Behinderung #2 – das soziale Modell – #DisabilityPrideMonth

„behindert sein – behindert werden“ zeigt zwei Modelle von Behinderung auf.
„behindert sein“ gehört zum medizinischen Modell, das im letzten Text beschrieben wurde. Danach ist ein Mensch behindert, wenn dessen Körper, Seele oder das, was mit dem Wort „Geist“ oder „Kognition“ oder auch „Intelligenz“ beschrieben wird, von der medizinisch definierten Norm abweicht.
„behindert werden“ gehört zu einem Modell, das ich hier „soziales Modell“ nenne, um zu vereinfachen. Danach sind Menschen einfach wie sie nun einmal sind und werden von Normvorstellungen und ihrer Um- bzw. Durchsetzung im Alltag behindert.

Tatsächlich werden hier von mir drei Aspekte unter einen Begriff gefasst.
Diese Aspekte sind:

  • Behinderung als Resultat sozialer Interaktion
  • Behinderung als Folge von Ausdifferenzierung anhand erbrachter Leistungen
  • Behinderung als Folge kapitalistischer, rassistischer, ableistischer, sexistischer, adultistischer, ageistischer Gesellschaftsordnung

Behinderung als Resultat sozialer Interaktion

Soziale Interaktion nimmt bei den meisten Menschen den größten Anteil ihres täglichen Lebens ein.
Es ist eine soziale Interaktion, wenn wir einander „Guten Morgen“ sagen, es ist aber auch eine soziale Interaktion, wenn wir uns überlegen, wen wir zu einer Geburtstagsfeier einladen und wen (warum) nicht. Und es gehört zur sozialen Interaktion, wie wir einander „Guten Morgen“ sagen – aber auch warum.

Behinderte Menschen enttäuschen mehr oder weniger zwangsläufig bestimmte Vorstellungen, die sich Menschen, die ihre Behinderungen nicht (genauso) erleben, von ihnen machen. Das betrifft oft die Fähig- und Fertigkeiten, manchmal aber auch die Vorstellungen von sich selbst und die Ambitionen, die sich daraus ergeben.
Zum Beispiel erwarten viele Menschen, die ohne Probleme oder viel Anstrengung laufen können, dass alle Menschen laufen können und wenn es jemand als Sport macht, dass die Leute sich wünschen am schnellsten zu laufen. Treffen sie dann auf einen Menschen, der nicht oder nur mit großer Anstrengung und vielleicht auch Verletzungsgefahren laufen kann, wird ihre Erwartung („Alle Menschen können laufen“) enttäuscht und sie bezweifeln, ob der Mensch überhaupt Sport machen kann oder sich generell dafür interessiert.

Solche Situationen werden oft im Netz besprochen, weil sie emotional verletzen und kränken. Manche behinderten Leute sagen dann so in etwa: „Boa, diese Nichtbehinderten sollten mal ihren Ableismus klarkriegen!“, weil sie sehen, dass es um Erwartungen an Fähig- und Fertigkeiten geht. Die Erwartung an sich jedoch „produziert“ noch keine Behinderung.
Eine Behinderung durch soziale Interaktion entsteht in der Regel durch den Versuch bestehende (soziale) Normen zu festigen, obwohl sie (von behinderten Menschen) infrage gestellt werden. Zum Beispiel, indem man viele Begriffe und Kategorien für behinderte Menschen erfindet („Rollifahrer“, „Blinde_r“, „Autist_in“ … „behindert“) und dann zum Beispiel sagt: „Ach für Blinde ist Kino halt nix, da muss man sehen können“ oder „Ach, die Person hat eine Lernbehinderung – da brauchen wir ja gar nicht erst anfangen über eine Berufsausbildung oder ein Abitur nachzudenken.“

Behinderung als Folge von Ausdifferenzierung anhand erbrachter Leistungen

Beim Begriffspaar „Leistung“ und „Ausdifferenzierung“ denken viele Menschen sofort an Schule, aber vielleicht auch an Sportwettkämpfe oder die berufliche Karriere. Ich persönlich denke sofort an das Hartz-4 System und an die Struktur von Krankenkassen.
Wer bestimmte Leistungen nicht erbringt – und dabei geht es nicht darum, warum nicht! – wird in aller Regel nicht belohnt oder dazu ermächtigt, sie zu erbringen.
Bei diesem Aspekt ist mir wichtig aufzuzeigen, was konkret der „Behinderung produzierende“ Teil davon ist. Es ist nämlich keineswegs so, dass eine Schule zum Beispiel einfach nur die Benotung abschaffen und das Gebäude, wie den Unterricht barrierefrei gestalten müsste, um inklusiv zu sein! Es gibt Schulen, weil es ein Arbeits- und Gesellschaftsleben gibt, das nur bestimmte Leute, mit bestimmten Fähig- und Fertigkeiten und einem bestimmten Leistungsniveau durch Mitwirkung teilhaben lassen will (und kann).
Wer nicht leistet, wird ausgesondert. Das kann die Sonderbeschulung meinen, kann aber auch ein Leben ohne Arbeit, abhängig von Leistungen wie Hartz 4 oder in einer Form von Rente sein.
Es kann aber auch die Ausladung von einer Geburtstagsfeier meinen, weil es eine Person nicht schafft laute Musik, andere Gäste, freundliche Unterhaltung zu kompensieren, nachdem sie sich für die Beschaffung eines Geschenkes verausgabt hat. Leistung hat nicht nur etwas mit Gewinn oder Ertrag zu tun!

Die Behinderung entsteht also durch Ausschlüsse, die gemacht werden, weil Menschen bestimmte Leistungen nicht (wie vorgesehen) erbringen.
Hier gibt es eine Verschränkung mit dem dritten Aspekt.

Behinderung als Folge kapitalistischer, rassistischer, ableistischer, sexistischer, adultistischer, ageistischer Gesellschaftsordnung

Viele Menschen nehmen an, dass bestimmte Strukturen ganz einfach aus dem Menschen natürlich inne liegenden Ideen entstanden sind.
Tatsächlich aber dient jede Struktur dem Erhalt, der Sicherung und dem Zugewinn von Macht durch Überlegenheit durch Einhaltung und also Bestätigung von Normen, die von der Mehrheit (also einer mengenmäßig überlegenen Gruppe!) der Menschen ohne Probleme eingehalten werden können. Egal, ob wir uns Schulen anschauen oder Eiscafés, ob wir ins Vereinswesen oder das Versorgungsamt schauen, ob wir unsere eigene Clique betrachten oder die unserer Eltern – immer kann man herausarbeiten, dass es da Normen gibt, die vorgeben, wer profitiert und wer nicht – und dass es in der Regel von Nachteil (und also auch behindernd) ist, nicht zu profitieren.

