Sichtbar Abweichendes gilt als Symptom, aus Symptomen wird Krankheit abgeleitet.
Es gibt keine Symptome von Normalheit.
Das Normale sieht man nur mit dem Herzen gut.
Weil es keine Augen hat.
Und weil es keine Ordnung gibt, die auf das Vorhandensein sichtbarer Eigenschaften verzichtet.

Dass ich autistisch bin, sieht man nicht. Es sei denn, man weiß um die Bedeutung von Dingen in dieser Welt für mich persönlich.
Ich kann meine Sichtbarkeit für andere Menschen in vielen Bereichen steuern und das finde ich großartig. Ich erlebe das als eine erstrebenswerte Superkraft, an deren Perfektionierung ich gezielt arbeite. Obwohl ich weiß, dass es eine Superkraft ist, die mir nicht natürlich inneliegt und die ich hauptsächlich deshalb als erstrebenswert empfinde, weil sie mir zu mehr Teilhabe verhilft als mir die Gesellschaft ermöglicht, wenn sie mich sehen kann.

Möchte ich dennoch als autistischer Mensch gesehen werden? Ja. Natürlich.
Aber bitte lieber mit dem Herzen.

 

P. S. Die Superkraft, die ich gern hätte, ist nie müde zu werden.
Ich würde meinen Kram machen während alle schlafen und meine Freizeit und Sozialitäten erledigen, wenn alle wach sind.

 

 

a puzzling condition – #AutismAcceptanceMonth

Autismus als rätselhafter Zustand – so hat man sich das damals gedacht. 1963, bei der National Autistic Society. A puzzling condition [1], ein Rätsel an alle, das sich nur Teilen erfassen, verstehen, verbinden lässt.
Später kam die Schleife dazu. Wegen der Hoffnung.[2] Irgendwie.
Und dann – wozu das Rad neu erfinden – hat Autism Speaks das blaue Puzzleteil für die Verbreitung seiner speziellen Auffassung von Autismus benutzt und tut das noch immer.[3]
Heute gehört es zum Ritus des #AutismAcceptanceMonth, das Puzzleteil abzulehnen und möglichst vielen Menschen zu sagen, dass an Autismus überhaupt gar nichts „puzzling“ ist, wenn man autistischen Menschen nur endlich zuhört, statt über sie hinweg zu sprechen, zu entscheiden, zu lehren.

Als autistische, komplex traumatisierte Person mit DIS ist das für mich nicht so machbar.
Ich er_lebe dissoziiert. Ich er_lebe meine Umwelt und mich durchaus immer wieder mehr oder weniger stark fragmentiert. Es ist sehr schwer für mich, Verbindungen herzustellen. Ein Großteil dessen, was mich beschäftigt oder bewegt, was mich stört oder auch erfreut, ist mir mehr oder weniger Rätsel und je mehr ich versuche diese Eindrücke in ihrer Rätselhaftigkeit für mich darzustellen, zu erklären und andere Menschen zur Lösung einzubeziehen, desto größer wird die Kluft zwischen meinen Mitmenschen und mir.

Das ist nicht nur der Autismus – ja. Dann verzichte ich vielleicht speziell im April auf diese Metapher, um die Forderungen anderer autistischer Menschen nicht zu untergraben. Aber langfristig kann ich das nicht – und will es auch nicht.
Der K.r.ampf um das Symbol für Autismus – warum führen wir ihn eigentlich noch? Es gibt ein neues – das regenbogenfarbene Unendlichkeitsymbol – warum muss nach seiner Etablierung jetzt noch jedes andere Symbol ausgerottet werden? Warum ein Kampf um Symbole, wenn dem eigentlich ein anderes Ziel zugrunde liegt, nämlich das der Deutungshoheit. Die wollen viele autistische Menschen haben, weil sie glauben, damit viel anfangen zu können, um die Situation für autistische Menschen zu verbessern. Vielleicht stimmt das. Ich hingegen sehe in Deutungshoheit über etwas so vielfältiges wie Autismus eine notwendigerweise zu teilende Macht.

Speziell Autismus bringt stets einen Imperativ an die eigenen kommunikativen und interaktiven Anpassungsfähig- und fertigkeiten mit. Sowohl an nicht autistische Menschen als auch an autistische Menschen. Ein Hauptproblem – des puzzlings Pudels Kern sozusagen – ist doch, dass die einen fordern, dass man ihnen zuhört und die anderen, dass man endlich („angemessen“/“richtig“) mit ihnen spricht.
Es wird nicht gehen, wenn sich nicht beide Seiten aneinander anpassen – nicht beide Seiten versuchen einander zu verstehen.