Bestimmte *ismen sind in unserer Gesellschaftsordnung so fest verankert, dass sie maßgeblich darüber entscheiden, wem was wann unter welchen Umständen und zu welchen Bedingungen zugestanden wird. Diese *ismen sind Rassismus, Sexismus, Ableismus (wozu auch Saneismus gehört), Ageismus, Adultismus und Kapitalismus.
Jeder *ismus ist ein abgeschlossenes Konzept. Das bedeutet, dass es sich immer von etwas abgrenzt und also Menschen mit bestimmten Eigenschaften ausschließt. Dieser Ausschluss ist das „Behinderung produzierende“ Moment und wir haben in unserer Gesellschaft nicht einen einzigen Aspekt des Lebens und Miteinanders, in dem niemand ausgeschlossen ist.

Bevor du diesen Text aber mit dem Gedanken verlässt: „Aha, also sind wir alle behindert, ja klar.“ und mir einen Vogel zeigst, bitte noch ein Mal kurz konzentrieren.

Es gibt Ausschlüsse, die kann ich gut verkraften. Ich muss nicht zu den Partypeoples gehören. Mir geht auch überhaupt nichts ab, wenn mir jemand nicht zutraut Olympiagold im Kugelstoßen zu holen. Aber es gibt Situationen, in denen so viele Ausschlüsse passieren, dass ich existenziell bedroht bin, weil ich nicht als behinderter Mensch, sondern nur als behindert oder schlimmer noch als Behinderung gesehen und behandelt werde.
Das kann zum Beispiel passieren, wenn man als schwarze behinderte Frau ein Kind alleine versorgt.
Weil viele Menschen annehmen, behinderte Menschen seien nicht sexuell attraktiv glauben sie auch, dass sie keinen Sex haben. Und wer keinen Sex hat, kann nicht schwanger werden. So kommt es vor, dass Menschen davon überrascht – und bürokratische Strukturen gesprengt – werden, wenn behinderte Menschen zu Eltern werden. Und wenn diese dann ganz spezifische Problemlagen haben, weil sie an anderen Stellen, etwa von Krankenkassen, dem Versorgungs- oder Integrationsamt ausgeschlossen werden – ihnen aber aufgrund ihrer sexistischen Rollenzuordnung als Frau oder Mann auch spezifische Anforderungen zu erfüllen abverlangt werden, die sie nur mit Unterstützung schaffen können.

In dieser Lage ist es nicht nur Ableismus das Konzept, das den Ausschluss und dadurch eine Behinderung produziert, sondern auch Kapitalismus (denn Versorgungsämter beispielsweise teilen Gelder (also Kapital) zu) und andere *ismen, die den Zugang zu dieser Struktur gewähren oder auch nicht. Das ist dann häufig Ageismus bzw. Adultismus – denn nicht die Kinder stellen die Anträge, sondern die Eltern bzw. gesetzliche Vetreter_innen – aber auch Rassismus. Der zeigt sich darin, dass Menschen, die nicht weiß sind, seltener gesagt wird, dass es Antragsmöglichkeiten gibt oder ihre Anträge weniger oft genehmigt werden, weil es die Annahme gibt, die Antragsstellenden würden lügen oder übertreiben, um sich staatliche Leistungen zu erschleichen, die ihnen nicht zustehen.

Wie man also sieht, ist das soziale Modell von Behinderung eines, in dem nicht die behinderte Person im Fokus steht, sondern die sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sie lebt. Mit diesem Modell über Behinderung nachzudenken ist komplex und geht nicht ohne auch über die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft nachzudenken.

zum Weltautismustag 2021

Gerade setzen wir „Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt, Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung“ von Lillian Schwerdtner (Link zur Verlagsseite). Es ist ein Buch, in dem mit vielen Fußnoten beschrieben wird, wer wann wie wo mit welcher Wirkung und warum über sexualisierte Gewalt spricht oder schweigt.
Während ich von Absatz zu Absatz scrolle, klicke, setze, verwebt sich in mir die letzte Therapiestunde – in der über erfahrene sexualisierte Gewalt gesprochen wurde – mit mir. Ich erfahre von den Gedanken eines Kindes, von einem Moment, in dem Bewusstsein über Unbewusstsein für alles außerhalb des eigenen Funktionierens auf dringenden Hilfebedarf von außerhalb trifft. Begreife, dass wir vielleicht nicht auf den Punkt des Innens gekommen wären, wüssten wir nicht vom Autismus und nicht, was „unser Autismus“ ist.

„Vielmehr wird Sprechen über sexualisierte Gewalt regelmäßig für Zwecke instrumentalisiert, die mit den Intentionen und Bedürfnissen der Sprechenden nicht übereinstimmen oder diesen sogar entgegenlaufen. Die Offenbarung von Erfahrungen sexualisierter Gewalt wird in solchen Fällen etwa zur Reproduktion und Rechtfertigung sexistischer, rassistischer oder klassistischer Vorurteile missbraucht“, fliegt aus dem Buch an mir vorbei und berührt einen Punkt, an dem ich zum Weltautismustag morgen kaue.

Seit wir hier darüber schreiben, werden wir öfter angeschrieben von Vielen, die sich „autistisch fühlen“ oder als Erklärung für „nicht traumabedingtes Verhalten“ Autismus heranziehen und sich fragen, wo man als erwachsene Person zu einer Diagnose Diagnostik kommen könnte. Wir antworten immer was wir können und wissen, urteilen nicht, wollen helfen und schaffen das wohl manchmal auch.
Aber.
Die Vorurteile bemerken wir auch. Die Annahmen, was Autismus sei und woran man ihn erkenne. Die Idee, Autismus sei eine Traumafolgestörung, eine von den ganz krassen ultra deepen für immer bestehenden Verletzungen, die man nicht sieht, aber eindeutig angetan wurden. Voll logisch bei Opfern. Die ja, ebenfalls voll logisch, auf jeden Fall für immer und ewig davon gezeichnet sind, was ihnen passiert ist und nur durch unfassbare Stärke/ein Wunder/ganz exzellente Traumatherapeut_innen Traumatherapie so etwas wie unauffällige Alltagsfunktionalität hinkriegen.
auch die ableistischen Vorurteile über Autismus und autistische Menschen bemerken wir. Das Konglomerat aus dem sich das Bild des zarten, weißen, cis, hetero und ergo zutiefst unschuldigen autistischen Mädchens ergibt, welches eigentlich super klug/konzentriert/über_natürlich ist und alles hätte sein und schaffen können, müsste es nicht immer schaukeln, weil es Zentrum der Gewalterfahrung war und durch die Unwillkürlichkeit der global überfordernden, schrecklichen, gewissermaßen retraumatisierenden Erinnerungen, praktisch immer wieder zum Opfer wird.

Wir stellen uns nicht so dar, schreiben nicht so, weder über „unseren Autismus“ noch über unsere Gewalterfahrungen bzw. unser Er_Leben mit deren Folgen, sodass wir uns nicht als Ursache für diese Vorurteile sehen müssen. Wohl aber werden unsere Erzählungen benutzt, um im Weltbild anderer Menschen Sinn zu erzeugen, den sie für sich annehmen und in ihre Selbstsicht integrieren können. Was nicht mit Absicht passieren wird und erst recht nicht mit dem Bewusstsein dafür, was das mit uns persönlich und dem, was wir hier erreichen wollen, macht, aber – as always – geht es bei getaner Gewalt nicht um Absichten, sondern um Verantwortungsübernahme und Veränderung, um (wieder) gut zu machen.

In meinem Text zum Weltautismustag wollte ich meine Unzufriedenheit über die Besonderisierung autistischer Menschen, die mehrfach marginalisiert sind, zum Ausdruck bringen und formulieren, wie frustrierend es ist, dass ebenjene Mehrfachmarginalisierung als Begründung für diese ausschließende Zuordnung herangezogen wird. Nun denke ich, dass ich mir das auch schenken kann, weil der Raum, in den wir hineinerzählen, einer ist, der unsere Erzählung einfach nicht aufnehmen, begreifen, ver-ich-lichen will, sondern einer, der uns als Quelle fremder Einflüsse wahr.nimmt und benutzt. Auch schon tausend Mal aufgeschrieben.

Schon die Einordnung in „Betroffene“ und „alle anderen“ ist ein Problem. – Auch eine schöne Fußnote in dem Buch übrigens: „If it takes a village to raise a child, it takes a village to abuse one.“ [1] – Ich weiß nicht, wie oft, wie lange, mit welcher Performance, zu welchen Punkten in der Geschichte noch erzählt werden muss, dass es so etwas wie „Unbetroffenheit“ nicht gibt, wenn Menschen anderen Menschen Gewalt antun. Wir sind nicht alle eins, aber die Welt ist ein Dorf und außer den Tod gibt es keinen realen Ausschluss.
Realer, wirklicher Ausschluss würde es ermöglichen, ganz eigene Strukturen zu entwickeln. Wir könnten sie einfach haben die Nachwachshäuser, die Dörfer voller Autis, Depressiver oder Zwängler_innen und könnten drauf kacken, was die Normalen machen. So läuft es ja aber nicht. Und zwar, weil es diesen Ausschluss braucht. Er wird gebraucht um normal, funktional, fähig zu definieren.

Scheiße ist das.
Und Realität.

Eine, in der ich mich frage, ob, wenn ich hier veröffentliche, was ich über „unseren Autismus“ lerne und verstehe, dies als Vorlage missbraucht wird, um sich nicht aufrichtig mit sich selber und den Gründen dafür zu befassen, weil es nach wie vor die Denke gibt, ausgeschlossene Menschen könnten nicht selber ausschließen, Verletzte nicht selbst verletzen, als „richtig echte Opfer“ eingeordnete Menschen, nicht selbst der Grund dafür sein, dass es „nicht echte Opfer“ gibt.
Dafür muss ich keine Verantwortung übernehmen und das wird auch nie der Grund sein, hier nicht mehr zu veröffentlichen – aber: Es braucht alles das hier nicht, um zu wissen, dass es das gibt. Ich brauche das hier für mich und mache es für alle zugänglich, weil ich damit nicht allein sein möchte. Das ist das eigentliche Dilemma und das, was mich einfach sehr schmerzt: Der Versuch, der Wunsch, das zutiefst menschliche Bedürfnis, sich mit einer Gesellschaft zu verbinden, von der nicht zu erwarten ist, dass sie sich gemeinsam mit mir macht, weil sie sonst anerkennen müsste, was sie Menschen wie mir warum antut und sehr viel ändern müsste.

 

[1] Brachmann, Jens (2019): Täter, Tätersysteme, Ermöglichungsbedingungen sexualisierter Gewalt. In: Jens Brachmann (Hg.): Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 27–311.

der Nichtschweigeskill

Wir gehen gerade mit einer Situation um, in der eine Person etwas über eine andere Person behauptet und sich das weiterträgt. Gossip, Klatsch, Rufschädigung, Gerüchtestreuung. Sowas in etwa.

Wir haben nicht oft mit solchen Dingen zu tun, denn die meisten Leute, die uns so etwas antragen, tun das in der Regel nur ein Mal. Mit uns macht sowas einfach keinen Spaß, denn wir reden mit möglichst mit allen Leuten gleich, sind froh, wenn wir nicht vor den Einen dieses und vor den Anderen jenes sagen müssen, um mit ihnen Zeit verbringen zu dürfen. Wir haben keine Kraft dafür, denn es kostet uns schon Kraft uns zusammenzuhalten. Mitzukriegen, wer von uns mit wem was wie laufen hat – das können wir im Außen einfach nicht tragen. Vielleicht mal kurz, wenn eine Situation das erfordert, aber selbst dann brauchen wir Leute, denen wir sagen können, dass wir da grad was tragen, damit wir das schaffen.

Jedenfalls.
Diese Situation und das was sie macht, erinnert mich an Schweigegebote.

Schweigegebote haben für uns mit “mitmachen” zu tun. Gebote sind für uns Regeln, denen man zu folgen strebt.
“Sag nichts, dann passiert irgendetwas, wofür sich das lohnt/ passiert was Gutes/Wichtiges/Richtiges”.
Das heißt: man verspricht sich etwas davon oder bekommt etwas versprochen.

Im alltagsgewaltvollen Umgang bedeutet das, dass viele Leute Dinge einfach nicht sagen, weil sie sich etwas davon versprechen. Keinen Stress und akute Harmonie vielleicht. Jemandem nicht zu sagen, dass sie_r krassen Mundgeruch hat ist zum Beispiel so eine Sache. Man redet nicht darüber. Es gibt ein soziales Schweigegebot darüber. Vielleicht ist es auch ein Tabu – wobei mir dazu gerade die Abgrenzung nicht einfällt und ich eigentlich auch gar nicht über Tabus schreiben will.

Anyway.
Interessant finde ich, wenn Gewaltüberlebende/Gewalterfahrene und ihre Verbündeten (und deren Behandler_innen)so etwas miteinander machen. Die Einen über die Anderen, diese über jene und “Ach DIE also NEE!”, bei gleichzeitiger Weitergabe von so etwas wie “Aber pscht, ne?!” oder schlimmer noch: von sich selbst wegtransferierte Verantwortung für die Weitergabe von Gerüchte, Klatsch und Hörensagen über Personen, die nicht im Raum (und bereits damit konkret unterlegen!) sind.