Ganz klar ist das keine Aufforderung „doch bitte die armen kleinen nicht autistischen Menschis“ auch zu verstehen und nicht ganz so arg bös und radikal fordernd aufzutreten“ – auf keinen Fall!
Es ist eine Aufforderung dazu, nicht autistischen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst im Verhalten gegenüber autistischen Menschen und der Mitwelt nicht nur zu verstehen, sondern auch zu begreifen – und andersherum die Aufforderung an nicht autistische Menschen, dafür zu sorgen, dass autistische Menschen sich selbst im Verhalten gegenüber nicht autistischen Menschen und ihrer Mitwelt nicht nur verstehen, sondern auch begreifen können.

Für mich ist die Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen in nur 10 bis 15 Prozent der Fälle kein potemkinsches Dorf. Keine Fassade, die mich schützt, kein reflexhaft hochgehaltenes Schild aus meinen verbalen Skripten und antrainierten Sozialperformances. Es ist mir ein Rätsel, was ich neben dem, was ich sagen will, noch sage, wenn ich etwas sage – ich rate aus Antworten, ich habe so gut wie nie den festen Boden der Eindeutigkeit unter mir, sobald ich mich nicht schriftlich mit anderen Menschen befasse.
Und ja, das und mehr ist puzzling. Vielleicht bin ich für andere Menschen manchmal puzzling. Und ja, für manche Menschen war dieser Umstand auch Anlass mich schlecht zu behandeln oder über meinen Willen hinweg zu entscheiden oder an meiner statt zu sprechen. Mein Sein nicht als rätselhaft, sondern als Varianz zu sehen, würde daran in unserer Gesellschaft, mit unseren Erwartungen und daraus entstandenen Normen kaum etwas verändern.
Es verändert etwas anderes und darauf möchte ich mich in den nächsten Jahren konzentrieren – Mystizismus um autistische (komplex traumatisierte) Menschen. Denn rund um Autismus gibt es diese ganz ähnliche Basis für zuweilen missbräuchliches Verhalten, wie es das bei der DIS auch heute noch in manchen sozialen Bubbles gibt: Weil es noch nicht für alles wissenschaftliche Belege gibt, wird alles als möglich angenommen. Und anekdotische Evidenz wird auf einer Ebene wie wissenschaftliche Evidenz akzeptiert.
Im Kontext „Autismus“ findet sich das sehr viel in Bezug auf Heilung – bei der DIS sehr viel in Bezug auf die Entstehung bzw. das konkrete Herstellen einer DIS, aber auch die Unterschiedlichkeit der dissoziativen Selbstzustände (Innens, Innenpersonen, Anteile) und ihre Fähigkeiten.

Dabei gibt es heute sehr wohl sehr elaborierte Studien und enorm viel Sachwissen – es ist einfach nur unfassbar exklusiv.
Es wird nicht frei zur Verfügung gestellt, es wird nicht barrierefrei vermittelt, es wird zum Teil fachlich falsch vermittelt und es gibt bis heute weder einheitliche Behandlungsstandards noch werden die Behandelten in die Erstellung von Qualitätskriterien und Strukturen der Qualitätssicherung einbezogen.
Hinzu kommt, dass vor all dem Wissen und damit ja auch Begreifen von sich selbst, eine Diagnose stehen muss. Obwohl allen naturwissenschaftlich gebildeten Menschen klar sein sollte, wie unsinnig es ist, natürliche Varianz mit Mitteln der Pathologie zu ordnen bzw. zu behandeln – auch wenn sie nicht angeboren ist, wie im Fall der DIS.

Ich selbst versuche, mich als Forscher_in zu verstehen. Das erscheint mir nur logisch, denn wer sonst befasst sich mit Rätseln ohne sie lösen zu wollen oder von sich zu erwarten, sie (allein) lösen zu können?
Für mich ist diese Haltung wichtig, um meine Akzeptanz mir selbst gegenüber wachsen zu lassen – aber auch, um aus meiner Forschung zu lernen. Ich leite daraus keine Deutungshoheit über Autismus generell ab – aber über mich und die Rätsel, die ich er_lebe.