Der Klassiker ist da das Gerücht ohne Urheber_in.
Dem kann man nichts entgegnen, man kann evtl. zugrunde liegende Missverständnisse oder Fehlinformationen nicht aufklären. Als Opfer/Ziel von einem Gerücht ohne Urheber_in ist man maximal ohnmächtig und soll es auch sein. Man soll nur die negativen Auswirkungen zu spüren kriegen und die_r Urheber_in im Schutz der Unsichtbarkeit bleiben können.

Interessant finde ich das, weil es ein Verhalten von Kindern ist, die die Schwächen/”Fehler” anderer zielsicher finden und gegen sie zu verwenden, sobald diese sie verlassen oder kränken oder verletzen oder oder oder. Solche Kinder haben meistens lügen, tarnen, verwässern und verwischen gelernt, um zu überleben. Und das ist ein Skill. Einer, der sehr feine, gut funktionierende Antennen für soziale Geflechte und eine gewisse “akute Skrupellosigkeit” im Miteinander erfordert.
Lügen, zum Beispiel, bedeutet ja nicht nur die Unwahrheit zu sagen oder Dinge vorzugeben, die nicht stimmen – man muss in der Regel schnell sein, erfassen, wie und womit sich das Gegenüber überhaupt täuschen lässt und dann darf man die Lüge das ganze Leben lang nicht vergessen, weil man ja vielleicht immer mit der Person zu tun hat.
Deshalb nenne ich das einen Skill. Menschen so lesen zu können, kann an anderen Stellen sehr hilfreich sein.

In einer Szene, die sich zusammenfindet, weil es Menschen gibt, die andere Menschen von Kleinkindalter an belügen, verwirren, ihre Motivationen verwässern und und und, ist das meiner Ansicht nach so zynisch wie logisch.
Das Eine schließt das Andere nicht aus und trotzdem ist es bitterbitterbitter, weil das bedeutet, dass solche Zusammenschlüsse (noch) nicht als etwas gesehen werden (können), in denen neue Möglichkeiten probiert und gelebt werden können, um bewährte Fähig- und Fertigkeiten umzumünzen in etwas, das die Gewalt nicht weiterträgt.

Wir sprechen sowas immer an. Sind transparent mit dem was uns über andere Leute erzählt wird, vorrangig um uns selbst zu entlasten, denn wie gesagt: wir sind nicht gut in so etwas.
Wir erkennen den sozialen Sinn für uns nicht*, erkennen aber sehr wohl die Gewalt darin und das, was sie machen soll. Gerüchte sollen verunsichern. Niemand soll sich mit einer Person sicher fühlen – bei urheber_innenlosen Gerüchten geht es oft sogar darum sich gar nirgendwo und mit gar niemandem sicher zu fühlen.
Wie das bei Menschen andockt, die sowieso schon jeden Tag mit Angst umgehen und enorm vieles leisten, um sich sicher zu fühlen, ist denke ich klar.

Manchmal merke ich, dass unser Umgang mit solchen Sachen irritiert, Schuldgefühle auslöst oder sogar als Zeichen von Unsolidarität gelesen werden. Und dann fühle ich mich nicht nur sozial unfähig, weil ich wieder denke, dass es da vielleicht doch irgendeinen geheimen Wink gibt, den zu erkennen ich einfach unfähig bin, sondern auch noch mies, weil wir damit umgehen, wie wir damit umgehen: nicht schweigend oder verdeckend.

Wir machen das nicht, weil wir uns für ein moralisches Neutrum halten, wir machen das, weil die beste soziale Interaktion, die wir hinkriegen die dingliche/sachbezogene ist.
Wenn wir klar haben worum es geht, warum wir was wie machen und wollen und was das Ziel sein soll, dann kann es für uns auch mal emotional werden oder um Dinge gehen, die heikel sind. Aber wir brauchen den konkreten Bezug.
Und der konkrete Bezug ist Leuten, die Gerüchte oder Gossip oder auch einfach bloßen Klatsch verbreiten, meistens scheiß egal oder völlig wegdissoziiert. Die meisten Leute, die das machen, haben nicht klar, dass es um sie geht, wenn sie über andere (schlecht) reden.

Wir kennen jemanden, die_r wenn wir sie_ihn treffen, immer schlecht von Leuten redet, mit denen sie_r selbst persönlich überhaupt nichts zu tun hat. Einfach so als normaler Talk, ganz oberflächlich und manchmal auch ganz in dem Ton wie Bunte, Glamour und Bild der Frau titeln.
Wenn die Person mit den Leuten an einem Tisch säße, würde sie ihnen das nie sagen.
Durch unsere Beziehung und eben diesem Hang zum Reden über andere Leute vor anderen Leuten, habe ich Angst jemals irgendwen von den Leuten zu treffen, über die diese Person spricht. Was wenn ich sie mal treffe und dann macht sie diese Sache von der die Person so schlecht geredet hat? Darf ich dann sagen, was ich von wem darüber gehört hab? OF COURSE NOT!

Oder doch?
Wovor ich Angst habe ist, dass die Person von da an auch schlecht über mich redet. Wobei sie das vermutlich sowieso schon tut, ich bis jetzt nur noch nichts davon weiß. Sicher kann ich mir darüber nicht sein.
Gesetzt den Fall ich würde es sagen, wäre die unangenehme Situation da und das Moment, in dem eine oder vielleicht auch wir beide anerkennen müssen, dass es vor allem deshalb unangenehm ist, weil man plötzlich nicht nur mit “Verrat” oder “Gebotsbruch” umgehen muss, sondern auch damit, dass es keine Routine im gewaltfreien Umgang mit solchen Situationen gibt.

Wir sind nicht so gut in sozialer Ausschlussperformance – also: Schweigen als soziales Mittel, Leute dissen oder Leute anziehen, um sie “auf unsere Seite zu bringen”, darin sind wir ziemlich schlecht.
Was wir können sind Reflektionen, Analysen, Auseinandersetzung, Fragen stellen, Klarheit schaffen und daraus Überlegungen anstellen, was helfen könnte.
Very konkret, much dinglich.
Und: ohne Schweigen
Unser ganz eigener Nichtschweigeskill.

Ich persönlich finde das okay so.
Und ich denke, dass das vielleicht auch ein guter Skill ist. Also heute jedenfalls.
Früher war das oft nicht sehr hilfreich. Und auch heute ist es im sozialen Miteinander eher irritierend.
Aber heute bedeutet Irritation keine Lebensgefahr mehr. Wir müssen nicht schweigen und wir müssen die verschiedenen Schweigerituale anderer Menschen nicht mitmachen – auch wenn wir uns deshalb manchmal nicht gut damit fühlen, weil wir nachwievor allzu oft allein damit sind. Obwohl wir uns in Szenen bewegen, die viel von unserem Er_Leben teilen.

Aber wir sind ja nicht die einzige Person auf der Welt, der es manchmal so ergeht, oder?

 

*@mthsblgr hat uns gestern noch geschrieben, dass der soziale Sinn für manche Leute darin liegt, sich über die Abgrenzung zu anderen Menschen mit jemandem zu verbünden bzw. eine Bindung aufzubauen, ohne sich selbst sehr zu öffnen.

Da muss man erstmal drauf kommen. Für uns ergibt das keinen Sinn. Muss es ja aber auch nicht.

der Unterschied zwischen Gefängniszelle und Akutpsychiatriezimmer

erstmals erschienen auf Maedchenmannschaft.net, 20. 4. 2018

 

“Depressive sollen wie Straftäter behandelt werden” hieß es in dieser Woche mehrfach in großen Medien, als es um den Gesetzesentwurf eines neues “Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz” ging.
Die Kritik kam schnell und laut. Fachverbände, Interessenvertretungen und Parteien äußerten sich negativ dazu. Auf Change.org gibt es inzwischen sogar eine Petition. Zahlreiche Demonstrationen wurden angekündigt.

Nun gut. Besser als nix, denke ich und bin doch einmal mehr enttäuscht von der scheinbar vergangenen Chance einer umfassenden Systemkritik.
Das bin ich aus Gründen der eigenen Psychiatrieerfahrung und aus Gründen, die etwas mit Menschenrechten zu tun haben.

Zu Beginn ein Beginn:

Was zeichnet Menschen aus, die gesellschaftlich akzeptiert und juristisch legitimiert in totalitär organisierten Kontexten verwahrt, beheimatet, versorgt, am Leben gehalten, bestraft werden?

In aller Regel sind es Menschen, die in irgendeiner Form divergent, also “abweichend” sind. Wovon sie abweichen, ist meistens eine oder sind mehrere gesellschaftliche, kulturelle, medizinisch definierte Norm.en.
Manche sind mit einem Körper geboren worden, der anders gepflegt, anders versorgt werden muss, als die der Mehrheit der Menschen. Manche Menschen haben aus Gründen bestimmte Strategien und Anpassungsfertigkeiten entwickelt, die sich später als etwas herausstellen, das nicht (mehr) bei der Anpassung an die eigenen Lebensumstände hilft.

Manche Menschen haben auch gegen das Gesetz (also eine juristische Norm) verstoßen. Manche, weil sie das wollten, die meisten, weil sie es konnten und ein paar sehr wenige, weil sie sich in einem (vorübergehenden) Ausnahmezustand (zum Beispiel aufgrund einer (chronischen) Erkrankung) befanden.

In unserer Kultur gibt es genau einen strukturell etablierten Umgang mit Abweichung: Kontrolle, Regulierung, Zwang.
Also: Autorität

Autorität steht für viele Menschen als ein Garant für Sicherheit.
Ist da wer, die_r sagt: “X ist gut, Y ist schlecht, aber da kann ich was gegen/mit machen”, ist das für viele Menschen eine Entlastung. Sie müssen sich nicht kümmern, sie können Verantwortung, Belastung und Anstrengungen auslagern. Sie müssen in keiner Form irgendwelche Kompetenzen entwickeln oder das Fehlen einer Kompetenz als Defizit an sich erleben.
Im Kleinen kennen das wohl alle, die mit Vorliebe in Gruppenarbeiten gehen, wenn der oder die Klassenbeste mit dabei ist. Das Problem an so einer Vorliebe ist die Zuweisung von Autorität und damit auch: Macht.

Das Problem mit Macht ist, dass sie absolut werden kann, wenn man selbst keinerlei Kompetenzen oder Befugnisse oder Optionen zur Verfügung hat und also immer davon abhängig ist, ermächtigt zu werden.
Selbst- und Mitbestimmung wird damit zu einem Privileg.

Nun ist es so, dass sowohl das Grundgesetz von Deutschland, als auch die Menschenrechte, genau diese Absolutwerdung von Macht verhindern sollen. Und zwar, indem sie so etwas sagen wie: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”.

Besonders im Artikel 1 der allgemeinen Menschenrechtserklärung steht, was so fundamental gebrochen wird, wenn Menschen zum Beispiel in eine Psychiatrie zwangseingewiesen und unter Umständen auch zwangsbehandelt werden:

“Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.”

Nichts an oder in einer Psychiatrie wahrt die Würde eines Menschen. Wirklich. Nichts.
Der Unterschied zwischen einer Gefängniszelle und einem Akutpsychiatriezimmer ist das Klo.

Und während dieser Unterschied marginal ist, so könnte die Ungleichheit von Patient_in und Pfleger_in und Behandler_in besonders in diesem Moment kaum größer sein. Vor allem, wenn man als Akutpsychiatriepatient_in mit Suizid(zwangs)gedanken 24 Stunden Einzelüberwachung (je nach Klinikausstattung auch mal in einem Zimmer, in dem eine Scheibe ist, durch die das Pflegepersonal hineinschauen kann) ertragen muss und nicht einmal allein zur Toilette darf.

Die Ungleichheit besteht dann nicht nur darin, dass die einen Menschen Befugnisse haben, die andere nicht haben. Sie wird auch produziert, indem die einen Menschen als “krank”, die anderen als “helfend” eingeordnet werden.

Und sie wird aufrecht erhalten. Nämlich dann, wenn die Probleme, die zu einer (Zwangs)Behandlung in einer Psychiatrie geführt haben, auch später bestehen bleiben. Um von Menschen behandelt zu werden, die fachlich ausgebildet und kompetent darin sind therapeutisch mit seelisch belasteten Menschen zu arbeiten (also zum Beispiel Psychotherapeut_innen), braucht es erneut eine Diagnose, ein Antragsverfahren zur Finanzierung, wieder entsteht ein Ungleichgewicht der Mächte zwischen Behandler_in und Patient_in. Und selbst, wenn man das alles hinnimmt, wird den Bedarfen oft nicht entsprochen.

Für manche Menschen geht das alles nicht zusammen. Menschenrechtsverletzung und Hilfe(einrichtung).
Das geht für manche nicht zusammen, weil sie sich nicht fragen, was genau Hilfe für wen wann warum sein soll.

Wie genau soll denn fremd- oder selbstgefährdenden Menschen eine aufgezwungene Maßnahme helfen?
Was konkret ist das hilfreiche Moment einer Zwangsunterbringung gegen Halluzinationen und Wahnideen, die einen Menschen als divergent markieren?

Noch weniger Menschen fragen sich, warum die Hilfe woanders passieren soll, als bei ihnen oder den betreffenden Personen zu Hause oder an einem anderen frei wählbaren Ort.

Was außer Unwillen relevanter Instanzen spricht dagegen Regelungen und Betreuungmöglichkeiten im Wohnraum einer Person, sofern sie einen hat, zu etablieren?
(Gewünschte) Medikamente und unterstützende Gespräche wirken auch im heimischen Wohnzimmer mit Zugang zum eigenen Klo, zum eigenen Kühlschrank. Und: zur gewohnten sozialen Umgebung, die durch fachlich fundierte hilfreiche Unterstützung vielleicht Umgangskompetenzen entwickeln kann, die sowohl Stigmatisierungen entgegenwirken, als auch zukünftige Krisen vielleicht sogar ganz allein managen lernen kann.

Sich nicht mit diesen Fragen und Ideen von Behandlungs- und Unterbringungsalternativen auseinanderzusetzen ist das Ergebnis eines Systems.

Eines Systems, das einer von Institutionen verkörperten Instanz die Macht verleiht zu bestimmen, wer krank ist und wer nicht, wer frei sein darf und wer nicht.

Eines Systems, das Diagnosen erstellt, um Divergenz zu konstruieren und festzuschreiben, statt Selbstbeschreibungen anzuerkennen.
Eines Systems, das Heilung verspricht, die aber nur dort oder von dort als solche ausgezeichnet passieren kann.

Eines Systems, das als freiwillig wählbar gedacht wird, jedoch immer aus einer Art Zwang heraus in Anspruch genommen werden muss.
Denn: Es gibt keine Alternativen mit gleichen Befugnissen, mit gleicher Finanzierungssicherheit – mit gleicher Autorität.
Wenn man nur zwischen großer Not zu Hause und großer Not in einer Psychiatrie wählen kann, dann ist das keine echte Wahl. Niemand geht wirklich freiwillig in eine psychiatrische Klinik.

Niemand geht auf die Art freiwillig in ein Pflege- oder Wohnheim. Niemand geht freiwillig in den Knast.
Für manche Leser_innen mag zwischen diesen drei Einrichtungen ein großer Unterschied sein, doch tatsächlich ist es keiner.

Allen drei Bereichen ist eines gemeinsam: sie sind Deutschlands Orte, an denen Menschenrechte legal und von der Öffentlichkeit in keinster Weise infrage gestellt beschnitten werden. Es sind Institutionen, die Ausschluss normalisieren und gesellschaftliche Normen negativ definieren.

Wo Ausschluss passiert, entwickeln sich Dynamiken, die das Gewaltrisiko steigern.
Ältere Menschen die über Nacht ans Bett fixiert werden, die Sedativa (Beruhigungsmittel) verabreicht bekommen, an denen medizinische Studien gemacht werden, ohne ihr Einverständnis einzuholen – ist alles schon passiert und passiert vermutlich noch immer irgendwo.
Pflegekräfte, die ausgebeutet, fachlich wie emotional chronisch überfordert werden – Erzieher-, und Betreuer_innen, die alles dokumentieren müssen, doch kaum zu dem kommen, was sie eigentlich tun wollen: Menschen unterstützen.

Die Gewalt in Institutionen entspringt nicht nur den Strukturen, die sie legitimieren, sondern auch der Gewalt, die sie verkörpern.
Und darüber wird im Moment nicht gesprochen.

Dass es in Deutschland nur deshalb die Heim-Klapse-Knast-Triade gibt, weil es für wichtig, richtig und nötig gehalten wird, divergente Menschen zu normieren.
Und zwar mit allen Mitteln.
Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Reflektion und Abwägung von Langzeitfolgen.

Psychiatrieerfahrene Menschen wie ich schildern schon seit Jahrzehnten von den desaströsen Folgen, die Zwangsbehandlungen und Zwangeinweisungen, Falschbehandlungen und übergriffige Behandler- oder Pfleger_innen für sie hatten und haben.

Hören wollen das die wenigsten, die nie eine Psychiatrie von innen gesehen und üb.erlebt haben. Die meisten jedoch wissen, dass ihnen das auch passieren kann.
Und dass sie am Arsch sind, wenn es ihnen mal passiert.

Die Öffentlichkeit ™ weiß, was für ein rechtsloser Raum solche Einrichtungen sein können.
Trotzdem wird lieber darüber geredet, dass solcherart gestaltete Räume für manche Leute ja schon in Ordnung seien – zur Strafe für eine Straftat zum Beispiel – aber nicht für „psychisch kranke“ Menschen.

Auch da die Frage: Was genau soll die Strafe an einem Gefängnisleben sein? Warum soll die Antwort auf Fremdgefährung oder illegale Handlungen eine Art der Gewalt sein, die ihrerseits nie bestraft werden kann?

Warum ist es so wichtig eine letzte all über allem stehende Gewaltinstanz immer und immer zu behalten?
Aus Gewalt ist noch nie irgendetwas hervorgegangen, was dem menschlichen Miteinander in irgendeiner Form zu mehr Offenheit, Toleranz, Akzeptanz, Respekt, herzlicher Nähe verholfen hat.

Autoritäre Institutionen wie die Psychiatrie und alle, die davon profitieren, werden nicht dazu beitragen sich abzuschaffen und unnötig zu machen.

Aber vielleicht kann man ja mal über Alternativen sprechen.
Und etablierte Alternativen unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen.
Wenigstens das.

die Leben der Anderen

Ich habe eine Suchanfrage auf meinen Blog gesehen, die da lautete:
Wie ist das Leben als multiple Persönlichkeit?
Ob der Mensch, hier bei mir, eine Antwort auf die Frage bekommen hat, weiß ich natürlich nicht, aber ich fand die Frage irgendwie schön- stelle ich sie mir doch auch öfter mal.

Wie ist mein Leben denn so? Was führe ich für ein Leben- und was für ein Leben führt mein Innenleben, während es so tut, als wäre es ihres?
Ich glaube, manche (auch in meiner direkten Umgebung) denken, es wäre mehr oder weniger gleichförmig: aufstehen, überleben, Hund, Gemögte volljammern, zwischendurch mal was aufs Papier bringen, hinlegen.

Nun, für mich ist es auch so. Das ist mein Leben. Das ist was ich erinnere.
Ich weiß, dass ich aufstehe, weil ich mich in meinem Bett befinde und aufstehe, bevor ich auf die Bewegung meiner Hündin sofort wieder nach innen wegkippe.
Das Jammern kommt mit dem Kontakt und irgendwann finde ich mich dann am Laptop wieder und sehe meinen Händen zu, wie sie über die Tastatur tanzen, schreibend von dem Leben und Gedanken der anderen. Ich stehe auf und gehe zu meinem Bett und weiß, dass ich wieder überlebt habe.

Alles andere ist nicht meins.
Ich sehe Vorlesungsverzeichnisse, Notizen, Bücherwünsche und verzweifelte Dialoge über Dummheit, Unfähigkeit, quälenden Wissensdurst und Ohnmacht sich nicht richtig satt zu bekommen.
Manchmal stolpere ich über Gemälde und Stoffcollagen, um sie Tage später als verkokeltes Knäul im Müll wiederzufinden, weil der Auftraggeber unzufrieden war. Ähnliches bei Handarbeiten und gebauten Volieren und Käfigen.
Plötzlich habe ich Geld auf dem Konto vom Verlag einer Zeitschrift für einen Artikel der bald erscheinen soll. Ich suche nach ihm in meinen Unterlagen und entdecke dabei, welche Ausmaße mein Manuskript für das Buch inzwischen hat- obwohl ich nicht einen Tastenschlag gemacht habe. Finde Flyer, Plakate und Demotermine von Umweltaktivisten, Freizeitrevolutionären, Feministen, Maskulinisten, Bilder die unglaubliche brutale Gewalt darstellen und dazwischen zuckrig pinke Krickelbilder von Feen und Elfen.
Wenn ich mal das Glück habe, einen Spaziergang mit dem Hund ganz zu erleben, grüßt mich jeder dritte Spaziergänger, weil ich schon mal für ihn gearbeitet habe. Ich kenne keinen einzigen von ihnen.

Und über allem und allem schwebt Angst. Mein Leben ist das, was andere den “Zustand zwischen Angst die sich beruhigt und Angst die sich langsam wieder aufbaut bis zum Point of no return” nennen. Es passiert nichts, wenn ich da bin, weil nichts in mir passiert. Ich kann nichts und bin nur da, um die Lücke zu füllen mit meinem Nichtssein.

Auf die gleiche Frage antwortet mein Innenleben ganz anders.
Ihr Leben ist bunt. Sie schaffen richtig fast freundschaftliche Kontakte, könnten fast ein richtiges Studentenleben führen hätten sie nicht so viele Amnesien, jemand malt und gestaltet auf Auftrag unter seinem Innennamen- wird geschätzt für seine Arbeit und hat doch nichts davon, weil er genau wie ich wieder nach innen wegbricht, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Da sind die Handwerker, die auch im Winter auf Dachstühlen herumklettern, weil sie den Zimmerern beim Arbeiten zugucken, um zu lernen. Da gibt es so viele Möglichkeiten und Optionen, so volle Tage. Niemals ist es wirklich so, dass der Körper einfach nur in der Gegend herumsitzt und Depressionen oder Schlaflosigkeit ausbrütet, weil er keinen Input oder Sonne bekommt. Alles das könnte, wenn es nicht multipliziert auseinandergerissen und autark nebenaneinander her laufen würde, sogar das sein, dass uns ein Auskommen ohne Hartz4 zu bescheren in der Lage wäre.

Und doch ist das alles nichts, was ich angeben kann, wenn mich jemand fragt, was für ein Leben ich so führe. Es ist nicht meins.
Es ist das Leben der Anderen, in meinem Leben drin.

Ihre Leben sind ewig ungesehen, unerwähnt, nicht geschätzt. Unsichtbar, wie sie selbst, wenn ich mich wie die Rinde eines Baumes um sie lege.

All ihr Können zählt nicht, weil es ausgestanzt und entfernt von Offizialität und den nahen Kontakten aufblüht.
Wir haben keine Berufsausbildung, haben nie mehr geschafft, als einen Realschulabschluss an der Abendschule. Sie sind nicht in der Lage ihr Leben durchgängig zu leben und es mit meinem zu verbinden.

Ihres ist gestückelt wie meins.
Universum in Universum in Universum.
Menschenleben in Menschenleben in Gesellschaft in der nur zählt, was durchgängig, ewig gleichförmig, so wie eins-dimensional gelebt wird.

zum Thema Politik

Wir wurden von der örtlichen Selbsthilfegruppe für Menschen mit DIS ausgeschlossen.
Begründung: Wir sind zu politisch drauf.
Ja… neben der Kränkung meines Egos und den üblichen Kreisen, die so eine komplette Ablehnung und die absolut anmaßende Haltung “der Gruppe” bei uns lostreten, habe ich mir ernsthafte Gedanken zu meiner Politischkeit (ernsthaft- es gibt kein anerkanntes Nomen dazu!) gemacht. Und wieso sie ein Ausschlussgrund von der einzigen Gruppe in der gesamten Region, in der ich als Mensch mit Menschen in mir, sowas wie eine Insel gegen mindestens Einsamkeit inmitten meiner Vielfallt hätte erleben können, sein soll oder könnte.

Und nachwievor gibt es keinen Grund der mir so offensichtlich und logisch erscheint, dass ich mich vor einer Gedankenwegwahl sehe.
These a) sie haben schlicht keinen Bock aus ihrem lauschigen Plüschnest aus netten Kinderspielen und nebliger Alltagsschafferei heraus zu treten und wollen mit der Gruppe eine schöne kleine Insel haben
(oh huch- erwähnte ich nicht gerade irgendwie schon sowas wie ne Insel …?)
These b) in den letzten 3 Jahren (da waren wir nämlich auch schon da und sind nur gegangen, weil uns die ständige Unzuverlässigkeit zu dem Zeitpunkt nervte) haben alle Teilnehmer das Hellsehen gelernt und können meine Reaktionen, Gefühle, Gedanken und Meinungen inzwischen per Ferntelekinese vorhersagen
(Sowas gibts!- Gibt voll viele Leute, denen voll viele Leute glauben, dass die das können! Jajajaaaa!)
These c) Unser abartiger Schuld- Schande-Scheißedunst der uns aus allem Poren trieft hat ihre feinen Nasen erreicht und sie haben keinen Bock auf Dauerkotzen durch direkte Nähe…
These d) vielleicht sind sie auch einfach so arrogant und das Ganze hat nichts mit mir zu tun und die politischen Bestrebungen, die wir tatsächlich auch haben (neben vielem vielem Anderem, bei dem uns eine Gruppe von Menschen denen wir die Basis unserer Gefühle nicht großartig erklären müssten, wirklich als sehr hilfreich erscheinen würde!) sind ein feige vorgeschobener Grund

Hm…Ich habe mich für eine Mischform der Thesen a und d entschieden und frage mich, ob es
a) verboten ist eine politische Haltung einzunehmen, wenn man als direkt betroffener Mensch kein Bock mehr auf immer wieder aufgedrückte Ohnmacht und Hilflosigkeit hat
oder b) ganz grundsätzlich einfach nicht erwünscht ist, etwas verändern zu wollen.

Wenn ich die Zeitung aufschlage (mich also mit der “großen bösen Welt befasse und mein lauschiges Plüschnest verlasse”), könnte ich selbige in der Regel nach 5 Minuten als Serviette verwenden, um mir den Mund nach dem Kotzen abzuwischen. Und das geht mir bei fast allen Massenmedien so. Entweder wird mir graphische Gewalt angetan, in dem mir Fotos ins Gehirn gedrückt werden von zermalmten- zerbombten-tot misshandelten Menschenkörpern oder ich begegne einer Berichterstattung die alles sein kann- ausser sachlich, neutral und berichtend. Und das obendrauf noch über Zustände und Gegebenheiten die einfach nur stinken!
Und weil ich sowas einfach nicht leiden kann, mache ich den Mund auf.
Früher nannte man das “eine Eingabe” machen oder auch: “sich beschweren” (interessantes Wort, nicht wahr? “sich beschweren”- sich selbst, seiner Stimme, seiner Meinung, ein Gewicht verleihen…!). Heute sagt man: “meckern” oder “politisch drauf sein”.
Ja nett, dann bin ich eben ein Freizeit- Revolutionär- und zwar der egoistischste den es geben kann!

Ich bin politisch, damit es mir gut geht. Ich will etwas verändern, weil ich mich, um jetzt mal bei dem Beispiel wirklich furchtbaren Fotos in Zeitungen oder auch in Internetmagazinen zu bleiben, von Gewaltdarstellungen richtigehend ver-gewalt-igt fühle! 
Ich will Anteil an der Welt haben- ich will dazu gehören. Ich will wissen was passiert, wie es den Menschen auf der Welt geht. Ich will erfahren was mein Handeln, oder das Handeln, welches in meinem Namen passiert- jeder scheiß Panzer in Afghanistan trägt irgendwo meinen Namen!!!- für Auswirkungen hat! Und das was ich da sehe, gefällt mir schlicht nicht!
Selbst ich- die wirklich winzige Kreise um sich hat, spürt die Auswirkungen dessen, was in der Welt und in der Politik- die ja letztlich uns alle Menschen in Deutschland vertreten, schützen, organisieren und irgendwo versorgen und sichern soll- passiert.

Ich sehe an meiner kleinen Welt:
Keine Arbeit, weil es unsere Bundesregierung nicht schafft, Menschen mit (seelischer) Behinderung in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Keine wirklich freie und sinnige Gesundheitsversorgung, weil weite Teile des Leistungskatalogs immer mehr privatisiert werden. Für jemanden ohne Arbeit und mit Hartz4 stellt sich tatsächlich dann auch so eine Frage: “Zahnfüllung oder Wocheneinkauf?” Natürlich entscheide ich immer wieder für den Wocheneinkauf!  Denn: Wenn ich hungern muss, um meinen neuen Zahn zu bezahlen wird es richtig düster! Denn:  alle meine Zähne sind schon deshalb so kaputt, weil ich unter der staatlich geförderten Fehlernährung und der Nichtfinanzierung der richtig echten Therapie meiner Essstörung leide! Spätestens im Oktober ist Obst und Gemüse- oder gar Fleisch- einfach nicht mehr zu bezahlen. Eine Ernährungstherapie bekommt man nur noch bezahlt, wenn man Muselmann ist… Lebensmittelgutscheine werden im nächsten Monat von Satz abgezogen… und so weiter und so weiter… Als gesund gilt, wer noch nicht tot ist- und dann entscheiden die alten Statuten von Anno tuck wann wer welche Hilfsmaßnahmen in Anspruch nehmen darf und wer eben noch zu gesund ist. Prävention und Vorsorge- zukunftsorientiertes (Be)Handeln steht dann nur noch als Kundenlockmittel und moralisch wichtiges Wort auf dem Flyer des Wirtschaftsunternehmens, dass wir Krankenversicherung oder auch staatliches Gesundheitssystem nennen.

Unsere Politik fährt einen “Pflaster drauf- gucken wir am D-Day drauf- wenn sie Schmerzen haben nehmen sie ne Droge”- Kurs! Und zwar durch die Bank weg in allen Bereichen- die alle- samt und sonders mindestens unser direktes Leben tangieren! Und jeder der einmal kurz darüber nachdenkt, was das für ihn im ganz ganz kleinen Rahmen, nur für sich allein in seinen 4 Wänden und seiner ganz eigenen Lebensrealität, bedeutet, müsste eigentlich sofort überlegen, wo er Plakatfarben, Karton und nen Knüppel herkriegt!

Aber wir haben ja so eine Angst. Wir sind ja nix (wir hören ja auch nichts anderes- ausser kurz vor der Wahl) und wir haben ja keinen Einfluss…die da oben… was bin ich dass…nutzt ja alles nix…
Fällt jemandem was auf?
Wir machen uns klein! Wir machen uns leicht- lassen uns und unsere Probleme, Forderungen und Ansprüche auf “die leichte Schulter” nehmen! Wir haben aufgehört uns zu be-schweren!

Ich bin sehr dankbar um diesen einen dicken fetten großen Resilienzfaktor in meiner Persönlichkeit. Ich habe kein Problem damit mich zu be-schweren und mich im letzten Schritt auch unbequem zu machen, wenn es darum geht etwas zu erreichen, dass mir Erleichterung, Ver-Sorgung, Ver-Pflegung verschafft. So habe ich mich schon einmal gerettet- so will ich mich nun auch retten.
Ich bin das, was man eigentlich mal sogar noch als sehr gefährlich betrachten kann, selbst wenn ich nie mit Steinen oder Molotowcocktails werfen oder Autos anzünden würde, um meine Forderungen anzubringen und vielleicht sogar durchzusetzen.
Ich habe nichts zu verlieren!
Ich habe die Hölle gesehen. Ich habe sie leben und überleben müssen.
Ich habe kein Ansehen, keine Würde und einfach ganz grundsätzlich rein gar nichts zu verlieren! (ausser mein Leben- was mir in dem Moment aber ja wurscht wäre, weil ich dann eh schon tot wäre…)

Und die vielen vielen anderen tausend Menschen da draussen, die auch Opfer sind, die auch unterversorgt sind, die auch nach Strich und Faden an der Nase herum geführt werden (entweder in die Psychiatrie oder ins Bestattungsunternehmen hinein) geht es ganz genauso!

Wir sind eine große Gefahr für das System, das hier gerade läuft. Sollten wir nicht wenigstens unsere Masse nutzen um uns zu „be-SCHWEREN”?!
Sollten wir uns nicht einfach nur schon dadurch, dass wir uns (völlig friedlich!) alle die wir da sind, auf einen Haufen setzen zu einer Stimme zusammen finden, auf das wir endlich von der leichten Schulter runter kommen?

JA! Sollten wir!

Und was machen wir statt dessen?
Wir schliessen einander schon von vornherein aus, weil es einzelne Punkte gibt die nicht besprochen, nicht ausgelotet oder ausbalanciert werden.
Das ist dann sowas wie mein Ausschluss aus der Selbsthilfegruppe, das ist die nicht erwünschte Teilnahme von Betroffenen bei Kongressen, die die Hilfen für selbige tangieren, das ist der Ausschluss von Professionellen, bei Vereinen oder Bewegungen der Opfer usw usw usw

Mit “Wir sind das Volk” haben wir Deutschen eine Mauer quer durchs Land fallen lassen können.
Wie muss der Slogan für diese bescheuerte Mauer quer durch die Köpfe der Menschen lauten?!